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Der Ranchero und seine Gesellschaft hatten den weiten Weg von San Luis Rei bis zur heimatlichen Rancho in verhältnismäßig kurzer Zeit zurückgelegt. Obgleich der in Aussicht stehende Regen die Heimkehrenden mehr oder weniger mit Freude erfüllte, so herrschte doch während der ganzen Reise eine trübe Stimmung unter ihnen, und vergeblich bemühte sich jeder, die bangen Ahnungen, die ihn bedrückten, zu verscheuchen.
Ein jäher Schrecken bemächtigte sich aller, als sie den fernen Schein der beiden Signalfeuer gewahrten, der in der Richtung, in der die Hazienda vor ihnen lag, aufflammte. Sie überzeugten sich zwar bald, daß die Feuer nicht von dieser selbst ausgingen, doch schienen sie ihnen ein Beweis zu sein, daß des Chinesen Angaben nicht aus der Luft gegriffen waren, sondern sich auf irgendeinen geheimen drohenden Umstand begründeten.
Indem sie sich nach scharfem Ritt der Rancho immer mehr näherten und sie diese endlich in friedlicher Ruhe vor sich liegen sahen, schwanden ihre Besorgnisse zum Teil. Als sie dann durch die stille Nacht vernahmen, wie die Desperados in der Entfernung von einer Viertelmeile mit aller Eile gegen Süden galoppierten, da waren sie geneigt, zu glauben, die Gefahr habe ihnen auf dem Wege gedroht, wie ja auch der Chinese angedeutet, und daß sie ihr eben durch ihre frühere Heimkehr entgangen seien.
Vollständig beruhigt war indessen niemand; selbst dann noch nicht, als bei ihrer Ankunft vor den ersten Hütten die hervorstürzenden verwunderten Knechte ihnen berichteten, daß im Herrenhause sich alles in alter Ordnung befinde, Fernando sie nach Hause geschickt habe, um die Wache allein zu übernehmen, und daß El Muerte sich zu den jenseits der Küstenhügel weidenden Herden begeben habe.
Ihr Mißtrauen und des Chinesen Warnung erhielten die erste Rechtfertigung, als sie vor dem Portal abstiegen, dieses nicht verschlossen, sondern nur angelehnt fanden und nicht, wie sie erwartet hatten, von dem diensteifrigen Fernando empfangen wurden. Wie sie dann aber mit Licht durch alle Teile des Hauses eilten, in dem Gemach der jungen Mädchen die Unordnung, und endlich auch in dem Zimmer des Rancheros den erbrochenen Schrank entdeckten, da bezweifelten sie nicht, daß der Chinese ihnen den Einbruch habe verraten wollen und es nur seiner Unfähigkeit, sich richtig auszudrücken, zuzuschreiben sei, wenn sie seine Absicht mißverstanden hatten.
Trotz der Warnung und trotz ihrer Eile waren sie zu spät gekommen, und längere Zeit dauerte es, ehe sie sich so weit von ihrem Schrecken erholt hatten, mit Überlegung einen Entschluß fassen zu können.
Don Sanchez nahm sich nicht einmal die Zeit, nachzuforschen, inwieweit er eigentlich beraubt worden sei.
Der erbrochene Schrank schien ihm der sicherste Beweis, daß er einen Teil seines eigenen Geldes zusammen mit Roberts und Sidneys Ersparnissen verloren habe, und mit der ihm eigentümlichen Lebhaftigkeit beeilte er sich daher, alle frischen Pferde, die sich in der Nähe befanden, herbeischaffen zu lassen und, sowie er einige seiner Leute beritten gemacht hatte, diese hinter den flüchtigen Desperados herzusenden, die, nach der von ihnen eingeschlagenen Richtung zu schließen, den Gorgoniopaß zu erreichen und durch diesen in die Wüste zu entkommen trachteten.
Während aller seiner Anordnungen war er nur von den beiden jungen Mädchen und Don Pico umgeben, denn Sidney und der schwarze Juan befanden sich unter den ersten, die auf frischen Pferden zur Verfolgung der Räuber aufbrachen. Der Majordomo dagegen fehlte noch, indem er in allen Teilen des Hauses mit Licht umherspähte und ein Mal über das andere den Namen des verschwundenen Knaben ausrief.
Er trat zu dem Ranchero unter das Portal, als dieser eben wieder dreien oder vieren seiner Leute Verhaltungsbefehle erteilte, ihnen die größte Eile ans Herz legte, und eine Belohnung für jeden ergriffenen Räuber versprach.
»Fernando, der arme Knabe,« sagte Robert mit besorgtem Ausdruck, halb zu dem Ranchero, halb zu den erschreckten Sennoritas gewendet, »er ist geraubt worden oder man hat ihn erschlagen; Gott im Himmel! was ist aus dem armen Kinde geworden?«
Don Sanchez, der dem Knaben gewiß aufrichtig zugetan war, hatte bis jetzt kaum an etwas anderes zu denken vermocht, als alles aufzubieten, um die Verbrecher zu strafen und das geraubte Eigentum wieder zurückzuerbeuten. Es überraschte ihn daher nicht wenig, daß Robert, dessen ganzes Vermögen nach seiner Meinung auf dem Spiele stand, nicht, wie Sidney, sogleich aufs Pferd sprang, um den Räubern nachzusetzen, sondern nur den unglücklichen Knaben beklagte, dessen spurloses, geheimnisvolles Verschwinden ihn mit tiefster Besorgnis zu erfüllen schien.
