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14. Kapitel.

Am anderen Morgen hatte sich Miß Amy Lindsay bereits zu einer sehr frühen Stunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe wie das Unglück; es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinauszugehen in den kühlen, taufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen im Arm. Sie grüßte mit einem tiefen Knicks, und Amy dankte ihr auf das freundlichste.

»Wie es scheint, ist unsere gute Señora Elvira schon sehr in Geschäften«, sagte sie. – »Jawohl, meine verehrte Doña Amy Lady«, antwortete die Kastellanin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. »Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen.« – »Darf man ihn kennenlernen?« – »Warum nicht? Denkt Euch, Doña Lindsay Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und gerade dem, der den Tag zum Fest machte, dem hat man nicht eine einzige Blüte auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.« – »Ah, Sie meinen Señor Sternau?« – »Ja, ihn und keinen anderen. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer sehr lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat. Man muß ihm dankbar sein. Darum sagte Doña Rosa, ich solle heute früh für Rosen sorgen.« – »Er hat bisher bei Don Emanuel stets gewacht?« – »Ja, es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Herrn verhindern wollen. Er ist ein sehr energischer Mann, das sagt mein Alimpo auch. Selbst heute hat er beim gnädigen Grafen gewacht; jetzt aber ist er in den Park gegangen.« – »So werden wir ihn vielleicht treffen. Ich werde Ihnen helfen, Blumen brechen.« – »Oh, wie gütig Ihr seid, teure Señorita Miß Amy Doña. Ich nehme diese große Ehre an.«

Amy hatte richtig vermutet. Sie waren noch nicht lange beschäftigt, so sahen sie den Arzt herbeikommen. Er zog den Hut grüßend, und die Engländerin trat auf ihn zu.

