Balduin Möllhausen
Der Majordomo
Balduin Möllhausen

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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Der Regenwurm.

Die Lieblichsten und Besten sind es oft, die ein unerbittliches, feindliches Geschick ereilt; die Lieblichsten und Besten von demselben Stamme, oft durch Generationen hindurch!

Wo rosige Frische und schwellende Lebenskraft im Tode erstarrten; wo elterliche Liebe den Hilflosen gewaltsam geraubt wurde; wo bittere Tränen flossen vor dem allerkleinsten Hügelchen, unter dem eine ganze Lebenshoffnung, eine ganze Lebensfreude schlummert, möchte man da nicht fragen: »Warum?« Ist da nicht zu entschuldigen, wer im Andrange des ersten Schmerzes an der Gerechtigkeit zweifelt? –

Doch wie der Gewittersturm, der über die Fluren hintobt, nicht fragt, ob es reife Halme sind, die er knickt, oder eben erschlossene Blüten und Knospen, so zieht der Tod rücksichtslos einher auf dem ihm streng angewiesenen Pfade. Hohnlächelnd schleicht er vorbei an dem gebrechlichsten Alter, das schon lange um Erlösung fleht, vorbei an den Giftpflanzen der menschlichen Gesellschaft, die, üppig wuchernd, alles Edle und Gute in ihrer Umgebung ersticken; vorbei an Hunger, Elend und an den brennenden Schweißtropfen letzter schwindender Kraft. Hier drückt er seine kalten Lippen auf Jugend und Schönheit, dort legt er seine eisige Hand auf ein treues, liebewarmes Herz! –

Arme Juanita! – Dieselbe Kugel, die Toby Ring tödlich verwundete, war ihr von der Seite in die Brust gedrungen und hatte, indem sie edelste Teile verletzte, ihr augenblicklich die Besinnung geraubt.

Lautlos blieb für sie der Lärm der vorbeistürmenden Wegelagerer, noch merkte sie, daß Finney sie nach dem Abhange des Berges hinübertrug und sie dort unter der schönen, pyramidenförmigen Douglastanne auf das weiche Moos niederlegte.

Die arme Juanita; sie lag da so still und ruhig, keine Muskel ihres zarten Körpers regte sich, und nur leise, ganz leise schlug das treue Herz, indem das Leben langsam der geöffneten Brust entrieselte.

Sie fühlte keinen Schmerz, keine Trauer, keine Seelenqual; wie ein schlummernder Engel lag sie da; selbst ihr Geist schlief, denn selbst Träume, die sie geängstigt oder erfreut hätten, blieben ihr fern.

Freundlich breitete die schöne Tanne ihre dichten Zweige über sie aus, und zwischen den Tausenden von Nadeln, hoch oben in dem stolzen Wipfel sang melancholisch der aufspringende Wind. Er sang so leise, als wenn er befürchtet hätte, sie in ihrem Schlummer zu stören, und schwermütig knarrend wiegte sich der mächtige Stamm hin und her.

Ihr gegenüber, auf der andern Seite der tiefen Wasserrinne, stand eine alte knorrige Weide. Sie verschwand fast neben der hohen, edlen Tanne. Vorbeiziehende Reisende hatten ihr häufig die Zweige geraubt, deren zähes Holz sich zu mancherlei Zwecken eignete; aber immer neue Schößlinge waren aus dem Stamm zutage getreten, und wie struppiges Haar umgaben diese jetzt das obere verwachsene Stammende, dessen geborstene Rinde wieder an das Bild eines uralten, verwitternden Greises erinnerte.

Waren da nicht die Augenhöhlen, sorgfältig ausgemeißelt, von den betriebsamen Spechten? Waren da nicht die tiefen Runzeln und die eingefallenen Wangen? Mund und Kinn dagegen blieben unsichtbar; denn ein langer, dichter Bart von grauen Moosflechten beschattete sie und reichte bis tief auf die Brust hinab.

Traurig blickte die alte ehrwürdige Weide mit dem morschen Stamm hinüber zu der armen Juanita; die schwarzen Augenhöhlen schienen sich in dem unbestimmten Dämmerlicht, wie um gewaltsam die Tränen zurückzudrängen, zu schließen und schnell wieder zu öffnen; und als dann ein abirrender Windstoß von den Höhen niederfuhr, wie seufzte da die Tanne, wie sträubten sich die Haare des Greises; und gerade wie bei einem heftig Schluchzenden, so bewegte sich sein langer Bart. –

Neben der alten Weide erhob sich ein schlankes Eichbäumchen. Es hatte vielleicht noch Jahrhunderte zu leben; aber wie eine Mahnung an die Vergänglichkeit alles Irdischen war der Herbst über seine jugendlich frische Krone hingezogen und hatte fast alle Blätter braun und rot gefärbt, ohne ihm auch nur ein einziges zu rauben.

