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Natürlich war das Mädchen gefragt worden. Henrietta hatte vielleicht ein kleines Verhältniß mit ihm und sagte zu seinen Gunsten aus; dennoch aber war er nicht freigelassen, sondern in der Gefangenschaft behalten worden.
Nun begann Sam seinen Bericht, für welchen Alle natürlich das größte Interesse fühlten. Sie hörten da, daß der frühere Derwisch mit Hilfe Leflor's entkommen sei, und sie erfuhren mit genügender Deutlichkeit, was die Kerls eigentlich vorhatten – nach Mohawk Station zu gehen, um da zunächst Almy und Magda Hauser in ihre Gewalt zu bringen.
»Das sollen sie bleiben lassen!« fuhr Günther von Langendorff auf. »Wer diese Magda nur falsch ansieht, der hat es mit mir zu thun.«
»Was wollt Ihr dagegen machen?« fragte Sam.
»Oho! Ich reise sofort ab.«
»Hoffentlich nehmt Ihr uns mit?«
»Natürlich! Ich hoffe sogar, daß Ihr uns begleitet.«
»Aber Walker wird doch eher hinkommen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Er hat Vorsprung. Während wir hier sitzen und berathen, reitet er bereits.«
»Aber sagtet Ihr nicht, daß diese Miranda sich bei ihm befinde.«
»Ja.«
»Nun, sie wird ihm sehr hinderlich sein. Mit einer Dame reitet man nicht so rasch.«
»Es fragt sich, ob er sie mitgenommen hat.«
»Jedenfalls,« antwortete Steinbach.
»Das wäre höchst unsinnig.«
»Nicht so sehr, wie Ihr denkt, Master Sam. Zwar versäumen wir, indem wir hier sitzen, einige Zeit. Was wir aber dabei verlieren, gewinnen wir mehr als reichlich an Klarheit. Wir müssen wissen, was sie wollen, und was wir in Folge dessen zu thun haben. Ohne Absicht nimmt Walker diese Miranda nicht hier aus dem Hause.«
»Natürlich. Er fürchtet, daß sie irgend Etwas verrathen könne.«
»Das hat sie Euch gegenüber bereits gethan.«
»Das weiß er nicht. Uebrigens hält er mich für todt, und Todte können nicht plaudern. Er wird sie irgendwo hinbringen, wo sie von dem Richter einstweilen nicht erreicht werden kann.«
»Dazu hat er keine Zeit. Er muß schnell und direct nach Mohawk-Station, um seinen Streich auszuführen, ehe wir die Bedrohten benachrichtigen können. Und er wird Miranda mit dorthin nehmen, weil er sie da sehr gut gebrauchen kann.«
»Wozu?«
»Ich denke, daß er ihr eine Rolle zugedacht hat. Sie ist schön; sie hat Erfahrung und Umgangsformen. Wenn sie will, so fällt es ihr gewiß sehr leicht, das Vertrauen der beiden Damen rasch zu gewinnen. In welcher Weise dieses Vertrauen dann ausgebeutet werden soll, das kann ich freilich nicht sagen.«
»Du scheinst Recht zu haben,« meinte Günther. »Wir müssen die Damen sofort benachrichtigen.«
»Hm! Wie denn?«
»Telegraphiren!«
»Du vergissest, daß es noch keine Drahtverbindung zwischen hier und dort giebt.«
»Das ist höchst beklagenswerth. Wie gelangt man am Schnellsten hin?«
»Der dritte Weg ist der längste und unsicherste. Er führt über die Eureka-Gila-Berge. Der kürzeste Weg ist viel länger. Man reitet von hier aus nach der nächsten Station der Südpazifikbahn und telegraphirt von dort nach Mohawk-Station, damit die Freunde gewarnt sind. Mit dem nächsten Zuge fährt man nach.«
»Welche Station wäre das?«
»Gila Bend, in zwei Tagen zu erreichen, wenn man zwei gute Pferde hat.«
»Ich denke, wir sind sehr gut beritten?«
»Das wohl, aber – – hm! Wenn man den Fluß benutzen könnte. Er mündet ja gerade bei Gila Bend in den Gilafluß.«
»Das ist nicht möglich,« sagte der Aldermann.
