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Die Gerichtsverhandlungen in Pueblo de los Angeles waren beendigt, das Urteil über die Gefangenen gefällt worden.
Demgemäß waren die Desperados für ihre offenen Räubereien mit verhältnismäßig milder Strafe davongekommen, indem sie, zur Verbüßung einer mehrjährigen Haft, nach einem in der Nähe von San Franzisko liegenden Militärposten transportiert wurden.
Finney dagegen sollte, als bei dem Morde des Scherifs und dem unglücklichen Ende Juanitas beteiligt, schon in den nächsten Tagen den Tod durch den Strang erleiden. Sein blutiger Rock, den man in der Nähe der Leiche des jungen Mädchens gefunden, hatte Zeugnis gegen ihn abgelegt. Ihm, Toby Ring und dem durch Republiks Büchse in der verborgenen Hütte gefallenen Desperado waren die Hauptverbrechen laut Beweisen zur Last gelegt worden. An ihm allein konnte indessen nur noch die gerechte Strafe vollzogen werden.
Bootjack hatte sich durch die Verräterei an seinen Raubgenossen vom Galgen losgekauft; doch wurde ihm angedeutet, daß es von seiner Seite nur der geringsten Dieberei bedürfe, um die menschliche Gesellschaft auf immer von seiner Gegenwart zu befreien.
Obgleich des Kahuillas Leben schon durch das gegebene Wort des Trappers gesichert war, so gab doch auch Finney sich während des Verhöres die erdenklichste Mühe, ihn als unschuldig hinzustellen. Unmöglich ist es nicht, daß dies aus einer gewissen Achtung vor Bootjacks List geschah; wahrscheinlicher aber noch wollte er ihn dadurch zurückhalten, alles auszusagen, was er über ihn selbst wußte; denn der Kahuilla war ja nunmehr der einzige, der noch gegen das verbrecherische Treiben der Zwillinge zeugen und sogar Beweise für seine Aussagen herbeischaffen konnte, weil er in den meisten Fällen ihr Helfershelfer und ihr Werkzeug gewesen war.
Im übrigen hatte er sich, wie ein gefangener Wolf, in sein Schicksal ergeben und schien auch, nachdem er den für ihn denkenden Freund und dessen leitende Hand verloren, durchaus gar nicht mehr mit so großer Liebe am Leben zu hängen.
Leben hieß für ihn, dem Elend preisgegeben zu sein, und je näher der Zeitpunkt rückte, in dem er den Tod erleiden sollte, mit um so weniger Abscheu gedachte er des Galgens, dessen Bild seit langen Jahren wie ein schreckliches Gespenst, ebensowohl im nüchternen wie im trunkenen Zustande, seinem Geist vorgeschwebt hatte.
Kaum zweihundert Schritte von der Stelle, wo er vor Wochen den Beifall eines zahlreichen Publikums durch seine Kraftproduktionen geerntet hatte, da saß er jetzt im engen Gemach auf einer dürftigen Strohmatratze.
Sein Todesurteil hatte er schon vor drei Tagen vernommen, und nur eine Nacht trennte ihn von der Stunde, in der es für ihn auf ewig Nacht werden sollte.
Wie gewöhnlich bei Verurteilten, so waren auch ihm die materiellen Genüsse nicht versagt worden, indem man ihm die besten Speisen und Getränke angeboten hatte. Speisen wie Wein wies er indessen störrisch zurück; nur um Branntwein bat er so dringend und demütig, daß es selbst das Herz des Schließers erweichte, und dieser ihm mehr von dem betäubenden Getränk zusteckte, als ihm eigentlich zuerkannt worden war. Er rechnete darauf, daß sogar eine ungewöhnliche Masse keinen Einfluß mehr auf den alten Trinker haben würde, und benutzte jedesmal die Gelegenheit, den Krug des Verbrechers, anstatt mit frischem Wasser, mit dem stärksten Whisky zu füllen. –
So saß Finney denn auf seinem harten Lager und stierte mit ausdruckslosen Blicken vor sich auf den Boden. Mehrfach hatte er nach dem Kruge gegriffen, ihn aber eben so oft mit einem Fluche wieder weggestellt, weil er ihn schon vor Stunden geleert hatte.
