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9. Kapitel.

Als der Wagen vor der Rampe des Schlosses angehalten hatte und der Leutnant vom Bock gesprungen war, um den Damen die Hand zum Aussteigen zu bieten, da ein Diener zufälligerweise nicht zugegen war, ruhte das Auge des Notars, der unter dem Eingang stand, mit finsterem Erstaunen auf der Gestalt des jungen Mannes.

»Was ist das?« murmelte er. »Wer ist dieser Mensch? Welche Ähnlichkeit! Das ist ja ganz genau Graf Emanuel wie er vor dreißig Jahren aussah! Ist das Zufall, oder ist es etwas anderes?«

Er sah nur einen einzigen Augenblick lang den scharfen, forschenden Blick des Offiziers auf sich ruhen, aber es war ihm doch, als sei dieser Blick der Ausdruck einer Frage, die eine Gefahr enthielt.

Die Damen waren ausgestiegen und kamen die große Freitreppe empor. Der Notar trat ihnen mit einem verbindlichen Lächeln entgegen, verneigte sich tief vor ihnen und sagte zur Gräfin:

»Ich bin ganz glücklich, Sie als die erste begrüßen zu können. Darf ich bitten Condesa, mich den Herrschaften vorzustellen?« – »Gern«, antwortete Rosa.

Als sie zunächst den Namen Gasparino Cortejo nannte, fiel abermals ein eigentümlich forschender Blick aus dem Auge des Leutnants auf den Notar. Und als dieser letztere den Namen Alfred de Lautreville hörte, glitt es wie ein Zug der Beruhigung über sein scharfes Vogelgesicht. Der Offizier war ein Franzose – die Ähnlichkeit konnte also nur ein Zufall sein.

Jetzt war die Ankunft der Equipage im Schloß bemerkt worden, und es kamen Graf Alfonzo, Doktor Sternau und die Schwester Clarissa herbei, um die Gäste zu begrüßen. Man bemerkte natürlich die fremden Pferde vor dem Wagen, und Alfonzo fragte nach der Ursache dieses auffälligen Umstands.

»Señor des Lautreville hat die Güte gehabt, uns seine Pferde zu leihen, da die unsrigen erschossen worden sind«, erklärte Rosa. – »Erschossen?« fragte der Advokat erstaunt. »Wieso? Von wem?« – »Von demselben Mann, der uns heute nacht entflohen ist«

Sie erzählte den Vorgang, der bei den Zuhörern die größte Teilnahme erweckte. Dem jungen Offizier dankte man lebhaft für seine Tapferkeit und auch Cortejo reichte ihm die Hand. Er war sehr erfreut durch den Tod der beiden Briganten, denn nun hatte er keine Zeugen seiner Schuld mehr zu befürchten und bemerkte:

»Dieser Überfall wird sehr streng und auch wohl augenblicklich untersucht werden, denn es ist die Untersuchungskommission hier angekommen, an ihrer Spitze der öffentliche Ankläger aus Barcelona, der sich jetzt bei dem Grafen befindet. Die Herren haben nur noch die Condesa zu vernehmen, dann sind sie mit der Untersuchung des gestrigen Raubanfalls fertig und können sogleich nach Pons fahren.«

Man begab sich nun zu dem Grafen, bei dem man den Oberrichter fand. Graf Emanuel bewillkommnete die Freundin seiner Tochter mit Herzlichkeit und bedankte sich bei dem Leutnant mit großer Wärme für die Rettung der beiden Damen.