»Darf ich mich Ihnen anschließen, Señor Sternau, oder sind Ihre Gedanken mit etwas Besserem beschäftigt, als ich Ihnen bieten kann?« fragte sie. – »Sie sind mir herzlich willkommen, Miß«, antwortete er, »denn Sie bieten mir die Wirklichkeit dessen, womit sich meine Gedanken beschäftigen. Ich dachte nämlich an Sie.« – »An mich?« fragte sie mit scherzhaftem Erstaunen. – »Ja, und der Gedanke an Sie führte mich im Geist nach dem fernen Land, das Ihnen bald zur Heimat werden soll.« – »Sie meinen Mexiko? Kennen Sie es?« – »Sehr gut. Ich bin von den Prärien Nordamerikas durch Texas und Neumexiko geritten, kam dann durch die Wüste Mapimi nach der Hauptstadt des Landes, wo ich einige Monate verweilte, und ging hierauf nach Kalifornien, um das Leben und Treiben in den Minenregionen näher kennenzulernen«. – »Ah, Sie waren wirklich in Mexiko? Oh, das befreundet mich mit diesem Land!« rief sie. »Sie werden mir von ihm erzählen müssen, Sir. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, daß ich eine ganz entsetzliche Angst vor Mexiko habe, welches das Land der Grausamkeiten und der Gewalttätigkeit ist. Denken Sie an seine Geschichte.« – »Ja, diese Geschichte ist allerdings mit Blut geschrieben, und die Verhältnisse sind selbst heute noch immer keine geordneten, aber so schlimm, wie es Ihnen zu sein scheint, ist es doch nicht. Mexiko ist eines der schönsten Länder der Erde; es bietet die seltensten Genüsse und Annehmlichkeiten, und besonders wird das Leben und Treiben der Hauptstadt Ihnen die größte Befriedigung gewähren.« – »Aber das Leben und Treiben der Provinzen, Sir. Man spricht sogar von Räuber- und Mörderbanden, die es dort geben soll!« – »Nun«, lächelte der Arzt, »man möchte freilich fast behaupten, daß ein jeder Mexikaner so ein wenig Räuber, Mörder oder Freibeuter ist, aber man wird sehr bald daran gewöhnt« – »Gewöhnt!« rief sie. »Wie kann man gewöhnt werden, mit Räubern, Mördern und Freibeutern zusammenzusein!« – »Sehr leicht, Miß Amy. Diese Räuber sind die feinsten Kavaliere, die es geben kann. Sie machen die Bekanntschaft eines hohen Offiziers, der Sie bezaubert, eines Richters, dessen Gerechtigkeit Ihnen imponiert, eines Gelehrten, dessen Wissen Sie anstaunen, eines Geistlichen, dessen Frömmigkeit Sie bis ins tiefste Herz erquickt; dann werden Sie eines schönen Tages von Räubern angefallen und erkennen in dem Anführer derselben Ihren Offizier oder Richter, Ihren Gelehrten oder Geistlichen. Das ist dort gar nicht auffällig, obgleich es Ihnen ungewöhnlich vorkommen und ein kleines Lösegeld kosten wird. Sie werden von den Leuten mit aller Höflichkeit behandelt und wenn der Anführer Ihnen späterhin in irgendeinem Salon wieder begegnen sollte, so wird er Ihnen mit aller Courtoisie den Arm bieten und nichts verlangen, als daß Ihnen das kleine Abenteuer nicht mehr erinnerlich ist.« – »Das ist ja ganz erstaunlich romantisch! Es ist in diesen Fällen also bloß auf die Kasse und nicht auf das Leben abgesehen?« – »Meist. In den entfernten Provinzen ist es allerdings etwas gefährlicher. Wer sich da nicht jeder Gegenwehr enthält, der kann seinen Mut leicht mit dem Tod büßen. Man reist in diesen Gegenden deshalb nur unter militärischer Bedeckung. Doch sind solche Kleinigkeiten keineswegs mit den Gefahren der wilden Savanne zu vergleichen. Dort ist jeder wider jeden; man schwebt in jedem Augenblick in Todesgefahr, und wer da nicht gut beritten und ebenso gut bewaffnet ist, Körperstärke und Erfahrung besitzt, der soll lieber daheim bleiben.« – »Ja, ich habe davon gelesen. Ist es wahr, daß solche Leute, die diese Wildnis durchziehen, die Spur eines jeden Menschen, eines jeden Tieres zu entdecken vermögen?« – »Allerdings. Es gehört dazu nicht nur Übung, sondern vor allen Dingen ein Scharfsinn, den man sich nicht anzueignen vermag; er muß angeboren sein. Man muß jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, muß tausend Umstände berücksichtigen, an die kein anderer denken würde.« – »Haben Sie das auch getan?« – »Ich war ja dazu gezwungen«, antwortete Sternau leichthin. – »Ah, da sind Sie also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, die ein so romantisches Leben führen?«

Er verbeugte sich mit komischem Stolz und entgegnete:

»Zu dienen, Miß Amy.« – »Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Präriejägers bewundern zu können!« – »Dieser Wunsch wird Ihnen in Mexiko sehr leicht zu erfüllen sein, hier aber, mein teure Miß – ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, die uns als Beispiel dienen kann.«

Sie hatten sich im Verlauf ihres Gesprächs von den Blumen und von der Kastellanin entfernt und waren nach demjenigen Teil des Parks gekommen, der an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte in dem Sand des Weges den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick Sternaus, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gesprächs, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen waren.

»Eine Fährte?« fragte die schöne Engländerin, indem sie den Boden musterte. »Ich sehe ja nichts!« – »Das glaube ich Ihnen gern, Miß Amy«, antwortete Sternau. »Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrenen Präriejägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während der Nacht betreten worden ist.« – »Während der Nacht? Mein teurer Sir, das klingt ja nach irgendeinem heimlichen Abenteuer!« – »Oh, wir brauchen nicht sogleich an einen Roman zu denken«, lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: »Bitte, bleiben Sie zunächst hier stehen, damit Ihr Fuß die Spuren nicht verwischt!« Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen und sagte: »Jetzt blicken Sie her, Miß Lindsay! Sehen Sie, daß hier die Körner niedergedrückt worden sind?«

Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und entgegnete überrascht:

»Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Sie denken, daß er von einem Fuß herrührt?« – »Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr so, als wenn er derjenige eines Wasserstiefels wäre, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur des zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts haben Sie noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Und betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß derselbe bereits vollständig eingefallen ist, denn er ist nicht mehr scharf abgegrenzt; wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.« – »Aber solche Stiefel trägt im Schloß keiner«, bemerkte das Mädchen, das sich für diese eigentümliche Angelegenheit zu interessieren begann.

