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25. Kapitel.

»Es deckt der Schnee die Gräber zu,
Daß nichts den tiefen Schlummer störe,
Kein Lebenslaut, den in der Ruh'
Der wintersstarren Nacht man höre.

Es glänzen in dem Sternenschein
Die alten, halb verfall'nen Mauern,
Und die Zypressen schauen d'rein,
Als ob die Toten sie betrauern.

Und auf dem hart gefror'nen Schnee
Und mitten unter Leichensteinen,
Kniet sie so ohne Freud' und Weh',
Die weder lächeln kann, noch weinen.

Es ist, als ob der eis' ge Hauch
Ihre Leben ganz getötet hätte,
Als winkt' ihr nur da unten auch
Erlösung in des Grabes Bette.«

Als Sternau ein Pferd und ein Maultier erblickte, auf welch letzterem ein Mann in geistlicher Kleidung saß, ahnte er, daß es derselbe sei, der im Gefängnis gewesen war.

»Erwartet Ihr jemand, frommer Vater?« fragte er. – »Ja, Euch, Señor!« – »Ah, ich ahnte es. Man hat Euch abgesandt, mich zu befreien!« – »Ja. Steigt auf! Wir müssen in zwei Stunden nach Manresa, selbst wenn die Tiere stürzen.« – »Warum so schnell? Warum nach Manresa und nicht nach Rodriganda?« – »Steigt nur auf, Señor, ich werde Euch unterwegs alles sagen, was Ihr erfahren müßt.«

Sternau stieg auf, und nun flogen sie so schnell auf der Strecke dahin, wie die Tiere nur laufen konnten. Der Arzt atmete die reine Winterluft mit Wonne ein. Nach einer langen Weile fragte en

»Ich kenne Euch noch nicht, ich habe Euch noch niemals gesehen. Nicht wahr, Condesa Rosa sendet Euch?« – »Nein, Señor Alimpo.« – »Der Kastellan? Ach so, also doch im Auftrag der Condesa?« – »Nein. Die Condesa ist krank, sie gibt keinen Auftrag mehr.«

Da erschrak Sternau auf das tiefste.

»Krank?« fragt er. »Welche Krankheit hat sie?« – »Sie ist ...« – Der Pater stockte vorsichtig und fuhr dann fort: »Sie hat dieselbe Krankheit, die Ihr an ihrem Vater heilen solltet.«

Es durchzuckte Sternau wie ein plötzlicher Schlag.

»Höre ich recht?« fragte er. »Sie ist – wahnsinnig?« – »Ja.« – »Wahnsinnig!«

Dieses Worte sagte Sternau nicht nein, er rief, er schrie es förmlich in die stille, lautlose Nacht hinaus. Plötzlich hielt er sein Pferd an und fragte in höchster Angst.

»Wo ist sie?« – »Im Stift der heiligen Veronika zu Larissa.« – »Dessen Oberin die Schwester Clarissa ist?« – »Ja.« – »Ah, ich errate!« knirschte Sternau. »Die sogenannte Leiche des Grafen Emanuel ist begraben?« – »Ja.« – »Graf Alfonzo ist Nachfolger?« – »Ja.« – »Gasparino Cortejo ist bei ihm?« – »Ja.« – »Wo ist Schwester Clarissa?« – »Jetzt in ihrem Stift« – »Und der Kastellan?« – »Wohnt in Manresa. Er wurde fortgejagt. Er gab mir Geld, diese zwei Tiere zu kaufen, er wird Euch noch mehr Geld geben, so viel Ihr zur Flucht braucht Señor.« – »Und Ihr? Wer seid Ihr? Warum interessiert Ihr Euch für mich?« – »Das werdet Ihr später erfahren.« – »Nein. Ich muß es jetzt wissen. In diesem Augenblick entscheidet es sich, was ich zu tun haben werde.« – »Nun wohl, Señor, ich befreite Euch, damit Ihr mir helfen sollt den Leutnant de Lautreville aufzusuchen.« – »Kennt Ihr ihn?« – »Ja, er ist der Graf Alfonzo de Rodriganda.« – »Ah! Also ganz wie ich es ahnte! Ihr sollt mir später mehr sagen, jetzt aber kein Wort weiter, ich weiß genug. Hört, frommer Vater, habt Ihr einmal einen Mann gesehen?« – »Einen Mann?« fragte der Pater verwundert. – »Ja. Wenn Ihr noch keinen gesehen habt so sollt Ihr heute einen kennenlernen. Vorwärts!«

Sternau setzte sein Pferd wieder in Bewegung, und sie flogen in Windeseile durch die Nacht. Es waren noch nicht zwei Stunden vergangen, so sahen sie Manresa vor sich liegen.

