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33. Kapitel.

Um dieselbe Zeit, wo das im vorigen Kapitel geschilderte wichtige Gespräch geführt wurde, saß Sternau am Bett seiner Kranken. Außer ihm befand sich nur noch seine Mutter im Zimmer. Sie saß bei einer Arbeit, hinter der dichten Fenstergardine verborgen. Die Gräfin hatte vom ersten Augenblick an bis jetzt in ununterbrochener Ruhe geschlafen. Sie lag wie ein schönes Marmorbild im Bett, keine Wimper zuckte, kein Atemzug war hörbar.

»Mutter!« klang es da leise durch die tiefe Stille des Raumes. – »Mein Sohn?« fragte sie ebenso leise. – »Komm einmal her!«

Frau Sternau erhob sich und glitt hin an die Seite ihres Sohnes. Ihr ängstlich fragender Blick traf sein Auge und fand darin einen leisen Hoffnungsschimmer.

»Fühle diese Hand«, bat er.

Sie nahm die marmorweiße Hand der Schlafenden in die ihrige und nickte dem Sohn freudig zu.

»Und fühlst du den Puls, Mutter?« – »Ja, wahrhaftig.« – »Sieh die Lippen, wie sie sich röten, und auch der bleiche Todesglanz ist von den Wangen gewichen. Geh zum Hauptmann und melde ihm, daß die Gräfin in einer Stunde erwacht sein wird.« – »Mein Sohn! Ist's wahr?« – »Ja.«

Da zog sie den Kopf ihres Sohnes ans Herz, streichelte ihm zärtlich die Wange und fragte leise:

»Wird es zum Glück sein?« – »Das steht bei Gott! Mutter, ich bete soeben so inbrünstig wie noch nie in meinem Leben!« – »Gott der Herr mag dein Gebet erhören. Du verdienst dieses Glück, mein Kind!«

Frau Sternau glitt lautlos zur Tür hinaus, kam aber nach kurzer Zeit wieder zurück und nahm ihren vorigen Sitz wieder ein. Arbeiten konnte sie jedoch nun nicht mehr – auch sie betete aus vollem treuen Mutterherzen, daß Gott barmherzig sein und die nächste Stunde zum Heil werden möge. Sie kannte ihren Sohn; sie wußte, daß er das Fehlschlagen seiner Hoffnung nie überwinden werde.

Eine halbe Stunde verging, da hörte man bereits die leisen Atemzüge der Kranken und sah, wie die Decke sich über der wogenden Brust hob und senkte. Dann röteten sich die Wangen, jetzt, jetzt bewegte sich die Hand – der Arm, und die Lider zuckten. Und wieder nach kurzer Zeit legte die Schlafende den Kopf langsam auf die Seite. Die Brust Sternaus wollte zerspringen, aber er hielt die warme Hand der Kranken in der seinigen und blieb äußerlich ruhig, obgleich es in seinem Inneren tobte und stürmte.

Jetzt wandte Rosa das Gesicht hinüber nach seiner Seite, und sein scharfes Auge sah, daß die Lider jenes Zucken verrieten, das dem Erwachen vorherzugehen pflegt. Und nicht lange dauerte es, so erhoben sie sich langsam, langsam. Das Auge öffnete sich und blickte starr geradeaus.

»Allgütiger Himmel, hilf! Jetzt entscheidet es sich!« flehte Sternau im stillen.

Das Auge Rosas bekam dann jenen träumerischen Ausdruck, der dem Erwachen eigen ist, und richtete sich endlich mit dem Licht des vollständigen Bewußtseins auf die umgebenden Gegenstände.

»Gewonnen!« jubelte es in der Seele des Arztes.

