Balduin Möllhausen
Der Majordomo
Balduin Möllhausen

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Der letzte Schmuck.

Ein trüber, unfreundlicher Tag folgte auf die verhängnisvolle Nacht. Die Sonne hielt sich hinter einer schweren, bleifarbigen Wolkendecke verborgen; der mit nur ganz kurzen Unterbrechungen fallende Regen schnitt eine weitere Fernsicht vollständig ab und verwandelte die Tageshelle in eine Art Dämmerlicht.

Von Tausenden und Abertausenden von Geschöpfen wurde der langersehnte Regen mit dankbarem Herzen begrüßt. Für sie war der Tag nicht trübe, nicht unfreundlich, sondern ein Fest.

Versprach er doch die Fesseln zu lösen, in denen die zarten Keime von Pflanzen und Pflänzchen seit vielen Monaten schmachteten; noch einmal die heitere grüne Farbe hervorzurufen, die in den Wiesen schon zur Seltenheit geworden; noch einmal die dürre, staubige Ebene mit einem Mantel von nahrhaftem Grase und duftenden Kräutern zu schmücken, ehe die rauhen Stürme des Winters erstarrend und tötend über sie hinfuhren. –

Wie sie so emsig niederrasselten, die großen und die kleinen Tropfen, auf die flachen Dächer von Sanchez' Rancho, und wie sie sich beeilten, an den Rand der sich senkenden Flächen zu gelangen, wo sie dann kopfüber in die langen Furchen unter den Traufen hinabstürzten, die im Laufe der Zeit von ihren Vorgängern allmählich ausgewühlt worden waren, und in denen, da das Wasser nur den leichten Sand fortgeschwemmt hatte, die zurückgebliebenen farbigen Kiesel eine Art von Mosaik bildeten.

Von den bunten Steinchen war an diesem Tage freilich nichts zu sehen, denn sie standen alle unter Wasser; dagegen tanzten auf diesem große Blasen, die nach dem Niedersinken jedes schwereren Tropfens auf der bewegten Oberfläche entstanden, schnell wieder von den nächsten Tropfen zerschmettert und durch neue Blasen ersetzt wurden.

Es war ein gar reizendes Spiel, das die Wassertropfen aufführten; ein Spiel, dem man, von einer geschützten Stelle aus, stundenlang hätte zuschauen mögen, wenn man darüber nicht schläfrig geworden und zuletzt sogar eingenickt wäre.

Es war in der Tat ein Tag, so recht zur behaglichen Ruhe und Rast geschaffen. Lag es nun in der eintönigen Färbung der Atmosphäre oder in der gleichmäßigen Weise, in der der Regen bei der nahe dem Erdboden herrschenden Windstille niedersank, oder in dem ununterbrochenen Plätschern, Gurgeln und Brausen, so viel ist gewiß: die meisten der Bewohner der zu der Rancho gehörigen Hütten empfanden den Einfluß der einschläfernden Musik und ließen auf ihren Decken, in einem Mittelzustande zwischen Wachen und Träumen, manches Stündchen im süßen Nichtstun verstreichen.

Viele lagen vor den Kaminen, in denen sie, um eine größere Behaglichkeit herzustellen, ein Feuer angezündet hatten. Andere hatten sich so auf die Schwellen der Haustüren hingestreckt, daß sie das Plätschern unter den Traufen beobachten konnten. Wieder andere kauerten in den Ställen umher und nickten und träumten mit den Pferden um die Wette oder schauten neidisch zu den Enten auf dem Pfuhl hinüber, den einzigen Geschöpfen auf der Rancho, die einen besondern Genuß darin fanden, sich recht naß regnen zu lassen, vor lauter Wonne über das viele, viele Wasser unablässig schnatterten und vergnügt die kleinen, nach oben gekrümmten Schweiffederchen schüttelten, oder auch mit den Flügeln, durch heftiges Schlagen und Peitschen, zahlreiche Wellen erzeugten.

Entspann sich aber wirklich hier und dort eine längere Unterhaltung zwischen den müßigen Leuten, so betrafen die Gespräche ganz gewiß einzig und allein die Begebenheiten der letzten Nacht, von denen die Bewohner des Herrenhauses mehr oder minder betroffen worden waren. Daß der ganze Umfang der Wahrheit vorläufig noch nicht verlautete, dafür sorgten der Ranchero und Don Pico, die dabei von den wichtigsten Beweggründen geleitet wurden.

