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18. Kapitel.

Als am nächsten Morgen der Leutnant de Lautreville noch nicht wieder zurückgekehrt war, hegte man in Rodriganda nun die feste Überzeugung, daß ihm ein Leid geschehen sei. Sternau hielt es für das beste, über seine Vermutungen noch zu schweigen, als beschlossen wurde, nach Paris zu schreiben. Er hatte jetzt seine ganze Sorgfalt auf Don Emanuel zu verwenden.

Dieser befand sich in einer tiefen Schwäche. Er genoß die ihm dargereichten Lebensmittel und flüsterte den Namen Alimpo vor sich hin; das waren die einzigen Lebenszeichen, die er gab.

Graf Alfonzo ließ sich im Krankenzimmer nicht sehen, Cortejo und die fromme Schwester auch nicht. Diese drei saßen immer zusammen und hielten Beratung. Alfonzo wollte sich an die Gerichte wenden, um seine Ansprüche geltend zu machen, doch Cortejo veranlaßte ihn zu dem Versprechen, wenigstens noch einen Tag zu warten, ehe er diesen Entschluß zur Ausführung brachte.

So verging der Tag, und der Abend brach herein.

Ungefähr drei Viertelstunden im Nordosten von Rodriganda liegt ein nicht gar zu kleines Dorf, das Loriba heißt. Dort war der Bäcker, ein reicher Mann, gestorben und heute begraben worden. Der Totengräber, der im Dorf, nicht aber in der Nähe des vor dem Ort liegenden Kirchhofs wohnte, hatte es nicht für nötig gehalten, das Grab sofort fertig zu machen, sondern es nur so weit zugeworfen, daß es der Erde gleich war.

Es mochte um die elfte Stunde sein. Es schien kein Mond vom Himmel, aber die Sterne verbreiteten einen genügenden Schimmer, daß man zwei oder drei Schritte sehen konnte, da kam eine kleine Truppe phantastisch gekleideter Leute leise über die Felder gestiegen und schritt auf den Kirchhof zu. Es waren fünf erwachsene Zigeuner und drei Knaben. Diese Knaben wurden als Wächter ausgestellt, die anderen fünf aber schwangen sich über die Mauer.

»Hast du richtig aufgepaßt, Lorro? Weißt du das Grab?« fragte der eine von ihnen. – »Ich weiß es«, antwortete der Gefragte. »Kommt!«

Dabei schritt er mit Sicherheit zwischen den alten Gräbern hindurch, denn er war heute während des Begräbnisses Zuschauer gewesen und führte sie zur richtigen Stelle. Dort angekommen, begannen sie sogleich ihre Arbeit. Die dazu gehörigen Hacken und Schaufeln hatten sie sich mit Leichtigkeit im Dorf zusammengesucht.

Da die Erde sich noch nicht gesenkt hatte, sondern locker war, ging ihre Arbeit nicht nur schnell, sondern auch ziemlich unhörbar vonstatten, so daß sie bereits nach fünfzehn Minuten auf den Sarg stießen. Nach kurzer Zeit schon gelang es ihnen, denselben im jetzt offenen Grab so aufzurichten, daß das Kopfende oben am Rand lehnte; dann erbrachen sie ihn.

Derjenige, der Lorro genannt worden war, öffnete eine bisher versteckt gehaltene Blendlaterne und leuchtete der Leiche in das starre Angesicht

»Komm heraus, Alter!« sagte er. »Du sollst mit uns spazierengehen!«

Der in seiner Grabesruhe gestörte Bäcker wurde darauf herausgenommen und neben das Grab gelegt. Den Sarg aber brachte man wieder in seine vorige Lage, und nun wurde das Grab zugefüllt und gerade so hergerichtet wie sie es gefunden hatten. Mit Hilfe der Blendlaterne gelang es den Zigeunern leicht alle Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen.

Hierauf nahmen zwei der Männer die Leiche auf die Schulter und verschwanden mit ihr im Dunkel der Nacht; die Knaben kehrten nach ihrem Lager zurück, die übrigen drei Männer aber sputeten sich, noch zur rechten Zeit nach Rodriganda zu kommen.