»Giebt es keine Kähne? Ist er nicht fahrbar?«
»Es giebt leider nur einen Segler, und der gehört – – – Himmeldonnerwetter! Welch' ein Gedanke!«
»Was giebt es?«
»Man hat zwar einige Kähne, aber die taugen nichts; sie dienen nur, eine Gondelfahrt zu machen. Es giebt, wie ich eben sagte, ein Langboot, einen guten Segler, und der gehört eben – Sennor Walker.«
»Alle Teufel! So wird er fahren!«
»Vermuthlich.«
»Dann ist er nicht einzuholen.«
»Schwerlich.«
»Aber ich denke, daß er nicht so sehr schnell aufbrechen kann. Er hat seine Genossen irgendwo stecken und muß sie erst holen. Miranda hat hier förmlich fliehen müssen. Sie ist ganz ohne Kleider und wird sich alles Nöthige besorgen müssen. Wenn wir uns beeilen, ist es möglich das Boot zu finden, ehe sie es erreichen. Ich mache den Vorschlag, sofort aufzubrechen, damit wir ihnen zuvorkommen.«
»Ja, thut das, Sennores. Ich freilich kann nicht mit. Ich muß wegen der gefangenen Bewohner dieses Hauses hier bleiben, bis meine Polizisten kommen, welche leider ganz unverantwortlich lange auf sich warten lassen.«
»Hat das Boot einen bestimmten Platz?«
»Ja. Ihr reitet von hier in die Stadt. Die Straße entlang um die erste linke Ecke kommt Ihr an den Fluß. Eine Brücke führt hinüber nach der Venta des Mattheo Abranzo. Unter dieser Brücke hängt das Boot stets. Ihr findet es ganz bestimmt.«
»Gut! Brechen wir auf. Alles Andere können wir auch später besprechen.«
Einige Augenblicke später jagten sie dem Waldweg entlang der Stadt entgegen. Es ging an der Venta der gelehrten Emeria vorüber, in die Hauptstraße der Stadt hinein und dann links in die erste Seitengasse. Die Brücke war erreicht. Sie sprangen vom Pferde und suchten. Es war kein Boot vorhanden.
In der Venta des Sennor Mattheo Abranzo gab es noch Licht. Die Thür war noch offen. Sie traten ein. Es saß nur noch ein einziger schläfriger Gast am Tische bei einem halb ausgetrunkenen Schnapsglase. Der Wirth war eingenickt. Er erwachte von dem Geräusch der Eintretenden und stand höflich auf.
»Seid Ihr Sennor Abranzo?« fragte Steinbach.
»Der bin ich, Sennor!«
»Hattet Ihr noch spät Gäste?«
»Die habe ich sogar noch.«
»Ah! Wo?«
»Hier. Dieser Mann ist es, und Ihr seid es.«
»Daß ich uns nicht meine, versteht sich ganz von selbst. Beantwortet mir meine Frage!«
»Darf ich fragen, ob Ihr Etwas trinkt?«
»Steht erst Rede und Antwort!«
Der Wirth machte eine ironische Verbeugung und sagte lächelnd:
»Sennor, wer kann einen Mann zwingen, zu sprechen, wenn er nicht sprechen will?«
»Ich!«
»Hm! Wer seid Ihr?«
»Das werdet Ihr dann erfahren, wenn ich Gelegenheit habe, es Euch von Amts wegen mitzutheilen. Bald wird der Aldermann erscheinen, um meinen Worten Nachdruck zu geben.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr eine amtliche Persönlichkeit seid?«
»Ja.«
»Wenn Ihr das beweisen könnt, so werde ich Euch antworten.«
»Warum nicht eher. Ein jeder Wirth hat seine Gäste höflich zu behandeln.«
»Ein jeder Wirth aber hat sich auch zu hüten, mit seinen Gästen in Conflict zu gerathen. Ihr wollt wissen, wer hier gewesen ist. Diejenigen, welche da waren, wünschen vielleicht gar nicht, daß von ihnen gesprochen werde.«
»So haben sie ein böses Gewissen!«
»Deshalb noch nicht.«
»Nun, ich werde Euch zeigen, wer ich bin.«
Er zog eine Brieftasche hervor, in welcher sich sehr viele Schreiben und anderes Private befand. Er wählte einen Bogen, auf welchem sich ein großes Siegel befand, und hielt ihn dem Wirthe hin.