Die beiden Herren waren ebenfalls erst um die Mittagsstunde, vollständig durchnäßt und in der Begleitung von einigen Gerichtspersonen und einem alten Trapper, aus der Rancho eingetroffen und hatten seit jener Zeit ebensowenig das Herrenhaus verlassen, als daß jemandem der Eintritt gestattet gewesen wäre.

Man harrte offenbar noch auf die Heimkehr des Majordomos und seiner Begleitung; zu welchem Zweck? Das war den Bewohnern der Hütten fremd. Man ahnte indessen, daß es sich um wichtige Geheimnisse handle und daß man den Verdacht hege, einzelne der zu der Rancho gehörigen Leute ständen in näherer Beziehung zu der Bande der Desperados.

Gewiß wußte man nur, daß die Gefangennahme mehrerer schon auf dem Wege nach Pueblo de los Angeles befindlichen Räuber nicht ohne Blutvergießen hatte ausgeführt werden können, daß El Muerte verschwunden sei; daß ferner ein Verwundeter oder Toter auf der Rancho aufgenommen worden war; was über dieses hinausging, waren eben nur Vermutungen, die aber die Spannung noch steigerten, mit der man der Heimkehr der Abwesenden allgemein entgegensah.

Hinter den Fensterscheiben des Herrenhauses zeigten sich zuweilen verstörte Gesichter und rotgeweinte Augen, die sich indessen kaum durch die verzögerte Heimkehr der Abwesenden allein erklären ließen.

Ernstere Befürchtungen und tieferer Kummer schienen zugrunde zu liegen und die Sehnsucht nach den Erwarteten mit einem Gefühl der Bangigkeit zu vermischen.

Die Rancho nahm sich daher nicht weniger trübe und unfreundlich aus, als der graue Himmel über ihr. Nichts war zu sehen von dem fröhlichen Leben, das gewöhnlich in ihrer Umgebung herrschte; sogar die geschlossenen Fenster und Türen, wie auch die gelblich-grauen, durch die Feuchtigkeit stellenweise dunkler gefärbten Wände trugen gleichsam den Charakter einer ernsten Stimmung, und die einsame Palme, die auf der Mitte des Hofes hoch über die Gebäude hinausragte und sonst immer so stolz und anmutig um sich schaute, ließ ihre malerischen, vom Wasser beschwerten Wedel niederhängen und spiegelte sich, wie sinnend, in dem kleinen Bassin, dessen zu- und abfließender Inhalt seit dem Beginn des Regens eine trübe Lehmfarbe erhalten hatte.

Die Geduld derjenigen, die am ängstlichsten harrten, sollte indessen auf eine harte Probe gestellt werden.

Stunden verrannen, der Regen fiel unablässig und schwer, die Dämmerung stellte sich früher als gewöhnlich ein, aber noch immer wartete man vergebens. Lichter erschienen hinter den Fenstern; die dem späten Aufgang des Mondes vorhergehende Finsternis wurde fast undurchdringlich, doch die Erwarteten blieben fern.

Don Sanchez schritt, um seine Unruhe zu verbergen, mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen in dem Wohngemache auf und ab. Don Pico begleitete ihn zuweilen, zuweilen nahm er zwischen den beiden Sennoritas Platz, um ihnen Mut und Hoffnung zuzusprechen; doch was er auch Tröstendes vorbringen mochte, es fand nirgends Eingang; und durch das Bewußtsein, daß alle seine Mühe fruchtlos sei, erhielt seine Stimme einen fast ebenso fröstelnden, eintönigen Klang, wie das Plätschern des Regens unter den Traufen oder das leise Anschlagen der abirrenden Tropfen an die Fensterscheiben.

Da ließen sich endlich von den Hütten der Kahuillas her laute Zurufe vernehmen, und gleich darauf erschallte es bei den Ställen: »Sie kommen!«

Inez hatte den Ruf gehört; die Farbe ihres Gesichtes wechselte, und gleich Maria sprang sie, ihrem ersten Impuls folgend, empor, um die Erwarteten unter dem Portal zu empfangen.

Der Drang, sich von der glücklichen Heimkehr des Geliebten zu überzeugen, hatte sie zu dieser unwillkürlichen Bewegung veranlaßt.

Ehe sie aber noch die Tür erreichte, stand sie schon wieder still, als ob sie sich gescheut oder eines andern besonnen hätte.

»Ich kann nicht, ich darf nicht«, hauchte sie mit einem schmerzlichen Seufzer vor sich hin, indem sie ratlos um sich schaute.