Dort traf im Park gerade um die Mitternachtsstunde der Advokat bei der Eiche ein und fand die Gitanos versammelt.

»Garbo?« fragte er. – »Hier bin ich«, antwortete der Gerufene. – »Sind alle da, oder müssen wir noch warten?« – »Wir sind vollzählig.« – »So kommt!«

Cortejo schritt nun den Zigeunern voran und führte sie über Stellen, wo ihre Füße keine auffälligen Eindrücke hinterlassen konnten., Dann geleitete er sie durch dieselbe Tür, durch die er mit den Seeleuten eingedrungen war, in das Schloß. Hier brannte keine Lampe mehr, und es wurde also die Blendlaterne hervorgezogen. Es ging darauf mehrere Stiegen empor und wieder hinab, durch eine ganze Reihe von unbewohnten Zimmer hindurch bis in einen Raum, in dem viele Bücherregale standen. Es war die Bibliothek.

»Wartet!« sagte jetzt der Advokat. »Ich werde rekognoszieren«, und trat zu einer Tür, die er geräuschlos ein Spältchen breit aufzog, so daß er in das nebenanliegende Gemach blicken konnte. Dann winkte er Garbo herbei und sagte flüsternd:

»Blicke hinein! Getraust du dich?«

Der Gitano trat an den Türspalt, warf einen Blick in das Nebenzimmer und erwiderte leise:

»Ja, sofort.« – »Aber ohne bemerkt zu werden und die Mädchen zu wecken!« – »Jawohl! Ihr könnt uns vollständig trauen!« – »So holt ihn heraus.«

In der Nebenstube lag der kranke Graf. Er hatte ganz das Aussehen einer Leiche und regte sich nicht. Auf einem Diwan saßen Rosa und Amy, beide in einen festen Schlaf versunken. Das Herzeleid des heutigen Tages hatte beide so ermattet, daß sie nicht erwachten, als der Zigeuner hinüberhuschte und zunächst die Lampe verlöschte, die das Krankenzimmer erleuchtete.

Sofort folgten ihm die anderen. Der Advokat blieb zurück und lauschte. Er hörte nicht das geringste Geräusch, nicht einmal das leise Rauschen einer Falte des Bettes. In der nächsten Minute schon kehrten die Zigeuner zurück, eine regungslose Last in den Händen.

»Schließt wieder zu, Señor«, bat Garbo, »und leuchtet dann.«

Man verfolgte nun denselben Weg, den man gekommen war, und gelangte unangefochten bis zur Eiche zurück. Der Advokat, der weder einen Atemzug noch irgendeine Bewegung des Grafen bemerkt hatte, fragte jetzt:

»Ist er bereits tot?« – »Ich glaube«, erwiderte Garbo. »Um ihn ruhig zu erhalten, mußte ich ihn ein wenig fest anfassen. Ich denke, es ist eins. Nicht, Señor?« – »Ja«, antwortete der Advokat, indem er sich eines leisen Schauders doch nicht erwehren konnte. »Also, ihr wißt, wohin ihr ihn zu schaffen habt?« – »Versteht sich.« – »Und wenn die Belohnung darauf ausgesetzt wird, meldest du dich, Garbo?« – »Tragt keine Sorge, Señor! Seid Ihr mit uns bisher zufrieden?« – »Vollständig.« – »So bitte ich mir das Geld aus.« – »Hier ist es. Wenn ich mit euch zu sprechen habe, werde ich euch aufsuchen. Gute Nacht.« – »Gute Nacht Señor.«

Die Zigeuner entfernten sich darauf mit ihrer Last und fanden am Ende des Parks einen kleinen Handwagen, den sie hier versteckt hatten. Der Graf wurde auf denselben gelegt und vorsichtig weitertransportiert, bis die Zigeuner die Nähe ihres Lagers erreichten.

Dort stießen sie auf eine Gruppe stiller Gestalten, deren eine sich bei ihrer Annäherung erhob. Es war die alte Zigeunermutter.