Dieser trat damit zum Lichte und gab sich den Anschein, als ob er lese. Jedenfalls war er nicht im Stande, ein einziges Wort zu entziffern. Das Document war in russischer Sprache verfaßt und mit dem Siegel der Geheimcanzlei des Czaaren versehen. Als er scheinbar zu Ende war, legte er das Papier zusammen, gab es unter einer ehrfurchtsvollen Verbeugung zurück und sagte:
»Verzeihung, Sennor! Ich konnte nicht wissen, daß Ihr ein so hoher Beamter seid.«
»Criminalbeamter, wollt Ihr sagen! Also waren viele Gäste hier?«
»Ja.«
»Hiesige?«
»Lauter Hiesige.«
»Ich meine, es seien auch Fremde dagewesen.«
Steinbach sagte das in einem Tone, als ob er seiner Sache ganz und gar sicher sei.
»Ha! Ich müßte mich besinnen,« meinte der Wirth.
Die imposante Gestalt und das dominirende Auftreten Steinbach's verfehlte den beabsichtigten Eindruck nicht.
»So besinnt Euch schnell! Ich habe keine Zeit!«
»Es waren wohl einige Fremde hier. Ich weiß aber nicht, ob ich von ihnen sprechen darf.«
»Warum nicht?«
»Sie thaten so heimlich.«
»Ah, so! Worin bestand diese Heimlichkeit?«
»Sie gingen nicht in dieses Zimmer, sondern ich mußte ihnen einen Raum im Hofe geben. Ihre Pferde hatten sie im Garten.«
»Wie viele waren es?«
»Nun, fremd waren eigentlich nur Zwei. Die Anderen kannte ich. Das waren Hiesige.«
»Wer waren sie?«
»Ihre Namen sind Sennor Alfonzo, Sennor Newton und Sennor Robin.«
»Schön! Diese suchen wir.«
»Diese Drei gingen nach einer Welle wieder fort. Alfonzo ließ sich nicht mehr sehen. Newton kam bald wieder, und Robin kam sehr spät mit einer Dame.«
»Sennorita Miranda?«
»Ja. Kennt Ihr sie?«
»Sehr gut. Wo sind sie jetzt?«
»Abgereist.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich vermuthe, daß ihr Ziel ein entferntes ist, denn sie fragten mich, ob ich ihnen ihre Pferde abkaufen möchte.«
»Ihr thatet das?«
»Natürlich. Sie machten Preis. Ihr wißt, daß ein Wirth jedem Gaste gefällig sein muß.«
»Dies scheint Euer erster Grundsatz zu sein. Wenn sie keine Thiere mehr hatten, wie können sie da reisen?«
»Im Segelboote von Sennor Robin.«
»Also gefahren! Schön! Seit welcher Zeit sind sie fort?«
»Es sind bis jetzt schon drei Viertelstunden verflossen, Sennor.«
»Hatte die Sennorita viel Gepäck?«
»Gar nicht. Sie trug ein weißes Kleid und einen dunklen Mantel darüber. Im Zimmer ist sie gar nicht mit gewesen.«
»Aber gut bewaffnet waren die Sennores?«
»Bis an die Zähne.«
»Zeigt mir einmal das Zimmer, in welchem sie gewartet haben!«
Der Wirth führte die Herren in den Hof und von da in den Raum, wo die Betreffenden gesessen hatten. Steinbach hatte es für möglich gehalten, irgend Etwas zu finden, was ihm nützlich werden könne. Seine Erwartung war aber vergebens. Es war bei allem Glücke heute doch ein unglücklicher Abend gewesen.