»Wir lassen die Pferde hier vor der Stadt im Gasthaus«, sagte Sternau. »Es ist besser, wenn uns niemand sieht.«

Sie stiegen ab, banden die dampfenden und vor Anstrengung zitternden Tiere im Stall an und schlichen sich nach der Wohnung des Kastellans, die sie unbemerkt erreichten.

Alimpo saß in seinem Stübchen und unterhielt sich mit seiner Elvira. Sie hatten einander ihre Weihnachtsgaben beschert, nun gedachten sie derer, die heute wohl kein Weihnachtsfest feiern konnten. Da ging die Tür auf, und Sternau trat herein, gefolgt von dem Pater, der hinter sich sogleich die Tür verriegelte.

»Señor Sternau!« rief der Kastellan, indem er emporsprang. – »Señor Sternau!« rief auch die Kastellanin.

Und im nächsten Augenblick hatten sie beide seine Hände ergriffen und bedeckten sie mit Küssen.

»Oh, nun ist alles, alles gut!« frohlockte Frau Elvira unter Freudentränen. »Nun wird auch unsere liebe, gute Condesa wieder frei werden!« – »Ja, sie soll frei sein!« gelobte Sternau. »Frei und gesund. Und wehe diesen Giftmischern, wenn ich finden sollte, daß sie nicht zu heilen ist. Ich zermalme sie! Wir haben nicht viel Zeit, Señor Alimpo, aber erzählt mir dennoch, was geschehen ist, schnell, sehr schnell!«

Der Kastellan folgte dieser Aufforderung. Als er geendet hatte, sagte Sternau nachdenklich:

»Die Condesa ist in der Gewalt dieser Menschen, gegen die ich, so lange ich mich in Spanien befinde, nicht öffentlich auftreten kann, da ich aus dem Gefängnis entflohen bin; ich will daher die Gräfin aus dem Stift entführen und mich zu diesem Zweck nach Rodriganda begeben, um mir einiges zu holen, was ich brauche; ich bin also von jetzt an ein dreifacher Verbrecher und muß noch heute mit der Condesa über die Grenze. Alimpo, gebt mir Geld, Ihr sollt es bald wiederhaben!« – »Alles, alles sollt Ihr haben, Señor Sternau!« lautete die Antwort.

Da trat Elvira vor und fragte:

»Ihr werdet die Gräfin befreien?« – »Ja, noch in dieser Nacht.« – »Und wohin geht Ihr mit ihr?« – »Über die Grenze nach Frankreich, und dann noch weiter, bis nach Deutschland, in mein Vaterland.« – »Señor, ich gehe mit! Nicht wahr, mein lieber Alimpo?« – »Ja, wir gehen mit!«

Diese Worte wurden mit einer solchen Entschiedenheit ausgesprochen, daß man hörte, es sei den guten Leuten wirklich Ernst damit. Sternau aber antwortete:

»Das geht nicht. Ich freue mich über Eure Treue; auch brauche ich sehr notwendig eine Bedienung für unsere kranke Gräfin, aber Ihr könnt nicht so schnell fort von hier. Ihr habt Eigentum und Sachen.« – »Señor, wir gehen dennoch mit!« beteuerte Alimpo. »Ich schwöre es, daß wir Euch und unsere liebe Gräfin nicht verlassen. Dieses Haus, in dem wir wohnen, gehört meinem Neffen. Er wird uns nicht verraten, mag er heute auch hören und sehen, was er wolle. Er wird unsere Sachen später verkaufen und müden Ertrag nach Deutschland schicken.« – »Gut«, antwortete Sternau. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Ihr sollt mit uns gehen!« – »Dank, tausend Dank, Señor!« rief Alimpo. »Nicht wahr, meine Elvira?« – »Ja, das werden wir dem Señor niemals vergessen!« antwortete sie. – »Also Ihr wollt auch nach Rodriganda?« fragte der Kastellan darauf den Arzt. – »Ja.« – »Ich habe noch den Schlüssel zu einer der Seitenpforten.« – »Ich danke! Ich werde frei und offen in das Schloß gehen«, versetzte Sternau stolz. »Sind noch viele der früheren Diener da?« – »Mehrere.« – »Gut. Habt Ihr eine Waffe, Alimpo? Gebt sie mir!« – »Señor, ich gehe mit!« – »Nein, Ihr bleibt! Ihr sollt nichts tun, was Euch später Schaden bringt. Ich reite allein.« – »Señor Sternau, allein lasse ich Euch nicht gehen«, sagte da der Mönch. »Ich begleite Euch auf alle Fälle.« – »Ihr werdet Euch nur Schaden tun, frommer Vater.« »Ich mir? Nein! Ihr werdet später erfahren, daß ich recht habe; ich brauche mich nicht zu fürchten.« – »So reitet mit. Alimpo mag sich unterdessen zur Abreise vorbereiten.« – »Soll ich einen Wagen besorgen?« fragte der Kastellan. – »Nein«, antwortete Sternau. »Es liegt jetzt auf allen Wegen Schnee, was in Spanien allerdings eine Seltenheit ist; nicht Wagen brauchen wir, sondern Schlitten. Ich bringe welche mit.« – »Woher?« – »Aus Schloß Rodriganda.« – »Señor!« rief da Alimpo erschrocken. »Ihr werdet Euch verraten!« – »Pah, ich werde mich offen zeigen und für die Condesa zwei Reiseschlitten verlangen. Ich werde sehen, ob man es wagt, sie mir zu verweigern. Vorwärts, Pater!«

Sternau steckte die geladene Waffe zu sich, und sie verließen das Haus. Er fühlte, daß er jetzt tausend Leben wagen würde, auch den stärksten Widerstand zu besiegen. Rosa mußte frei werden, um jeden Preis. – Nach kurzer Zeit flogen sie auf der Straße von Larissa dahin. Es war nicht viel über eine halbe Stunde vergangen, als sie das Städtchen erreichten. Der Pater lenkte um dasselbe herum, auf einen einzeln stehenden Gebäudekomplex zu, der sich finster aus dem schneebedeckten Feld abhob.

»Wie kommen wir hinein?« fragte Sternau. – »Über die Friedhofsmauer«, lautete die Antwort.

Diese Mauer lag gerade vor ihnen. Sie war nur zwei Meter hoch, so daß sie, da sie zu Pferde saßen, über dieselbe hinwegblicken konnten. Jetzt hielten sie hart daran. Sternau sah hinüber und deutete nach einer dunklen Gestalt, die vollständig unbeweglich zwischen den Gräbern kniete.

»Was ist das?« fragte er. »Ein Monument?«

Der Pater sah schärfer hin und antwortete entsetzt:

»Bei Gott, das ist sie!« – »Wer? Doch nicht etwa die Gräfin?« – »Und doch! Sie ist es!« – »Zu dieser Zeit! In dieser Kälte! In diesem Schnee! Ah, ich verstehe! Sie soll erfrieren; sie soll auch körperlich erkranken! Daß sie entflieht, braucht man ja nicht zu besorgen! Oh, ihr Schurken! Aber ihr macht es mir dadurch um so leichter!«

Sternau stieg vom Sattel auf die Mauer und sprang jenseits von derselben herab. Nun schritt er auf die Gestalt zu. Sah sie ihn? Hörte sie sein Kommen? Nein. Sie kniete zwischen den Gräbern im tiefen, hartgefrorenen Schnee und bewegte nichts, als nur die Lippen – sie betete. Sternau erkannte sie sofort, trotz des härenen Gewandes, in das sie gekleidet war, trotz der eingesunkenen Augen und Wangen und trotz der leichenhaften Blässe, die der helle Sternenschimmer auf ihrem Gesicht erkennen ließ.

»Rosa!« sagte er mit zitternder Stimme.

Sie hörte es nicht.

»Rosa«, bat er sie, »blicke mich an!«

Auch dies hörte sie nicht.