»O bitte«, wehrte Mariano ab, »es handelt sich hier keineswegs um eine so außerordentliche Heldentat. Wenn ich ja etwas gerettet habe, so ist es nur die Börse, nicht aber das Leben der Damen.« – »Nein«, fiel Rosa ein, »es ist in Wirklichkeit unser Leben, das wir Ihnen zu verdanken haben, denn wir wollten das Geld nicht hergeben, und die beiden Menschen legten bereits auf uns an, um uns zu erschießen. Sehen Sie unser Haus als das Ihrige an, Señor. Wir werden Sie auf keinen Fall so bald von Rodriganda fortgehen lassen.«

Mariano machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete:

»Ich tat meine Pflicht, als ich Sie nach Rodriganda geleitete, darf aber nicht wagen, Ihre Güte zu mißbrauchen.« – »Dies ist kein Mißbrauch«, fiel der Graf schnell ein. »Sie werden uns nur zu erhöhter Dankbarkeit verpflichten, wenn Sie unsere Einladung annehmen. Ich erwarte ganz bestimmt, daß Sie sich bei uns von Ihrer Reise ausruhen. Rosa wird Ihnen sofort Ihr Zimmer anweisen lassen.«

Es war nicht bloß die Höflichkeit, die den Grafen diese Worte sprechen ließ. Er war blind und konnte den Offizier nicht sehen, aber er hörte die Stimme desselben, und in dieser Stimme lag ein unerklärliches Etwas, das den Blinden mit süßer Gewalt fesselte.

Der Notar stand dabei und verglich die Züge der beiden Männer. Er mußte sich innerlich sagen, daß die Ähnlichkeit eine ganz ungewöhnliche sei, und so beschloß er im stillen, auf seiner Hut zu sein.

Als sich nach einiger Zeit die Herrschaften trennten, wurde der Leutnant von einem Diener nach den für ihn bestimmten Gemächern geleitet. Er erhielt drei Räume, ein Vorzimmer, ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Er legte in dem Wohnzimmer seinen Degen ab und trat in den Schlafraum, um sich der Waschtoilette zu bedienen. Dort stand die Kastellanin, die nachgesehen hatte, ob sich alles in Ordnung befinde, und nun von ihm überrumpelt wurde.

Bei dem Schall seiner Schritte drehte sie sich nach der Tür. Sie wußte, daß der Gast ein französischer Offizier sei, und wollte ihn als solchen mit einem recht höflichen Knicks begrüßen. Da fiel ihr Auge auf sein Gesicht und – sie vergaß den Knicks. Mit großen, weitgeöffneten Augen starrte sie ihn an und rief:

»Herr, mein Gott, stehe mir bei! Graf Emanuel!«

Dieser Ausruf machte einen solchen Eindruck auf Mariano, daß er einen Schritt zurücktrat. Die Frau, die hier vor ihm stand, kannte er. In ihrem Schoß hatte er gelegen und oft in ihr gutes, fettglänzendes Gesicht geblickt.

»Elvira! Nicht wahr, Ihr seid die Kastellanin Elvira?« – »Ja«, antwortete sie, tief aufatmend. »Ihr kennt mich, Señor?« – »Ja.« – »Woher?« – »Ich hörte Euren Mann von Euch sprechen. Aber sagt, warum nanntet Ihr mich soeben Graf Emanuel?« – »Señor, das ist wunderbar! Ihr seht gerade und leibhaftig so wie der alte Graf Emanuel aus, als er zwanzig Jahre zählte.« – »Wirklich? Das ist ein Naturspiel, das zuweilen vorkommt.« – »Aber so genau, wie aus den Augen geschnitten. Wenn das mein Alimpo sähe!« – »Er hat mich ja bereits gesehen.« – »Ach ja, Ihr sagtet ja, daß er von mir gesprochen habe.« – »Hat Condesa Rosa seinen Gruß ausgerichtet?« – »Seinen Gruß? Nein. Hat er mich grüßen lassen?« – »Ja.«

Da zog sich ihr Gesicht ganz entzückt noch mehr in die Breite, und sie sagte mit strahlenden Augen:

»Ja, so ist er. Er läßt mich grüßen! Oh, wie schön von ihm! Aber was läßt er mir denn sagen?« – »Daß er nicht erschossen worden sei.« – »Mein Gott, ja, ich hörte von dem Diener, daß er mit angefallen worden ist. Wie gut für unsere gnädige Condesa, daß sie sich unter seinem Schutz befunden hat.« – »Allerdings«, lächelte Mariano, »er läßt Euch sagen, daß er sehr tapfer gesiegt hat.« – »Das glaube ich, ja, das glaube ich! Mein Alimpo ist tapfer, er ist sogar zuweilen ganz und gar verwegen und tollkühn, ich muß ihn mehr im Zaum halten! Euch aber, Señor, will ich nach der Bildergalerie führen, wo das Porträt des Grafen hängt. Er ließ es gerade in dem Jahr anfertigen, in dem der kleine Don Alfonzo geboren wurde. Ihr werdet sehen, daß Ihr diesem Bild genau gleicht wie ein Ei dem anderen. Vorher jedoch ruht Euch aus. Ihr habt mit Räubern gekämpft und werdet gar erschrecklich müde sein.«

Sie wollte sich zurückziehen, er aber hielt sie zurück und sagte:

»Bleibt, Señora, oder habt Ihr keine Zeit, mir einige Fragen zu beantworten?« – »Für Euch habe ich immer Zeit, Señor«, antwortete sie. »Euch und Señor Sternau könnte ich keine Bitte abschlagen.« – »Ihr meintet den deutschen Arzt? Was ist das für ein Mann?« – »Oh, ein Mann, ein Mann – ja, beinahe so brav und tüchtig wie mein Alimpo. Er ist aus Paris gekommen und wird unseren Grafen sehend machen. Die berühmtesten Ärzte haben vor ihm weichen müssen. Gestern wurde er von Räubern angefallen.« – »Das hörte ich vorhin. Kennt man keinen Grund, weshalb er getötet werden sollte? Hat er vielleicht einen Feind?« – »Der? Einen Feind? Nein, sicher nicht! Den müssen ja alle Menschen liebhaben.«

Der Angriff auf den Arzt gab Mariano viel zu denken. Es war ganz außer allem Zweifel, daß der Capitano die Hand dabei im Spiel hatte; dann aber mußte es jemand geben, der den Tod des Arztes wollte und den Capitano dafür bezahlt hatte. Dieses Schloß Rodriganda steckte voll finsterer Geheimnisse, die aufgeklärt werden mußten.

»Ich werde, wie es scheint, einige Zeit hier verweilen«, fuhr Mariano fort, »Und darum wird es zu entschuldigen sein, wenn ich mich über die Bewohner des Schlosses zu unterrichten wünsche. Darf ich mich bei Euch erkundigen?« – »Tut es immerhin, Señor. Ich werde Euch gern Auskunft erteilen.« – »Schön! Da ist zunächst dieser Señor Gasparino Cortejo. Was ist das für ein Mann?« – »Wenn ich aufrichtig sein soll, Señor Leutnant, so kann kein Mensch diesen Cortejo leiden. Er steht seit langer Zeit als Sachwalter im Dienst des Grafen und ist in geschäftlichen Dingen seine rechte Hand. Er ist stolz und finster, und man hält ihn für einen Mann, der das Vertrauen des Grafen zu seinem eigenen Vorteil benutzt. Das sagt mein Alimpo auch.« – »Sodann diese Doña Clarissa?« fragte Mariano. – »Sie ist eine Stiftsdame und seit einiger Zeit als Duenja der Condesa hier. Sie ist sehr fromm und verkehrt am liebsten mit Gasparino. Man liebt sie nicht.« – »Und der junge Graf?« – »Dieser ist erst seit einigen Tagen anwesend. Er war in Mexiko.« – »Wie lange?« – »Er war noch Knabe, als er hier abgeholt wurde.« – »Ah, das ist sonderbar! Ein Graf gibt seinen Stammhalter als Kind über die See hinüber in ein Land, wo die unsichersten Zustände herrschen und das Leben eines Menschen nichts gilt.« – »Oh, Señor, es gab Umstände, die den Grafen veranlaßten, es zu tun.« – »Darf man diese Umstände erfahren?« – »Gewiß, Señor, sie sind ja allbekannt, das sagt mein Alimpo auch. Der Oheim des gnädigen Grafen, der Don Ferdinando hieß, war als jüngerer Sohn von der Nachfolge ausgeschlossen; er nahm sein Erbteil und ging nach Mexiko, wo er sich ankaufte und nach und nach ein steinreicher Mann wurde, daß er sein Vermögen gar nicht kannte. Er war unverheiratet geblieben und wollte den zweiten Sohn unseres Grafen, der damals zwei Söhne hatte, zum Erben einsetzen. Dabei aber stellte er die Bedingung, daß dieser Sohn ihm zur Erziehung übergeben werde. Don Emanuel ging darauf ein, weil es sich um ein ganz außerordentliches Vermögen handelte.« – »Der Knabe wurde also nach Mexiko gebracht?« – »Ja.« – »Wann?« – »Oh, ich erinnere mich noch ganz genau, denn es war gerade der Geburtstag meines guten Alimpo, als der Knabe abgeholt wurde, nämlich im Jahr 18**, den ersten Oktober.«