Er versuchte die Steine, mit denen der Fußboden ausgelegt war, zu zählen, allein, er kam nicht weit damit, denn schon auf zwei Schritte vermochte er sie nicht mehr genau zu unterscheiden. Die Dämmerung verwischte die Fugen, und alles tanzte vor seinen blutunterlaufenen Augen durcheinander.
Doch immer und immer wieder begann er zu zählen: »Zwei – vier – sechs – acht«; welches war der neunte, welches der zehnte Stein?
»Zwei – vier – sechs – acht – zehn – halt! es waren erst sechs – nein –«. Und von neuem begann er die langweilige Beschäftigung.
»Zwei – vier – sechs –« Das Licht in der kleinen vergitterten Fensteröffnung erlosch immer mehr; eine Uhr schlug sechsmal; er zählte die Schläge, und als er damit fertig war, da hatte er vergessen, wo er beim Zählen der Steine stehengeblieben.
»Zwei – vier – sechs – acht – zehn.« Die Dunkelheit nahm schnell zu, das Zählen wurde aber dadurch erleichtert, denn die Steine zeichneten sich nicht mehr voneinander aus, konnten also nicht mehr tanzen.
»Zwei – vier – sechs – acht – zehn – morgen früh um zehn Uhr – hu – verdammt – zwei – vier – sechs – acht – zwölf –«
Schritte näherten sich in dem Gange, ein Schlüssel klirrte, das alte Schloß und die Türangeln kreischten, und indem ein Lichtstreifen in das Gemach fiel, seufzte Finney tief auf.
»Ihr wollt mich verdursten lassen!« rief er zornig aus, seine Handschellen drohend schüttelnd.
»Schon wieder leer?« fragte der Schließer verwundert, ohne einzutreten, offenbar fürchtend, sich dem herkulischen Irländer zu nähern.
»Schon wieder leer, fragt Ihr?« schnaubte der Gefangene, den steinernen Krug durch einen Fußtritt bis an die Tür rollend. »Schon wieder leer? Goddam! gebt mir ein anderes Gefäß, als solchen Fingerhut, und Ihr braucht nicht so oft zu laufen.«
»Sonst nichts?« fragte der Schließer.
»Beim heiligen Patrik! was sollte es sonst noch sein?«
»Keine Speisen? Keinen geistlichen Trost? Ein Priester hat sich schon mehrfach angeboten, Euch zu trösten; etwas Gebet soll nicht schaden zur letzten Reise.«
»Whisky schadet noch weniger,« versetzte Finney brutal, »bringt mir zu trinken, bringt mir vom allerstärksten Whisky, weiter verlange ich nichts. Den Braten mögt Ihr selbst verzehren und Euch von dem Pfaffen trösten lassen. Ich will Whisky oder gar nichts, am allerwenigsten aber einen Pfaffen, solange solcher mich nicht vom Galgen loszusprechen vermag!«
Der Schließer entfernte sich schweigend, kehrte aber nach einigen Minuten schon wieder zurück und stellte den mit Branntwein gefüllten Krug bei der Tür nieder, worauf er mit einem kurzen »Gute Nacht!« die Tür doppelt und dreifach verschloß und davonschritt, um vor dem nächsten Morgen nicht wieder zu erscheinen.
Kaum waren die Fußtritte des Schließers verhallt, da tastete Finney sich vorsichtig nach dem Kruge hin. Mit der Prüfung des Inhaltes hielt er sich nicht lange auf; er führte ihn an die Lippen und trank ihn bis über die Hälfte leer.
Ebenso vorsichtig begab er sich dann nach seinem Lager zurück, und den Krug zwischen seine Knie klemmend und ihn zugleich mit beiden Händen haltend, nahm er seine alte Stellung auf der Strohmatratze wieder ein.
Von neuem versuchte er die Steine zu zählen, allein es war jetzt schon so dunkel geworden, daß er gar nichts mehr zu unterscheiden vermochte. Sein verdumpfter Geist wendete sich daher mechanisch andern Gegenständen zu, die sich im Bereich seines Fassungsvermögens befanden.
