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21. Kapitel.

Diejenigen, gegen die diese teuflischen Anschläge gerichtet waren, saßen jetzt mit der Engländerin zusammen, um über das ihnen jetzt Wichtigste zu verhandeln. Als Sternau mit dem Kastellan von der Bateria zurückkehrte, hatte er sich sogleich bei Rosa anmelden lassen. Er wurde angenommen und fand die Engländerin bei ihr. Rosa erhob sich. Sie war totenbleich und fragte, indem ihr die Augen überflössen:

»O bitte, Señor, macht es kurz, denn ich leide entsetzlich, fürchterlich! Er ist tot, nicht wahr?«

Sternau trat auf sie zu, faßte ihre Hand, die er an seine Lippen zog, und erwiderte in mildem Ton:

»Weinen Sie nicht, Doña Rosa. Ich bringe Trost.« – »Trost?« fragte sie, während ihre Wangen sich wieder belebten. – »Er lebt, er ist nicht tot!« – »Nicht? O mein Gott, wo ist dann mein Vater?« – »Ich weiß es nicht; ich weiß nur das, daß der Tote da draußen nicht Don Emanuel ist.«

Damit führte er Rosa zum Fauteuil und bat:

»Setzen Sie sich, und sagen Sie mir, ob Sie stark genug sind, mich ohne Aufregung anzuhören.« – »Oh, Carlos, fragen Sie nicht. An Ihrer Seite bin ich immer stark, denn ich vertraue Ihnen.« – »So hören Sie! Als Sie mich von Paris herbeiriefen, kannte ich von den Bewohnern Rodrigandas nur Sie. Ich hatte keinem ein Leid getan, niemand beleidigt und wurde bereits in der ersten Zeit meiner Anwesenheit hier überfallen.« – »Von Räubern?« – »Nein, sondern von gedungenen Mördern. Ich erkannte sogleich, daß es nicht auf meine geringe Habe, sondern auf mein Leben abgesehen sei. Welchen Grund konnte dies haben, Doña Rosa?« – Ich weiß es nicht Sie hatten doch keinen Feind hier.« – »Das ist richtig. Aber da meine Person hier keinen Feind besaß, so mußte die Angelegenheit, in der ich nach Rodriganda kam, mir diesen Feind erweckt haben. Ich kam nur aus dem einen Grund, Ihren Vater zu retten; es mußte also jemanden geben, der wünschte, daß der Graf nicht gerettet werde.«

Rosa zuckte vor Schreck zusammen.

»Das ist ja ganz unmöglich! Mein Vater war so gut!« – »Ja, er war gut, aber er war der Herr und Besitzer einer Grafschaft und vieler Millionen.« – »Was sagen Sie da? Ich verstehe Sie nicht.« – »Es ging Don Emanuel gerade so wie mir: Seine Person hat keinen Feind. Daraus schloß ich, daß dieser Feind es auf Rodriganda abgesehen haben müsse.« – »Auf Rodriganda? Das kann doch nur mein Bruder erhalten.« – »Auch das sagte ich mir. Aber dieses Wort Bruder, und der Umstand, daß Ihr Bruder seit den Tagen seiner Kindheit in Mexiko gewesen war, brachte mich auf einen kühnen Gedanken. Ich beobachtete scharf und unausgesetzt. Ihr Vater wurde von drei unfähigen Ärzten behandelt, die ihn zu Tode kuriert hätten; diese Ärzte wieder wurden ganz ausschließlich von nur drei Personen in einen ebenso fortgesetzten wie leidenschaftlichen Schutz genommen.« – »Sie meinen den Notar?« – Ja.« – »Die Schwester Clarissa?« – »Ja.« – »Und wer ist der dritte?« – »Ihr Bruder selbst.« – »Alfonzo! Ah! Sie sagen schreckliche Dinge, Señor; aber Sie haben recht. Mein Bruder ist stets Ihr Feind gewesen, er hat nie gut von Ihnen gesprochen; er hat stets gegen Sie gekämpft.« – »Dies sah ich. Ich beobachtete diese drei. Sie waren wenig bei Don Emanuel, sie waren stets beisammen, sie waren es – ich sage es frei und offen –, die den Tod Ihres Vaters wünschten.« – »O mein Gott! Welch eine Kluft öffnen Sie vor meinen Augen!«

Rosa dachte jetzt nicht mehr daran, daß ihr Vater in der Bateria liegen solle; ihre Gedanken wurden nur von dem Gegenstand ihres gegenwärtigen Gesprächs in Anspruch genommen.