Vor dem Luftzuge rasselten und scheuerten die verdorrenden Blätter aneinander, daß es sich anhörte wie heimliches Erzählen, als wenn das Bäumchen beim Anblick des stillen Engelsangesichtes seine traurigen Gedanken jedem einzelnen Blättchen mitgeteilt, und diese dann die Klagen in die Welt hinausgeflüstert hätten.

Hoch oben dagegen in den höheren Schichten, zwischen den starren Gipfeln der unerschütterlichen Berge, da brachen sich mit dumpfen Getöse die nahe dem Erdboden noch nicht fühlbaren Luftströmungen.

Schneller, immer schneller eilten die Wolken dahin; lawinenähnlich stürzten ganze Massen der verdichteten Nebel vor den unregelmäßigen Windstößen scheinbar an den Bergabhängen hinunter und in die tiefen Schluchten hinab, um in der nächsten Minute, wie luftige, weißschimmernde Gespenster, wieder hinauf in die Reihe der übrigen flüchtigen Wolken geschleudert zu werden.

Plötzlich rissen die Wolken auseinander und der volle Mond sandte seine zitternden Strahlen schräg unter das dunkelgrüne Dach, unter dem Juanita schlummerte.

Ihr Antlitz war bleich wie Marmor, aber als hätte das milde Licht des Mondes sie traulich in das Reich der Träume geführt, glitt ein seliges Lächeln über ihre Züge.

Jetzt erhielt auch der Körper Leben, denn die Hände, die beim Niederlegen schlaff neben ihr auf das feuchte Moos gesunken waren, hoben sich empor. Nach einigem vergeblichen Suchen zogen sie das zerknitterte Sträußchen, das vor wenigen Stunden noch das Kruzifix schmückte, hervor, und nachdem sie sich darum gefaltet, sanken sie wieder zurück auf die Gegend des Herzens, wo sie ruhig liegen blieben. –

Da bewegten sich die Lippen. »Heilige Mutter Gottes«, lispelte Juanita kaum vernehmbar, und indem sie noch sprach, erhielt ihr Antlitz den Ausdruck glückseliger, freudiger Überraschung.

»Heilige Mutter Gottes«, begann sie wieder, und schneller folgten die gehauchten Worte aufeinander. »Ist es nicht mein eigenes Angesicht, das du trägst, oder schaue ich noch in den Spiegel? Nein, nein, kein Spiegel, du lebst, du bist meine Mutter! Meine Mutter, die mir ihre Augen schenkte. O Mutter!« flüsterte sie leiser und leiser, indem sie die gefalteten Hände noch einmal etwas emporhob. »Meine Mutter, die mich nicht mehr von sich lassen will; Mutter,« klang es zärtlicher und hingebender, »deine Tochter kommt und bringt dir ein süßes – Andenken – von ihm – es war verwelkt, jetzt blüht es – oh – wie süß die Blumen duften – Mutter – ich bin – dein glückliches Kind!« –

Die Lippen schlossen sich, die Hände sanken auf das Herz zurück; die Engel hatten ihre Schwester hinübergetragen.

Das holde Lächeln aber war nicht von ihren lieblichen Zügen gewichen; sie schien zu schlafen, ruhig und selig wie ein Kind. –

Lauter sang der Wind zwischen den duftenden immergrünen Nadeln, tiefer seufzten und ächzten die mächtigen Stämme der Tannen, heftiger zuckte der graue Bart der ehrwürdigen Weide und anhaltender rauschte es zwischen den dürren Eichblättern. –

Plötzlich schwieg der Wind und Totenstille herrschte in dem Paß. Eine schwarze Wolke glitt über die Öffnung hin, durch die der Mond so lange geschaut hatte; ein leichter Gegenstand schlug zwischen den Eichblättern auf; jetzt wieder einer, und bald folgten sie schneller und dichter aufeinander.

Er hatte begonnen, der längst erwartete Regen; er hatte begonnen, um den darbenden Wurzeln neue Lebenskräfte zuzuführen, sie zu neuem Leben zu erwecken.