Draußen regnete es heftig. Das auf dem flachen Dache des Stadtgefängnisses sich sammelnde Wasser prasselte an den Seiten mit plätscherndem Geräusch nieder, und nur ein ganz kleiner Teil fand seinen Weg in die schadhafte blecherne Rinne und schlug unten in der Biegung des Rohres tropfenweise auf das verrostete, hohltönende Eisen auf.
Finney horchte einige Minuten. Das böse Wetter hatte die Leute schon frühzeitig von den Straßen vertrieben. Nichts war zu hören als das Brausen des Regens und das eintönige Klingen der fallenden Tropfen, die mit der Regelmäßigkeit eines Sekundenzeigers gegen das Blech klapperten.
Unwillkürlich begann der Irländer wieder zu zählen.
»Zwei – vier – sechs – Goddam! sie fallen nur einzeln! – Eins – zwei – drei – vier – fünf,« und immer weiter und weiter, »sechsunddreißig – vierzig –«
Er hatte sich verrechnet, ein heftiger Fluch bekundete seinen Irrtum, ein tiefer Zug aus dem Kruge beruhigte ihn wieder, und er fing von vorn an:
»Eins – zwei – drei – vier –« Ein ungewöhnliches Geräusch störte ihn; es war, als kratze jemand an der Außenwand des Gefängnisses, gerade hinter ihm.
Abergläubische Furcht bemächtigte sich seiner, und atemlos lauschte er.
Das Kratzen zog sich immer höher nach der Wand hinauf und verstummte endlich ganz; dagegen vernahm er ein ähnliches Geräusch an dem kleinen vergitterten Fenster.
Er schaute hinauf; die Atmosphäre draußen war aber so schwarz, wie in dem Gefängnis selbst; sogar die Öffnung zeichnete sich nicht mehr auf der schwarzen Mauer aus.
»Jemand hier sein?« fragte eine leise Stimme endlich flüsternd herab.
Finney sprang empor, daß ihm beinahe der Krug entfallen wäre; er hatte Bootjacks Stimme erkannt.
»Satan!« schnaubte er wütend, »dir habe ich es zu danken, daß ich hier im Dunkeln sitze!«
»Ihr still sein, oder ich weggehen«, antwortete der Kahuilla dringend. »Ich nicht Euch verraten, ich verraten Desparado, der mich mit Stiefel werfen, Ihr leider mit gefangen; nicht meine Schuld. Ich Freund haben muß, Freund zusammen mit mir arbeiten. Irländers Freund tot, Bootjacks Freunde tot, Irländer und Bootjack Freunde, sie verdienen viel Geld. Irländer gut zeugen für armen Bootjack, ihn nennen unschuldig, Bootjack dafür retten Irländer!«
»Sprich die Wahrheit, rothäutiger Schurke«, schrie Finney den Indianer an, und seine Stimme bebte vor Aufregung bei der erwachenden Hoffnung, noch einmal frei ausgehen zu können; »sprich, bist du gekommen, mir aus diesem verdammten Loche zu helfen, oder willst du mich nur verhöhnen? Hüte dich, deinen Scherz mit mir zu treiben; denn noch besitze ich, trotz der Handschellen, die Kraft, dich zu zermalmen!«
»Ihr mich nicht haben, mich zu zermalmen«, entgegnete Bootjack ruhig; »Ihr mir aber versprechen, mein Freund sein, ich Euch helfen frei aus dieses Loch.«
»Ja, ja, ich will dein Freund sein, auf Tod und Leben«, antwortete der Irländer, der immer nüchterner wurde; »zeige mir nur den Weg, Bruder, und ich bin der deinige, ich schwöre es dir, beim heiligen Patrik; ich will mit dir Freude und Leid teilen, nur zeige mir den Weg ins Freie, schnell, schnell, die Zeit eilt – und bei Tagesanbruch kommen sie schon, um mich vorzubereiten. Hu – der Galgen – Bootjack! Freund, Bruder, helfe mir!«
Aus Finneys Worten sprach eine solche Todesangst, daß Bootjack glaubte, ihm trauen zu dürfen, und sich innerlich freute, durch den größten Dienst, den er ihm hätte leisten können, einen unverbrüchlich treuen Genossen für sein ganzes Leben gewonnen zu haben.
