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36. Kapitel.

Es war mehr als zwanzig Jahre vor den Ereignissen, die bisher erzählt worden sind. Man feierte in Saragossa den Beginn des Karnevals. In dieser Zeit ist der sonst so ernste und steife Spanier ein vollständig anderer. Er stürzt sich mit fast wilder Lust in den Strudel der Freuden und Vergnügungen hinein, er taucht darin unter sogar bis auf den schmutzigen Schlamm des Grundes und kommt erst dann wieder zur Höhe zurück, wenn das Vergnügen bis auf die Neige ausgekostet ist.

Einer der prächtigsten Paläste der Stadt fast ganz aus carrarischem Marmor errichtet und wegen der Pracht seiner inneren Einrichtung altberühmt, gehörte dem Herzog von Olsunna. Dieser Don, ein Mitglied des höchsten Adels und einer der reichsten Grundbesitzer des Landes, zählte erst vierundzwanzig Jahre und war doch bereits Witwer und Vater eines kleinen, reizenden Mädchens im Alter von drei Jahren. Er hatte aus Familienrücksichten die Tochter eines der angesehensten Häuser geheiratet, ohne sie zu lieben, und fühlte sich keineswegs betrübt, als sie bei der Geburt dieses Kindes starb.

Er galt als ein strenger Katholik, eifriger Patriot und stolzer, finsterer Aristokrat. Viele aber wollten behaupten, daß er den Freuden des Lebens keineswegs abgeneigt sei. Seine Freunde suchten ihn, seiner Stellung und seines Einflusses wegen, seine Feinde haßten ihn, und seine Umgebung, seine Dienerschaft fürchtete ihn und zitterte vor ihm.

Nur ein einziger Beamter seines Hauses war es, der ihn nicht fürchtete, nämlich der Haushofmeister Gasparino Cortejo, der ungefähr in gleichem Alter mit ihm stand. Einen Menschen, dem er sich nahe stellt, muß ein jeder haben, und der Herzog fand, daß sein Haushofmeister ein verschwiegener Charakter sei, dem man Vertrauen schenken könne. Den anderen gegenüber behandelte er ihn seiner Stellung gemäß. Unter vier Augen jedoch wurden die Dehors beiseite geschoben, und die beiden verkehrten so, wie ein junger Lebemann mit seinem Associé und maître de plaisir zu verkehren pflegt.

Heute stand der Herzog in einem seiner prunkvoll eingerichteten Zimmer, rauchte eine kostbare Zigarette und wartete auf Cortejo, zu dem er einen Diener geschickt hatte.

Da trat er ein. Gasparino Cortejos Gesicht zeigte damals noch die Fülle und Rundung des jugendlichen Alters. Er verstand es, Toilette zu machen, und so war es nicht zu verwundern, daß er mit seinem Äußeren und seiner sorgfältig überwachten Tournüre einen nicht unangenehmen Eindruck erzielte.

Er grüßte den Herzog mit einer tiefen Verbeugung, aber dabei mit jenem Lächeln, das hinter der zur Schau gestellten Demut eine schlecht verborgene Vertraulichkeit verrät. Der Herzog erwiderte die Verbeugung mit einem leichten, gnädigen Kopfnicken und fragte:

»Nun, wie steht es mit den Maskenanzügen?« – »Sie liegen bereit, Don Eusebio.« – »Kann man sich darin sehen lassen?« – »Oh!« rief Cortejo und begleitete diesen Ausruf mit einem verheißungsvollen Schnalzen seiner Finger. – »So! Was hast du für mich noch gewählt?« – »Einen Perser.« – »Schön. Das gibt eine Figur und erlaubt, glänzende Waffen und Steine zur Geltung zu bringen. Und du?« – »Ich kleide mich als Mexikaner.« – »Alle Teufel, er hat doch das Beste für sich gewählt. Aber mag es sein. Wirst du in einer Stunde fertig sein können?« – »Sicher.« – »So sende mir den Kammerdiener. Es versteht sich ganz von selbst, daß niemand ahnen darf, daß wir miteinander gehen. Wo treffen wir uns?« – »Hm, ich möchte meine Maske nicht hier anlegen.« – »Ganz recht. Auf diese Weise erfahren die Leute gar nicht, daß du dich verkleidest. Aber wo willst du denn deine Umwandlung vollziehen?« – Cortejo lächelte geheimnisvoll. »Außerhalb des Hauses. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Exzellenz, möchte ich mir eine befreundete junge Dame zu dem Fest abholen.« – »Ah, was du sagst! Darf man ihren Namen erfahren?« – »Sie heißt Clarissa Margony.« – »Und wohnt?« – »In der Strada el Amenio.« – »Nummer?« – »Fünfzehn.« – »Nun gut, so trolle dich von dannen! In einer Stunde werde ich in der Strada el Amenio sein.«