Der Anblick der warmen Teilnahme, die Robert an den Tag legte, fand indessen schnell einen Widerhall in den Herzen des Rancheros und der beiden Sennoritas, denn er hatte kaum seine Befürchtungen ausgesprochen und die Möglichkeit eines schrecklichen Endes angedeutet, als der Ranchero alles andere wieder vergaß und sich in endlose Fragen und Mutmaßungen über des Knaben Verbleib erging, dabei aber die Hoffnung nicht aufgab, daß er vor den Räubern die Flucht ergriffen oder sich aus Furcht an irgendeinem sicheren Ort verborgen habe.
Inez, die die Besorgnisse ihres Geliebten teilte, suchte ebenfalls das Verschwinden Fernandos auf solche Art zu erklären, während Maria, die sich nach den zuletzt empfangenen Eindrücken immer noch nicht zu fassen vermochte, sich zitternd wie Espenlaub an die Freundin anschmiegte und über Sidneys schleunige Entfernung leise Klagen führte.
»Mir ahnt nichts Gutes,« sagte Robert, und die Besorgnis ließ seine Stimme erregt klingen, »nein, mir ahnt nichts Gutes; der arme, treue Knabe würde, wenn ihm kein Unheil widerfahren wäre, längst hier sein. Das Kind, das arme, arme Kind, was hat es verbrochen, daß es von dem Geschick dazu auserkoren scheint, nur die trübsten Schattenseiten des Lebens kennen zu lernen? Das Geld, soweit es mich angeht, sie hätten es nehmen mögen, wenn sie nur den Knaben geschont hätten.«
»Wir wollen ihn zusammen suchen«, versetzte Inez, dem Geliebten die Hand reichend, und eine Träne der innigsten Teilnahme und des Stolzes glänzte in ihren Augen; »ja, wir wollen ihn vereinigt suchen, es wird sich wohl noch ein Pferd für mich auftreiben lassen.«
»Dank, tausendfachen Dank«, antwortete Robert aus überströmendem Herzen, den Händedruck warm erwidernd; »es sind aber schon genug unterwegs, die mir nach dem Knaben forschen helfen. Die Nacht verspricht zu rauh und stürmisch zu werden, als daß ich das freundliche Anerbieten annehmen dürfte, und dann die Räuber, bedenkt, holde Freundin, sie werden sich nicht gutwillig –«
»Oh, ich habe Mut und weiß Pferd und Pistole zu führen«, unterbrach ihn Inez, sich stolz emporrichtend, obgleich die absichtslose Andeutung des Majordomos, daß die Verfolgung der Räuber mit Gefahr verbunden sei, ihr das Blut aus den Wangen trieb und die furchtsamere Maria erbeben gemacht hatte.
»Caramba! Du bleibst hier, meine Tochter, und Don Roberto wird allein reiten; bedarf es dann noch weiterer Hilfe, so sind Don Pico und ich auch noch da«, versetzte Don Sanchez mit einer an ihm sonst nicht gewöhnlichen Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. »Glaube mir, meine Tochter,« fuhr er milder fort, indem er einen zufriedenen Blick auf den Majordomo warf, »glaube mir, wenn jemand sich Mühe gibt, Aufklärung über das Schicksal Fernandos zu erhalten, so ist es der da, oder, Caramba! ich müßte sein braves Herz nicht so genau kennen. Doch die Zeit eilt, und hier kommt sein Pferd«, fügte er lebhaft hinzu, indem er an den Renner, den man eben vorführte, herantrat, um ihn flüchtig zu prüfen und ihm schmeichelnd den Hals zu klopfen. »Beim San Jago! ein braves Tier, habe es selbst oft geritten; Caramba! springt wie eine Antilope, verlangt aber auch eine leichte Hand; laßt es die Sporen nicht fühlen; nur hin und wieder einen gelinden Schenkeldruck, und ehe eine halbe Stunde vergeht, habt Ihr alle überholt.«
In der allgemeinen Aufregung war das Gespräch so hastig geführt worden, daß Robert schon fünf Minuten, nachdem er vor die Tür getreten war, im Sattel saß und nach einem herzlichen Abschiedsgruß, und begleitet von manchen Ermahnungen zur Vorsicht, in die Nacht hinaussprengte.
Inez schaute ihm noch eine Weile sinnend nach. »Ich hätte mitreiten sollen«, sagte sie endlich, wie zu sich selbst sprechend.
»Nein, nein, Inez, verlaß mich nicht,« versetzte Maria zagend und Inez fest an sich drückend; »die heilige Jungfrau wird sie beschützen und wohlbehalten zurückführen.«
»Du bist ein Kind«, entgegnete Inez, die Umarmung der Freundin zärtlich erwidernd und sie auf die Stirn küssend; »glaube mir, wenn ich wüßte, daß meine Gegenwart dort von Nutzen wäre, wie ich jetzt weiß, daß sie viel eher nachteilig wirkte, dann sollte mich selbst der Befehl meines Vaters nicht abhalten, ihnen nachzureiten.«
So sprechend zog sie Maria mit sich auf die Hausflur, wo Don Pico und Sanchez, jeder mit einem Licht in der Hand, einander gegenüberstanden und eifrig ihre Ansichten über den Einbruch austauschten und jeder seine Meinung mit vieler Hitze verteidigte.