»Es noch früh sein,« rief er dem Irländer zu, »noch zu früh; Leute auf Straßen kommen können. Aber dunkel hier; schon leise anfangen. Bootjack in selbes Loch gesessen, fünf, sieben, acht, zwei Wochen gesessen. Bootjack Öffnung machen in Mauer, Öffnung beinahe fertig, dann Bootjack frei geben, Bootjack Öffnung nicht brauchen, Öffnung aber verstecken, denken sie gebrauchen eine andere Zeit. Irländer also still, ganz still, still wie Fuchs; ich ihm zeigen Öffnung mit spitzen Stock. Stock durch Mauer schieben; Irländer Stelle wissen; Lehm loskratzen, Sand und Stein forträumen und kriechen ins Freie, fliehen mit Bootjack ins Gebirge, Bootjack niemand finden.«
Bei des Kahuillas Mitteilungen horchte Finney hoch auf. Mit der Hoffnung auf Rettung waren auch seine Lust zum Leben und seine krankhafte Furcht vor dem Galgen wieder erwacht, und hörbar klapperten seine Zähne aufeinander, als er, mit Rücksicht auf des Indianers Warnung, kein Wort mehr sprach und dessen weitere Vorgehen abwartete.
Vorsichtig, wie er hinaufgeklettert war, glitt Bootjack unterdessen an der Mauer nieder, und längere Zeit dauerte es, ehe der vor Ungeduld halb wahnsinnige Räuber wieder ein Lebenszeichen von ihm vernahm.
Wie fast alle älteren Gebäude Kaliforniens, war auch das Gefängnis nur aus ungebrannten Steinen aufgeführt worden, die so miteinander verbunden waren, daß sie eine feste, zusammenhängende Lehmmasse bildeten.
Wenn man auch, der größten Festigkeit und Sicherheit wegen, hin und wieder Feldsteine mit zu dem Mauerwerk verwendet hatte, so war es für einen entschlossenen Mann doch immer keine schwierige Aufgabe, und wenn er als einziges Handwerkszeug nur ein Messer besaß, sich allmählich durch die zwei und einen halben Fuß dicke Wand hindurchzuscharren.
Finney selbst stand allerdings weiter nichts zur Verfügung als seine nackten Hände; dafür hatte Bootjack aber schon, als er einst wegen eines Diebstahls in demselben Gemach längere Zeit gefangen gehalten wurde, die Vorarbeiten beendigt.
Wie er dem Irländer mitgeteilt hatte, war er nur dadurch an seiner Flucht verhindert worden, daß man ihn, um den unverbesserlichen Bösewicht nicht länger ohne Zweck zu füttern, in Freiheit setzte.
Diesem Umstande war es zu verdanken, daß die schadhafte Stelle in der Mauer nicht entdeckt wurde; denn Bootjack hatte, so oft die ihm zu der heimlichen Arbeit vergönnten Stunden abgelaufen waren, den losen Schutt stets wieder in die Öffnung hineingebracht und diese dann mit aufgeweichtem Lehm, wozu er einen Teil seines Trinkwassers verwendete, sorgfältig verklebt und verschmiert. –
Finney, von einer Art Fieber geschüttelt, hatte sich wieder auf seine Matratze niedergelassen und harrte mit Spannung auf ein Zeichen und die nötigen Anweisungen, seine Arbeit zu beginnen.
Da fühlte er plötzlich einen schwachen Stoß an der Matratze, dem sogleich ein stärkerer Druck folgte.
Er erschrak, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern überlegte, von woher die Bewegung komme.
Nach längerem Sinnen, als die Stöße stärker wiederholt wurden, schien er die Richtung zu erraten, denn indem er sich auf die Seite warf, fuhr er mit beiden gefesselten Händen zwischen Matratze und Wand und dort einige Male auf und ab.
»Er hat die Wahrheit gesprochen«, stöhnte er vor Wonne, als er einen starken spitzen Pfahl erfaßte, den Bootjack nach Entfernung einiger nach außen vorspringender Feldsteine mit Leichtigkeit durch den Schutt und die innere schwache Verkleidung durchgestoßen hatte. Und im nächsten Augenblick schleuderte er die Matratze zurück, um sich mit aller Macht an die Erweiterung der Öffnung zu begeben.