Da kniete er neben ihr nieder und nahm sie in seine Arme, küßte sie und nannte sie bei den zärtlichsten Namen, aber sie hörte und fühlte ihn nicht. Sein Herz krampfte sich zusammen vor unendlichem Schmerz über den Anblick des einst so holden Wesens; er durfte aber nicht zaudern, und daher nahm er sie rasch auf seine Arme und trug sie zur Mauer. Dort gab er sie dem Pater hinüber und setzte sie dann, als er die Mauer übersprungen hatte und wieder aufgestiegen war, zu sich auf das Pferd.

Im eiligsten Lauf schlugen die Reiter jetzt den Weg nach Rodriganda ein. Als sie das Schloß vor sich erblickten, hielt Sternau sein Pferd an und sagte:

»Jetzt habt Ihr genug für uns getan, mein guter Vater. Was nun kommt, das ist zu gefährlich. Es kann als ein Verbrechen gelten; seid so gut, nach Manresa zu reiten und dort auf mich zu warten!« – »Señor, ich bleibe bei Euch!« entgegnete der Pater. – »Ich gebe dies nicht zu!« – »Nun, so will ich Euch sagen, daß dieser Graf Alfonzo und dieser Cortejo auch meine Todfeinde sind. Sie mögen mich zeihen, wessen sie wollen, ich fürchte sie nicht. Reitet nur zu, Señor.« – »Steht es so, so sollt Ihr Euren Willen haben.«

Sie ritten durch das Dorf. In der Venta erblickte man noch ein Licht. Sternau drängte sein Pferd an das kleine Fenster, durch welches es schimmerte, und klopfte. Nach einiger Zeit wurde es sehr vorsichtig geöffnet und ein mit einer großen Nachtmütze bedeckter Kopf ließ sich bei dem Schein der Lampe erkennen.

»Was gibt es?« fragte der Mann, der der Wirt war.

Der Arzt neigte sein Gesicht vom Pferd bis zum Fenster nieder und antwortete:

»Blickt einmal her! Kennt Ihr mich?« – »O Gott, Señor Sternau!« rief da der Besitzer der Venta. »Ist dies möglich?« – »Ja, ich bin es. Wollt Ihr mir einen Gefallen tun?« – »Gern! Welchen?« – »Geht einmal zum Alkalden und sagt ihm, er solle sofort mit den Dorfältesten nach dem Schloß kommen.« – »Was sollen sie dort?« – »Das werden sie erfahren.«

Dann eilten sie weiter, und der Wirt sah ihnen kopfschüttelnd nach.

»Der Señor Doktor«, brummte er. »Woher kommt er? Was hatte er auf dem Pferd? Das sah aus, gerade wie eine menschliche Gestalt! Und der andere war ein Mönch. Fast möchte ich behaupten, daß es ganz derselbe sei, der damals in meiner Venta einkehrte.«

Als die beiden Reiter das Schloß erreichten, stiegen sie vom Pferd. Man sah kein einziges Fenster erleuchtet, und nur aus der Portiersloge schimmerte ein matter Lichtschein. Sternau klopfte, und gleich darauf trat der Portier an das Gitter.

»Wer ist draußen?« fragte er. »Es wird zur Nachtzeit nicht geöffnet.« – »Und dennoch wirst du öffnen, Henrico!« sagte Sternau. »Ich hoffe, daß du mich noch kennst?«

Der Portier war beim Klang dieser Stimme freudig-erstaunt zurückgefahren.

»Señor Sternau! Mein Gott! Ja, ja, ich öffne sogleich!«

Er beeilte sich, das Gitter aufzuschließen, und Sternau trat, die Wahnsinnige auf dem Arm, ein. Als der Portier es sah und sie erkannte, hätte er fast das Licht fallen lassen.