Don Pico, der sich nicht wenig auf seinen Scharfblick einbildete, suchte nämlich zu beweisen, daß Fernando, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar bei dem Raube beteiligt, doch jedenfalls um die Sache gewußt und den Räubern den Einbruch erleichtert habe. »Denn bedenkt nur, Compadre,« eiferte er, als Don Sanchez ungläubig den Kopf schüttelte, »bedenkt nur, er sendet die Knechte fort, um allein zu sein, dann öffnet er den Dieben Tür und Fenster und verschwindet hinterher mit ihnen. Mille Caramba! Gevattersmann, die Sache ist verdächtig; hab' den Burschen auf den ersten Blick durchschaut, schon damals, als Ihr bei mir auf der Mission einspracht. Ich brauchte ihn nur scharf anzusehen, um ihn zu veranlassen, die Augen verlegen niederzuschlagen oder wegzuwenden. Ein verstockter Sünder mag er wohl noch nicht sein, aber meinen Blick vermochte er nicht zu ertragen. Caramba! Lehrt mich nicht die Menschen kennen!«
Der alte Pico war von Haus aus einer der gutherzigsten Menschen, der aber, wie schon angedeutet, gern alle Dinge vorhergesehen haben wollte. Da er nun die Art und Weise, wie er irgend etwas auslegte, stets für die allein richtige hielt, so gab dies Veranlassung zu mancherlei Reibereien mit seinen Freunden.
Don Sanchez sowohl wie die beiden Sennoritas kannten die Schwächen des alten Herrn und legten seinen Äußerungen keine größere Wichtigkeit bei, als sie gerade verdienten, doch konnte Inez nicht umhin, ihm zu erwidern, daß sie für Fernandos Unverdorbenheit einstehe, und man nur seine unbegrenzte Dankbarkeit und Anhänglichkeit an den Majordomo zu beobachten brauche, um in ihm ein reines, redliches Gemüt zu erkennen.
Endlich begab man sich gemeinschaftlich nach des Rancheros Gemach, und nicht wenig erstaunten alle, als sie in dem erbrochenen Schranke die einzelnen Gegenstände ganz genau so liegen sahen, wie Don Sanchez bei allen Heiligen des sonnigen Spaniens beschwor, sie geordnet und hingelegt zu haben.
Außer den Sachen, die Bootjack in dem Gemach selbst an sich genommen hatte, fehlte nichts, weshalb sich der ganze Schaden hauptsächlich auf das belief, was eine neue Tür herzustellen kostete.
Wenn auch das unerklärliche Verschwinden des Knaben schwer auf allen lastete, und Don Pico sogar heimlich wünschte, daß sein Scharfblick sich diesmal getäuscht haben möchte, so trug die Gewißheit, daß größere materielle Verluste nicht zu beklagen seien, viel dazu bei, den Mut wieder zu heben und bis zu einem gewissen Grade auch die Unruhe, die man Fernandos wegen empfand, zu beschwichtigen, oder vielmehr für weniger gerechtfertigt zu halten.
Während nun die alten Herren fortfuhren, ihre Mutmaßungen aufzustellen und den Verdacht hierhin und dorthin zu lenken, schlichen Inez und Maria davon, um zu erfahren, was die Einbrecher verleitet haben könne, selbst ihr Gemach nicht unverschont zu lassen.
Das erste, was sie erblickten, nachdem sie die niedergebrannten Lichter auf dem Schränkchen wieder angezündet hatten, waren die Papierblätter, die zerstreut in der Stube umherlagen, und eine alte, sehr unsaubere Brieftasche, die, wie sie annahmen, von den flüchtigen Dieben hart an der Tür verloren worden war.
Sie hoben alles auf, um es einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen. Ehe sie indessen mit dieser Arbeit begannen, leuchteten sie noch in ihr Schlafgemach, fürchtend, einer der Frevler, dem vielleicht die Zeit zur Flucht gemangelt, könne sich dort verborgen haben.
Inez schritt voran; doch kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, so stieß sie einen Ruf der höchsten Verwunderung aus, denn gerade vor ihr, auf dem Stuhl, über dessen Lehne sie gewohnt war, ihre eigenen Kleider zu hängen, gewahrte sie, säuberlich zusammengelegt, Fernandos vollständigen Anzug. Sogar der feingeflochtene Strohhut war den Kleidungsstücken beigefügt worden, und gerade an diesem erkannte Inez das Zeug, vor dem sie im andern Falle erschreckt zurückgewichen wäre.
Längere Zeit starrte sie hin; mit Aufbietung ihrer ganzen Geisteskräfte strebte sie, diesen seltsamen Umstand zu enträtseln; allein es war etwas zu Ungewöhnliches, zu Abweichendes von dem, was zu erblicken sie hätte erwarten oder auch nur ahnen können, um sogleich einen Aufschluß über die befremdende, geheimnisvolle Tatsache zu finden. Als sie aber entdeckte, daß ihre eigenen Kleider verschwunden waren, da erbleichte sie vor Schreck, und einen Schritt zurücktretend und sich zu Maria wendend, deutete sie auf Fernandos wohlbekannten Anzug.