Marianos Augen wurden immer größer, und sein Puls schlug doppelt schnell, aber er beherrschte sich und fragte:

»Der Knabe hieß also Alfonzo?« – »Ja.« – »Er wurde abgeholt?« – »Ja.« – »Von wem?« – »Von dem Inspektor Don Ferdinandos, der zu diesem Zweck herübergekommen war.« – »Wie hieß er?« – »Pedro Arbellez. Ich habe mir diesen Namen ganz genau gemerkt, weil er so spaßhaft klingt.« – »War noch jemand bei dem Kind?« – »Nur die Frau, die seine Amme gewesen war.« – »Wie hieß diese?« – »Maria Hermoyes.« – »Wo schiffte sich Pedro Arbellez ein?« – »In Barcelona. Der Graf und die Gräfin begleiteten das Kind bis dahin; ich war auch dabei.« – »Begleiteten sie den Knaben bis an das Schiff?« – »Nein. Es lief wegen eines Sturmes nicht aus; darum blieb der Mexikaner noch zwei Nächte in einem Gasthof.« – »Wie hieß dieser Gasthof?« – »Zum großen Mann.«

Das stimmte ja ganz genau mit der Erzählung des toten Bettlers überein. Mariano hatte alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Er nahm eine Miene an, als ob er an diesen Dingen ein ganz gewöhnliches Interesse finde, und fragte so gleichmütig wie möglich.

»Stand Señor Cortejo damals bereits im Dienst des Grafen?« – »Ja.« – »Ist er verheiratet?« – »Gewesen, ja.« – »Hat er Kinder?« – »Nein.« – »Hm, wißt Ihr nicht, ob er sehr nahe Verwandte hat, die Kinder besitzen?« – »Er hat weder Verwandte noch Freunde.« – »Lebt Don Ferdinando in Mexiko noch?« – »Nein. Er ist seit zwei Jahren tot.« – »Und Alfonzo hat ihn beerbt?« – »Ja, Señor. Er ist ungeheuer reich geworden.« – »Ihr sagtet, daß Don Emanuel zwei Söhne gehabt habe?« – »So ist es. Aber der Älteste starb bald darauf, als Alfonzo nach Mexiko gegangen war. Er war in Madrid, um Offizier zu werden, und bekam das Fieber, dem er erlag. Darum ist nun Alfonzo der einzige Sohn und wird die Grafenkrone erben.« – »Mir scheint, dieser Alfonzo sehe dem Señor Gasparino und der Doña Clarissa recht ähnlich.« – »Ach, Señor, habt Ihr dies auch bemerkt?« – »Die Ähnlichkeit ist beinahe auffallend.« – »Ja, das sagt mein Alimpo auch.« – »Ist Don Alfonzo beliebt?« – »Nein. Er war ein so lieber Knabe, und ich hab' ihn sehr viel auf diesen meinen Händen getragen, aber in Mexiko scheint er ganz anders geworden zu sein. Er verkehrt mehr mit Cortejo und Clarissa als mit seinem Vater und seiner Schwester.« – »Hm! Und nun diese Doña Amy Lindsay?« – »Dies ist eine Engländerin, die von unserer Condesa geliebt wird. Ihr Vater soll sehr reich sein. Weiter weiß ich nichts.« – »So bin ich also mit meinen Fragen zu Ende. Ich danke Euch, Señora.« – »So erlaubt, daß ich Euch auch eine Frage vorlege, Señor.« – »Tut es!« – »Seid Ihr vielleicht mit den Rodrigandas verwandt?« – »Nein. Mein Name ist Lautreville.« – »Oder sind die Lautrevilles mit den Cordobillas verwandt? Die gnädige Gräfin, unserer Condesa Mutter, war nämlich eine Cordobilla.« – »Nein, wir sind nicht mit ihnen verwandt.« – »Dann ist Eure Ähnlichkeit ganz unbegreiflich!« meinte die Kastellanin. »Und nun sagt mir noch, ob mein Alimpo bald wiederkommen wird.« – »Ganz sicher noch heute.« – »Ich danke Euch, Señor! Ich werde jetzt gehen. Wenn Ihr mich oder die Bedienung braucht, so dürft Ihr nur klingeln.«