Ihr Vater, der ebenfalls hinauseilen wollte, befand sich gerade hinter ihr. Er hatte ihre Bewegung bemerkt und ihre Gefühle erraten.

»Vater,« sagte sie, sobald Don Pico und Maria unter der Veranda verschwunden waren, mit weicher Stimme, indem sie ihren Arm zärtlich um seinen Hals schlang, »Vater, du gestattest mir, daß ich es allein übernehme; ich vermag in seinem Herzen zu lesen, und ich will das Schlimmste nicht glauben, ehe ich nicht klare, untrügliche Beweise dafür habe.«

»Ich habe es dir versprochen, meine Tochter, und ich halte Wort«, entgegnete der Ranchero, durch den kummervollen Ausdruck in der Stimme des jungen Mädchens schmerzlich bewegt, was bei ihm, der sonst nie ein anderes, als ein fröhliches Gesicht zeigte, um so auffallender hervortrat.

»Die Ehre meines Hauses muß unangetastet bleiben,« fuhr er ernster fort, »durch keinen Hauch darf sie getrübt werden; doch auch ich will nicht eher ein Urteil fällen, als bis der letzte Schimmer der Möglichkeit einer günstigen Aufklärung gewichen ist. Zu diesem Zweck allein bat ich den alten Trapper und die Gerichtsleute, sich vorläufig noch fernzuhalten und mit ihren Fragen, betreffs des unglücklichen jungen Mädchens, bis zu gelegenerer Zeit zu warten. Doch nun komm, mein Kind; zeige dich stark und handle, wie es dein guter Engel dir eingibt und wie es meiner mutigen Tochter geziemt.«

Inez küßte ihren Vater zärtlich, und sich dann stolz emporrichtend, schob sie ihren Arm durch den seinen, worauf sich beide zum Portal begaben.

In demselben Augenblick, in dem sie dort anlangten, gewahrten sie beim Schein der Laternen, daß der Majordomo und Sidney von ihren erschöpften Pferden sprangen und die Zügel den harrenden Knechten darreichten.

Juan und die übrigen Begleiter waren geradeswegs nach den Ställen hingeritten, und aus den lauten Fragen und Antworten, die dort gewechselt wurden, ging hervor, daß die Expedition, wenn auch nur mit teilweisem Erfolg, doch glücklich und ohne Unfall zu Ende geführt worden war.

Als Robert und Sidney unter das Portal getreten waren, wo sie von allen Seiten willkommen geheißen wurden, entging ihnen die gedrückte, sorgenvolle Stimmung, die unter den sie Begrüßenden herrschte, natürlich nicht; sie erschien ihnen aber, nach den jüngsten Erlebnissen, zu gerechtfertigt, um noch Verwunderung darüber zu empfinden. Waren sie doch selbst den Tag über von Unruhe gequält gewesen, und zwar ebensowohl über den vermeintlichen Verlust ihres schwer und mühsam erworbenen Vermögens, von dem sie die Zeit der Erfüllung ihrer süßesten Wünsche abhängig glaubten, als auch über das geheimnisvolle Verschwinden des Knaben, denn weder von dem einen noch von dem andern hatten sie eine Spur entdeckt.

Sie hatten nämlich am vorhergehenden Abend die Milizen sehr bald eingeholt; und da diese, auf solche Art verstärkt, es für ratsam hielten, eine Abteilung der ihrigen nach dem Cajonpaß zu entsenden, um dem schon früher dorthin aufgebrochenen Scherif, bei dem sich auch Gale und dessen Söhne befanden, Beistand gegen die Übermacht der etwa nach dorthin fliehenden Desperados zu leisten, so schlossen sie sich der Hauptabteilung an und setzten in deren Gesellschaft die Verfolgung in der Richtung nach dem Gorgoniopaß fort.

Die Überzeugung, daß der Einbruch von den vor ihnen befindlichen Desperados ausgeführt worden sei und diese schwerlich den Weg durch den nähergelegenen Cajonpaß wählen würden, wo sie befürchten mußten, von den Milizen abgeschnitten zu werden, veranlaßte sie zu dieser Entscheidung. Außerdem bezweifelte aber auch niemand, daß die Wegelagerer, die auf Sanchez' Rancho den Raub verübt hatten, mit zu der großen Bande gehörten, die zu derselben Zeit, näher nach Pueblo de los Angeles hin, eine Hazienda überfiel, und zu deren Verfolgung sich dann die schon vorbereiteten und auf das gegebene Zeichen harrenden Milizen mittels der Signalfeuer zusammenlockten. Man hegte eben die Meinung, die vereinigte Bande habe, um eine etwaige Verfolgung zu zersplittern, den doppelten Einbruch lange vorher verabredet, und die auf Sanchez' Rancho beschäftigt gewesenen Mitglieder seien sodann der größeren Sicherheit wegen zu den auf der Landstraße fliehenden gestoßen.