»Ein Verbrechen ist hier verübt worden«, sagte sie, und Angst, Teilnahme und Zorn sprachen zugleich aus ihren jetzt wunderbar strahlenden Augen. »Glaube mir,« fuhr sie mit fester Stimme fort, »glaube mir, Maria, man kam nicht des Geldes wegen, oder man hätte es nicht unberührt liegen lassen, wenn man nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Man kam des Knaben wegen; irgendein wichtiger Umstand knüpft sich an seine Geburt, an sein Herkommen. Man raubte ihn aber mit bösen Absichten; denn was hätte Freunde von ihm hindern können, unseren Schützling offen von uns zu fordern? Man hat ihn mit Gewalt fortgeschleppt«, fuhr das heftig erregte junge Mädchen mit wachsender Sorge fort; »siehe, dort liegen seine Kleider, und die meinigen sind verschwunden. Man hat, um gegen Entdeckung gesichert zu sein, ihn unkenntlich zu machen gesucht! Du armes Kind! Was mußt du wohl in diesem Augenblicke erdulden? Wie rufst du wohl nach deinem geliebten Wohltäter, und wie wird Don Roberto bekümmert sein, zu vernehmen, auf welche Weise er seinen Liebling verlor? Aber komm, wir wollen meinen Vater herbeiholen; vielleicht gelingt es ihm, einen ausführbaren Plan zur schleunigen Rettung des armen Fernando zu entwerfen.«
Mit diesen Worten drängte Inez die vor bangem Erstaunen sprachlose Freundin in das Wohngemach zurück. Als sie aber in die Nähe des Schränkchens gelangte und ihre Blicke auf die Brieftasche und die Papiere fielen, die sie kurz vorher aufgesammelt und dort niedergelegt hatte, da hemmte sie ihre Schritte. Hastig griff sie nach den Gegenständen, deren Vorhandensein sie bei den auf sie einstürmenden Besorgnissen vergessen hatte, und als ob eine Ahnung ihr gesagt habe, daß sie in ihnen Aufklärung über den verschwundenen Knaben finden würde, forderte sie Maria auf, mit ihr vereinigt den Inhalt der Blätter zu durchfliegen, um dann erst ihrem Vater in gedrängter Kürze die betreffenden Mitteilungen zu machen.
»Und dann Don Pico,« fügte sie hinzu, ein Blatt von dem Paketchen nehmend und es dicht ans Licht haltend, »du kennst ihn; in der Entdeckung, die wir machten, wird er einen neuen Grund zum Verdacht finden, und es tut mir wehe, den armen Knaben so geschmäht zu hören.«
Der Zufall hatte es gefügt, daß ihr gerade das Blatt in die Hand gefallen war, auf dem vorzugsweise Fernandos rätselhafte Vergangenheit berührt wurde.
Sie begann laut vorzulesen, obgleich Maria es mit ihr zugleich übersehen konnte, und mit jedem Wort, das sie aussprach, steigerte sich auch die tiefe Spannung, die durch die erste Zeile wachgerufen worden war.
›Zwei Jahre und vier sind sechs Jahre‹, entzifferte Inez nicht ohne Mühe; ›und heute starb die Ziege, die dich im zartesten Jugendalter ernährte.‹
»Der Geizhals, von dem Roberto uns so viel Schauerliches erzählte, hat dies geschrieben; es geht aus allem hervor«, schaltete Inez ein, ohne ihre Blicke von der Schrift zu erheben. Maria nickte zustimmend und beide Mädchen neigten sich wieder über die Blätter.
Als sie das Blatt zu Ende gelesen, faltete Inez unbewußt die Hände über dem Papier zusammen und starrte in tiefem Nachdenken vor sich auf den Boden.
Ihre Brust hob und senkte sich, doch keine Miene ihres schönen, marmorbleichen Antlitzes zuckte, als Maria vor ihr auf die Knie niedersank und, voller Entsetzen zu ihr emporblickend, ihre Aufmerksamkeit zu erregen suchte.
»Gonzalez,« rief sie angstvoll aus, »Gonzalez, es ist der Arriero, El Muerte, der Vampyr! O Inez, er hat Fernando zu seinem Opfer auserkoren! Möge die heilige Jungfrau ihm und uns gnädig sein!«
Da richteten sich die Augen der Angeredeten voll auf das Antlitz der Freundin. Weder Zorn noch Haß sprach aus den äußerlich ruhigen Zügen; dagegen lag eine seltsame Mischung von tiefem Weh, Mitleid und Erstaunen in ihren Blicken.
»Juanita, und nicht Fernando«, verbesserte sie mit langsamer, ausdrucksvoller Stimme die Freundin, die sich noch immer unter dem Einfluß der jüngsten Ereignisse befand und den Hauptinhalt des Gelesenen deshalb nicht so schnell zu deuten vermocht hatte.
Die vier Worte aber, die Inez sagte, stellten ihr das ganze Bild klar vor Augen, und sprachlos vor Entsetzen suchte sie die Gedanken aus der Seele der Freundin herauszulesen.
