Balduin Möllhausen
Der Majordomo
Balduin Möllhausen

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Dreißigstes Kapitel.
Der Abschied des Arrieros.

Der nächtliche Sturm hatte die Atmosphäre gereinigt; vereinzelte weiße Wolken, in den bizarrsten Formen und Gestalten, folgten hastig den in den oberen Luftschichten vorherrschenden Strömungen und drängten sich förmlich an der Sonne vorbei, wie um der erquickten Landschaft nicht den segenbringenden Einfluß ihrer wärmenden Strahlen zu rauben.

Am fernen Horizont schienen die Wolken sich wieder zu schweren Massen zusammenballen zu wollen, doch wurde diese Täuschung eben nur durch die Fernsicht bedingt, die es nicht gestattete, dort noch ein Stückchen des lieblich blauen Himmels zu gewahren, der im Zenit und in nicht unbedeutendem Umkreise die Flächen der zerfetzten Federwolken an Ausdehnung wenigstens um das Zehnfache übertraf.

Es war einer jener heiteren Tage, die in der wärmeren Zone häufig die Regenzeit unterbrechen, ohne indessen eine vollständige Änderung des Wetters zu verkünden, vielmehr dem Regen Zeit gönnen, neue Kräfte zu sammeln, und demnächst wieder mit verdoppelter Gewalt und Ausdauer loszubrechen.

Dergleichen Tage sind gewöhnlich mild, je weiter südlich, um so schwüler und drückender, und daher von um so größerem Einfluß auf die noch unter der Erdoberfläche verborgene Vegetation. – Die schon sichtbaren Keime gewinnen schneller an Umfang, die noch versteckten drängen sich kühn hervor, und alles vereinigt sich, durch vergrößerte Eile das gleichsam zu ersetzen, was während einer lang anhaltenden Dürre versäumt wurde.

Auch das Tal von San Bernardino hatte einen ganz anderen Charakter angenommen, vorzugsweise aber in den Niederungen und auf solchen Wiesenstrecken, deren Boden infolge verständig angelegter Kanäle und Gräben noch nicht in so hohem Grade ausgedörrt war.

Die üppige Keimkraft des Frühlings war freilich nicht mehr vorhanden, trotzdem lag es aber doch über Feld und Flur wie ein grüner Schleier, der wieder durch die Millionen von Regentropfen, in deren jedem einzelnen sich die Strahlen der Sonne funkelnd brachen, einen erhöhten Reiz erhielt.

Alles nahm sich erquickt, lebenskräftig und freudig aus, und selbst da, wo die Keime noch nicht zum Durchbruch hatten kommen können und wo man gewohnt war, gelblichen Staub unter den Füßen aufwirbeln zu sehen, erblickte man jetzt schwarze fette Erde, die mehr als einen dürftigen, herbstlichen Graswuchs versprach, der, mochte sein Leben noch so kurz sein, dem Viehzüchter zur Freude und zum Troste gereichte. –

Auf einer kleinen Bodenanschwellung, kaum fünfhundert Schritte vom Herrenhause, erhob sich der kleine Hügel, unter dem Juanita schlummerte.

Er war mit sorgfältig ausgestochenem Rasen und Immergrün belegt und mit einer starken Einfriedigung umgeben worden.

Erst zwei Wochen waren verstrichen, seit man sie in die kühle Gruft gesenkt hatte, aber wie überall, so begann auch auf ihrem Grabhügel sich organisches Leben zu regen und ihn in heiteres Grün zu kleiden, – in ein Grün, dauernder als das, welches die von freundlicher Hand gewundenen Kränze trugen, die so sinnig an den beiden Seiten und oben auf dem Hügel befestigt worden waren. –

Obgleich es schon über die Mittagszeit hinaus war, so hingen die Wassertropfen doch noch dicht nebeneinander an Halmen und Gräsern. Es hatte zu stark und anhaltend geregnet, und die Erde war zu sehr mit Feuchtigkeit gesättigt, als daß die Sonnenstrahlen, ohne den Beistand eines trocknenden Luftzuges, vermocht hätten, sie wie Tautropfen aufzusaugen; und wenn die Verdunstung bei der Wärme auch ziemlich schnell vonstatten ging, so hatte dies keinen Einfluß auf die unzähligen Perlenreihen, die von den aus dem Erdboden aufsteigenden zersetzten Wasserteilchen immer wieder bis zu einem gewissen Grade genährt wurden. –