Daß diese sich aber wirklich zerstreut und nur teilweise die Richtung nach dem Gorgoniopaß beibehalten hatte, war ihnen dagegen in der Dunkelheit entgangen. Erst später, ganz in der Nähe des Cajonpasses, entdeckten die dorthin entsandten Milizen, daß auch vor ihnen sich Flüchtlinge befanden, denen sie denn auch, nach ihrer Vereinigung mit Gale, in den Paß hinein und, wie schon berichtet, bis in ihren letzten Schlupfwinkel nachsetzten.

Auf die Spuren dieser letzteren nun waren der Ranchero und Don Pico gestoßen und, in ihrer Verfolgung, dem alten Gale und dessen Begleitern begegnet, als diese, nahe der Mündung des Passes, eben im Begriff standen, mit den sechs Gefangenen, die sie Bootjacks Verräterei verdankten, und der Leiche Juanitas, die sie vorsichtig auf ein Pferd befestigt hatten, den Heimweg anzutreten.

Nachdem die näheren Umstände, unter denen man El Muerte gefunden, von den Gerichtspersonen an Ort und Stelle genau ausgezeichnet worden waren, hatte man das Übereinkommen getroffen, die Gefangenen sogleich nach Pueblo de los Angeles zu befördern; den alten Gale aber, der in Juanita sogleich den Knaben Fernando wiedererkannte, nebst zwei Milizen und der Leiche des jungen Mädchens nach Sanchez' Rancho zu senden, wo man weitere Aufschlüsse über El Muerte und dessen mutmaßliches Zusammenwirken mit den Räubern, wofür der in seiner Nähe aufgefundene blutige Rock Finneys zeugte, zu erhalten hoffte.

Das unvermutete Zusammentreffen mit dem Ranchero selbst kam allen erwünscht, und so sehr Don Sanchez auch von dem Anblick der unglücklichen Juanita ergriffen war, so versäumte er doch nicht, mit der ihm angeborenen Gastfreundschaft alle die zu sich auf die Rancho einzuladen, die beim Transport der Gefangenen entbehrlich sein würden.

Die schon vorher bestimmten beiden Gerichtspersonen und Gale nahmen die Einladung an, während des letzteren Söhne in Gesellschaft der übrigen Milizen die Richtung nach Pueblo de los Angeles einschlugen, wo sie, zum Zweck der Zeugenvernehmung, ihren Vater erwarten sollten.

Diesen Umständen nun war es zu verdanken, daß der Ranchero und Don Pico schon um die Mittagszeit von ihrem frühen Ausfluge nach dem Cajonpaß heimkehrten und das ganze Haus durch die mitgebrachte Kunde in Schrecken und Bestürzung versetzten.

Weniger erfolgreich hatten sich die Bemühungen der andern Abteilung erwiesen, in deren Gesellschaft sich Robert mit des Rancheros Leuten befand.

Sie war kurz vor Anbruch des Tages und nach einer langen Hetze fast gleichzeitig mit den Räubern in eine enge Gebirgsschlucht eingedrungen, wo diese, nachdem sie einige Schüsse mit ihren Verfolgern gewechselt hatten, nach allen Richtungen hin auseinanderstoben und, unter Zurücklassung ihrer Pferde, auf nur ihnen bekannten Gebirgspfaden verschwanden. Dem Zufall allein war es zu verdanken, daß sie noch zwei der flüchtigen Desperados überraschten, als diese eben im Begriff standen, sich in einer Hütte an der Straße bei einem Helfershelfer zu verbergen.

Die Milizen beschlossen, wegen Übermüdung ihrer Pferde und des unablässig niederströmenden Regens, den Tag über in der Hütte zu rasten. Robert dagegen und seine Leute traten sogleich ihren Rückweg an. Sie nahmen keine andere Beruhigung mit, als die, daß dem Unwesen der Desperados auf längere Zeit in dem Tal von San Bernardino Einhalt getan sein dürfte.

Als sie des Abends spät auf der heimatlichen Hazienda eintrafen, hatten sie ebensowenig eine Ahnung von dem, was im Cajonpaß vorgefallen war, als Don Sanchez und die Seinigen die Erfolge der Bemühungen des Majordomos und seiner Begleiter kannten.