– – – – – – – – –
Der von Tucson über Gila Bend kommende Personenzug nahte sich der Mohawk-Station. Die Maschine gab mit ihrem schrillen Pfiffe das Zeichen, und die Stationsbeamten standen neugierig, ob Passagiere hier aussteigen würden.
Auf der Plattform des einen Personenwagens stand – – Roulin. Er hielt sich sein Taschentuch vor das Gesicht, scheinbar als ob er Zahnschmerzen habe, in Wirklichkeit aber, um nicht sofort erkannt zu werden, während er die an der Station Anwesenden musterte, um zu erfahren, ob man ohne Gefahr aussteigen könne.
Der Zug fuhr ein.
»Mohawk-Station!« ertönte der laute Ruf.
»Ist Jemand von ihnen da?« fragte es zur Coupeethür heraus.
»Nein,« antwortete Roulin. »Wir können aussteigen.«
Er sprang von der Plattform. Walker, Leflor, Bill Newton und Miranda folgten ihm.
Die Letztere trug einen außerordentlich eleganten Reiseanzug, welchen Walker ihr in Gila Bend gekauft hatte. Ihre Erscheinung erregte Aufsehen.
Zwei junge Männer standen am Eingange des Telegraphenbureaus. Es war der Telegraphist und der Sohn des Stationers.
»Alle Wetter!« sagte der Erstere. »Seht Ihr diese Venus, Sennor Balzer?«
»Ja. Wer sollte sie nicht sehen. Hier in dem traurigen Neste findet man eine alte Hexe schön, vielmehr noch eine Dame, welche in New-York oder New-Orleans Aufsehen erregen würde.«
»Das wäre Etwas für Euch! Ich kenne ja Eure Passion.«
»Hm. Die Lady sieht mir nicht so aus, als ob sie eine Männerfeindin sei. Augen wie die ihrigen stecken zwar in Brand, löschen ihn aber auch. Ich möchte doch wohl – – Teufel! Wer ist denn das? Der Eine ihrer Begleiter kommt mir bekannt vor. Wenn mich nicht Alles täuscht, so ist es Roulin, welcher mit mir im Alabama-College auf einer und derselben Bank gesessen hat. Der bei ihr! Das ist ja eine Avance, welche ich mir gar nicht besser wünschen kann.«
Er nickte dem Telegraphisten einen kurzen, triumphirenden Gruß zu und schritt auf die Gruppe zu, welche sich der Thür des Wartesaales näherte.
»Sehe ich recht?« fragte er. »Verzeiht, Sennor, seid Ihr nicht – – oder vielmehr, bist Du nicht – – ja, Du bist es! Roulin!«
Roulin fühlte sich nicht freudig überrascht, als er sich plötzlich so öffentlich angeredet und beim Namen genannt hörte. Er machte in Folge dessen ein ziemlich finsteres Gesicht. Aber als er in das Gesicht des Anderen blickte, heiterte sich seine Miene sofort auf. Er erkannte den Studiengenossen und wußte, daß er gerade diesen Mann nicht zu fürchten habe.
»Balzer, Du?« antwortete er.