Ein einsamer Reiter befand sich vor der Einfriedigung, die Juanitas Grab umschloß. Die Zügel des Pferdes hatte er über einen Pfosten geworfen, während er selbst sich mit beiden Armen auf die oberste Planke lehnte und seinen Kopf, wie in tiefem Nachdenken, auf die Arme stützte. –

Der schwarze Juan war gekommen, um von seiner Schwester Abschied zu nehmen, und zwar auf lange, lange Zeit, vielleicht auf immer. Aber er beabsichtigte nicht allein zu reisen; denn wenn man zu derselben Zeit nach dem südlichen Ende des zu der Hazienda gehörenden Dorfes hinübergeschaut hätte, so würde man noch zwei andere, ebenfalls zu einer langen Wanderung ausgerüstete Reiter wahrgenommen haben, die langsam der San Diegostraße folgten und zwei bepackte Maultiere und fünf leere Pferde vor sich hertrieben.

Es waren dies die Knechte des schwarzen Juan, die ihn nach Neu-Mexiko und an den Rio Grande begleiten sollten. Sein erster Weg führte nach der Zunni-Stadt, wo er durch Pasqual, den Gobernador, den Aufenthalt Manuels zu erfahren hoffte, von dem er sodann, im Guten oder Bösen, eine genauere Angabe der Lage seines väterlichen Erbteils zu erzwingen beschlossen hatte.

Auf den Rat seiner Freunde hatte er nur einen geringen Teil des ihm von seiner Schwester zugefallenen Geldes an sich genommen, den Rest aber in Don Sanchez' Händen zur Verwaltung zurückgelassen, von dem er dann, durch dessen Verbindungen in Santa Fé, Summen, je nachdem sie ihm erforderlich schienen, jederzeit beziehen konnte.

Dagegen war er mit allem ausgerüstet, was dazu dienen konnte, seine Person zu legitimieren, und selbst den Gerichten gegenüber irgendwelche Ansprüche als Sohn des erschlagenen Estevan geltend zu machen.

Da er den Wunsch hegte, schnell zu reisen, hatte er sich zu diesem Zweck als Begleiter der Wüstenpost angeboten, von denen eine alle vier Wochen vom südlichen Kalifornien, und eine vom Rio Grande aufbrach, um auf der Gilastraße eine möglichst regelmäßige Verbindung zwischen den beiden genannten Punkten aufrecht zu erhalten.

Da er selbst ebenso wie die Post Tiere genug bei sich führte, um sie von vier zu vier Stunden im Tragen der Lasten abwechseln zu lassen, so durfte er darauf rechnen, noch vor Ablauf eines Monats in den neumexikanischen Ansiedelungen im Tal des Rio Grande einzutreffen. –

Er wollte also Abschied nehmen von seiner Schwester; von ihr, die er nach ihrem Tode erst als Schwester kennen gelernt hatte.

Schon lange hatte er, auf die Einfriedigung gelehnt, dagestanden und sinnend den grünen Hügel betrachtet, der diejenige barg, die, gleich ihm, im zartesten Kindesalter dem Verderben entgangen war, um –

Indem der junge Arriero dergleichen Gedanken Raum gab, verfinsterten sich seine dunklen Züge mehr und mehr, und statt der früheren Wehmut leuchtete ein unauslöschlicher Haß aus seinen glühenden Blicken.