Hastig entriß er dem Kahuilla den Pfahl, und diesen bald als Brechstange benutzend, bald, wie mit einem Widderkopf, gegen die Mauer stoßend, gelang es ihm leicht, den wieder festgesunkenen Schutt aufzulockern, den er sodann schnell mit den Händen forträumte. –
In seinem Eifer, vor allen Dingen die Gewißheit zu erlangen, daß wirklich ein Kanalgang durch die Mauer hindurchführte, hatte Finney gar nicht darauf geachtet, daß die Röhre, aus der er den losen Schutt entfernte, ringsum durch schwere, selbst für seine Kräfte zu schwere Feldsteine begrenzt wurde, die von beiden Seiten, sowie auch von oben und unten einen Raum von nur wenig mehr als einem Fuß Durchmesser offen ließen.
Dergleichen Steine waren bei der Errichtung des Gebäudes, wie schon erwähnt, in bestimmten Zwischenräumen in das Gemäuer eingefügt worden, um den massiven Lehmwänden an sich mehr Festigkeit zu verleihen, vorzugsweise aber wohl, um sie sicherer mit den Fundamentmauern zu verbinden.
Finney bemerkte also diesen Übelstand nicht, oder betrachtete ihn auch als zu geringfügig, während Bootjack das Mißliche nicht erkannte, weil er aus Erfahrung wußte, daß er seinen eigenen Körper ohne große Mühe durch die Öffnung durchzwängen konnte, und wahrscheinlich noch nie einen Vergleich zwischen Finneys herkulischen Schultern und seinen eigenen schmächtigen und geschmeidigen Gliedern angestellt hatte.
Erst nachdem Finney, tief aufatmend, mit der feuchten Luft auch einen Vorgeschmack der verlockenden Freiheit eingeatmet hatte, dachte er daran, die weit vorgestreckten Hände zurückzuziehen und von der inneren Oberfläche der Mauer aus mit der Erweiterung der Röhre zu beginnen.
»Ihr jetzt frei sein«, sagte Bootjack, indem er den Rest des von Finney losgebrochenen Schuttes nach außen forträumte und dann Kopf und Schultern eine kurze Strecke weit in die Mauer hineinschob. »Ihr jetzt kommen und Bootjacks Freund. Ich Eisen an Eurer Hand zerschlagen mit Stein. Ihr kommen jetzt, nicht verlieren Zeit.«
Finney antwortete nicht, dafür aber ließ sich lautes Stöhnen und Ächzen vernehmen, mit dem er seine ganzen Riesenkräfte aufbot, einen der Steine loszubrechen, die ihm jetzt allein noch die Flucht abschnitten.
Er versuchte es an dem einen, an dem zweiten, er versuchte es an allen in seinem Bereich befindlichen; doch vergebens. Die Steine waren zu schwer, boten den Händen zu geringe Haltepunkte und saßen zu fest in dem Gemäuer. Er hätte die Hälfte der ganzen Wand einreißen müssen, um die schweren Lasten zu bewältigen, die dann allerdings nur ein Kinderspiel für ihn gewesen wären.
»Ihr kommen, nicht Zeit zu warten; wir vor Tag ins Gebirge«, flüsterte der ungeduldige Kahuilla, der noch immer nicht begriff, warum der Irländer so lange zögerte.
Da brach mit lautem Krachen der Pfahl, den Finney als Hebel benutzt hatte, doch von den Steinen rührte sich keiner.
Bootjack schnellte bei dem Geräusch empor und verschwand hinter der nächsten Hausecke, und erst nach Verlauf einer halben Stunde, nachdem er sich überzeugt, daß das Krachen niemand herbeigelockt hatte, wagte er sich wieder in die Nähe des Gefängnisses.
»Ihr Narr sein, Ihr Leute rufen, Euch zu halten; warum nicht schnell kommen?« fragte der Kahuilla leise durch die Röhre, als er auf der andern Seite das Stöhnen, Fluchen, Stampfen und das zeitweise Klopfen und Hämmern des Irländers vernahm.