Cortejo gehorchte diesem nicht sehr höflichen Gebot, und in kurzer Zeit trat der Kammerdiener ein, mit dem Maskenanzug auf dem Arm, um seinen Herrn anzukleiden.

Der Herzog besaß eine ungewöhnlich hohe und kräftige Figur, wie man sie in Spanien selten findet, infolgedessen bildete er in seinem diamantengeschmückten persischen Habit eine Erscheinung, die Aufsehen erregen mußte.

Unterdessen packte Cortejo seine Maske zusammen und machte sich auf den Weg. Während seines Ganges begegnete ihm ein junger Mann, der sehr einfach nach französischem Schnitt gekleidet war. Die Straße war hier eng, und da gerade ein Arriero – Maultiertreiber – mit seinen Tieren vorüber kam, so gab es nicht genug Raum zum Ausweichen.

»Pack dich zur Seite!« gebot Cortejo dem Fremden.

Dieser antwortete nicht und blieb stehen, um den Maultierzug vorüber zu lassen.

»Hast du nicht gehört, daß du ausweichen sollst?«

Bei diesen Worten gab Cortejo dem anderen einen Stoß mit der Faust in die Seite, aber ohne ein einziges Wort zu erwidern, versetzte der Gestoßene dem unverschämten Angreifer einen so kräftigen Hieb über den Magen, daß Cortejo niederstürzte. Er raffte sich jedoch schnell wieder auf. »Hund, das sollst du mir entgelten!« brüllte er und wollte den anderen packen, kam aber nicht dazu. Sein Gegner war zwar nicht groß und stark gebaut, schien aber in körperlichen Übungen eine sehr bedeutende Gewandtheit zu besitzen, denn ehe Cortejo es sich versah, lag er wieder auf dem harten Steinpflaster der engen Straße, und dieses Mal wurde ihm das Aufstehen nicht so leicht wie vorher. Als er endlich aufrecht stand, waren die Maultiere vorüber, und er erblickte aus den vergitterten Fenstern der benachbarten Häuser so viele Augen spöttisch auf sich gerichtet, daß er eilig von dannen schritt, ohne sich um den Sieger zu kümmern.

Dieser war übrigens bereits ziemlich weit entfernt, er hatte sofort nach dem zweiten kräftigen Hieb seinen Weg fortgesetzt, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Cortejo umzudrehen, und schritt über die prächtige Brücke, die den Ebro überspannt und die Stadt in zwei Hälften teilt, um dann in eines der größten Häuser zu treten, das Saragossa aufzuweisen hat.

Dieses Haus gehörte dem Bankier Salmonno. Derselbe war Millionär und zugleich Besitzer eines ungeheuren Stolzes. Er stammte aus einer jüdischen Familie namens Salomon, schämte sich jedoch dieser Abkunft und hatte deshalb dem Namen seiner Eltern den spanischen Klang Salmonno gegeben. Übrigens war sein Stolz nicht größer als der Geiz, den er besaß.

Als der junge Mann durch ein Eingang trat, winkte ihm der Portier zu.

»Señor Sternau«, sagte er, »es ist gut, daß Ihr kommt. Don Salmonno hat bereits zweimal nach Euch gefragt.« – »Was soll ich?« – »Ich weiß es nicht, aber er zürnte, daß Ihr nicht zugegen wäret.«

Der junge Mann nickte gleichmütig und öffnete eine mächtige, mit Eisen beschlagene Tür, die in einen langen, niederen Raum führte, wo zahlreiche Kommis an ihren Pulten saßen.