Oh, wie es herabströmte, so mild und so reichlich; und wie es brauste hoch oben im Gebirge, so drohend, so feierlich und erhaben! Überall hin ergoß sich der Segen, auf die stolze Tanne, wie auf die alte Weide; dort schmückend jede Nadel mit eurem klaren Tröpfchen, das zitternd an der scharfen Spitze hin und her schwankte, bis es von einem andern verdrängt wurde; hier langsam an den glatten Zweigen hinabgleitend und sich auf dem verwitterten, ausgehöhlten Kopfende zu einem kleinen Pfuhl vereinigend. Und als die Vertiefung dann voll war, da bahnte sich das zufließende Wasser in winzigen Bächlein nach verschiedenen Richtungen hin seinen Weg an dem rauhen Stamm hinunter.

Auch aus den Höhlen, die der Specht gemeißelt, rieselten Tropfen, und hätte der Mond zwischen den dichten Wolken hindurchschauen können, so würde er geglaubt haben, der morsche Weidenstamm weine bitterlich über den frühen Tod Juanitas; denn Tropfen auf Tropfen rollten über die gefurchten Wangen in den grauen Bart, der, langgereckt durch die Schwere des Wassers, immer tiefer über die Brust des Greises hinabsank.

Stärker rauschte es zwischen den Blättern der nahen Eichen und immergrünen Manzanitabüschen, und unheimlicher brauste es hoch oben im Gebirge; Juanita aber blieb unberührt von der niederschlagenden Feuchtigkeit.

»Mutter!« hatte sie sterbend geflüstert, und sorglich wie eine Mutter breitete die Tanne ihre dichten Zweige schirmend über sie aus. Kein Tropfen fand seinen Weg durch das schöne natürliche Dach. – –

Da begann es in der Wasserrinne zu plätschern und zu murmeln; zuerst leise und verstohlen, im Einklang mit dem Geräusch, das der auf das Laub fallende Regen erzeugte. Dann aber verwandelte sich das Plätschern in unwilliges Gurgeln und Rauschen, und heftig brandete das von den Abhängen niederströmende Wasser in der engen Vertiefung gegen die steinigen Ufer und die im Laufe der Zeit glatt und rund gewaschenen Felsblöcke.

Dichter prasselte der Regen herab, höher stieg das Wasser in der Rinne und in dem sandigen Flußbett des Passes. Die Felsblöcke waren bald nicht mehr sichtbar, und wo das Bächlein kurz vorher noch brandete, da schuf jetzt ein wilder Bergstrom Schaum erzeugende Strudel.

Jetzt brach der Sturm wieder los, und spärlicher fiel der Regen. Der Gießbach hingegen rauschte in alter Weise fort, mit gleichem Ungestüm, mit gleicher Wildheit.

Die Wolken rissen auseinander, und freundlich lugte der schon tiefer stehende Mond durch die vor ihm vorübereilenden Öffnungen, fast Tageshelle verbreitend auf den in seinem Bereich befindlichen Abhängen. –

Ein einzelner Reiter näherte sich von der Seite des San Bernardinotales her. Langsam und bedächtig verfolgte sein Pferd den beschwerlichen Weg. Bald im angeschwollenen Bergstrom watend, bald zwischen Gestein hinkletternd, suchte es seine Bahn in dem Paß aufwärts.

Der Reiter triefte, doch schien er die erkältende Nässe nicht zu fühlen. Gesenkten Hauptes saß er im Sattel, seinem Tier überlassend, selbst den gangbarsten Boden auszuspähen. Nur wenn der Mond einen Blick in den Paß warf, lenkte er es mit harter Faust in den Schatten, als ob er die Helligkeit gescheut, und sein geisterhaftes Antlitz mit den schwarzen zusammenhängenden Brauen bloßzustellen gefürchtet hätte.

»Sie haben mich hintergangen, die Schurken«, murmelte er vor sich hin, seinen Gedanken unbewußt Worte verleihend; »sie haben mich hintergangen, um mich zu verraten – mich zu verraten nach siebzehn langen Jahren – und Juan, der Sohn Estevans, ist die Triebfeder dazu. Er will mein schmachvolles Ende herbeiführen; er hat sich mit Ramiro verschworen – aber ein Gonzalez darf nicht schmachvoll enden.«

Er hielt an und lauschte; kein außergewöhnlicher Ton erreichte sein Ohr; der Wind sang unabänderlich zwischen den schwankenden Gipfeln der Tannen, das Flüstern der Blätter dagegen fiel mit dem Rauschen des Sturzbaches zusammen.