»Das läßt also vermuten, daß diese Männer hier fremd waren«, antwortete er. Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.« – »Ah, wirklich?« fragte sie ängstlich. – »Ja. Sie sind vom Schloß her gekommen. Lassen Sie uns sehen, aus welcher Tür!«

Sie verfolgten nun die Spur nach dem Schloß zurück und kamen an den hinteren Eingang, den die Seeleute als Passage benutzt hatten.

»Ah!« rief Sternau. »Sehen Sie, man hat auf dem Herweg eine andere Richtung eingeschlagen als auf dem Rückweg. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird in der Tat bedenklich. Lassen Sie uns eilen! Wir müssen schnell sehen, wohin sie gegangen sind.«

Sie verfolgten die Spur nach dem Park. Amy Lindsay wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblick ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte, mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte, und erstaunte fast, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Tau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und sagte:

»Miß, das ist sonderbar. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Sehen Sie, dieser Eindruck rührt von einem feinen Herrenstiefel her. Ich werde ihn mir genau abzeichnen.«

Mit diesen Worten zog er ein Zeitungsblatt, das er zufällig bei sich trug, und einen Bleistift hervor und zeichnete die Umrisse des Stiefels so genau nach der Spur, daß die Konturen der Zeichnung streng an die Sohle des Stiefels passen mußten.

»So, das ist das eine«, sagte er. »Das andere ist fast noch merkwürdiger. Hier sind zwei Männer gerade hintereinander gegangen. Bemerken Sie, daß die Absätze ihrer Stiefel tiefer in den Sand eingedrungen sind als die Sohle?« – »Ja, Sir!« – »Sie sind also fester und schwerer aufgetreten als die anderen, sie haben eine Last zu tragen gehabt, die nicht leicht gewesen ist. Kommen Sie, Miß Amy, gehen wir jetzt noch weiter!«

Sternau verfolgte die Spur noch längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen; endlich aber blieb er stehen und meinte ganz erstaunt:

»Ah, hier hat ein Wagen gestanden!« – »Wirklich?« fragte sie. »Was tut ein Wagen hier zwischen den Büschen?« – »Diese Frage werfe auch ich auf. Es ist hier die Grenze des Parks. Sehen Sie die Gleise? Es waren zwei Pferde vorgespannt. Hier hat man die Last niedergelegt, hier neben dem Wagen.«

Er bückte sich nieder, um den Eindruck, den die Last im weichen Moos gemacht hatte, sorgfältig zu betrachten. Das Moos hatte sich fast vollständig wieder erhoben, und es schien, als ob Sternau nicht mit sich ins klare kommen könne; da aber fiel sein Blick auf einen niedrigen Schlehdorn, rasch griff seine Hand danach, zog etwas vorsichtig von dem Dorn weg, und dann schnellte er empor. Sein Gesicht war bleich geworden, und erschrocken rief er aus:

»Wissen Sie, was für eine Last es war, die man vom Schloß holte und in den Wagen warf?« – »Mein Gott, Sir, Sie erschrecken mich!« antwortete Amy Lindsay. »Was war es denn?« – »Ein Mensch.« – »Ein Mensch?« wiederholte sie. »Nicht möglich!« – »Doch! Sehen Sie hier diese wenigen Haare, die ich an dem Dorn gefunden habe! Sie sind hängengeblieben, als man ihn niederlegte. Sie sind schwarz und lang, fast so, wie Señor de Lautreville sie trägt. Sie gehörten keiner Dame, sondern einem Herrn.«

Jetzt kam die Reihe zu erbleichen an die Engländerin.