»Arme Schwester, so mußte ich dich finden, und so muß ich von dir scheiden«, murmelte er vor sich hin. »Doch ich gehe ja nur, um den Tod unserer armen Eltern zu rächen; zu rächen an dem letzten, der von ihren und deinen Verderbern noch übrig ist. O, ich will ihm, wenn er seine schwarze Seele aushaucht, deinen Namen ins Ohr rufen; deinen Namen und die Namen unseres Vaters und unserer Mutter.«

»Armes Kind«, fuhr er nach einer längern Pause mit tiefem Ernst fort, der so recht deutlich bewies, wie die Schule des Unglücks und sein Verkehr mit gesitteten Menschen die unter den Indianern angenommenen Gewohnheiten und Denkungsweise, ohne indessen bis jetzt ihrer ganz Herr werden zu können, immer mehr verdrängten, sein Gemüt veredelten; »armes Kind, warum darf ich nicht an deiner Statt dort liegen? Wozu bin ich gut? Ich, der verwahrloste, halbwilde Arriero, wie mich die Leute zu nennen gewohnt sind?

Du dagegen befandest dich auf dem Wege, dir alles Gute und Schöne anzueignen, was in deiner Kindheit an dir versäumt und fern von dir gehalten wurde. Du lerntest so leicht, du gewannst dir die Herzen aller Menschen so schnell, ohne es selbst zu wissen. Und nun? Du liegst in der Erde, und ich, der elende braune Bursche, der noch immer nicht, beim besten Willen nicht, die indianischen Sitten abzulegen vermag, ich stehe hier, um über dich zu trauern.

»Aber Rache, Juanita! Rache für dich, für unsere Eltern und endlich auch für mich. Einer wurde schon von dieser Hand getroffen,« fuhr er fort, und seine rechte Faust umklammerte die Planke so fest, daß die ganze Einfriedigung sich bewegte, »der grausame Navahoe, er starb unter dieser Hand; die anderen, und unter diesen dein Mörder, ereilte das ihnen bestimmte Geschick, und es bleibt mir also nur noch eurer. Du aber, meine arme Schwester, schlafe ruhig weiter; habe ich erst meine Rache befriedigt, dann will auch ich mich an irgendeinen Ort hinlegen und sterben – aber Rache, Rache – wenn sie nicht christlich ist, wie die Leute mir stets sagen, so ist sie indianisch; und was ist von mir elendem, verwahrlostem Menschen anders zu erwarten? Ja, Rache –«

Er hatte sich so in Betrachtungen vertieft und sich seinen Gedanken so gänzlich hingegeben, daß er nicht beachtete, wie sein Pferd, die Annäherung von Menschen anmeldend, leise wieherte, noch weniger bemerkte er die geräuschlosen, durch den feuchten Rasen gedämpften Fußtritte derselben.

»Ja, Rache« – sagte er mit einem wahrhaft unheilverkündenden Ausdruck, aber in demselben Augenblick legte sich eine Hand mit kräftigem Druck auf seine Schulter.

»Wir ließen dich allein, um dir Gelegenheit zu geben, von niemandem gestört, deiner dahingeschiedenen Schwester die letzten Gedanken zu weihen. Von friedlichen Gefühlen beseelt, solltest du Abschied von ihr nehmen und dich nicht zu Racheschwüren hinreißen lassen«, sagte Robert, der mit Inez, Sidney und Maria unbemerkt herangetreten war; »hätten wir geahnt, daß du nicht imstande wärest, deine feindlichen und wild aufgeregten Leidenschaften niederzukämpfen, so würden wir dich begleitet haben!«

Juan blickte dem Majordomo ernst in die Augen. »Verloret Ihr je eine Schwester? Verloret Ihr Eure Eltern auf schreckliche Weise?« fragte er ausdrucksvoll; »sie war das letzte Glied, das mir von den Meinigen geblieben ist, das letzte Glied, das mich an das Leben kettete. Ich habe mein Herz zu ihr ins Grab gelegt.«

»Juan, ich habe dich stets als einen Freund betrachtet und als solchen behandelt«, begann Inez, noch ehe Robert antworten konnte; »erinnere dich, welche Beweise von Vertrauen ich dir während deiner Anwesenheit unter dem Dache meines Vaters gab –«

»Ich habe es nicht vergessen, Sennora, und werde es selbst in meiner Todesstunde nicht vergessen«, unterbrach sie der Arriero mit milderer Stimme.