»Ja, ich in Lebensgröße. Was schneit denn Dich hierher nach Mohawk-Station, alter Swalker?«
»Der Zufall, mein Bester. Ich bin ihm übrigens nun gern dankbar, da er mir die Gelegenheit geboten hat, Dich wiederzusehen. Was bringt Dich hierher? Wohl auch der Zufall?«
»Nein, das Geschick.«
»Das klingt so ernst.«
»Ist es auch.«
»Hast doch nicht etwa unglücklich nach hier geheirathet?«
»Wie kommst Du auf diesen Gedanken?«
»Ich kenne Deine Passion: Ein Paar schöne Augen, und Du bist Feuer und Flamme.«
»Gerade aus diesem Grunde hüte ich mich vor der Heirath. Ich flattere und nasche, mag mich aber nicht binden. Nein, denke Dir, mein Vater hat eine Menge Actien der Bahngesellschaft. Um einen Einblick in gewisse Angelegenheiten zu gewinnen, ist er auf den Gedanken gekommen, Stationer zu werden. Sie haben ihn hierher auf Mohawk-Station gebracht. Ich mußte natürlich mit ihm. Nun sitze ich da! Ein Talent, ein Genie, im trocknen Sande, angeklotzt von stinkenden Apachen.«
»Du hast Langeweile?«
»Riesig, massenhaft. Dein Anblick ist mir wie das Licht eines Sternes in finsterer Nacht. Hoffentlich kaufst Du Dich mir zu Liebe hier für immer und ewig an, um mir im Kampfe gegen das Ungeheuer »Langeweile« beizustehen. Ich werde es Dir Dank wissen.«
»So sehr aufopferungsfähig bin ich leider nicht,« lachte Roulin. Einige Tage aber kann ich Dir vielleicht widmen.«
»Goldjunge, komm an mein Herz!«
»Laß das! Sage mir lieber, ob Du hier bekannt bist?«
»Außerordentlich, sage ich Dir! Wie der Floh im Bette oder der Frosch im Teiche bin ich hier bekannt. Was willst Du wissen? Brauchst Du einen Pfarrer oder einen Blutegelhändler, eine Hebamme oder einen Advocaten. Sage mir aber vor allen Dingen, wer ist die Dame, die sich bei Dir befindet?«
»Gefällt sie Dir?«
»Welch' eine Frage! Für einen Kuß von ihr springe ich in's Meer und schlage zehn Wallfische todt. Ist sie spröde oder empfänglich?«
»Je nach der Person des Betreffenden.«
»Verheirathet?«
»Nein!«
»Schön! Verlobt?«
»Auch nicht.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Donna Miranda.«
»Höchst poetisch! Kannst Du mich ihr vorstellen?«
Roulin machte ein sehr bedenkliches Gesicht.
»Wohl schwerlich; außer – – hm! Sie ist sehr wählerisch. Vielleicht aber könntest Du Dich ihr verbindlich erweisen.«
»Riesig gern! Gieb mir nur Gelegenheit dazu.«
»Wollen es versuchen. Natürlich giebt es hier ein Hotel?«
»Versteht sich.«
»Ist es sehr besetzt?«
»Jetzt nicht. Die neuesten Gäste sind zwei Sennores, Namens Wilkins und Cuartano, nebst ihren Damen.«
»Ah! Hm! Schön! Kannst Du nicht erfahren, ob diese Herrschaften in letzter Zeit eine Depesche erhalten haben?«
»Wer will es wissen? Es handelt sich hier um das Amtsgeheimniß. Verstanden?«
»Du würdest gerade unsere Donna Miranda zu großem Danke verpflichten.«
»Donnerwetter! Sie soll es erfahren. Der Telegraphist ist mein Freund. Er trinkt aus meiner Flasche und bezahlt aus meiner Börse. Er sagt es mir gern. Wartest Du hier?«
Er begab sich in das Telegraphenbureau. Roulin aber schritt nach dem Wartesaale zu, an dessen Eingange die Anderen stehen geblieben waren.