»Schnell, Señor Sternau!« flüsterte der vorderste von ihnen. »Der Don ist sehr übel gelaunt.« – »Weshalb?« – »Ich weiß es nicht.« – »Pah! Befinden Sie sich etwa in einer guten Stimmung?« – »Hm. Man muß schweigen.« – »Ich bedaure Sie, Señor. Heute, zum Beginn des Karnevals, hinter dem Pult sitzen zu müssen! Das kann nur in diesem Haus geschehen. Na, ich werde sehen, ob mir dieser edle Don Salmonno gefährlich wird.«

Sternau durchschritt den Raum und klopfte an eine zweite Tür, die ebenso mit Eisen beschlagen war wie die erste. Es ertönte keine Antwort. Er klopfte abermals, auch zum dritten Mal, erhielt aber erst Antwort, als er zum vierten Mal mit doppelter Stärke pochte und nun eine zornige Stimme rief:

»Entrada – Eintritt!«

Sternau trat ein. Der Raum, in dem er sich jetzt befand, war klein, und an seinen drei Wänden standen ebenso viele Geldschränke. Don Salmonno engagierte nämlich niemals einen Kassierer, da er keinem Menschen traute, als nur sich allein. Er hatte sich jetzt von einem alten Drehstuhl erhoben, auf dem er vor einem noch älteren Pult saß, und fragte zornig:

»Warum klopft Ihr?« – »Weil ich eintreten wollte«, ertönte die ruhige Antwort. – »Und was wollt Ihr?« – »Man schickt mich zu Euch.« – »Ja, ja ich wollte mit Euch reden, aber wenn ich mit dem Erzieher meines Sohnes reden will, so ist er niemals zu Hause. Sind die Deutschen alle so liederlich?« – »Die Deutschen sind nicht liederlicher als die Spanier, Señor, und ich kann wohl sagen ...« – »Don werde ich genannt, aber nicht Señor!« unterbrach ihn der Bankier.

Sternau lächelte ruhig und entgegnete:

»Don werden nur die Angehörigen des hohen Adels genannt, aber wenn dieses Wort Euch Vergnügen macht, so sollt Ihr es oft genug zu hören bekommen, Don Salmonno. Was ich aber sagen wollte, das ist, daß ich bisher stets zu haben gewesen bin, wenn ich gerufen wurde. Ihr habt Euch also vorhin einer großen Ungenauigkeit oder gar Unwahrheit schuldig gemacht. Ihr wißt, daß ich meine Pflicht erfülle, und da denke ich, daß ich auch das Recht habe, die gewohnte Achtung und Höflichkeit zu beanspruchen.« – »Vergeßt nicht, daß Ihr in meinen Diensten steht und mein Untergebener seid!« rief der Geldmensch. – »Der Erzieher ist niemals der Untergebene der Eltern, sondern ihr Freund und Helfer, denn er arbeitet an derselben Aufgabe wie sie. Das ist meine Meinung, Don Salmonno.«

Der kleine, schmächtige Erzieher stand dem langen, hageren »Vorgesetzten« so furchtlos gegenüber, daß dieser letztere wirklich sich eingeschüchtert fühlte, nichts entgegnete und nur wiederholte:

»Wo seid Ihr gewesen?« – »Darüber habe ich eigentlich keine Rechenschaft zu geben, aber aus Höflichkeit will ich es Euch sagen, daß ich bei dem Buchhändler war, um einige Bücher für Euren Sohn zu bestellen.«

Da runzelte der Bankier die Stirn und rief:

»Schon wieder Bücher! Könnt Ihr Deutschen denn ohne Bücher gar nichts lehren und lernen? Ich habe im vorigen Monat gerade drei Duros dafür ausgeben müssen. Das ist mir doch zu horrend.« – »Sobald Ihr es fertigbringt, Eure Mahlzeiten ohne Speise und Trank abzuhalten, werde ich es auch versuchen, meinen Unterricht ohne Bücher zu geben. Nun aber bitte ich, mir zu sagen, zu welchem Zweck ich gerufen wurde.«

Der Bankier nahm die ihm gewordene Zurechtweisung mit saurer Miene hin und erwiderte:

»Ihr wißt, daß mein Töchterchen vor einer Woche starb und auch begraben wurde?« – »Allerdings. Ich glaube nicht, daß die Leiche noch im Haus liegt«, sagte Sternau mit unerschütterlicher Ironie. – »Und Ihr wißt auch, daß jene kleine Señorita Wilhelmi die Bonne des Mädchens war?« – »Nicht die Bonne, sondern die Gouvernante. Es ist das ein Unterschied, Don Salmonno.« – »Meinetwegen! Nun begreift Ihr aber, daß ich diese Señorita nicht mehr brauche, da das Kind nicht mehr lebt.« – »Ich begreife es.« – »Daß sie also mein Haus zu verlassen hat!« – »Daß sie es verlassen wird, ja.« – »Gut, sagt ihr das, Señor Sternau! Ich wünsche, daß sie noch heute oder spätestens morgen geht.« – »Das werde ich ihr allerdings nicht sagen, und das wird die Señorita auch gar nicht tun.« – »Warum nicht?« fragte der Millionär mit gut gespielter Verwunderung. – »Aus dem sehr einfachen Grund, weil ich es ihr nicht sagen werde, da dies Eure Sache ist. Außerdem würde sie es auch nicht tun, weil ihr noch nicht gekündigt worden ist.« – »Verdammt! Das sagt Ihr mir?« – »Ja. Ihr hört es ja«, antwortete Sternau lächelnd. – »Ihr werdet also meinen Auftrag nicht ausrichten?« – »Nein.« – »So könnt auch Ihr gehen, heute oder morgen!« erklang es zornig. – »Oh, auch ich werde das nicht tun. Vergeßt nicht, Don Salmonno, daß wir nicht allein Pflichten zu erfüllen, sondern, Gott sei Dank, auch Rechte zu beanspruchen haben. Ich bin der Erzieher Eures Sohnes, nicht aber Euer Domestike, den Ihr mit Befehlen und Aufträgen zur Gouvernante senden könnt.«

Dagegen ließ sich allerdings nichts einwenden; darum entgegnete der Bankier:

»Das weiß ich allerdings, Señor; aber ich glaubte, daß mein Wunsch williger erfüllt würde, wenn Ihr ihn überbringt.« – »Diese Eure Absicht habe ich bereits begriffen, ich sehe aber trotzdem davon ab, der Überbringer Eures Wunsches zu sein. Señorita Wilhelmi steht in einem Engagement bei Euch, das einer vierteljährigen Kündigung unterworfen ist. Das laufende Quartal geht in acht Wochen zu Ende, und erst dann habt Ihr das Recht, zu kündigen.« – »Herr, so glaubt Ihr, daß ich verpflichtet bin, ihr noch einundzwanzig Wochen lang den Lohn zu zahlen?« fragte der Bankier entsetzt. – »Den Lohn nicht, sondern das Gehalt; auch zwischen diesen beiden Begriffen gibt es einen Unterschied.« – »Seid Ihr denn verrückt?« – »Hm, Don Salmonno, seid Ihr denn so unsinnig gewesen, die Erziehung Eures Sohnes einem Verrückten anzuvertrauen?«

Salmonno antwortete nicht, sondern versetzte:

»Der Tod hebt das Engagement auf, ich bezahle nichts!« – »Das geht mich nichts an; das ist Señorita Wilhelmis Sache; ich glaube aber, daß die Dame dem Richter die Entscheidung über diese Sache übergeben wird.«

Da erschrak der Bankier und sagte:

»Nun wohl! Ich werde mir die Angelegenheit nochmals überlegen. Es ist gut, Señor!«

Er machte eine Bewegung des Verabschiedens; der Erzieher blieb aber stehen und sagte:

»Ich habe einige Ausgaben, Don Salmonno. Darf ich um ein Vierteljahresgehalt bitten?«

Der Millionär blickte den jungen Mann so erschrocken an, als ob er einen Geist sähe.

»Wo denkt Ihr hin!« rief er. »Ein ganzes Vierteljahresgehalt! Das ist unmöglich!« – »Warum unmöglich? Habt Ihr etwa kein Geld?« – »Geld? Ah, Gott sei Dank, daran fehlt es mir nicht.« – »Nun also, warum wollt Ihr mir die Zahlung verweigern?« – »Es ist zu viel. Viel zu viel auf einmal!«

Jetzt wurde das Lächeln Sternaus ein mitleidiges.

»Don Salmonno«, sagte er, »bedenkt, daß ich das Gehalt von dreiviertel Jahren in Eurer Kasse ließ. Ich bin nicht gewohnt, um mein Eigentum zu bitten und zu betteln.« – »Ich werde Euch das Gehalt eines Monats geben!«

Jetzt nahm das Gesicht des jungen Mannes den Ausdruck wirklicher Verachtung an.