»Ja, es ist eine tiefe, finstere, schaudervolle Kluft«, fuhr Sternau fort, »aber ich habe auf den Grund dieser Kluft sehen müssen, um gegen das Verbrechen ankämpfen zu können. Gott gab mir die Gnade, Ihren Vater vom Tod zu erretten, aber er wurde wieder krank, er wurde wahnsinnig. Dieser Wahnsinn war künstlich durch ein Gift herbeigeführt worden. Wer hatte ihm dieses Gift gegeben? Sie nicht, ich nicht, Lady Lindsay nicht, der Diener nicht. Wer war noch sonst bei ihm gewesen? Ich weiß es nicht. Ich ritt nach Barcelona; Sie waren bei dem Kastellan beschäftigt; und der Graf befand sich allein. Es kann jemand während dieser Zeit bei ihm gewesen sein. Das Gift ist ihm durch Schokolade beigebracht worden. Nun war mir zufällig ein Gegenmittel bekannt. Ich gab es ihm zwar noch nicht, aber die Vorkur wirkte bereits günstig. Man erkannte, daß ich den Wahnsinn heilen würde, und traf eine Vorkehrung, die radikal wirkte: man ließ Ihren Vater verschwinden.« – »Oh, Sie glauben, daß er nicht selbst gegangen ist?« fragte Rosa voll Angst. – »Er konnte nicht gehen; er war zu schwach dazu.« – »So hat man ihn getötet! Oh, mein Gott, mein Gott! – »Man entfernte ihn, aber man tötete ihn nicht.« – »Glauben Sie?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »So lebt er noch?« rief sie aufspringend. – »Er lebt!« – »Wo?« – »Das weiß ich nicht; aber wir werden es erfahren. Hören Sie meine Gründe, Doña Rosa.« – »O schnell, schnell, sagen Sie dieselben!« – »Wenn der Graf nur verschwand, so konnte Ihr Bruder das Erbe nicht antreten, der Graf mußte also sterben. Der Tote da draußen aber ist der Graf nicht, folglich lebt Don Emanuel noch, und man hat ihm einen anderen untergeschoben, und dieser andere ist bereits seit vier Tagen eine Leiche gewesen.« – »Das ist ja eine Reihenfolge von Verbrechen, die man ganz unglaublich finden muß! Sind Sie überzeugt, daß jene Leiche ein anderer ist, Señor?« – »Ja. Hören Sie!«

Er berichtete nunmehr den Damen das ganze Ereignis in der Bateria, und als er geendet hatte, gaben sie ihm vollständig recht.

»Welch ein Trost, daß es der Vater nicht ist!« rief Rosa. »Oh, nun bin ich wieder froh und stark. Ich weiß, wir werden dieses Komplott durchschauen und besiegen. Oder wollen Sie mich verlassen, Señor?«

Er streckte ihr beide Hände entgegen.

»Doña Rosa, mein Leben gehört Ihnen, und ich werde es der Aufgabe widmen, Ihren Vater aufzufinden!«

Sie ergriff seine Hände, blickte ihm innig in die treuen Augen und lag im nächsten Augenblick an seiner Brust Amy weinte vor Mitgefühl und Freude und sagte:

»Ihr verdient es, einander zu gehören! Oh, könnte ich doch auch helfen, Euch glücklich zu machen!«

Sternau reichte ihr dankend die Hand und erwiderte langsam:

»Miß Amy, Sie werden uns helfen, Sie werden unsere Schwester sein.« – »Ja, die bin ich, Ihr lieben, guten Menschen!«

Er schüttelte lächelnd den Kopf und meinte:

»Ich meine das Wort ›Schwester‹ doch noch anders.« – »Wie denn?« – »Darf ich kühn sein und aufrichtig sprechen, Miß Amy?« – »Ja. Reden Sie!« – »Sie sollen unsere Schwester sein, indem sie Gräfin de Rodriganda werden.«

Die beiden Mädchen blickten erstaunt in sein männlich schönes Angesicht.

»Gräfin Rodriganda?« fragte Amy. »Ich verstehe Sie nicht. Inwiefern?« – »Indem Sie die Gemahlin des Grafen Alfonzo de Rodriganda von Sevilla werden.«

Da bedeckte eine tiefe Glut das zarte Angesicht der Engländerin, und sie antwortete zurückweisend:

»Sir, haben ich Ihnen eine Veranlassung zu dieser Behauptung gegeben?« – »Ja«, antwortete er ruhig. – »Wodurch?« fragte sie, jetzt vor Zorn noch mehr erglühend. – »Sie lieben ihn!«

Da erhob sie sich.