Beide Teile schwebten in Angst und Sorgen, und dennoch zauderten alle, Gegenstände zu berühren, von deren Erörterungen sie so bittere Resultate fürchteten.

Robert war der erste, der seinen Besorgnissen Worte verlieh, denn nachdem er Don Sanchez eine kurze Beschreibung seiner Jagd gegeben, trat er an Inez' Seite, und ihre Hand ergreifend, folgte er dem Ranchero, der schon wieder unter die Veranda hinausgetreten war.

»Fernando, ist er eingetroffen?« fragte er die Geliebte zärtlich und zugleich besorgt. »Wir entdeckten keine Spur von ihm«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, als Inez ihm nur durch einen unwillkürlichen, heftigen Händedruck antwortete; »wir entdeckten keine Spur von ihm. Meine einzige Hoffnung beruht jetzt nur noch darauf, durch die Gefangenen Auskunft über ihn zu erhalten. Der arme treue Knabe, die Sorge um ihn drückt mich wahrhaft nieder.«

Inez antwortete noch immer nicht, und hätten sie sich nicht im Schatten der zwischen ihnen und der Laterne hinschreitenden Maria befunden, die jetzt, kaum weniger wortkarg als ihre Freundin, den dringenden Fragen Sidneys nur abgebrochen und zerstreut antwortete, so würde Robert schwerlich der Ausdruck bangen Zweifels und herben Kummers entgangen sein, der auf ihren schönen Zügen gar seltsam mit schmerzlicher Teilnahme und Trauer um den Vorrang kämpfte.

Hatte er doch keine Ahnung davon, wie tiefes Weh in ihre Brust einzog, als er in seiner Frage nach dem Knaben einen so hohen Grad von liebevoller Anhänglichkeit durchblicken ließ.

»Den Verlust des Geldes verschmerze ich leicht,« fuhr er fort, seinen Arm zärtlich um sie legend, und seine Stimme klang milde und wehmütig, »wenn es mir nur gelingen möchte, den Knaben wieder aufzufinden; dies arme, arme Kind –«

Hier brach er ab, denn sie waren bis an die Tür von Don Sanchez' Gemach gelangt, durch die die beiden alten Herren schon eingetreten waren, während Sidney sich auf kurze Zeit von Maria verabschiedete, um seine durchnäßte Kleidung gegen trockenes Zeug zu vertauschen.

Auch Robert entschuldigte sich und versicherte, nach wenigen Minuten wieder zurück sein zu wollen.

Er hatte aber noch nicht ausgesprochen, da faßte Inez ungestüm seine Hand.

»Kommt,« sagte sie mit erkünstelter Ruhe, »kommt, Don Roberto, ich selbst will Euch Aufschluß über Fernando geben.«

»Über Fernando?« fragte Robert, und vergessen war seine bespritzte und durchnäßte Kleidung. »Über Fernando?« wiederholte er. »O sagt, meine geliebte Inez, was ist es? Wo ist er? Möchten Eure Nachrichten nur gute sein, denn der Knabe steht meinem Herzen sehr nahe; ich betrachte ihn als ein heiliges Vermächtnis seiner unbekannten Eltern –«

»Kommt«, entgegnete Inez, und ihre Stimme bebte leise; »ob gut oder böse, Ihr selbst mögt entscheiden; aber seid auf das Schlimmste gefaßt.«

Robert stutzte, und erfüllt von bösen Ahnungen folgte er ihr, als sie ihm voran, unter der Veranda hin, dem gegenüberliegenden Hausflügel zuschritt.

Gleich darauf gingen sie an einem hellerleuchteten, weiß verhangenen Fenster vorüber. Robert wußte, daß hinter diesem eine geräumige Halle lag, die ausschließlich bei festlichen Gelegenheiten und bei der Abhaltung des Gottesdienstes von den Hausbewohnern benutzt wurde.