»Tretet ein!« sagte er. »Ich traf da einen Jugendgenossen, einen leichtlebigen Menschen, der uns hier von großem Nutzen sein wird, wenn Sennorita ein Wenig freundlich mit ihm sein will. Er ist ein außerordentlicher Freund hübscher Gesichter und Sohn des hiesigen Stationers. Soeben habe ich ihn nach der Depesche gefragt. Er will uns Auskunft ertheilen. Das ist von großem Vortheile für uns, da wir gewärtig sein müssen, daß Steinbach nach hier telegraphirt, um zu warnen. Durch meinen Freund könnten wir, wenn wir ihn verliebt machen, die betreffende Depesche abfangen. Da kommt er bereits. Ich bringe ihn hinein und stelle ihn Euch vor.«
Balzer kam aus dem Bureau und schwenkte bereits von Weitem einen langen, schmalen Zettel, auf welchem sich jedenfalls die Urschrift der Depesche befand.
»Ich habe sie,« sagte er, »da lies!«
Er gab Roulin den Zettel, indem er überlegen lächelte. Der Letztere wollte den Inhalt lesen, konnte es aber nicht, denn die wenigen Zeilen bestanden nur aus Strichen und Punkten, welche ungleich weit von einander entfernt waren. Er gab also das Telegramm mit den Worten zurück:
»Mach' keine dummen Witze, alter Junge! Ich bin kein Telegraphenbeamter und habe also nicht gelernt, solche Hieroglyphen zu entziffern.«
»Was ist da zu thun!«
»Wir müssen eben zum Telegraphisten gehen.«
»Na, ich will Dich nicht so lange unter die Folter nehmen. Ich habe hier nicht viel oder besser gesagt, gar nichts zu thun, und um mir nur einigermaßen die Zeit zu vertreiben, bin ich beflissen gewesen, Telegramme lesen zu lernen. Es ist das zwar kein sehr amüsanter Sport; aber in der Noth frißt der Teufel Fliegen, und der Telegraphist fand es selbst interessant, mich zu unterrichten. Das Ding ist übrigens zwar langweilig aber nicht schwer. Ich habe dabei nicht gedacht, daß ich dadurch in den Stand gesetzt werden würde, einem so alten, guten Bekannten einen Dienst zu erweisen.«
»Sehr verbunden! Also, bitte, lies vor!«
»Die Depesche lautet: »Sofort im Augenblicke per Bahn nach Dos Palmas abreisen. Wir sind dort. Steinbach!« Genügt Dir das?«
»Vollständig. Ich danke Dir!«
»Nun aber hoffe ich auch, daß Du mich Deiner schönen Sennorita Miranda vorstellen wirst.«
»Das versteht sich. Aber vorher noch Eins. Es ist nämlich möglich, daß noch eine Depesche kommt. Wann ist diese hier angekommen?«
»Vor fünf Stunden.«
»Vielleicht kommt heute oder auch erst morgen eine zweite. Könnte ich auch diese lesen?«
»Versteht sich!«
»Aber bevor sie an den Adressaten geschickt wird.«
»Verdammt! Das geht nicht.«
»Warum?«
»Sobald das Telegramm ankommt, muß es an den Adressaten gesandt werden.«
»Pah! Wenn ich sie vorher lese, so nimmt das ja nur einen Augenblick, nicht einmal eine einzige Minute in Anspruch.«
»Hm! Dennoch wird es nicht gehen. Es handelt sich da um das Amtsgeheimniß.«
»Das ist doch hier bei diesem Telegramm auch nicht so genau genommen worden.«
»Aus zwei Gründen. Erstens befindet es sich bereits in den Händen des Adressaten – –«
»Ist ganz gleich! Ich habe es doch gelesen.«
»Und zweitens hat der Beamte es mir nur aus ganz besonderer persönlicher Gefälligkeit gegeben.«