»Ich wiederhole, daß ich nicht bettle, wo ich zu fordern habe«, sagte er. »Ich sehe, daß ich Gefahr laufe, alle dreiviertel Jahre nur ein Monatsgehalt ausgezahlt zu erhalten, und das kann ich ja umgehen. Ihr werdet die Güte haben, mir das bei Euch stehende Gehalt für alle neun Monate auszuzahlen.«

Da tat der Millionär fast einen Sprung in die Luft.

»Das fällt mir nicht ein!« schrie er voller Angst. – »Gut, so kündige ich! Und ich gehe sofort, noch in diesem Augenblick, um mein Gehalt klagbar zu machen.«

Das hagere Gesicht Salmonnos nahm einen geradezu entsetzten Ausdruck an.

»Das werdet Ihr nicht tun!« zeterte er. – »Das werde ich freilich tun. Paßt auf. Adieu!«

Sternau wandte sich nach der Tür, da aber sprang ihm der andere nach, faßte ihn am Arm und bat:

»Bleibt! Ich werde Euch ein Vierteljahr bezahlen.« – »Darauf gehe ich nicht ein. Dreiviertel Jahre, oder ich gehe zum Richter!«

Sternau ging hinaus, hatte jedoch die Tür noch nicht geschlossen, so rief es hinter ihm mit ängstlicher Stimme:

»Halt, Señor! Kommt herein! Ihr sollt es haben! Aber in Banknoten!« – »Nein, in Gold und Silber!« antwortete Sternau unerbittlich, die Tür noch in der Hand.

Nun stieß der Bankier einen tiefen, herzbrechenden Seufzer aus und sagte beinahe weinend:

»Oh, bei Gott, ich muß mich fügen! Was sind diese Deutschen doch für brutale Menschen! Kommt her!«

Dann öffnete er einen der Geldschränke und zählte dem Erzieher die betreffende Summe vor, war aber dabei bemüht, ihm jedes irgendwie nur beschädigte oder unscheinbare Geldstück mit zu geben. Sternau sagte nichts dagegen und empfahl sich mit großer Höflichkeit, als er die Summe erhalten hatte.

Der Erzieher stieg mit einem befriedigten Lachen die Treppe empor, schloß den so schwer verdienten und noch schwerer errungenen Schatz in seinem Zimmer ein und begab sich darauf nach der entgegengesetzten Seite des Hauses, wo die Wohnung der Gouvernante lag, die auch eine Landsmännin von ihm war.

»Herein!« erklang eine reine, liebliche Stimme, als er klopfte.

Er trat in ein sehr einfaches, ja fast dürftig ausgestattetes Zimmer, dessen Besitzerin bei seinem Anblick sich von dem alten Sofa erhob, auf dem sie gesessen hatte.

»Herr Sternau?« fragte sie freundlich, aber fast überrascht in deutscher Sprache. – »Ja, ich bin es«, antwortete er. »Sie haben wohl ein Recht, sich zu verwundern, daß ich es wage, einmal bei Ihnen einzutreten. Es ist das erste Mal, seit uns das Schicksal in diesem Haus zusammengeführt hat.« – »Wir sind ja Landsleute!« sagte sie.

Eine finstere Wolke ging blitzschnell über sein offenes, durchgeistigtes Angesicht. Er neigte leise den Kopf und antwortete:

»Ja, Landsleute; das ist so viel und doch auch so wenig!«

Die junge Dame hatte Mühe, eine flüchtige Verlegenheit zu überwinden, und deutete auf einen Stuhl, der am entferntesten vom Sofa stand.

»Nehmen Sie Platz, Herr Sternau, und lassen Sie mich erfahren, was Sie zu mir führt.«

Sternau blickte ihr eine kurze Minute lang in die Augen und folgte ihrem Fingerzeig.

»Warum fürchten Sie sich vor mir, Fräulein?« fragte er mit fast traurigem Ton.