»Meine arme Juanita, und nicht mein armer Fernando, hätte er sagen müssen, als er vor einer Stunde das Haus nach ihr durchsuchte«, fuhr Inez nach einer langen Pause tiefen Sinnens mit ruhiger, kalter Stimme fort. »Mein armer Fernando! Oh, wie klang es so weich, so zärtlich,« fügte sie mit wehmütigem, mildem Ausdruck hinzu, »es klang wie: Meine arme Juanita! – Wo waren meine Sinne!« rief sie plötzlich emporspringend aus, und indem sie leidenschaftlich mit dem kleinen Fuß auf den Boden stampfte, sprühten ihre Augen Blitze des Stolzes und des verletzten jungfräulichen Gefühls. »Wo waren meine Sinne, als das schüchterne Mädchen über unsere Schwelle trat? Wo waren meine Sinne, als sie nicht bei uns zurückbleiben wollte, und ihn durchaus auf seiner Reise nach San Franzisko begleiten mußte? Oh, ich hätte es ahnen können, ich hätte es sehen müssen! Nicht einmal, nein, hundertmal; alle Tage; in jeder Stunde! Das sorgfältig verborgene Geheimnis, es lag in ihren Worten, in jeder Bewegung, in jedem Blick! Alles war berechnet und verabredet, nur vielleicht ihre Flucht nicht! Hätte ich das Geheimnis jetzt noch nicht durchschaut, die Todesangst, die Besorgnis, mit der er ihren Namen rief, nach ihr forschte und zu ihrer Wiedererlangung aufbrach, müßten es mir ja verraten haben! Oh, ich sehe sie in Gedanken vor mir, wie sie in meinen Kleidern über die Wiesen reitet – wie Meteore glühen die schönen, prachtvollen Augen in der leidenschaftlichen Wildheit, die ja durch den geringfügigsten Umstand bei ihr geweckt werden konnte, und die er stets so bewunderungswürdig zu zähmen und zu zügeln verstand! Ja, ich sehe sie im Geiste! Ihre sonst so bleichen Wangen sind gerötet, die lockigen, schwarzen Haare flattern wild um ihr schönes Haupt. Oh, wie schön ist sie! Sie triumphiert – nein! Eine böse Schadenfreude lag nie in ihren Augen; aber Liebe, Liebe, eine unbegrenzte Liebe zu ihm ruhte in ihrem ganzen Wesen, und nur diese Liebe veranlaßte sie, ihr Geschlecht vor allen andern zu verheimlichen. Ja, sie muß ihn über alles lieben, lieben wie –«
Hier verstummte sie, nachdem ihre anfangs leidenschaftlich erregte Stimme immer sanfter geworden und endlich in ein kaum vernehmbares Flüstern übergegangen war.
Auch Maria schwieg, der verzweiflungsvolle Ausdruck in Inez' Worten hatte sie zu sehr verwirrt, als daß sie irgend etwas zu entgegnen vermocht hätte.
»Aber er!« nahm Inez nach kurzem Brüten ihre Betrachtungen wieder auf; »aber er, warum täuschte er mich, die ich ihm mit so inniger Anhänglichkeit, mit so offenem Vertrauen ergeben war?«
»Schon einmal ließest du dich durch den Schein bestimmen, ihn falsch zu beschuldigen, sogar unrecht von ihm zu denken, und viel Selbstvorwürfe sind dir daraus erwachsen«, sagte Maria leise.
»Damals,« versetzte Inez, indem sie vergeblich zu lächeln versuchte, »damals standen wir einander fremd gegenüber, und dann war ich ja auch betrogen worden.«
»Und sollte auch jetzt nicht ein Betrug walten können? El Muerte, der Vampyr, und Ramiro –«
»Denke doch nicht beständig an den finsteren Arriero oder an die Sagen, die Don Roberto uns einst erzählte,« unterbrach Inez ihre Freundin, indem sie ihr zärtlich die schwarzen Locken von der Stirn strich, »und was meinen edlen Vetter betrifft, so erinnere mich nicht an ihn. Er muß sich zur Zeit schon in Mexiko befinden, also zu weit von hier entfernt sein, um seine Hand noch in irgendeinem Plane zum Verderben des Majordomos zu haben. Nein, meine gute Maria, ein Betrug, selbst eine Täuschung, kann nicht obwalten.«
»Aber du lasest den Namen Gonzalez, den Namen, auf den El Muerte so stolz ist.«
»Ja, Gonzalez,« bestätigte Inez, das zerknitterte Papier wieder glatt streichend und auf die betreffende Stelle deutend, »hier steht es. ›Gonzalez, Teufel, wohin hast du mich gebracht!‹ Aber es gibt mehr Leute dieses Namens in der Welt, und wir wollen nicht vorschnell urteilen«, fuhr sie plötzlich, wie von einem glücklichen Gedanken beseelt, fort, und indem sie sich mit ihrem alten Selbstbewußtsein aufrichtete, zeigte sie, daß ein Hoffnungsschimmer ihr Antlitz gerötet hatte. »Enthält das eine Blatt schon so manche Aufklärungen, dann müssen die übrigen Papiere das Bild, das von dem geheimnisvollen Mädchen gegeben wird, noch vervollständigen. Wir wollen alles lesen; wir erhalten dadurch vielleicht Aufschlüsse über ihr Entweichen oder ihre Entführung, was es auch immer sei, und werden in den Stand gesetzt, ihr wirksameren Beistand zu leisten, als diejenigen, die den Räubern nachsetzten, selbst als der, dem ihr Verschwinden einen so namenlosen Schmerz zu bereiten schien. – Und wer weiß, du magst recht haben; der Gonzalez, der hier erwähnt ist, kann unser dämonischer Arriero sein. Wird er doch auch hier allgemein ›Tod‹ genannt und mit dem Bösen verglichen. Ist er derselbe, dann finden wir vielleicht in diesen Blättern die Beweise, ihn für das, was sich heute abend zugetragen hat und möglicherweise noch zuträgt, verantwortlich zu machen.«
Nachdem die jungen Mädchen sich sodann überzeugt hatten, daß sie von dem Ranchero und Don Pico nicht gestört werden würden, rückten sie vor dem Schränkchen dicht zusammen, um die Papiere genau zu prüfen und deren Inhalt zu enträtseln.