Einen besorgten Blick warf er auf die durchschimmernden Vorhänge; zu gleicher Zeit legte aber auch Inez schon die Hand auf den Drücker der nahen Tür, und sich halb nach Robert umwendend, flüsterte sie, während ihr Körper vor heftiger Aufregung bebte:

»Don Roberto, es war mein Wunsch, daß kein anderer Euch die erschütternde Kunde mitteilen sollte. Ich mußte, ich wollte es selbst tun. Don Roberto, Ihr werdet Euern Fernando nie wiedersehen.«

»Oh, meine Ahnungen!« versetzte Robert traurig, indem er die Hand des zitternden Mädchens an seine Lippen führte. »Ich ahnte es schon, als ich bei meiner Ankunft Eure verstörten Züge gewahrte. Wenn aber etwas meinen Schmerz über den Verlust dieses Knaben zu mildern vermag, denn ich liebte ihn wie mein Kind, wie einen Bruder, glaubt mir, meine unaussprechlich teure Inez, dann ist es, daß Ihr meine Trauer so aufrichtig teilt und mir einen so tiefen Blick in Euer edles, wohlwollendes Herz gestattet. Mag die Erinnerung an diese Stunde bis an mein Lebensende eine wehmütige sein, unvergeßlich, beseligend bleibt mir der Augenblick, in dem Ihr mir so unzweideutig beweist, wie Ihr mir alles, alles sein wollt – ich errate: das arme Kind versuchte es, das Eigentum seiner Wohltäter zu schützen, zu verteidigen, und wurde ein Opfer seiner Treue.«

Roberts Worte trugen so sehr das Gepräge unverfälschter Wahrheit, und sein ganzes Wesen äußerte so viel Offenheit, daß Inez, die in ihrer südlichen Leidenschaftlichkeit sich noch immer von dem Geliebten hintergangen glaubte, dadurch vollständig entwaffnet wurde.

Verwirrt und unfähig, ein Wort hervorzubringen, öffnete sie die Tür, und gleichzeitig mit Robert trat sie ein. –

Auf einem Ruhebett, die Füße der Veranda zugekehrt, lag Juanita. Der nasse, zerrissene Anzug war von ihrem zarten Körper entfernt und durch ein weißes Gewand ersetzt worden; über ihre Füße hatte man ebenfalls eine weiße Decke geschlagen.

Das schöne Haupt, mit den jetzt auf der Stirn gescheitelten und sorgfältig geordneten Haaren, ruhte etwas erhöht; die zartgeformten Hände hatte sie unterhalb der Brust gefaltet, und zwischen ihnen befanden sich noch immer die Reste des verwelkten Blumensträußchens, während mitten auf der Brust das kleine Kruzifix lag, von dem sie kurz vor ihrem Tode das Blumensträußchen genommen hatte.

Am Kopfende des Ruhebettes standen auf jeder Seite drei schwere silberne Leuchter mit halb niedergebrannten Wachskerzen, die ein ruhiges, feierliches Licht auf die rührende Szene warfen.

Leicht, wie bei einer sanft Schlummernden, waren die Augenlider mit den langen seidenen Wimpern geschlossen; so leicht und leise, als wolle sie eben erwachen und mit fragenden Blicken um sich schauen.

Auf den lieblichen, nicht durch Krankheit oder Schmerz entstellten Zügen thronte noch immer das letzte süße Lächeln, und nur die alabasterähnliche Weiße der Haut, die zu den schwarzen, schöngezeichneten Brauen und den üppigen, bis auf die Schultern reichenden Locken seltsam kontrastierte, ließ die unerbittliche Hand des Todes erkennen.

So lag sie da in himmlischer Ruhe, – ein Bild des ewigen Friedens, der endlosen Seligkeit. –

Als Robert in das Gemach trat und mit einem Blick die ganze Szene erfaßte, da seufzte er tief auf; doch kein Laut der Klage oder der Überraschung kam über seine Lippen. Schmerzlich bewegt zog er die Geliebte an sich, aber lange dauerte es, ehe er, unter der schweren Wucht der Empfindungen, Worte fand.

Vor seinem Geiste zog die ganze Zeit vorüber, während der er gewohnt gewesen war, den Knaben um sich zu sehen. Was ihm so oft rätselhaft an ihm erschienen, jetzt wurde es ihm plötzlich klar. Er verstand die ängstliche Wildheit, mit der er ihm einst in dem Bergwerk, von dunkeln Gefühlen geleitet, die Einsicht in die Brieftasche verweigerte; er erklärte sich sein schüchternes, zurückhaltendes Wesen, seine Weichherzigkeit, seine Worte und seine Blicke, und alles, alles erhielt für ihn eine andere Bedeutung.