Das Auge Rosas aber glitt von Gegenstand zu Gegenstand, und ein tiefes Befremden malte sich in ihren Zügen. Da fühlte sie, daß ihre Hand gehalten wurde. Schnell und erschrocken suchte ihr Blick den, der diese Berührung wagte, und als sie Sternau sah und ihn erkannte, fuhr sie empor und rief:

»Carlos, mein Carlos! Du bist es?« – »Ja, mein Leben, meine Seligkeit, ich bin es«, antwortete er mit zitternder Stimme. – »Wo bin ich? Wie lange habe ich geschlafen?« – »Beruhig dich, du bist bei mir«, bat er, die Arme um sie schlingend und sie an sein Herz ziehend. – »Ja, ich bin still, denn ich bin bei dir«, sagte sie innig, indem sie ihm den Mund zum Kuß bot. »Aber ich muß lange, sehr, sehr lange geschlafen haben.« – »Sehr lange. Du warst krank.« – »Krank?« fragte sie nachdenklich. »Wie ist's den? Ich habe ja gestern meine Amy nach Pons begleitet, und dann – ah, dann – ah, dann warst du fort. Ich bin nach Manresa zum Corregidor gefahren und habe mich mit Alfonzo und Cortejo gezankt, um zu erfahren, wo du bist. Dann wurde oben bei Cortejo geschossen; später ward mir sehr übel, und ich wollte schlafen gehen, bin aber im Gebet eingeschlafen. Wo warst du, mein Carlos?« – »Ich war in Barcelona«, antwortete dieser. – »Ohne mir vorher etwas zu sagen, du Böser!«

Da klang ein leises, unterdrücktes Schluchzen hinter der Fenstergardine hervor. Rosa hörte es.

»Wer weint? Wer ist hier?« fragte sie. »Ist es meine gute Elvira?« – »Nein, mein Herz.« – »Wer sonst?« – »Es ist eine sehr gute und liebe Frau, die dich gern sehen wollte.« – »Oh, eine Fremde!« rief sie erschrocken. Und zugleich bemerkte sie erglühend, daß sie im Negligé vor dem Geliebten lag. »Wer ist sie?« – »Meine – Mutter.«

Rosa sah ihn ernst an, als ob sie ihn nicht verstehe, dann aber rief sie in großer Freude:

»Deine Mutter? Oh, welch ein Glück, welch eine Überraschung! Rufe sie her! Schnell, schnell!« – »Aber, Rosa, du mußt französisch mit ihr sprechen, sie versteht das Spanisch nicht.« – »Sie mag nur kommen. Schnell!« – »Mutter«, bat Sternau, komm bitte her! Sie will dich sehen!« – »Mein Sohn, ich verstehe die Worte nicht, die ihr redet, aber ich hörte, daß sie bei Bewußtsein ist und daß ihr glücklich seid. Ist es so?« – »Ja. Gott hat unser Gebet über alle Maßen erhört. Komm!«

Da kam sie langsam herbei. Rosa hatte ihr Schlafgewand dichter drapiert und sich aufgerichtet. Sie streckte der Nahenden mit freudeglänzendem Angesicht die Hände entgegen und sagte:

»Sie sind die Mutter meines Carlos? Seien Sie mir tausendmal gegrüßt. Oh, nun habe auch ich eine Mutter. Darf ich Ihre gute, folgsame Tochter sein?«

Frau Sternau legte ihr unter strömenden Tränen beide Hände auf das Haupt und erwiderte:

»Mein Kind, ich flehe Gottes reichsten Segen herab auf Ihr teures Haupt. Ich würde mein Leben hingeben, um Sie glücklich zu sehen.«

Sie hielten einander in stiller Umarmung umschlungen; da erhob sich Sternau, verließ das Gemach und rannte zum Hauptmann:

»Viktoria, gesund, gesund!« stürmte er bei diesem zur Tür hinein. – »Himmeldonnerwetter!« rief der Hauptmann ganz erschrocken, dann aber besann er sich und sprang auf. »Ist es wahr, wirklich wahr?« – »Ja.«

Da warf der Oberförster beide Arme in die Luft und schrie, was er nur schreien konnte:

»Hurra! Hussa! Sapperment! Gesund! Halleluja! Gesund! Viktoria! Himmelheiliges Hagelwetter! Hosianna Davids Sohn! Kann man zu ihr? Kann man sie sehen?« – »Nein.« – »Das ist ärgerlich! Das ist grausam! Das ist geradezu unmenschlich! Aber etwas muß ich tun. Was mache ich vor Freude? Schlage ich ein halbes Dutzend Menschen tot, oder reiße ich die Kirche ein? Warte, ich hab's!«

Wie aus einer Pistole geschossen, rannte er hinaus. Sternau aber begab sich sogleich wieder in das Krankenzimmer zurück, denn er mußte verhüten, daß die Unterhaltung der beiden Frauen auf Gegenstände kam, von denen Rosa noch nichts wissen durfte. Diese lag noch in den Armen der Mutter. Sie sprachen nicht, sie weinten nur und liebkosten sich. Rosa streckte ihm die Hand entgegen.