Diese waren numeriert. Es erforderte daher nur geringe Mühe, die Blätter nach der Reihenfolge, in der sie geschrieben waren, zu ordnen, und bald darauf hatten sie sich so ins Lesen vertieft, daß sie die letzten Erlebnisse darüber fast vergaßen und die mehrmalige Aufforderung, sich zum gemeinschaftlichen Mahle nach der Speisehalle zu begeben, unbeachtet ließen.
Tief über die Papiere geneigt, saßen sie eng aneinander geschmiegt da; ein Blatt nach dem andern wanderte durch ihre zarten Hände, und viel Mühe verursachte es ihnen oft, die unleserlichen Schriftzüge zu entziffern und in Zusammenhang zu bringen.
Sie sprachen kein Wort, aber wenn die Überraschung sich zuweilen in einem kurzen Ausruf Bahn brach, und sie sich gegenseitig mit dem Ausdruck des größten Erstaunens fragend anblickten, oder wenn Inez, wie um einen dumpfen Schmerz zu beruhigen, die Hand aufs Herz preßte, und in Marias Augen eine Träne der Teilnahme und des Mitleids perlte, dann zeigte es sich, wie tief sie alles das ergriff, was sie den Papieren entnahmen.
Was sie aber auch lasen, der Gedanke, daß der vermeintliche Knabe eine eben aufgeblühte Jungfrau sei, stand immer oben an. Es befestigte sich die natürliche Überzeugung, daß es Robert wenigstens nicht habe fremd bleiben können, wen er unter einer solchen Verkleidung in das Haus des Rancheros geführt habe, denn es war ja beinahe ein Jahr verflossen, seit Juanita beständig in seiner Gesellschaft lebte.
Sie, die mit aller Macht erster, jungfräulicher Liebe an den beiden Fremdlingen hingen, die ein anscheinend freundliches Geschick ihnen zuführte, sie vermochten jetzt leicht die träumerischen Blicke des vermeintlichen Knaben zu deuten, die sie so lange nur für die Beweise aufrichtiger Dankbarkeit eines unverdorbenen Gemütes gehalten hatten.
Es lag außer allem Zweifel, Juanita liebte ihn; und hatte er nicht ebenfalls mehr als gewöhnliche Teilnahme für sie an den Tag gelegt? Hatte er nicht schon seit vielen Monaten auf einem vertrauteren Fuße mit ihr gestanden als mit der, die ihm Hand und Herz fürs ganze Leben zugesagt? Mit welcher Absicht hatte er Juanitas wahre Lage verheimlicht? Oder besaß er noch den Mut, zu behaupten, auch er sei während des langen Verkehrs mit ihr getäuscht worden und über den wirklichen Sachverhalt im Dunklen geblieben; einen Sachverhalt, den sie selbst jedenfalls in den ersten Tagen erraten hätten, wenn nicht eben, sie räumten es mit bitterer Wehmut ein, die ihnen so teuer Gewordenen alle ihre Sinne, alle ihre Gedanken so vollständig eingenommen hätten?
So folgerten die beiden jungen Mädchen. – Obgleich kein Vorwurf Sidney treffen konnte, so schien Maria von der Entdeckung fast nicht weniger betroffen zu sein, als ihre Freundin. Sie war wie ein schutzbedürftiges Kind, oder vielmehr wie eine im Schatten eines kräftigeren Schößlings gedeihende zarte Pflanze, deren Leben von der Wohlfahrt des ersteren abhing.
Besaß Inez viel von der tropischen Leidenschaftlichkeit, so war ihr auch viel von der, vorzugsweise dem sinneberauschenden Süden eigentümlichen Eifersucht zugefallen. Dies aber mochte mit dazu beitragen, daß ihr die ruhigere Überlegung geraubt wurde und sie daher nicht die Fassung besaß, alles, was gegen den Majordomo zeugte, genau zu erwägen.