»Sir«, sagte sie im schärfsten Ton, »ich glaube nicht verdient zu haben, dies hören zu müssen.« – »O doch, Miß Amy, denn diese Liebe ist Ihr größtes Glück und auch das seinige. Sie zürnen, aber Sie werden mir sofort vergeben, wenn ich Ihnen erkläre, daß der Graf Alfonzo de Rodriganda sich nicht hier befindet«

Sie hatte im Begriff gestanden, das Zimmer zu verlassen, jetzt aber blieb sie stehen und fragte:

»Nicht hier? Wo sonst?« – »Er ist zur See.« – »Mein Gott, Sie sprechen in Rätseln!« – »Sie haben ihn aber hier gesehen«, fuhr er unbeirrt fort. – »Ich begreife Sie nicht!« – »Und zwar als Husarenleutnant.«

Jetzt vermochte Amy gar nicht zu antworten. Sie blickte Sternau nur in größtem Erstaunen; auch Rosa schien vor Verwunderung keine Antwort zu finden. Er aber erhob sich und fragte:

»Meine Damen, glauben Sie, daß ein Sohn den Tod seines Vaters wünschen oder gar ihn wahnsinnig machen kann?« – »Nein!« antwortete Rosa. – »Nun, Señor Alfonzo hat dies getan, er ist also gar nicht der Sohn Don Emanuels!«

Da fuhr auch Rosa empor und rief:

»Was – was sagen Sie da! Er nicht meines Vaters Sohn, nicht mein Bruder?« – »Nein.« – »Was sonst? Oh, welch ein Tag! Señor, ich stehe auf der Folter. Sprechen Sie, sprechen Sie schnell!« – »Er kann nicht der Sohn Don Emanuels sein, denn ich und Sie beide, wir haben den echten Alfonzo gesehen.« – »Wann, wo?« – »Hier, Doña Rosa, treten Sie in Ihre Bildergalerie und vergleichen Sie das Jugendporträt des Grafen Emanuel mit dem Leutnant de Lautreville!«

Jetzt kam die Reihe zu erstaunen auch an Miß Amy.

»Alfred de Lautreville!« rief sie. »Señor, was sagen Sie, was wissen Sie von ihm? Er gestand mir, daß auf seinem Leben ein Geheimnis liege, das er erst aufklären müsse!« – »Er hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Er ist der richtige Graf Rodriganda, und der jetzige Alfonzo ist ein untergeschobener Betrüger. Darum mußte der Leutnant verschwinden; daher hat man ihn geraubt und auf das Schiff geschafft!« – »Geraubt!« rief die Engländerin, indem sie die kleinen Fäuste ballte und einen schnellen Schritt auf Sternau zu tat. Wie eine gereizte Löwin stand sie vor ihm, gar nicht das schöne, zarte Geschöpf, als welches er sie bis jetzt gesehen hatte. »Geraubt? Auf das Schiff geschafft?« wiederholte sie. »Das soll man wagen! Ich werde sie alle vernichten! Alle, alle, alle!«

Sternau nickte lächelnd und fragte:

»Geben Sie nun zu, daß Sie den Grafen Alfonzo lieben, Miß Amy?« – »Ja«, antwortete sie aufrichtig. »Ich liebe ihn; ich werde ihn suchen und finden. Und wehe denen, die seine Feinde sind und unrecht an ihm handeln! Zwar hat mir mein Vater geschrieben, daß ich kommen soll, und ich werde auch heute noch abreisen, bald, in einer Stunde bereits, aber ich werde doch zu handeln wissen. Erzählen Sie, Señor!«

Sternau erzählte nun, wie er die Spuren weiter verfolgt und dann alles übrige in Erfahrung gebracht habe. Sie durchschauten die Machinationen, obgleich sie nichts genau beweisen konnten. Endlich mußten sie sich trennen, denn Amy war wirklich ganz plötzlich abberufen worden. Derselbe Briefträger, der dem Notar das Schreiben des Bankiers überbracht hatte, war auch der Überbringer eines Briefes von ihrem Vater gewesen. Sie versprach, ihrem Vater alles zu gestehen und für sich und die Freundin seine Hilfe zu erbitten. Dann nahm sie Abschied von dem Deutschen, dem sie ihre vollste und wärmste Freundschaft zusicherte. Kurze Zeit später fuhr sie mit Rosa, die sie bis Pons begleitete, von Rodriganda fort, eine weitere Begleitung hatte sie abgelehnt.

Diese Unterredung und dann die schleunige Abreise der Freundin waren schuld, daß weder Sternau noch Rosa sich nach der Leiche erkundigt hatten. Der erstere glaubte, daß der Alkalde ganz nach seiner Anordnung gehandelt habe, denn im Eifer des Gesprächs hatten sie gar nicht bemerkt, daß der Tote hereingebracht worden war.


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