Sie ging. Mariano schritt in tiefer Erregung in seinem Zimmer auf und ab. Was er erfahren hatte, war genug, jeden Tropfen seines Blutes in Wallung zu versetzen. Wenn seine Ahnung sich erfüllte, so war er der richtige, echte Erbe von Rodriganda, der Sohn des Grafen Emanuel, der Bruder der herrlichen Gräfin Rosa. Und dieser Alfonzo war ein untergeschobenes Kind, dessen Herkunft man nur bei dem Advokaten erfahren konnte. Vielleicht wußte doch auch der Capitano etwas davon.

Aber welchen Grund hatte dieser letztere, ihn nach Rodriganda zu senden? Das konnte Mariano nicht begreifen. Wenn er wirklich der Sohn des Grafen war, so war es doch gefährlich, ihn in die Nähe desselben zu bringen, da irgendein ganz zufälliger Umstand das Geheimnis entdecken konnte.

Während Mariano sich mit diesen Gedanken beschäftigte, saßen zwei zusammen, die sich von demselben Thema unterhielten, nämlich Gasparino Cortejo und Schwester Clarissa.

»Ja, es ist mir ein Stein vom Herzen«, gestand der erstere, »seit ich weiß, daß die Räuber tot sind. Dieser Leutnant konnte mir keinen größeren Gefallen tun, als sie erschlagen.« – »Desto bedenklicher ist aber seine Ähnlichkeit«, meinte die Schwester. – »Sie ist geradezu auffällig! Ich erschrak gewaltig, als ich ihn erblickte.« – »Ich ebenso! Wer ihn und Alfonzo neben dem Grafen sieht, hält ihn ganz sicher für den Sohn desselben.« – »Es ist mir ein Rätsel. Als Naturspiel ist die Ähnlichkeit denn doch zu bedeutend.« – »Hat vielleicht der Capitano ...« – »Wo denkt Ihr hin, Señora! Ein Räuber ist niemals so unvorsichtig. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken.« – »Welchen?« – »Der Knabe, den wir den Briganten überließen, ist auch umgetauscht worden. Nun denkt der Capitano, er hat den meinigen noch, während es doch nicht der Fall ist.« – »Und der zweimal Umgetauschte wäre dann dieser Leutnant?« – »Ja.« – »Wie käme dieses Kind nach Frankreich zu den Lautrevilles?« – »Wer weiß das! In der Welt passiert gar vieles, was man für unmöglich hält.« – »Man muß schlau sein und diesen Leutnant ausforschen. Gott der Herr hat uns ja die List dazu gegeben, über unsere Gegner zu triumphieren«, meinte die Schwester salbungsvoll. – »Pah! Dazu bedarf es keiner großen List. Ein junger und unerfahrener Mensch ist leicht auszuholen. Ich werde sein Vertrauen sehr bald gewinnen und dann alles leicht erfahren können.« – »Weiß der Capitano, wessen Sohn damals umgewechselt wurde?« – »Nein.« – »Nun, dann ist es ja sehr leicht möglich, daß der Leutnant doch der richtige Rodriganda ist. Es kann ja Gründe geben, die den Räuber veranlaßten, diesen Menschen unter der Maske eines Leutnants nach Rodriganda zu schicken.