»Wo mögen sie weilen?« fuhr er fort, sein Pferd durch den Bach nach der jenseitigen Erweiterung der Schlucht hinüber lenkend. »Ich muß ihn sehen, ich muß ihn sprechen, den falschen Ramiro, den wortbrüchigen Bundesgenossen. Doch Juan, er wird mir folgen – Estevans Rachegespenst – oh, daß ich den Mut gehabt hätte, ihn zu beseitigen oder auch nur das Wort zu sprechen, als die Schurken sich willig zeigten, meinen Zwecken zu dienen – ich wäre jetzt frei, frei von aller Sorge – und die Gräber geben ihre Toten nicht zurück. Allein vielleicht ist es noch nicht zu spät, um frei zu werden. – Aber der Knabe? Er hat ihre Augen, ihre Züge; wer ist jener Knabe? – Sie hatte nur noch eine Tochter, und diese kam um in den Flammen. Erschreckende Ähnlichkeit; ich kann ihn nicht ansehen, ohne zu – er muß, er wird bleiben, wo der verhaßte Deutsche bleibt, und mich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern. Ja, die Gräber behalten ihre Toten, nur die Lebenden sind noch gefährlich.«

Indem El Muerte so sprach, ritt er an der Mündung der in einen Sturzbach verwandelten Wasserrinne vorüber, und da gleich oberhalb davon der in dem Paß selbst entstandene Strom sich in einem scharfen Winkel polternd gegen das unerschütterliche Ufer brach, so lenkte er sein Pferd, um die unsichere Stelle zu umgehen, einige Schritte nach dem Abhange hinauf.

Gerade vor der schönen Douglastanne hielt er an und überlegte, ob er oberhalb oder unterhalb derselben den besten Weg zu suchen habe.

Da wurde es hell um ihn her. Erschreckt fuhr er zusammen und warf einen grimmigen Blick nach dem Monde hinauf, berechnend, wie lange die eilenden Wolken gebrauchen würden, den klaffenden Riß wieder zu schließen.

Plötzlich schnaubte das Pferd heftig und weigerte sich mit allen Zeichen von Furcht, dem Drucke seiner Schenkel Folge zu leisten.

»Carajo!« fluchte El Muerte, erbittert über den Widerstand, und den Kopf über den Hals des Pferdes neigend, prüfte er den schlüpfrigen Boden vor sich.

Da fielen seine Blicke auf Juanitas leblose Gestalt, die von dem tiefstehenden Monde vollständig beleuchtet wurde.

»Juanita!« rief der Arriero entsetzt mit so lauter Stimme aus, daß es das Rauschen des Wassers übertönte und schauerlich in den Schluchten ringsum widerhallte; gleichzeitig riß er aber auch unbewußt und mit aller Kraft an den Zügeln.

Das Pferd, die Absicht des Reiters nicht verstehend, auch wohl nicht imstande, dem schmerzhaften Drucke auf dem abschüssigen Boden so schnell nachzugeben, bäumte sich empor. Der Druck ließ aber nicht nach; einige Augenblicke schlug es, wie um das Gleichgewicht wieder zu gewinnen, mit den Vorderhufen wild in die Luft, dann aber sank es hintenüber, in das enge Bett des Gießbaches hinab, den Reiter im Sturz mit sich niederreißend.

In seinem Leben war es vielleicht zum erstenmal, daß El Muerte die Gewalt über sein Pferd verlor. Allein der Anblick des leblosen Mädchens und die wunderbare Ähnlichkeit hatten ihn so sehr getäuscht und verwirrt, daß er sich wirklich in jene verhängnisvolle Nacht zurückversetzt wähnte und, halb betäubt, seine Bewegungen nicht mehr zu berechnen und abzumessen vermochte.

Lag Juanita doch genau so da, wie einst vor siebzehn Jahren in der Schreckensnacht ihre unglückliche Mutter, nachdem diese auf sein Anstiften, wenn auch gegen seinen Willen, von den Navahoes ermordet worden war. Die eigentümliche Beleuchtung aber vervollständigte ein Bild, das den finstern Arriero damals beim flackernden Licht der Flammen zur Verzweiflung getrieben hatte und wie es seinem Geiste täglich, stündlich, ob nun wachend oder träumend, vorschwebte.