Wie sie Don Pico gegenüber dem vermeintlichen Knaben jeden verbrecherischen Gedanken absprach, weil dergleichen in so krassem Widerspruch zu dessen äußerer Erscheinung stand, so würde sie den Verdacht einer Falschheit weit von sich gewiesen haben, wenn sie sich die treuen redlichen Augen ihres Geliebten und das schüchterne, unschuldige Wesen der armen Juanita, unbefangen von plötzlich erwachten Vorurteilen, vergegenwärtigt hätte.
Sie ging sogar so weit, anzunehmen, der Inhalt der Brieftasche müsse Robert, wenigstens teilweise, bekannt sein. Denn daß er einst in dem Bergwerke dem Knaben, als dieser, von einem dunkeln Instinkt getrieben, ihm die Einsicht in die Tasche verweigerte, großmütig seinen seltsamen Wunsch gewährte, das konnte sie nicht ahnen, nicht für möglich halten. –
Die beiden Freundinnen saßen bis tief in die Nacht hinein fast unbeweglich da und lasen unter den widerstreitendsten Empfindungen den kurzen, oft kaum verständlichen Abriß von Juanitas Lebensgeschichte zu Ende. –
Die Verwirrung und Ratlosigkeit, in die sie durch die wunderbaren Aufklärungen versetzt worden waren, wirkten förmlich betäubend auf sie. Auch jetzt noch, nachdem sie erfahren, in welchem Verhältnis Juan und Juanita zueinander standen, fiel ihnen nicht auf, daß diese, wenn auch mit freundlicher Hinneigung, doch nie wie Geschwister einander gegenübergetreten waren, also, dem Schein nach zu schließen, keine Ahnung davon hatten, wie nahe sich ihre verschiedenen Geschicke berührten. Und wenn die Geschwister selbst einander so fremd waren, denn Juanitas Rückerinnerungen reichten ja nicht über die dunklen Gänge des Bergwerks hinaus, während Juan nur wußte, daß er mit Gewalt aus einem brennenden Hause von seinen sterbenden Eltern gerissen worden war, wie hätte da nicht Roberts völlige Unkenntnis möglich, ja, wahrscheinlich gedacht werden können?
Doch, wie schon erwähnt, die Entdeckung drückte sie wie eine schwere Last nieder und machte sie unfähig, einen leitenden Faden zu finden, der zur Entwirrung der verwickelten Umstände hätte dienen können. Sie entschlossen sich daher, Don Sanchez und dessen Freund mit in das Geheimnis zu ziehen und es ihnen anheimzustellen, alle von ihnen für notwendig erachteten Schritte zu tun.
Mitternacht war längst vorüber, als sie unter die Veranda hinaustraten und sich dem Gemach des alten Rancheros näherten.
Auch dieser und Don Pico waren noch munter und schienen keineswegs geneigt, fürs erste an Ruhe zu denken. Einesteils mochten sie, nach den vorhergegangenen Begebenheiten, einen Überfall der von fast allen Leuten entblößten Rancho durch die Räuber nicht zu den Unmöglichkeiten rechnen, andernteils harrten sie auch wohl ungeduldig auf Nachricht von den Verfolgern oder vielmehr auf das Einbringen eines oder mehrerer der eingefangenen Desperados. Jedenfalls aber war ihnen die Zeit minder traurig verstrichen, wie den beiden Mädchen; denn als diese die Tür öffneten und zu ihnen eintraten, da zeigten einige vor ihnen stehende leere Flaschen und die durch den Dampf wohlriechender Cigarettos verdichtete Atmosphäre, womit die Stunden der Muße ausgefüllt worden waren.
Die heftigen Gemütsbewegungen hatten die deutlichsten Spuren auf den Zügen der jungen Mädchen zurückgelassen. Den beiden Herren entging dies nicht; sie schrieben es indessen den ihnen bekannten Ursachen zu und begannen, ihnen ihre Furcht und kindische Besorgnis vorzuwerfen, trösteten sie aber zugleich damit, daß nach ihrer Überzeugung Gefahr für die Nachsetzenden nicht vorhanden sei, so lange dieselben sich zusammenhielten, und daß der Majordomo, Sidney und der schwarze Juan, als alte erfahrene Wüstenreisende, jedem Zersplittern der Kräfte rechtzeitig vorbeugen würden.
Wie sehr erstaunten sie aber, als Inez, anstatt auf die aufmunternden Worte in ihrer gewöhnlichen schalkhaften Weise zu antworten, den ernsten, sorgenvollen Ausdruck nicht verlor, sondern ein Päckchen loser, beschriebener Papierblätter vor sie auf den Tisch legte.
Als sie aber mit ruhiger, fester Stimme erzählte, was die Blätter enthielten, und gelegentlich das eine oder das andere erläuterte, indem sie kurze Stellen vorlas, da wußten selbst die beiden alten Herren nicht, was sie von der Sache denken sollten, und stumm vor Verwunderung blickten sie bald die Papiere und bald die jungen Mädchen an.
Daß der vermeintliche Knabe ein Mädchen sei, hatte Don Pico, wie sich von selbst verstand, vom ersten Augenblick an geahnt, und sich nur falsch ausgedrückt, als er die Verlegenheit des Knaben mit dessen Anlagen zum Bösen in Verbindung brachte. Ebenso wollte er ferner schon seit langer Zeit gewußt haben, daß der schwarze Juan einem andern Stamm entsprossen sei, als man allgemein anzunehmen geneigt war, wie er auch wiederholt versicherte, daß er El Muerte noch nie für etwas anderes, als einen verstockten Bösewicht angesehen habe.