« – »Das ist falsch. Der Leutnant ist nicht bei den Räubern aufgewachsen; das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick. Dieses Äußere, diese Eleganz und Tournüre eignet man sich nicht unter Briganten an. Er scheint nicht eine gewöhnliche Bildung zu besitzen, wie aus den Worten hervorging, die ich ihn sprechen hörte. Nein, er ist kein Brigant.« – »Bei klarerem Nachdenken scheint es mir allerdings ebenso. Wäre er das Kind, das wir dem Capitano überließen, so würde er heute seine Kameraden nicht getötet haben!« – »Das ist der Umstand, der auch mich beruhigt. Aber dennoch war es eine Schwachheit von uns, darauf einzugehen, daß der Knabe nicht getötet werden sollte. Wer tot ist, der ist stumm und kann nicht mehr schaden.« – »Eine noch größere Schwäche war es von Euch, Señor, dem Capitano jenen Zettel zu unterschreiben. Man hält es für unglaublich, daß ein Jurist eine solche Dummheit begehen kann.« – »Ich befand mich ja in seiner Hand, meine teure Clarissa.« – »Das will mir nicht einleuchten! Ein Räuber tritt nicht vor den Richter, um jemand anzuklagen.« – »Nein, aber ein Räuber geht zum Grafen und bringt ihm seinen richtigen Sohn zurück. Das Dokument wird mir keinen Schaden tun. Der Hauptmann bezweckt mit demselben jedenfalls nur eine Gelderpressung.« – »Wie könnte er dem Grafen das Kind zurückbringen, da er ja gar nicht weiß, ob es dessen Sohn ist!« – »Er weiß es allerdings nicht; das heißt ich habe es ihm verschwiegen. Aber ein Bandit ist scharfsinnig. Er kann nachgeforscht haben. Und der Umstand, daß er sich weigerte, den Knaben zu töten, läßt mich vermuten, daß er von der Abstammung desselben eine Ahnung hat. Übrigens ist die Sache jetzt einfach: wenn er sich einbildet, mir gefährlich zu werden, so schieße ich ihn nieder.« – »Ja, mein Teurer«, sagte die Schwester mit einem frommen Augenaufschlag, »Es ist die Pflicht der Kinder Gottes, die Welt von dem Ungeziefer zu befreien, das im Staub kriecht. Was denkt Ihr nun von dieser englischen Lady? Ist sie nicht eine Schönheit?« – »Eine Schönheit ersten Ranges.« – »Und das sagt Ihr in einem so begeisterten Ton. Ich hoffe nicht, daß die Miß mir gefährlich wird.« – »Das hast du nicht zu befürchten. Du weißt, daß du die einzige bist, die mich von meiner schwächsten Seite kennengelernt hat.« – »Und ich bin die, welche mit deiner Schwachheit Nachsicht hatte. Gott hat uns die Liebe zur Verschönerung dieser sündhaften Erde gegeben, und es ist Ungehorsam gegen seinen väterlichen Willen, wenn man ihm widerstrebt.«

Die beiden frommen Seelen trösteten sich in inniger Umarmung über die Sündhaftigkeit der Erde. Hätten sie gewußt, daß Mariano ihren Schlichen so scharf auf der Fährte war, so wäre ihnen wohl die Lust vergangen, dem »väterlichen Willen Gottes« in dieser Weise gehorsam zu sein.


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