Als er wieder einigermaßen zur Besinnung gelangte, herrschte Dunkelheit ringsum. Nur sein Oberkörper ragte noch aus dem Gießbach hervor. Seine Füße dagegen waren von dem auf dem Rücken liegenden und zwischen die beiden felsigen Ufer eingekeilten Pferde festgeklemmt worden. Indem dieses aber versuchte, sich emporzuarbeiten und mit letzten Kräften ohnmächtig gegen den unabwendbaren Untergang kämpfte, wurden El Muertes Glieder mit einer schweren Wucht an das scharfe Gestein gepreßt.

»Das Grab hat eine Tote herausgegeben!« stöhnte er mit wahnwitzigem Ausdruck, ohne auch nur einen Versuch zu machen, seine zerstoßenen und zerschmetterten Glieder von der Last des Pferdes zu befreien.

»Es hat eine Tote herausgegeben!« wiederholte er mit heiserer Stimme.

Ein schmaler Streifen Mondlicht glitt wieder über Juanita hin.

»Juanita! Erbarmen, Erbarmen!« schrie er, gefoltert von den entsetzlichsten Seelenqualen, als Gestalt und Züge des leblosen Mädchens aufs neue scharf hervortraten. »O Juanita! Du bist jetzt gerächt! Verschone mich, habe Erbarmen!« Und als ob die Angerufene sich wirklich seiner hätte erbarmen wollen, verschwand sie in der nächsten Minute wieder im Schatten.

El Muerte schloß die Augen; doch schnell öffnete er sie wieder. Gefühllos gegen die furchtbaren körperlichen Schmerzen, die ihm aus seiner Lage erwuchsen, stierte er unverwandt zu Juanita hinüber, die er fast mit den Händen erreichen konnte, und deren Umrisse nur noch ganz undeutlich zu unterscheiden waren.

Bebend zog er den Revolver aus seinem Ledergurt. Er prüfte ihn. Dem ihm unabweislich bestimmten Geschick wollte er vorgreifen; doch zu lange hatte sich die Waffe unter Wasser befunden, sie versagte ihm den letzten Dienst. –

Er schleuderte sie von sich und versuchte den schäumenden Gießbach als Mittel zu seinen Zwecken zu benutzen, indessen vergeblich. Wohl brandete das Wasser gegen seine Brust, aber sein Körper war wie eingeschraubt, er vermochte seine Lage nicht zu ändern, sogar seine Augen nicht von der für ihn so fürchterlichen Erscheinung abzuwenden.

Minuten wurden zu Stunden, die Atmosphäre erhellte sich, dumpf heulend brach sich der Sturm in den oberen Luftschichten an den Gipfeln der Berge, und wie Federbälle schleuderte er die Wolken durcheinander.

Hinauf und hinunter an den Abhängen, bald nach dieser, bald nach jener Seite herum eilten die elastischen, vom Winde gepeitschten Nebelmassen; hier die höchsten Berggipfel bekränzend, daß sie auf Minuten wie Inseln auf dem Meere aus ihnen emportauchten, dort sie verschleiernd und verhüllend, indem sie prasselnd dichte Schauer strichweise auf die Landschaft hinabsendeten.

Die Bäume ächzten und schüttelten die abgestorbenen Nadeln und Blätter von sich, die dürren Grashalme schmiegten sich dicht an den Boden, um frischeren Nachkömmlingen Raum zu geben, in der befeuchteten Erde selbst aber begann das schlummernde Leben sich zu regen, als wenn sie nach langen Leiden und Entbehrungen zum erstenmal wieder frei aufgeatmet hätte.

Als Dämmerlicht drang der Tag in den Cajonpaß ein. El Muerte befand sich noch immer auf derselben Stelle. Seine Augen hielt er starr auf die alabasterähnlichen Züge Juanitas geheftet, aber sie waren gebrochen, und die gefalteten Hände reckte er, wie flehend, über das tosende Wasser hin ihr entgegen.

Seine Züge hatten das Menschenfeindliche verloren; das Abstoßende war zum Mitleiderregenden geworden, und in seinem ganzen Ausdrucke lag es, daß er mit einem Gebet auf den Lippen vor seinen letzten Richter getreten war.

Vielleicht zum erstenmal seit seiner frühesten, unschuldvollen Kindheit hatte er gebetet, gebetet vor der reinen, hingeopferten Tochter einer ebenso reinen und grausam hingeopferten Mutter, und eines verratenen, hinterlistig verratenen Vaters. –

Der Tod sühnte die Verbrechen seines Lebens.

 


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