»Señor de Lautreville?« fragte sie erschrocken. »Sir, es ist ein Unglück, ein Verbrechen geschehen! Lassen Sie uns eilen. Wir müssen fragen, wer von den Schloßbewohnern fehlt.« – »Hm!« antwortete er nachdenklich. »Ungewöhnlich erscheint mir diese Sache, sehr ungewöhnlich; aber auf ein Unglück oder gar ein Verbrechen möchte ich denn doch nicht so schnell schließen. Wir befinden uns nicht in einem amerikanischen Urwald; wir leben hier in geordneten Verhältnissen, und unser Spursuchen à la Savanne hat unsere Phantasie erhitzt.« – »Nennen Sie es auch geordnete Verhältnisse, daß man Sie hier im Park töten wollte und daß ich mit Rosa überfallen wurde?« fragte sie ängstlich. – »Das ist allerdings wahr«, antwortete er. »Kommen Sie, Miß, wir wollen eiligst umkehren!«

Sie gingen nun mit schnellen Schritten dem Schloß zu, dessen Bewohner sich unterdessen von ihrer Ruhe erhoben hatten.

»Bitte, Miß Amy, sagen Sie jetzt niemandem etwas«, bat Sternau. »Überlassen Sie die Angelegenheit einstweilen noch mir. Vor allen Dingen müssen wir den Grafen schonen. Er ist noch Patient und darf nicht aufgeregt werden. Begeben Sie sich nach dem Salon und schweigen Sie so lange, bis ich Sie wieder gesprochen habe.«

Amy versprach es ihm und schritt nach oben, während sich Sternau in die Wohnung des Portiers begab, wo, wie er wußte, um diese Zeit das Schuhwerk sämtlicher Bewohner des Schlosses gereinigt wurde. Er fand den Portier nebst dessen Gehilfen bei dieser Beschäftigung und zog wortlos und ohne ihnen eine Erklärung zu geben, das Zeitungsblatt hervor. Er fand sehr bald einen Herrenstiefel, der ganz genau zu der Zeichnung paßte, die er sich von dem Fußabdruck gemacht hatte.

»Wem gehört dieser Stiefel?« fragte er den Portier, der ganz erstaunt diesem ihm unerklärlichen Beginnen zugesehen hatte.

»Er gehört Señor Gasparino Cortejo«, lautete die Antwort

Hierauf begab sich der Arzt zum Kastellan, um weitere Erkundigungen einzuziehen. Er erfuhr hier, daß alle Bewohner von Rodriganda bereits wach seien, den Leutnant ausgenommen, den Alimpo noch nicht gesehen hatte.

»Kommt, Señor Castellano, wir wollen ihn wecken!« gebot er. – »Wecken?« fragte Alimpo ganz erstaunt. »Wird er es nicht übelnehmen, wenn wir ihn jetzt in seiner Ruhe stören?« – »Nein.«

Sie fanden die Wohnung des Leutnants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden; es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, die der Leutnant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.

Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Señor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schloß sehr genau und erfuhr, daß ihn heute noch niemand gesehen hatte. Kurz entschlossen begab er sich nach der Wohnung Cortejos. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgenzigarette zu rauchen, er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:

»Ah, Señor Sternau! Womit kann ich dienen?« – »Mit einer Auskunft, die ich mir erbitten möchte«, antwortete der Gefragte. – »So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewöhnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.«

Cortejo sagte diese Worte in strengem Ton und mit einer Miene, die kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren, er trat hart an den Sachwalter heran, faßte denselben scharf und fest in die Augen und erwiderte:

»Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Señor, sobald eure Antwort so kurz und aufrichtig ist, wie meine Frage: Wo ist der Leutnant Señor de Lautreville?«

Diese Frage hatte der Sachwalter nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich, und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdruck:

»Señor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!« – »Jedenfalls ebensoviel als jeden anderen Bewohner Rodrigandas. Der Leutnant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.« – »Ah! Verschwunden? So sucht ihn, Señor. Wenn er sich wirklich salviert hat, so wundere ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten.« – »Ah, pah, es gibt hier andere Abenteurer als den Leutnant«, antwortete Sternau ruhig. »Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, der an der Grenze des Parkes wartete?«

Wäre ein Blitz vor ihm niedergeschlagen, so hätte der Sachwalter nicht mehr erschrecken können als jetzt bei dieser Frage. Er hatte geglaubt, daß alles vollständig unbemerkt geschehen sei, und mußte nach der Frage Sternaus nun vermuten, daß es einen Lauscher gegeben habe. Er zuckte erschreckt zusammen und griff mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhls, um sich darauf zu stützen. Im nächsten Augenblick aber dachte er daran, daß man doch jedenfalls versucht haben würde, die Tat zu verhindern; dies war nicht geschehen, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben, und die Frage Sternaus gründete sich jedenfalls auf eine bloße Vermutung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder, und er antwortete mit möglichster Kaltblütigkeit.