»Satan, Schurke! Also darum zeigtest du mir die Öffnung, daß ich wie ein gefangener Wolf davor liegen bleiben soll?« rief Finney so laut, daß Bootjack sich mißtrauisch nach allen Richtungen hin umschaute; »ich soll hier liegen bleiben, bis sie kommen, um mich zu hängen! Verdammt! Wo ist Toby? Er würde mir helfen!« Und indem er diese Worte keuchend hervorstieß, hörte der Kahuilla ein dumpfes Krachen und Klirren von Eisen, mit dem der Irländer abwechselnd seinen Kopf und die gefesselten Hände gegen die Mauer schlug.
Bootjack mochte wohl einsehen, daß ein längerer Verkehr mit dem ergrimmten und verzweifelten Irländer für ihn gefahrbringend werden könnte. Er beschloß daher, letztem seinem Schicksal zu überlassen, ihn vorher aber noch zu warnen und womöglich zur Flucht zu bewegen.
»Ruhig sein oder Leute kommen«, rief er dem vor Wut fast wahnsinnigen Finney leise zu; »wenn Ihr nicht kommen, ich gehen allein, ich nicht mit Euch hängen.«
Finney verstummte und sann eine Weile nach. Daß für ihn die letzte Möglichkeit geschwunden sei, aus dem Gefängnis zu entrinnen, hatte er längst eingesehen; dagegen wurde ihm jetzt erst klar, daß der Kahuilla es in der Tat aufrichtig mit ihm gemeint und sich selbst über den Zustand der Mauer und über die erforderliche Weite der Röhre getäuscht hatte. Als er aber bedachte, daß jener, im unbestrittenen Besitz seiner Freiheit, ohne ihn davongehen und ihn seinem Schicksal überlassen würde, da knirschte er vor tierischer Wut mit den Zähnen, und zugleich riß er an den Fesseln, daß das Eisen tief ins Fleisch eindrang und er das Blut warm an seinen Händen herunterrieseln fühlte.
»Bootjack, mein einziger Freund«, stöhnte er leiser, als er vorher getan; »du mein einziger Freund, weiche nicht von mir; auf meinen Knien flehe ich zu dir, laß mich nicht allein, gehe nicht von mir. Vielleicht gelingt es uns noch, die Öffnung zu erweitern; ich komme nicht hindurch, meine Schultern sind zu breit, ich kann nicht hindurch!«
Als Bootjack den alten Preisboxer, von dem er manchen schmerzhaften Stoß, manchen Schlag zu erdulden gehabt, so demütig bitten hörte, kicherte er schadenfroh vor sich hin. Kaum vernahm er aber den Grund, warum Finney sich nicht zu ihm geselle, so sann er auch schon darüber nach, auf welche Weise ihm dennoch zu helfen sei.
»Böse, sehr böse das«, rief er leise zurück, indem er sich vor die Röhre niederlegte, um zu prüfen, ob sich nicht mittels eines Messers die Öffnung würde vergrößern lassen; »böse das, sehr böse«, wiederholte er, als er mit der Spitze seines Messers in der ganzen Höhle herumfuhr und überall nur auf festes Gestein traf. »Steine zu groß, zu schwer; Ihr Euch klein machen, Hände zuerst durch, dann Kopf, ich an Händen ziehn, Ihr müssen durch; Nacht schon spät; wenn Ihr nicht durch, armer Bootjack allein gehen, gehen ohne starken Freund.«
»Bootjack, verlaß mich nicht,« flehte der Irländer wieder, und seine heisere Stimme erhielt einen eigentümlich zitternden und erwartungsvollen Ausdruck, »wenn du nur hereinkommen und Hand an diesen Stein legen wolltest. Er ist schon locker, mit deiner Hilfe muß es gelingen, ihn zu entfernen.«
»Ich nicht kommen, ich Furcht«, entgegnete der Kahuilla entschieden.
»Meine Hände sind gefesselt, ich vermag den Stein nur an einer Seite zu fassen, komm, helfe, guter Bootjack, helfe deinem Freunde«, bat Finney, kaum noch verständlich vor innerlich kochender, aber verhaltener Wut.