In letzterer Ansicht stimmte ihm Don Sanchez aus vollem Herzen bei, hob aber hervor, wie derselbe ihm als Arriero von unbezahlbarem Werte gewesen sei, und wenn er ihm auch manches Böse zugetraut, er ihn doch nie solcher Verbrechen fähig gehalten habe, wie in den Blättern aufgezeichnet standen.
Wenn nun die jungen Mädchen hofften, sich bei dem Ranchero Rat zu holen, so hatten sie sich getäuscht, denn er sowohl wie Don Pico waren selbst ratlos. Sie wußten ebenfalls nicht, welchem Umstande sie zuerst ihre Aufmerksamkeit zuwenden sollten und wo bei der eigentlichen Entwirrung zuerst und mit Aussicht auf günstigen Erfolg zu beginnen sei.
Darin stimmten sie indessen überein, daß El Muerte imstande sei, näheren Aufschluß über Juan und Juanita zu geben, daß aber, ehe man sich für irgendeinen Schritt entscheide, seine Heimkehr abgewartet werden müsse, und auch dann mit der größten Behutsamkeit vorzugehen sei, wenn man überhaupt ein Wort aus ihm herauszubringen gedenke.
Das tiefste Schweigen hielten sie daher für dringend geboten, denn da sie den festen Vorsatz gefaßt hatten, den unter so merkwürdigen Verhältnissen zusammengeführten Geschwistern mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu ihrem Recht zu verhelfen, so beschlossen sie, sich auf alle Fälle El Muertes Person zu versichern und, ihn den Kindern der ermordeten Eltern gegenüberstellend, sein Zeugnis auf gutem oder bösem Wege zu erzwingen.
Ungeduldiger noch als vorher sah Don Sanchez, nach den unerwarteten Eröffnungen, Nachrichten von den Verfolgern der Desperados entgegen. An Ruhe dachte niemand mehr, dagegen gedachten alle mit wachsender Besorgnis Juanitas, sich mit den schwärzesten Farben die Zwecke ausmalend, zu welchen man sie aus einem Hause entführt hatte, wo sie, nach langen Jahren eines traurigen Daseins, ein so freundliches Asyl gefunden hatte. –
Die niedrig hängenden Wolken hatten begonnen, sich vor der plötzlich gegen Süden umspringenden Brise in einen milden, ungleichmäßig anhaltenden Regen zu entladen. Die Atmosphäre, obgleich dadurch noch etwas mehr verfinstert, war aber noch immer hell genug, um, soweit der fallende Regen es gestattete, einen Anblick der nächsten Gegenstände zu gewinnen. Bald an das Portal, bald auf das Dach des Hauses begaben sich daher alle, erwartungsvoll nach der Richtung spähend, aus der sie der Kunde über das Los Juanitas entgegensahen.
Doch ihre Blicke reichten nicht so weit, und mit seiner eintönigen Musik übertäubte das plätschernde Wasser jedes Geräusch, das der Heimkehr der so sehnlich und mit den verschiedenartigsten Gefühlen Erwarteten vorhergegangen wäre.
Dichter fiel der Regen und heller wurde die Atmosphäre, indem der Mondschein sich mit der ersten Morgendämmerung vereinigte, und noch immer waren die Bewohner der Rancho in völliger Ungewißheit.
Auch El Muerte war noch nicht eingetroffen, und mehrfach schon hatte Don Sanchez nach seiner Hütte hingeschickt, die aber immer dunkel und verschlossen gefunden worden war.
Seine Ungeduld wuchs in demselben Grade, in dem die Helligkeit zunahm, und als dann endlich nach Anbruch des Tages der Regen etwas nachließ, da vermochte er seine Unruhe nicht länger zu zügeln, und als Don Pico sich bereit erklärte, ihn zu begleiten, ließ er die Pferde satteln, und bald darauf befanden sie sich unterwegs, nach der Richtung hin, in der sie am schnellsten auf die Heimkehrenden zu stoßen hofften.
Inez und Maria hatten sich um diese Zeit in ihr Gemach zurückgezogen. Die ununterbrochene geistige Aufregung, zusammen mit den körperlichen Anstrengungen, hatten sie vollständig erschöpft. Inez schien ihren Mut, ihre Energie plötzlich verloren zu haben, denn kaum vernahm sie den verhallenden Hufschlag der sich entfernenden Reiter, so sank sie gebrochen auf ihr Lager.
Sie schluchzte krampfhaft, während Maria, als ob beim Anblick des Schmerzes der geliebten Freundin ihre Kraft gewachsen sei, sie mit innigen Worten zu trösten suchte.
Allmählich wurden beide stiller, das Schluchzen hörte auf, und in tiefen, regelmäßigen Pausen folgten die leisen Atemzüge aufeinander.
Der sich wieder verstärkende Regen schlug in einschläfernder Weise prasselnd gegen die Fensterscheiben; die holden Wesen aber träumten, sie träumten von goldenen, glücklichen Zeiten, die sie im wachenden Zustande für immer der Vergangenheit anheimgefallen glaubten.