»Seid Ihr verrückt, Señor, oder wandelt Ihr mondsüchtig am hellen, lichten Tag? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!«

Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:

»Señor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein. Bereits seit ich Euch zum ersten Mal sah, habe ich Euch unendlich liebgewonnen. Ich habe Euch daher im stillen beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe vollständig verdient. Ich will Euch mit derselben jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Wert erkenne. Wenn jedoch meine Liebe zu Euch zu groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme und – erdrücke. Bei Gott, Señor!«

Nach einer kurzen und ironischen Verneigung verließ er das Zimmer.

Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.

»Was war das?« fragte er sich. »Welch ein Hohn! Dieser Mensch durchschaut mich, er blickt mir in die Karte. Ich muß ihn unschädlich machen. Woher weiß er, daß Fremde hier gewesen sind, die den Leutnant nach dem Wagen geschafft haben, und daß ich dabei war? Ah, er soll noch heute so viel von dem fremden Gift bekommen, daß er genug hat. Es ziehen sich überhaupt finstere Wolken über mir zusammen; aber ich werde sie zerteilen. Auch der Graf soll einige Tropfen des Gifts haben. Eigentlich sollte ich ihn töten, aber ich muß mich überzeugen, ob das Gift wirklich wahnsinnig macht, und der Wahnsinn ist ebenso schlimm wie der Tod. Der Wahnsinnige kommt unter Kuratel, und Alfonzo wird dann den ungeheuren Besitz antreten, gerade so, als ob der Graf gestorben wäre. Bei Gott, ich werde siegen, trotzdem sich Feinde auf allen Seiten gegen mich erheben!«

Während Cortejo auf diese Weise monologisierte, rief Sternau die hervorragendsten Bewohner des Schlosses, den Grafen Emanuel ausgenommen, zusammen und teilte ihnen mit, daß der Leutnant de Lautreville verschwunden sei. Diese Kunde brachte eine außerordentliche Aufregung hervor, besonders als er erwähnte, daß er im Park Spuren entdeckt habe, die auf eine gewaltsame Entführung schließen ließen. Seinen Verdacht gegen den Advokaten verschwieg er einstweilen noch.

Am tiefsten ergriffen war die Engländerin. Sie beschwor den Arzt, doch alles anzuwenden, um das Dunkel aufzuklären. Er hingegen bat die Anwesenden, den Grafen ja nichts von der Angelegenheit merken zu lassen. Man beriet sich über die geeignetsten Mittel, den Leutnant wieder aufzufinden, und gab zu, daß die Möglichkeit doch immerhin vorhanden sei, daß Lautreville sich freiwillig entfernt habe. Ja, es konnte sogar angenommen werden, daß er sich auf einem Morgenspaziergang befinde, während man sich in dieser Weise um ihn sorgte. Die Spuren im Park konnten sich ja auf ein ganz anderes und ganz gewöhnliches Ereignis beziehen. Darum wurde beschlossen, den heutigen Tag noch abzuwarten und erst nachher über den Verschwunden zunächst in Paris, welche Stadt er als seine Garnison angegeben hatte, Erkundigungen einzuziehen.

Sternau war mit diesem Entschluß einverstanden, nahm sich jedoch im stillen vor, nichts zu versäumen, was Licht in das Dunkel bringen könne. Darum erbat er sich von dem Grafen unter dem Vorgeben, daß er in einer unaufschiebbaren Angelegenheit nach Barcelona müsse, einen Urlaub und ließ sich ein Pferd satteln. Nachdem er sich von dem Diener des Leutnants nochmals hatte versichern lassen, daß auch diesem das unbegreifliche Verschwinden seines Herrn ein Rätsel sei, stieg er in den Sattel und verließ das Schloß.


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