Sie errötete leise und antwortete:

»Weshalb glauben Sie, daß ich mich vor Ihnen fürchte?« – »Weil Sie mich, den Landsmann, in die entfernteste Ecke von sich verbannen. Das tut weh, Fräulein Wilhelm! Wir sind jetzt die beiden einzigen Deutschen, die es in Saragossa gibt; wir wohnen sogar in einem Haus, und doch sind wir uns fremder noch als fremd. Das ist Ihr Wille, und ich respektiere ihn, warum also diese Scheu, diese Angst vor mir?«

Der Ton seiner Stimme und der Blick seines Auges drangen ihr doch zu Herzen. Sie streckte ihm zur Abbitte die Hand entgegen und erwiderte:

»Verzeihen Sie mir und rücken Sie mir näher. Ich meinte es nicht bös!«

Sternau schüttelte leise mit dem Kopf, blieb auf seinem Platz und antwortete mit trübem Lächeln:

»Ich danke, Fräulein. Ich möchte nicht um ein Almosen gebeten haben. Ich habe Sie nie beleidigt und Sie wissentlich auch nie gekränkt; dennoch fliehen Sie mich. Ich kann nur annehmen, daß Sie von einem unüberwindlichen Vorurteil gegen mich eingenommen sind. Dagegen läßt sich ja nichts tun, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen ein aufrichtiges Wort zu sagen, das nur den einzigen Zweck hat, Sie zu beruhigen.« – »Sprechen Sie«, bat sie in gedrücktem Ton.

Er schwieg ein kleines Weilchen, wobei er den Blick hinaus auf den kleinen Balkon gerichtet hielt, als getraue er sich nicht, sie in diesem Augenblick anzusehen. Und wahrlich, das, was er ihr jetzt sagen wollte, wäre ihm doppelt schwergefallen, wenn er das Auge nicht von ihr gewandt hätte.«

Sie war keine imposante, gebieterische Figur, aber sie war dennoch eine ungewöhnliche Schönheit, eine jener feinen, ätherischen Schönheiten, deren Macht in der Lieblichkeit und Harmonie zu suchen ist, die sie besitzen. Es lag eine Holdseligkeit über sie ausgegossen, die unmöglich zu beschreiben ist.

Endlich unterbrach er die Pause und begann, aber ohne auch jetzt sein Auge auf sie zu richten:

»Ich bin ein Kind der Armut, mein Fräulein; die Stellung, die ich einnehme, ist eine gewöhnliche; was ich bin, bin ich durch eigene Anstrengung und unter den härtesten Entbehrungen geworden. Mir hat nie des Lebens Sonne gelacht, aber ich hoffte, daß ihr Strahl mich endlich doch auch einmal erreichen werde. Ich sah diesen Strahl hier in diesem Haus, ich sehe ihn auch jetzt noch, aber er gleitet an mir vorüber. Dieser Sonnenstrahl sind Sie!«

Es war unmöglich, diese in so resigniertem Ton gesprochenen Worte zu hören, ohne gerührt zu werden. Er fuhr sich mit der kleinen, fast frauenhaften Hand über die Stirn, wie um einen Schmerz dort zu verjagen, und fuhr in demselben Ton fort:

»Ja, ich liebe Sie, liebe Sie seit dem Augenblick, da ich Sie zum ersten Mal sah, aber diese Liebe hat ihre selbstischen Wünsche längst aufgegeben. Ich werde einsam durch das Leben gehen, so wie es bisher gewesen ist, und an Sie denken wie an einen Stern, den ich erblicke, ohne ihn erreichen zu können, aber dieser Stern werden Sie mir bleiben mein ganzes Leben hindurch, und ich möchte ihn stets hell und heiter strahlen sehen, ich möchte jede Wolke von ihm fernhalten; das ist der einzige Wunsch, den ich hege. Darum komme ich mit der Bitte, daß Sie an mich denken möchten als an einen Freund, der nichts von Ihnen verlangt, kein Wort, keinen Blick, nichts, gar nichts, als nur das einzige, daß Sie sich seiner erinnern mögen, wenn Sie hier im fremden Land einmal des Beistands bedürfen.«

Erst jetzt wanderte sein Blick vom Balkon zu ihr, und er fragte:

»Wollen Sie mir diesen Wunsch erfüllen?«

Es standen ihr die Tränen in den Augen, sie faltete die Hände und antwortete:

»Herr Sternau, zürnen Sie mir nicht! Ich will Ihnen offen gestehen, daß ich Ihr stilles, wortloses Werben vom ersten Augenblick an verstanden habe; ich prüfte mich; ich achtete Sie, achtete Sie sehr hoch und wollte sehen, ob es mir möglich sei, Sie auch zu lieben. Es war mein Wunsch, Sie lieben zu können, aber ich habe gefühlt und erkannt, daß dies unmöglich ist.«

Er nickte traurig mit dem Kopf.