»Nein, nein, ich Euer Freund, ich aber nicht kommen, ich fürchten Gefängnis, ich lieber gehen allein; ich nicht lieben Mauern um mich her; frische Luft und Regen besser.«
»Warte, warte, ich komme schon,« ächzte Finney, »der Stein rührt sich schon mehr; warte, nur einen Tropfen Whiskey will ich nehmen und mich stärken – ah – wie Feuer brennt das Getränk in meiner Brust – auch du sollst trinken, wenn du mir versprichst, den Krug nicht leer zu trinken.«
»Ihr Whiskey?« fragte Bootjack schnell.
»Ja, und so guter Whiskey, wie er noch nie besser in dieser Stadt ausgeschenkt wurde. Hier steht der Krug gerade vor der Röhre; nimm ihn und trinke, trinke ihn aber nicht leer; stelle ihn sodann draußen so hin, daß er nicht umgestoßen wird, und wenn ich nach Entfernung dieses Steins die Hände zu dir hinausstrecke, dann ziehe mit aller Kraft; aber stärke dich vorher durch einen Trunk; komm, hier steht er!«
Bootjack richtete sich auf die Knie auf und sann einen Augenblick nach. Nur kurze Zeit schwankte er zwischen seiner gewöhnlichen Vorsicht und seiner unbesiegbaren Gier nach dem Feuerwasser; dann aber legte er sich lang vor die Öffnung hin, und seine Arme weit vorausstreckend, kroch er gerade tief genug in die Röhre hinein, um den Krug erfassen zu können.
Der Krug stand in der Tat genau auf derselben Stelle, die Finney bezeichnet hatte. Über ihm aber schwebten, wie der Schlagblock an einer Wolfsfalle, die durch schwere Eisen mit einander verbundenen Fäuste des Irländers. –
Zoll für Zoll schob Bootjack sich unterdessen nach vorn. Da berührten seine Fingerspitzen den glatten Krug, der sicherste Beweis, daß Finney ihn nicht getäuscht hatte, und dadurch kühner gemacht, bewegte er sich noch etwas weiter vorwärts, um das Gefäß mit den Fingern zu umspannen.
Endlich befand es sich in seinem Besitz; ehe aber noch der Kahuilla eine Bewegung nach rückwärts auszuführen vermochte, fühlte er seine Hände dicht oberhalb der Knöchel mit unwiderstehlicher Gewalt umklammert. –
Ein erstickter Schrei verhallte in der Röhre; der sich windende Körper des Indianers verschwand mit Gedankenschnelligkeit in der Mauer, ein schwaches Röcheln ließ sich im Innern des Gefängnisses vernehmen, und dann war es plötzlich wieder still. –
Der Regen plätscherte in die Traufen, die Tropfen machten die verrosteten blechernen Röhren ertönen und bezeichneten mit regelmäßigem Klang das Entfliehen der Sekunden, aus dem Innern des Gefängnisses aber erschallten, schauerlich dröhnend, vier oder fünf Schläge, als wenn ein weicher Gegenstand gegen einen festen geschmettert worden wäre. –
Hu, wie der Regen plätscherte, wie die Tropfen die Sekunden zählten, und wie die schwarze Nacht alles so dicht verhüllte! –
Als beim Aufbruch des Tages der Schließer sich in Finneys Zelle begab, um mit den Vorbereitungen zu dessen letzter Reise zu beginnen, da wartete seiner eine seltsame, grausige Szene.
Durch die Röhre in der Mauer fiel ein schmaler Lichtstreifen, und indem dieser sich mit der durch das kleine Fenster wieder eindringenden Helligkeit vereinigte, beleuchtete er die leblosen Gestalten Bootjacks und des Irländers.
Ersterer lag mit zerschmettertem Schädel auf der Matratze; Finney dagegen hing von den eisernen Stäben des Fenstergitters nieder. Der Lasso, den der Kahuilla um seine Hüften geschlungen getragen hatte, war von ihm als willkommenes Mittel zu seinen Zwecken betrachtet worden.
Er hatte dem Henker nur um wenige Stunden vorgegriffen, das neugierige Publikum aber um ein längst erwartetes Schauspiel, um das letzte Auftreten des »weltberühmten« Herkules Rainaldo betrogen.