»Heilige Madonna!« rief er. »Das ist ja die Condesa!« – »Allerdings. Weißt du nicht, ob sich ihre Zimmer noch in der alten Ordnung befinden?« – »Es ist gar nichts daran geändert worden. Ich habe die Schlüssel hier, denn es ist noch kein Kastellan wieder angestellt worden.« – »So nimm die Schlüssel und leuchte uns voran.« – »Soll ich nicht den Grafen wecken?« – »Wecken werden wir erst später. Komm!« – »Oder doch die Dienerin der Condesa?« – »Ist diese noch da?« – »Ja. Sie hat die Schwester Clarissa zu bedienen, wenn diese zu Besuch nach Rodriganda kommt.« – »So wecke sie. Aber das soll alles still geschehen.«

Es war dem Arzt jetzt vor allen Dingen darum zu tun, den Eindruck zu beobachten, den die bekannte Wohnung auf die Kranke machen werde. Die Zimmer wurden aufgeschlossen, Sternau trug Rosa hinein und ließ sie auf den Diwan nieder. Sofort glitt Rosa zu Boden, um mit gefalteten Händen zu beten. Sie bemerkte es gar nicht, daß sie den kalten Friedhof mit ihrer früheren Wohnung vertauscht hatte. Sternau ließ sich nicht merken, was er fühlte. Übrigens trat jetzt das Mädchen herein. Dieses war ganz außer sich vor Freude, ihre Herrin zu sehen, und Sternau befahl ihr, die Gräfin zu einer weiten Reise an- und umzukleiden. Sodann gab er dem Portier die Ordre, sämtliche Diener im Speisesaal zu versammeln. Er selbst aber schritt nach der Wohnung des Grafen Alfonzo. Im Vorzimmer schlief ein Diener, der sich sehr erstaunt aufrichtete, als er Sternau erkannte. Der Doktor wies ihn hinaus und trat bei Alfonzo ein.

Dieser lag im Bett und schlief. Eine Ampel erleuchtete das Gemach zur Genüge. Ohne nur einen Augenblick zu zaudern, erhob Sternau die Faust und schlug sie dem Schläfer vor die Stirn.

»So«, meinte er lächelnd, »tot ist er nicht, aber besinnungslos. Ich werde ihn nun fesseln.«

Er fand einige Tücher, die als Fesseln und Knebel verwendet wurden, dann verließ er das Zimmer, schloß es hinter sich zu und steckte den Schlüssel ein. Sein Weg führte ihn zu der Wohnung des Advokaten. Diese war verschlossen. Er klopfte.

»Wer ist da?« fragte nach einer Weile Cortejo von innen. – »Ich. Öffne mir!« antwortete Sternau indem er die Stimme Alfonzos nachahmte. – »Donnerwetter! Was gibt es denn? Hat es keine Zeit?« fragte der Advokat gähnend. – »Nein.« – »So komm! Aber neugierig bin ich.«

Man hörte, daß Cortejo aus dem Bett stieg und den Schlafrock anzog, näher schlürfte und öffnete. Es war dunkel auf dem Korridor, so daß er nicht sah, wer draußen stand.

»Nun, nur näher Alfonzo!« sagte er. »Was kommt dir denn in den Sinn, daß du so spät ...«

Doch da hielt der Advokat plötzlich mitten in der Rede inne, denn der Schreck raubte ihm die Sprache. Sternau war nämlich eingetreten, hatte die Tür hinter sich zugezogen, und da das Nachtlicht ihn zur Genüge beleuchtete, hatte der Notar ihn sofort erkannt und vor ungeheuerer Bestürzung vergessen, seine Rede zu vollenden.

»Ihr scheint meine Stimme verkannt zu haben«, sagte Sternau zu ihm in einem Ton, der kalt wie Eis war und spitz wie Stahl. – »Sternau!« murmelte jetzt der Notar.

Zu einem lauten Wort konnte er es noch nicht bringen, aber er machte doch eine Bewegung, als wolle er nach der Tür springen. In demselben Augenblick jedoch schlug ihm der Arzt die Faust vor den Kopf, daß er wie ein Sack zu Boden stürzte. Eine Minute später war auch Cortejo gefesselt und geknebelt, wie vorher der Graf Alfonzo. Sternau schloß ihn dann ein und begab sich nach dem Saal, wo die Diener in Erwartung dessen standen, was da kommen solle. Auch der Alkalde mit den Ältesten des Dorfes war bereits zugegen. Das hatte Sternau wissen wollen. Er gebot den Leuten, den Saal nicht zu verlassen und auf seine Rückkehr zu warten, und begab sich darauf wieder zu dem Advokaten, der unterdessen zur Besinnung gekommen war, setzte sich neben ihm nieder und begann:

»Señor Cortejo, ich habe Euch gefesselt, um ungestört ein Wort mit Euch zu sprechen. Hört mich an! Daß Ihr der größte Halunke der Erde seid, wißt Ihr ja, und ich brauche es Euch also nicht erst zu sagen, aber ebensowenig werdet Ihr Euch darüber verwundern, daß ich Euch als Halunken behandle. Ich habt mich verraten und in die Gefangenschaft gebracht...«

Der Gefesselte machte vor Angst eine verneinende Kopfbewegung. Sternau aber fuhr fort:

»Lügt nicht! Es hilft Euch nichts! Ich bin wieder frei, Euer Verrat hat Euch also nicht ganz zum Ziel geführt. Auch Gräfin Rosa habt Ihr gefangengenommen. Sie lebte zwar nicht in einem Gefängnis, sondern in einem sehr frommen Stift, aber auch sie ist wieder frei. Ich habe sie mit hier. Sie ist wahnsinnig. Ihr habt sie vergiftet, so wie Ihr den Grafen Emanuel vergiftetet! Schüttelt nicht mit dem Kopf! Ihr habt Euer Verbrechen so schlau unternommen, daß ich Euch noch nicht fassen kann, aber es wird die Zeit kommen, wo ich Euch packen werde, und dann gnade Euch Gott! Für heute ist es nur wenig, was ich mit Euch zu besprechen habe. Ich will nämlich Condesa Rosa mit mir nehmen und erlaube mir deshalb, die nötigen Kleider hier einzupacken und auch für die Legitimationen zu sorgen, die notwendig sind, damit die Condesa auf die Auszahlung ihres Vermögens dringen kann. Ihr glaubt, daß dies keinen Erfolg haben wird, da sie wahnsinnig ist? Pah, ich werde sie herstellen! Ist aber die Condesa unheilbar, so sterbt Ihr des fürchterlichsten Todes, den es gibt, von meiner Hand. Um sie zu heilen, bedarf ich des Mittels, das ich bereits bei Graf Emanuel anwenden wollte, nämlich des Geifers eines zu Tode gekitzelten Menschen, und da Ihr mit Eurem Gift den Wahnsinn hervorgerufen habt, so scheint es mir ganz in der Ordnung, daß auch Ihr selbst das Gegenmittel liefert. Ich werde Euch jetzt so lange kitzeln, bis Ihr den Schaum des wahnsinnigsten Schmerzes von Euch gebt und Euch erst dann töten, wenn auch dieses Mittel nichts hilft.«

Bei diesen Worten trat dem Advokaten der Angstschweiß auf die Stirn. Sternau kümmerte dies nicht. Er faßte den Gefesselten, trug ihn nach dem Nebenzimmer und band ihn dort so, daß er sich unmöglich bewegen konnte, dann verdichtete er den Knebel und suchte endlich nach einem Gefäß, in dem er den giftigen Schaum sammeln konnte.

Es mußte eine fürchterliche Angst sein, die der Advokat bei diesen Vorbereitungen empfand. Endlich zog ihm der Arzt die dünnen, feinen Nachtstrümpfe aus, nahm vom Schreibzeug eine Gänsefeder hinweg und begann, mit der Fahne dieser Feder die Fußsohlen des Notars zu bestreichen.

Unterdessen warteten die Diener unten im Saal auf seine Rückkehr. Sie dauerte ihnen zu lange, doch wagten sie nicht, gegen seinen Befehl zu handeln und den Saal zu verlassen. Da trat das Mädchen herein, dem die Gräfin übergeben worden war, und meldete, daß man oben ein ganz entsetzliches Getöse vernehme. Man beriet, was zu tun sei, und kam darin überein, daß der Alkalde mit dem Portier nachsehen solle, woher die Töne kämen.

Als diese beiden den oberen Korridor erreichten, stiegen ihnen fast die Haare zu Berge. Was sie hörten, war das Wutgestöhn des Advokaten. Trotzdem er einen doppelten Knebel trug und trotzdem er in einem inneren Zimmer lag, drang sein Geheul doch bis auf den Korridor hinaus, doch gerade, als der Alkalde klopfen wollte, trat Schweigen ein. Sie kehrten infolgedessen nach dem Saal zurück, wo sich nach kurzer Zeit auch Sternau einstellte, der die Gräfin am Arm hatte.