»Armes, schwergeprüftes Wesen,« sagte er so traurig, daß der ohnehin tief ergriffenen Inez die Tränen in die Augen traten, und sie sich, befreit von jedem Zweifel, fester an ihn schmiegte, »was hast du verbrochen, daß du während deines kurzen Erdendaseins nur die trübsten Schattenseiten des menschlichen Lebens kennen lernen durftest? Armes, schwergeprüftes Kind, wie kurzsichtig bin ich gewesen! Oh, hättest du mir dein Herz vertrauensvoll geöffnet, wieviel anders hätte es sein können!« So sprechend trat er ans Kopfende des Ruhebettes, und während eine Träne ihm über die gebräunte Wange rollte, strich er leise mit der Hand über Juanitas kalte Stirn.

»Arme, zu früh und unbarmherzig geknickte Blume; als sprechendes Sinnbild gab man dir verwelkte Blumen mit,« begann er wieder, wehmütig auf die liebliche Tote niederschauend, »im Finstern hat man dich aufwachsen lassen, die du nach Licht und Wärme strebtest. Was du gelitten, was du erduldet hast, wer hat es zu verantworten? Und welches sind die Geheimnisse, die deine erste Jugendzeit neidisch umhüllen? – Wie die verdorrten Blumen in deinen Händen, so blühtest auch du nur eine ganz kurze Zeit, um deine Mitmenschen zu erfreuen, du arme verwelkte Rose.«

»Juanita Estevan ist ihr Name, und derjenige, dem sie ihr hartes Los verdankt, steht vor seinem letzten Richter«, flüsterte Inez, übermannt von Wehmut.

»Juanita Estevan,« wiederholte Robert sinnend, »wie gern hätten wir dir ein besseres Los bereitet, sie, die hier an deiner irdischen Hülle weint, und ich; habe ich recht?« fragte er, Inez mit unbeschreiblicher Innigkeit in die umflorten Augen blickend.

»Gewiß, Robert, gewiß«, entgegnete Inez schluchzend, indem sie sich an des Geliebten Brust warf.

Mehr zu sprechen vermochte sie nicht; Beschämung und bittere Selbstvorwürfe bestürmten sie zu mächtig. Sie hätte vor ihm niedersinken, sich selbst anklagen, ihre törichten Zweifel eingestehen und seine und Juanitas Verzeihung erflehen mögen. Er aber schloß sie fester in seine Arme, und auf Juanita deutend, flüsterte er ganz leise:

»Vor einem heiligeren Zeugen hätte ich dir nicht unverbrüchliche Liebe und Treue geloben können.«

»Wie danke ich dir aus tiefstem Herzensgrunde«, entgegnete Inez kaum verständlich; »nur der Anblick des lieben Wesens hier vor uns ist es, was meinem Glück jetzt noch eine trübe Färbung verleiht und mich mit bitterer Wehmut erfüllt.« Doch dann drängte sie Robert der Tür zu.

»Geh, mein Geliebter,« sagte sie liebevoll, »geh und sorge für dein Wohl; du bist durchnäßt und kalt; geh! kleide dich um, und nach einer Viertelstunde erwarte mich hier.« Und nachdem er sie dann noch einmal innig umarmt, eilte sie zuerst nach dem Gemach ihres Vaters, um Maria zu rufen, und dann mit dieser schleunigst nach dem eigenen. –

Die Viertelstunde war noch nicht verstrichen, da näherte Robert sich schon wieder der Halle, in der Juanita lag. Er fand die Tür nur angelehnt, und da er auf der andern Seite eine Bewegung vernahm, so schob er sie geräuschlos so weit auf, daß er das ganze Gemach zu überblicken vermochte.

»Man gab dir, als sprechendes Sinnbild, verwelkte Blumen mit«, hatte er gesagt, als er das trockene, zerknitterte Sträußchen, ohne es wieder zu erkennen, und sonst nicht den geringsten Schmuck an der Toten bemerkte.

Wie freudig überraschte es ihn daher, zu gewahren, daß sie jetzt mit grünen Zweigen und Blüten förmlich bedeckt war, und daß Inez wie Maria mit immer neuen Blumen, wo sich solche nur anbringen ließen, die friedlich Schlummernde sinnig schmückten.

Ihren ganzen Vorrat sorgfältig gepflegter Stubengewächse hatten die beiden Mädchen freudig geopfert und in der kurzen Zeit während Roberts Abwesenheit fast Unmögliches geleistet.

Zwischen den Leuchtern standen, eine Art Laube bildend, duftende Blumentöpfe; um das lockige Haupt hatten sie frische Myrtenzweige geschlungen, Spätrosen und immergrüne Blätter auf den erkalteten Busen gelegt. In den gefalteten Händen dagegen befand sich noch immer das verwelkte Sträußchen, das Liebeszeichen, das sie, in kindlicher Einfalt und umgaukelt von freundlichen Träumen, sterbend ihrer Mutter darzureichen gemeint hatte.