»Ist es gelungen?« fragte sie. – »Vollständig«, antwortete Garbo. – »Und der Graf?« – »Er ist ohnmächtig.« – »Hier sind Kleider für ihn. Zieht sie ihm an. Dann kommt er auf deinen Wagen, Garbo, und du bringst ihn sofort aus dem Land hinaus. Aber ich binde dir sein Leben auf die Seele. Und hier liegt die Leiche. Wir haben sie bereits ausgezogen. Legt ihr die Wäsche und alles an, was Don Emanuel jetzt trägt und dann fort mit ihr.«

Unterdessen war auch der Advokat nach dem Schloß zurückgekehrt, aber sehr, sehr langsam und vorsichtig. Er war gewitzigt worden und hatte in der Nähe der Eiche einen Federbesen versteckt gehabt, den er jetzt benützte, die Spuren seiner Schritte zu verwischen. So erreichte er sein Zimmer, ohne von jemand bemerkt zu werden, legte sich aber nicht zum Schlaf nieder, da er in jedem Augenblick den Hilferuf der beiden Damen erwarten konnte.

Aber es blieb alles still, und als der Morgen tagte, hatte er sogar nun Zeit in dem Park nachzusehen, ob die Vertilgung seiner Spuren ihm auch wirklich gelungen sei.

Doktor Sternau hatte darauf bestanden, die Nacht bei dem Kranken zuzubringen, aber Rosa hatte ihm seinen Wunsch nicht erfüllt, sondern mit der Freundin die Nachtwache übernommen. Wie bereits bemerkt, waren sie zu ermüdet gewesen und so fest eingeschlafen, daß sie erst erwachten, als die Sonne bereits über den Horizont getreten war.

Auch Sternau war erwacht. Die Sorge um seinen Patienten hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er erhob sich von seinem Lager, kleidete sich an und begab sich zu Graf Emanuel. Das Vorzimmer war von innen nicht verschlossen. Er trat ein. Doch in demselben Augenblick hörte er aus dem Krankenzimmer einen angstvollen Doppelschrei.

Sogleich etwas Ungewöhnliches ahnend, eilte er hinzu und fand die beiden Mädchen vor dem leeren Krankenbett stehend.

»Ah! Wo ist der Graf?« fragte er. – »Ja, mein Gott, wo ist der Vater?« rief Rosa. – »Sie haben geschlafen?« – »Leider«, gestand sie, tief errötend. – »Wir beide zu gleicher Zeit«, ergänzte Amy.

Sternau unterließ es, ein rügendes Wort auszusprechen, er bemerkte nur einfach:

»Er kann nicht weit fort sein. Er war zu schwach zum Gehen!« – »War er nicht in einem der vorderen Zimmer?« fragte Rosa. – »Nein.« – »So ist er in der Bibliothek!«

Sternau öffnete die Tür zu derselben, fand aber den Vermißten nicht, auch als er in und unter den Möbeln suchte.

»Ich begreife nicht, daß er das Bett und das Zimmer verlassen haben soll«, sagte er kopfschüttelnd. »Er war so schwach und litt an keinerlei körperlicher oder geistiger Aufregung. Auch die Fenster sind alle von innen verschlossen, also ein Sturz oder Sprung durch dieselben hinab ist gar nicht möglich. Man muß sofort im ganzen Schloß nachsuchen.«

Jetzt begann sich eine Szene zu entwickeln, die ganz unmöglich beschrieben werden kann. Sämtliche Bewohner des Schlosses wurden alarmiert und ausgefragt. Keiner hatte den Grafen gesehen und keiner eine Spur von ihm bemerkt. Es wurde selbst der kleinste und entfernteste Winkel des Schlosses durchsucht und durchforscht, aber ohne allen Erfolg. Während der dadurch hervorgebrachten Aufregung blieben nur drei vollständig ruhig und scheinbar unberührt – der Advokat, die Schwester Clarissa und Alfonzo. Sie saßen allein im Salon und ließen die anderen suchen.

»Wo mag er nur sein?« fragte die Schwester.