Die sämtlichen Anwesenden erschraken bei dem Anblick der geliebten Herrin und wollten herzutreten, um ihre Gefühle auszusprechen, Sternau aber wehrte ihnen ab und sprach:

»Señores, kennt Ihr diese Dame?« – Ja«, ertönte es rundum. – »Könnt Ihr beschwören, wer sie ist?«

Man wunderte sich über diese Frage und antwortete mit einem Ja.

»So mag auch der Alkalde sagen, wer sie ist.« – »Natürlich ist es die Condesa Rosa de Rodriganda-Sevilla«, versicherte der Aufgeforderte. – »Dann setzt Euch nieder, Señor, und stellt mir ein amtliches Zeugnis aus, daß diese Doña die Gräfin ist. Die sämtlichen Anwesenden werden das Dokument unterzeichnen.« – »Warum?« – »Man trachtet der Gräfin nach dem Leben, man macht sie wahnsinnig, ich will sie retten und brauche dazu die erwähnte Legitimation.«

Der Alkalde wollte noch weiter fragen, denn er sah sich hier vor den Pforten eines Geheimnisses, in das er gern eingedrungen wäre, doch Sternau bat um Eile, und er mußte sich fügen.

Hierauf ging Sternau nach den Zimmern, die er selbst bewohnt hatte. Er fand dieselben ziemlich unberührt und packte in Gegenwart des Alkalden und der Ältesten ein, was er mitzunehmen gedachte. Dann mußten ihn die Beamten nach den Zimmern der Gräfin begleiten, wo er ebenso alles notieren ließ, was mitgenommen wurde. Durch diese Maßregel stellte er sich gegen spätere Anklagen sicher. Von höchstem Wert waren der Geburts-, Tauf- und Firmungsschein der Gräfin. Er fand diese Papiere in ihrem Schreibtisch und steckte sie zu sich.

Der Alkalde bat um Aufklärung über das geheimnisvolle nächtliche Ereignis, er fragte auch nach Graf Alfonzo und dem Advokaten, erhielt aber keine Aufklärung. Dann ließ Sternau zwei Schlitten mit den schnellsten Pferden bespannen, bestieg den einen mit der Gräfin, während der Pater den anderen lenkte, und fuhr davon. Die beiden Tiere, auf denen sie nach Rodriganda gekommen waren, ließen sie zurück.

Die Anwesenden blickten den beiden Schlitten so lange nach, als sie zu sehen waren, endlich aber sahen sie sich – untereinander selber an. Was war das gewesen? Was hatte das zu bedeuten? Woher war Sternau, der Verschwundene, so plötzlich gekommen, und wohin wollte er mit der Gräfin? Warum ließen sich der Graf und der Sachwalter gar nicht sehen?

Man ging nach der Wohnung des ersteren und fand dieselbe verschlossen. Das war verdächtig. Man klopfte, und als man angestrengt horchte, hörte man als Antwort ein unterdrücktes Wimmern. Jetzt wurde das erste, beste Instrument herbeigeholt, um die Tür aufzusprengen, und nun fand man Graf Alfonzo gefesselt und geknebelt im Bett liegen. Er wußte von nichts, aber als er befreit war und hörte, daß Sternau hier gewesen sei und die Gräfin mitgenommen habe, warf er die nächstliegenden Kleidungsstücke über und eilte zum Advokaten.

Auch dessen Tür war verschlossen, man sprengte sie ebenfalls auf und fand Cortejo in einem ganz unbeschreiblichen Zustand. Er hatte sich unter den Fesseln so gekrümmt und gewunden, daß die Banden tief in sein Fleisch eingedrungen waren, die Knebel waren vom Schaum ganz durchweicht, und es dauerte lange Zeit, ehe seine bis zum fürchterlichsten Wahnsinn aufgeregten Nerven sich so weit beruhigt hatten, daß er Alfonzo den Vorgang unter vier Augen erzählen konnte.

Alfonzo ordnete sofort eine schleunige Verfolgung an und stieg selbst zu Pferde, um in Manresa Polizei zu requirieren und die sonst noch notwendigen Schritte einzuleiten.


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