»Nun wohl«, fuhr Inez fort, und ein teilnahmvolles Lächeln spielte auf ihren wehmütig erregten Zügen; »ich verlange einen letzten Beweis deiner Anhänglichkeit. Hier ist meine Hand, versprich mir, versprich mir hier am Grabe deiner Schwester, alle Rachegedanken aufzugeben, sie aufzugeben, nicht um anderer Menschen willen, sondern deiner selbst und des Andenkens der Deinigen wegen. Komm, guter Juan, gib mir deine Hand, und dann ziehe hin in Frieden. Gedenke nur mit den friedlichsten Gefühlen und unbeirrt von unedlem Rachedurst deiner Schwester, und wenn du ihrer gedenkst, dann erinnere dich auch, daß ich sie oft, sehr oft besuche und das liebe Grab stets mit den schönsten Blumen schmücke.«

Juan schaute eine Weile unentschlossen auf seine frühere Herrin; einen langen Blick warf er noch auf den grünen Hügel, und als er sich dann wieder nach Inez umwandte, da hatte er sich entschieden.

Das wilde Feuer war aus seinen Augen verschwunden, und seinen Hut ziehend, legte er die rechte Hand in die offene des jungen Mädchens.

siehe Bildunterschrift

»Ich verspreche es,« sagte er fest, »Ihr müßt dergleichen besser wissen als ich, edle Sennora; ich verspreche, daß ich keine Rache suchen werde; er soll mir das Erbe meines Vaters zeigen, und dann mag er hingehen, wohin er will.«

»Und gib uns Nachrichten von dir«, fiel Robert jetzt wieder ein.

»Vergiß auch uns nicht«, fügten Maria und Sidney hinzu, indem sie nähertraten, um Juans Hand zu drücken.

»Und laß dich nicht durch falsche Scham vom Schreiben zurückhalten; wir werden deine Gedanken aus deinen ungeübten Schriftzügen und Zeichen mit Freuden entziffern, und wenn du erst zur Ruhe gekommen bist, dann wirst du alles mit Leichtigkeit lernen, was du zu wissen und zu verstehen wünschtest«, sagte Inez freundlich.

»Du hast dich als unser aller aufrichtigster Freund gezeigt, ich verlange daher ebenfalls als Freund ein Versprechen von dir«, sagte Robert, zum letztenmal seines treuen Gefährten Hand ergreifend: »Juan, wenn du dich einsam fühlst unter fremden Menschen, wenn sie dir kalt entgegentreten und keine heimatlichen Gefühle in deiner Brust zum Durchbruch kommen lassen, dann kehre zu uns zurück; beherzige, was dein früherer Brotherr, der ehrenwerte Don Sanchez, als dein väterlicher Freund zu dir sagte: ›Juan, für einen Mann, wie du, findet sich im Tal von San Bernardino stets eine sorgenfreie Heimat, und wäre es hundertmal so dicht bevölkert‹.«

»Ich will, ich will«, versetzte der Arriero bewegt. Mehr zu sagen vermochte er nicht. Er drückte allen nach der Reihe noch einmal die Hand, schwang sich in den Sattel und schlug die Richtung nach der San Diegostraße ein.

Zurück schaute er nicht mehr; seine Freunde aber, die bei dem Grabe stehengeblieben waren, blickten ihm noch lange nach, und wenn sie auch nicht sprachen, so hätten ihn doch keine innigeren Segenswünsche begleiten können als die, welche sie ihm stumm nachsandten.

Er hatte auf das Geschick aller durch seine uneigennützige Treue einen wesentlichen, ja einen entscheidenden Einfluß ausgeübt; und nur mit schwerem Herzen sahen sie den erprobten, braven Arriero einer unbestimmten Zukunft entgegeneilen.

Als Juan am südlichen Dorfende vorüberritt, gesellte sich Don Sanchez zu ihm.

Der alte ehrenwerte Ranchero hatte es sich nicht versagen können, seinen früheren Arriero, als sei er jetzt ein vornehmer Herr geworden, über seine Feldmark hinauszubegleiten.

 


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