»Ich wußte es«, sagte er, »aber einen Augenblick der Aufrichtigkeit mußte es doch einmal geben. Das ist nun vorüber, und wir wollen es begraben. Wir können nun von anderem sprechen. Ich komme von Salmonno, mit dem ich Ihretwegen eine kleine Szene hatte.« – »Meinetwegen?« – »Ja. Sie kennen seinen Geiz...« – »Wer kennte diesen nicht! Ich glaube, es wird mir nicht leicht werden, die Rechte zu wahren, die mir hier zustehen.« – »Das ist's ja, worüber er mit mir sprach. Er mutete mir nämlich zu, Ihnen zu sagen, daß Sie noch heute oder spätestens morgen dieses Haus verlassen möchten.« – »Und Sie sagten zu?« – »Nein, ich wies ihn natürlich zurück, komme aber trotzdem, um Sie zu warnen. Er wird jedenfalls nächstens mit Ihnen sprechen.« – »Ich erwarte es.« – »Er wird Ihnen Ihr Gehalt nicht auszahlen wollen.« – »Das wäre traurig. Ich habe ja gerade darum die Heimat verlassen, weil mir hier in der Fremde ein höheres Gehalt geboten wurde, mit dem es mir möglich ist, meine armen Eltern zu unterstützen; denn ich bin ein Kind der Armut, genau ebenso wie Sie, Herr Sternau.« – »So bitte ich Sie, von Ihrem Recht um keinen Zollbreit zu weichen, und sollte er Sie nicht hören wollen, so kommen Sie zu mir. Ich habe einen gewissen Einfluß über ihn erlangt, den ich sehr gern zu Ihren Gunsten anwenden werde. Das ist es, was ich Ihnen sagen mußte. Und nun, leben Sie wohl, Fräulein Wilhelmi!«

Sternau erhob sich, verbeugte sich vor der Gouvernante und schritt nach der Tür, ohne den Versuch zu machen, ihr die Hand zu reichen. Das schnitt ihr in das Herz; das tat ihr leid und wehe, und zugleich imponierte ihr diese eiserne Willenskraft, die die heißesten Wünsche des Herzens zu bemeistern und die aufsteigende Tränenflut zurückzudrängen vermochte. Sie eilte ihm nach und streckte ihm beide Hände hin.

»Nicht so, nicht so ohne Abschied!« bat sie. »Geben Sie mir wenigstens eine Hand und sagen Sie mir, daß Sie mir nicht bös sind.« – »Ich bin Ihnen nicht bös«, erwiderte er monoton und nahm ihre Hände leise in die seinigen.

Sie erschrak. Seine Hände waren kalt wie Eis; sie fühlten sich an wie die Hände einer Leiche. Aber seine Lippen zuckten, und seine Augen wurden dunkler und dunkler. Er rang mich sich und mußte alle Kräfte aufbieten, sein Weh niederzukämpfen. Das konnte sie nicht mit ansehen. Sie legte die Arme um ihn, blickte in seine überquellenden Augen und sagte:

»Bitte, bitte, weinen Sie nicht! Hoffen Sie! Vielleicht kommt die Zeit, daß Ihr Wunsch Erhörung finden kann!«

Er schüttelte den Kopf.

»Niemals!« sagte er. »Die Liebe läßt sich nicht zwingen. Die Liebe ist keine Bettlergabe; sie flammt empor und ist da, allmächtig und unwiderstehlich. Adieu, Fräulein Wilhelmi!«

Dann ging er. Sie aber blieb, mitten im Zimmer stehend, zurück und legte die Hände auf ihre Brust. Ihr Puls ging ruhig wie immer.

»Warum kann ich ihn nicht lieben?« fragte sie sich. »Er wäre meiner Liebe ja so wert!«

Da erscholl lautes Geschrei und fröhliches Lachen von der Straße herauf. Sie trat hinaus auf den Balkon und sah, daß das Treiben des Karnevals begonnen hatte. Die Straße belebte sich mit Masken, die unter allerlei tollen Späßen auf und ab wanderten, und die Fenster und Balkone füllten sich mit Damen, die diesem Treiben zusahen und sich an den Scherzen von oben herab beteiligten. Das war ein geeignetes Mittel, die trübe Stimmung des Herzens zu verscheuchen. Die Gouvernante blieb auf dem Altan und blickte in das immer reger und dichter werdende Gewühl der Masken hinab.


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