Der Advokat lächelte überlegen und antwortete:

»Sagte ich gestern unserem Alfonzo nicht, daß er nur bis heute warten soll?« – »Ah, ist es so?« rief sie, ganz begeistert. »Hast du eine Ahnung, wo er sich befinden kann?« – »Hm! Er war verrückt, man hat ihn schlecht bewacht, und so ist er im Delirium darauf gekommen, das Schloß zu verlassen. Ich befürchte sehr, daß ihm ein arger Unfall geschehen ist.« – »Ha, dann siegen die Gerechten endlich, und die Ungerechten müssen unterliegen. Gottes Langmut ist groß, nimmt aber endlich doch einmal ein Ende. Sollte er verunglückt sein, mein teurer Freund?« – »Das ist sehr leicht möglich.« – »Dann wäre unser Alfonzo ja augenblicklich unbestrittener Besitzer der ganzen Grafschaft.« – »Allerdings.« – »So darf er jetzt nicht länger zaudern. Geh, mein Alfonzo, geh, und nimm die Leitung der Nachforschung in deine Hände.«

Der Angeredete wollte sich erheben, um diesen Worten Folge zu leisten, aber der Advokat hielt ihn zurück.

»Warte noch, mein Sohn!« sagte er. »Dieser Doktor Sternau hat sich zum Beherrscher der hiesigen Verhältnisse aufgeworfen. Er hat deine Anordnungen zurückgewiesen und mag nun die Folgen tragen. Man wird schon kommen, um auch uns zu fragen.«

Mit dieser Voraussetzung hatte er sehr recht, denn es dauerte nicht lange, so trat Rosa in der allerhöchsten Aufregung herein und rief:

»Aber, Alfonzo, der Vater ist verschwunden, und du sitzt so ruhig hier?«

Der Angeredete zuckte einfach die Schultern und antwortete sehr gleichmütig:

»Ich muß mich leider bescheiden, man hat mir ja das Recht, mit zu denken, mit zu reden und mit zu handeln, gewalttätig abgesprochen.« – »Das ist in der Weise, wie du es zu meinen scheinst, ja keinem Menschen eingefallen.« – »Streiten wir uns nicht abermals! Ihr habt getan, was euch beliebte, und müßt nun auch die Konsequenzen tragen. Wenn meinem Vater ein Unglück passiert sein sollte, so habt nur ihr es zu verantworten, ich kann meine Hände in Unschuld waschen.« – »Aber der Vater muß sich doch irgendwo befinden!« – »Ist er denn nicht im Schloß?« – »Nein.« – »So ist er also außerhalb des Schlosses zu suchen. Señor Cortejo, Ihr seid der Sachwalter meines armen Vaters, nehmt Euch doch seiner und auch meiner an und veranlaßt die nötigen Schritte, daß er gefunden wird.«

Der Advokat erhob sich jetzt mit Würde und fragte die Gräfin:

»Wie war Don Emanuel gekleidet, Doña Rosa?« – »O mein Gott, fast gar nicht. Er lag ja krank und war so schwach, daß an ein Erheben von dem Lager gar nicht gedacht werden konnte.« – »Das mag die Ansicht Señor Sternaus gewesen sein, ich aber weiß, daß ein geistig Gestörter selbst bei schwächstem Körper zu fast riesenhaften Anstrengungen fähig ist. Ich werde Don Emanuel in der ganzen Umgegend suchen lassen und empfehle Ihnen, demjenigen, der ihn findet, eine Belohnung ausschreiben zu lassen. Wir feuern damit die Tatkraft all derer an, die imstande sind, uns zu nützen.« – »Ja, tun Sie das!« antwortete Rosa, dann eilte sie wieder fort. – »Nun, hatte ich nicht recht?« fragte Cortejo die beiden anderen Komplizen. »Jetzt trete ich als Sachwalter des Grafen auf, und ich will denjenigen sehen, der mich nicht als solchen respektiert.«

Sternau hatte sich gar bald von den anderen getrennt. Ihm schien es unmöglich, daß der durch den Aderlaß sehr geschwächte Graf auch nur das Bett und Zimmer, viel weniger aber das Schloß verlassen haben solle. Für viel wahrscheinlicher hielt er eine gewaltsame Entführung. Darum ging er hinaus und umkreiste das Schloß, um nach Spuren zu suchen. Er fand jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt und mußte schließlich unverrichteter Dinge zurückkehren, um Rosa zu überwachen, die sich in einer außerordentlichen, fieberhaften Aufregung befand.