»Mein Carlos, ich danke dir für die Mutter, die du mir gegeben hast. Oh, wie lieb habe ich sie bereits. Aber ist es wahr, daß ich lange krank gewesen bin?« – »Ja, mein Herz.« – »Lange?« – »Sehr lange.« – »So ist es nicht gestern geschehen, was ich vorhin erzählte?« – »Nein, sondern vor drei Monaten.« – »Vor drei Monaten?« flüsterte sie erstaunt »So war ich wohl ganz ohne Besinnung?« – »Ganz und gar.« – »Und du hast mich geheilt, du?« – »Gott gab es zu, daß ich das rechte Mittel traf.« – »Und wo ist Alfonzo, Cortejo, Alimpo und meine gute Elvira?« – »Alimpo und Elvira sind hier. Das andere sollst du später erfahren, mein Leben. Du darfst noch nicht viel sprechen, du mußt dich schonen!« – »Ich werde dir gehorchen. Nur eins sage mir: Wo bin ich hier?« – »Bei einem guten Freund von uns allen.« – »Nicht auf Rodriganda?« – »Nein. Du sollst es heute noch erfahren.« – »Und«, fragte sie stockend, »mein Vater? Ist es wahr, daß er zerschmettert worden ist?« – »Nein, er lebt. Nun aber schweige, mein Herz, sonst wirst du wieder krank!«

In diesem Augenblick klangen einzelne Waldhorntöne vom Hof herauf, und dann erklang vierstimmig in getragenem Tempo der Choral:

»Wie wohl ist mir, o Freund der Seele,
Wenn ich in Deiner Liebe ruh'!
Ich steige aus der Schwermutshöhle
Und eile deinen Armen zu.
Da muß die Nacht des Trauerns scheiden,
Wenn mit so angenehmen Freuden
Die Liebe strahlt aus deiner Brust,
Hier ist mein Himmel schon auf Erden
Wer wollte nicht vergnügter werden,
Der in dir suchet Ruh' und Lust!«

»Was ist das? Was war das?« fragte Rosa mit verklärtem Lächeln im Angesicht. – »Das ist ein frommes Kirchenlied, das unser Freund dir zu Ehren blasen läßt. Ich war jetzt bei ihm und habe ihm gesagt, daß du genesen bist.« – »Oh, dann ist er wohl ein sehr guter und teilnehmender Mensch?« – »Das ist er. Du hast nie einen besseren Freund gehabt als ihn.« – »So sage ihm meinen Dank, bis ich selbst mit ihm sprechen werde! Aber, mein Carlos, ich habe eine Bitte, die ich nicht gern sage.« – »Sage sie getrost, mein Leben.« – »Nicht dem Geliebten, sondern dem Arzt sage ich sie«, meinte sie, vor Verlegenheit errötend. »Wenn ich so lange krank war, so habe ich wohl auch sehr – sehr wenig – genossen?«

Er stieß einen Ruf der Freude aus und antwortete:

»Nein, das konntest du auch dem Geliebten sagen, denn gerade ihn macht das glücklich. Da du zu essen begehrst, so bin ich nun vollständig überzeugt, daß du genesen wirst. Mutter mag gleich gehen und holen, was ich ihr aufschreiben werde. Oder soll Elvira es bringen?«

»Ja, ich möchte sie so gern sehen. Aber Mama soll auch wieder mitkommen.«

Sternau schrieb einige Worte auf einen Zettel, den seine Mutter nach der Küche trug. Unterwegs begegnete ihr der Oberförster. Er hielt sie beim Arm fest und fragte:

»Ist's wahr, daß sie gesund wird?« – »Gott sei Lob und Dank, ja.« – »Holla! Juchhe! Juchheirassassa! Hat sie meinen Choral gehört?« – »Ja.« – »Und sich gefreut? Es ist mein Lieblingschoral; es fiel mir kein anderer ein; meine Burschen haben ihn auf den Jagdhörnern geblasen.« – »Sie war ganz gerührt und läßt sich von ganzem Herzen bedanken.« – »So, ah! Da lasse ich ihr noch etwas anderes vorblasen: ›Im Wald und auf der Heide‹, ›Goldne Abendsonne‹, ›Wer meine Gans gestohlen hat‹, ›Morgenrot‹, ›O du lieber Augustin‹. Oder denken Sie, daß sie ›Bin i net a hübscher Rußbuttenbu‹ lieber hört?« – »Ja, Herr Hauptmann, das kann ich nicht sagen. Ich habe überhaupt keine Zeit, ich muß in die Küche. Der Herr Doktor hat mir etwas aufgeschrieben, was die Kranke genießen soll.« – »Was denn? Her mit dem Zettel!«

Er nahm ihr das Papier aus der Hand und las:

»Was? Dünne Suppe von Bouillon mit Weizengries. Ein wenig Backobst. Ist der Tausendsakramenter gescheit? Das soll einer Kranken aufhelfen? Holen Sie ihr Rehkeule, Dampfnudeln, Krautsalat rohen Schinken, ein paar Pfeffergurken und einen marinierten Hering; das macht Appetit und stärkt das Gehirn und die Nerven.«

Er flog in höchster Eile wieder in den Hof hinab, wo seine vier Burschen abermals nach den Hörnern greifen mußten und nun ein Programm abbliesen, das zwar sehr gut gemeint war, aber einen Kunstverständigen zur hellen Verzweiflung hätte bringen können.

Er stand dabei und taktierte. Da sah er den Steuermann von weitem stehen und schritt auf ihn zu.

»Helmers, wissen Sie schon, weshalb geblasen wird?« – »Ja. Die Gräfin Rodriganda ist vom Herrn Doktor Sternau gerettet worden.« – »Ja. Der Doktor ist ein Teufelskerl in der Medizin, aber von einem guten Küchenzettel versteht er weder Gix noch Gax. Sie haben ihn wohl noch gar nicht einmal gesehen?« – »Nein. Und doch möchte ich so gern und recht bald einmal mit ihm sprechen.« – »Ist es etwas Besonderes? Sind Sie krank oder eins der Ihrigen?« – »Nein. Es ist eine spanische Geschichte, die vielleicht von Wichtigkeit für ihn ist.« – »Eine spanische Geschichte? Sapperlot, das klingt ja höchst interessant!« – »Von Rodriganda.« – »Alle Teufel! Was wissen Sie von Rodriganda? Darf ich es denn nicht erfahren?« – »Ich weiß nicht, ob es dem Herrn Doktor lieb sein wird, wenn ich zu anderen eher davon spreche als zu ihm. Es handelt sich vielleicht gar um ein wichtiges Geheimnis.« – »So! Na, da will ich allerdings nicht in Sie dringen. Sind Sie heute zu Hause?« – »Ja.« – »Gut, so werde ich zu Ihnen schicken, sobald er einmal zu sprechen sein wird. Adieu!«

Es dauerte nicht lange, bis die leichte Suppe für Rosa zubereitet war. Frau Elvira trug sie nach dem Krankenzimmer. Als sie in dasselbe eintrat, saß die Gräfin aufrecht im Bett und Sternau an ihrer Seite.

»Willkommen, meine gute Elvira«, sagte Rosa. »Ich habe lange nicht mit dir sprechen können.« – Der guten Kastellanin liefen sofort die hellen Tränen über die Wangen.

»Oh, meine liebe, beste Condesa«, schluchzte sie. »Der heiligen Madonna sei Dank, daß Sie mich wiedererkennen. Wir haben alle während Ihrer bösen Krankheit große Betrübnis erlitten.« – »Ich bin nun wieder wohl, und du kannst fröhlich sein.«

Rosa nahm die leichte Speise zu sich; dabei röteten sich ihre Wangen immer mehr, und Doktor Sternau gewann die vollständige Überzeugung, daß er bereits heute über die traurigen Ereignisse sprechen könne, die sie aus Spanien nach Deutschland geführt hatten.

Nach dem Essen versank Rosa wieder in leichten Schlummer, der dem Arzt willkommen war, da er die Kräfte der Genesenden voraussichtlich noch mehr stärken mußte. Frau Sternau blieb mit Elvira im Krankenzimmer zurück, Sternau jedoch ging hinab, um nach dem anstrengenden Wachen frische Luft zu schöpfen.


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