Gerührt beobachtete Robert die beiden Freundinnen, wie sie, auf den Zehen schleichend, die Tote gleichsam zu stören befürchteten, und hin und wieder eine Blume küßten und mit Tränen benetzten, ehe sie sie auf die ihr bestimmte Stelle niederlegten.

Als er dann endlich zu ihnen herantrat, Maria freundlich dankend die Hand reichte, Inez aber zärtlich in seine Arme schloß, da war es, als ob sie vereinigt um eine entrissene Schwester getrauert und ihr einen großen, großen Anteil ihrer irdischen Liebe mit hinübergegeben hätten. –

Der Stolz und die aus tiefer Leidenschaft entspringende Hinneigung zur Eifersucht, denen Inez so manche kummervolle Stunde verdankte, schienen nach den letzten Erfahrungen vollständig von ihr gewichen zu sein. Sie war zum hingebenden und vertrauensvollen Weibe geworden, das in der verständigen Abhängigkeit von dem Manne seiner Wahl einen Teil der erhofften Glückseligkeit findet.

»Laßt uns gehen,« sagte Inez endlich, mit einem wehmütigen, beseligenden Lächeln zu Robert emporblickend, »laßt uns gehen, es bleibt uns noch eine schwere Pflicht zu erfüllen.«

Robert schaute ihr fragend in die Augen.

»Gewiß, eine schwere Aufgabe,« wiederholte das warmherzige junge Mädchen ernst, »der schwarze Juan – sie dort ist seine Schwester, eine alte Brieftasche –«

»Eine alte Brieftasche?« unterbrach Robert erstaunt die Geliebte. »Eine Brieftasche? Oh, ich kenne sie, obgleich ich sie nur auf Augenblicke sah; sie rührt von dem alten Geizhalse her; ich erinnere mich genau, aber Fernando – nein, Juanita, sie verweigerte mir die Einsicht. Oh, wie ist es mir jetzt so klar, warum sie sie mir entzog. Ich hielt sie damals für unredlich, während sie doch nur fürchtete, ihr Geschlecht könne durch den Inhalt der Brieftasche verraten werden, das zu verbergen ihr hartherziger Onkel ihr ohne Zweifel von frühester Kindheit an so streng geboten hatte, daß sie auch später, teils aus Gewohnheit, teils aus leicht erklärlicher jungfräulicher Scham, nichts mehr befürchtete, als eine Entdeckung. – Du armes geopfertes Wesen«, fügte er hinzu, einen traurig sinnenden Blick auf die regungslose Gestalt Juanitas werfend; »in meiner Erinnerung wirst du fortleben in doppelter Gestalt: als mein treuer, guter Fernando und als die sanfte, ergebene Dulderin, die ich jetzt so ruhig vor mir sehe.«

Indem Robert so sprach, erhielten seine Züge wie seine Stimme einen noch milderen, fast zärtlichen Ausdruck.

Inez schaute vertrauensvoll zu ihm auf. »Laß sie in deiner Erinnerung fortleben als die sanfte, ergebene Dulderin, die dich über alles liebte,« flüsterte sie, auf das verwelkte Sträußchen deutend, »sie nahm es und wurde von ihm in den Tod begleitet.«

»Mag sie es mit in ihre stille Gruft nehmen«, fiel Robert ein, der jetzt erst die von ihm selbst gebrochenen Waldblumen wiedererkannte; »und mögen wir sie dereinst wiederfinden, geschmückt mit denselben Blumen, die wir jetzt so herzlich gern ihr mitgeben.«

»Das walte Gott und die heilige Jungfrau«, sagte Inez leise, indem sie sich fromm bekreuzigte.

Maria folgte ihrem Beispiel, und geräuschlos bewegten sich alle drei der Tür zu.

Als sie unter die Veranda traten, erblickten sie dicht vor sich die schwarzen Umrisse von Sidneys Gestalt, und zugleich vernahmen sie, daß er heftig hustete, um ein letztes Schluchzen zu verbergen.

Der junge Riese hatte durch die Spalte der angelehnten Tür gelauscht, aber nicht einzutreten gewagt. Die Gefühle seiner Kindheit waren durch die ergreifende Szene in seiner Brust wachgerufen worden, und bitterlich, wie in seiner frühesten Kindheit, hatte er geweint. –

 


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