Mittlerweile hatte der Advokat die Nachforschung in die Hand genommen. Laufende und reitende Boten durcheilten die ganze Umgegend, um die Bewohner zu Hilfe zu rufen und demjenigen, der den Aufenthaltsort des Vermißten nachweisen könne, eine Belohnung von fünfhundert Duros zu versprechen. Doch schien auch diese Maßregel ohne Erfolg zu sein.

So verging der Tag, und der Abend brach herein, auch die Nacht verging, ohne daß sich eine Spur gefunden hatte, obgleich Hunderte von Menschen sich auf den Beinen befanden, um womöglich die Belohnung zu verdienen. Am Morgen saß man im Speisesaal beim gemeinsamen Frühstück, aber keiner rührte die Speisen an. Das Unglück schien die Feindseligkeiten der Parteien ausgeglichen zu haben, denn es hatten sich alle eingefunden, die in letzter Zeit sich schroff begegnet waren. Da trat ein Diener ein und meldete einen Zigeuner, der den Herrschaften etwas zeigen wolle. Er wurde natürlich sofort eingelassen, daß die Vermutung nahelag, daß er in der Angelegenheit komme, mit der sie sich alle so außerordentlich beschäftigten.

Er trat ein. Es war Garbo. Er trug Sandalen, die mit Riemen um die nackten Füße und Waden befestigt waren, eine kurze, zerrissene Hose, eine ebensolche Jacke, und drehte den hohen, spitzen Hut sehr eifrig zwischen den Fingern, als wolle er mit dieser Beschäftigung gegen die Verlegenheit ankämpfen, die er in einer so vornehmen Gesellschaft empfinden mußte.

»Wer bist du?« fragte ihn der Advokat. – »O nichts, als nur ein armer Gitano, Señor«, antwortete er. – »Was willst du hier bei uns?« – »Ich wollte Euch etwas zeigen.« – »Was ist es?« – »Erlaubt, daß ich es Euch erzähle.« – »So rede.«

Der Gitano spielte seine Rolle ganz vortrefflich. Sein Gesicht war so ehrlich und bieder, als ob niemals ein falscher Zug auf demselben Platz gehabt habe. Er räusperte sich und begann:

»Ich bin ein armer Gitano und verdiene mir mein Brot mit der Heilung aller Krankheiten der Menschen und Tiere. Daher gehe ich viel in die Berge, um Kräuter zu suchen. Dies tat ich auch heute morgen. So kam ich an eine sehr steile Felsenwand, und da hing an einem Dorn ein Stückchen feiner Leinwand, wie ich noch gar keine gesehen habe. Es war eine Krone darauf, und darunter stand ein R und ein S ...« – »Mein Gott, unser Wappen!« rief Rosa. »Mann, hast du das Leinwandstück mitgenommen?« – »Ja, ich hörte, daß ein reicher Don gesucht wird, und nahm den Fetzen von dem Zweig hinweg. Dann stieg ich in die schauerliche Tiefe hinab, und da – und da fand ich – fand ich ...«

Der Zigeuner schüttelte sich, als ob er noch jetzt ein Grausen fühle, so daß er die Worte nicht aussprechen könne, aber Rosa war aufgesprungen, auf ihn zugetreten und befahl ihm:

»Sprich weiter, Mann! Was fandest du?« – »Halt!« sagte da Sternau, indem er näher trat. »Ich bitte die Damen, sich zu entfernen, ehe dieser Mann weitererzählt!« – »Nein, ich bleibe, ich muß hören, was er spricht!« antwortete die Gräfin und stand so entschlossen da und ihre Stimme klang so entschieden, daß Sternau jeden weiteren Einwand unterließ. – »Soll ich weitererzählen?« fragte der Gitano. – »Ja, ich befehle es sogar!« antwortete sie. – »Ganz unten in der Tiefe lag – eine Leiche.« – »Eine Leiche!« rief sie, die Hände in Verzweiflung aneinanderschlagend. »O mein Vater, mein lieber, lieber, teurer Vater!«

Da legte ihr Sternau die Hand auf den Arm und sagte:

»Doña Rosa, fassen Sie sich! Noch ist nicht jede Hoffnung verloren. Die Leiche kann die eines Fremden sein, oder der scheinbare Tote hat noch Leben in sich.« – »Nein, lebendig ist er nicht mehr, denn er ist ganz zerschmettert«, sagte der Gitano. – »Hast du den Leinwandfetzen?« fragte Graf Alfonzo. – »Ja.« – »Wo?« – »Hier ist er.«

Der Zigeuner zog aus der Tasche ein dreieckig gerissenes Stück feinster französischer Leinwand hervor und gab es dem jungen Grafen. Dieser warf einen Blick darauf und entschied sogleich:

»Unser Wappen! Ja, das ist es!« – »Zeig her!«

Mit diesen beiden Worten sprang Rosa auf ihn zu, zog die Leinwand aus seiner Hand und betrachtete das Wappen.

»Tot! Wirklich tot! O mein Gott, mein Gott!« hauchte sie, indem sie, um nicht zusammenzubrechen, sich auf den Tisch stützen mußte. – »Können Sie das genau sagen?« fragte Sternau mit tiefster Bewegung. – »Ja«, klang es matt zwischen ihren erbleichten Lippen hervor. »Es ist ein Stück des Oberhemds, das ich selbst ihm zuletzt noch anlegte, als der Aderlaß vorüber war. Ich erkenne es an der Nummer.« Und sich an den Zigeuner wendend, fuhr sie fort: »Sage schnell, wo er liegt!« – »Er liegt tief unten in dem Abgrund, den man die Bateria nennt.«

Das spanische Wort Bateria bedeutet einen Mauer- oder Felsenbruch, also eine wilde, gefährliche Stelle. Als die Anwesenden dies Wort hörten, wußten sie, daß von einem noch Lebendigsein gar keine Rede sein könne, denn die Bateria war eine mehrere hundert Fuß tiefe Schlucht, die einen fürchterlichen Abgrund bildete, dessen Wände fast lotrecht hinabfielen. Wer in diesen Schlund stürzte; der war sicher vollständig zerschmettert und zermalmt.

»Ich weiß genug«, jammerte Rosa. »O mein Gott, ich bin seine Mörderin. Ich habe geschlafen, während er starb. Nie werde ich dies vergessen und überwinden können! Mein Vater! Mein Vater!«

Sie verließ, den Leinwandfetzen in der Hand, den Saal, und Amy Lindsay folgte ihr, um ihr in dieser schweren Stunde beizustehen.

»Kann man ohne Lebensgefahr zu der Leiche kommen?« fragte der Advokat den Zigeuner. – »Ja, wenn man die Felsen kennt.« – »Du kennst sie?« – »Ja.« – »Willst du uns führen?« – »Ich werde es tun. Aber, Señor, ich bin ein armer Zigeuner.« – »Schon gut, du wirst fünfhundert Duros erhalten, wenn es wirklich die Leiche dessen ist, den wir suchen. Don Alfonzo, Sie werden mitgehen müssen, um Ihren Vater zu rekognoszieren.«

Der Angeredete nickte schweigend. An Sternau erging keine Aufforderung, sich anzuschließen, er hatte dies auch nicht anders erwartet, obwohl es sich ganz von selbst verstand, daß er nicht zurückbleiben werde. Die Kunde, daß die Leiche des Grafen gefunden worden sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das Schloß. Ein jeder wollte mitgehen, sie aufzusuchen, und als sich endlich der Sachwalter nebst Alfonzo auf den Weg begaben, schlossen sich aus Schloß und Dorf so viele Begleiter an, als ob ein Wallfahrtszug gebildet werden sollte.


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