»Nun, ganz dieselbe Gefälligkeit könnte er doch zum zweiten Male haben.«
»Er wird mich fragen, was ich damit beabsichtige.«
»Bist Du etwa um eine Ausrede verlegen?«
»Allerdings.«
»Dann kannst Du mich dauern, alter Knabe. Du warst doch früher nie verlegen, besonders wenn es sich um ein hübsches Mädchen handelte.«
»Das ist aber hier nicht der Fall.«
»Sogar doppelt. Erstens thust Du Donna Miranda einen Gefallen, den sie Dir jedenfalls vergelten wird, und zweitens – ah, ich habe da den richtigen Gedanken! Der Adressat ist zwar ein gewisser Wilkins, aber er hat zwei außerordentlich hübsche, junge Damen bei sich. Weiß das der Telegraphist vielleicht?«
»Ebenso gut wie ich.«
»Nun, so ist die Sache ja sehr einfach. Du bist in Eine von den Beiden verliebt, willst Dich ihr nähern, und die beste Gelegenheit dazu ist Dir geboten, indem Du den Telegraphenboten machst und ihrem Begleiter die Depesche selbst bringst.«
»Diese Ausrede ist gar nicht übel. Und Du meinst, daß ich die Depesche erst Dir zeige, ehe ich sie an die Adresse befördere?«
»Sehr richtig.«
»Das könnte freilich möglich gemacht werden, wenn es nicht dabei ein großes Hinderniß gäbe.«
»Ich wüßte keins.«
»Die Depesche ist verschlossen.«
»Nur mit einer Papieroblate. Laß es meine Sorge sein, das Dings zu öffnen.«
»Verdammt! Das ist strafbar.«
»Geht Dich nichts an, sondern nur mich.«
»Ich bin Mitschuldiger.«
»Höre, nimm es mir nicht übel, aber Du scheinst ein ganz Anderer geworden zu sein, seit wir uns nicht gesehen haben. Früher gingst Du eines hübschen Gesichtes wegen durch zehn Feuer.«
»Jetzt auch noch.«
»Warum also bist Du so sehr bedenklich?«
»Es ist keinesfalls angenehm, mit der Justiz in Conflict zu gerathen. Ueberdies ist mein Vater hier Stationer und darauf habe ich Rücksicht zu nehmen.«
»Nimm lieber Rücksicht darauf, daß Du Dir Donna Miranda zur Dankbarkeit verpflichtest!«
»Ob sie diese Dankbarkeit auch abtragen wird?«
»Jedenfalls. Ich garantire Dir dafür. Und außerdem kannst Du sicher sein, daß kein Mensch etwas bemerken oder gar erfahren wird.«
»Ja, wenn ich das wüßte!«
»Ich gebe Dir mein Ehrenwort.«
»Ehrenwort? Hm? Das ist Etwas, dem ich doch wohl trauen darf?«
»Ja, wenn Du mich nicht beleidigen willst.«
»Das fällt mir nicht ein.«
»Na also, darf ich auf Dich rechnen?«
»Gut, ich will es thun. Ich werde sogleich dies Telegramm zurücktragen und dabei den Telegraphisten unterrichten, daß ich selbst ein zweites, welches an die zweite Adresse gerichtet sein sollte, dem Adressaten übermitteln will. Dafür aber hoffe ich, daß Du mich dieser Donna Miranda auf eine Weise empfiehlst, mit der ich zufrieden sein kann.«
»Das versteht sich von selbst. Eine Liebe ist doch der anderen werth. Hier gebe ich Dir meine Hand darauf.«
Balzer kehrte in das Bureau zurück und Roulin trat nun in den Passagierraum, in dessen Abtheilung für erste Fahrklasse sich seine Gefährten befanden. Sonst war kein anderer Mensch zugegen.
»Es dauert lange,« meinte Leflor.
»Weil er es schon gebracht hat.«
»Ah! War es das unserige?«
»Ja, es war ganz dasselbe, welches wir in Gila Bend aufgegeben haben, um die Gesellschaft schleunigst von hier fortzubringen.«
»Ein anderes ist noch nicht angekommen?«
»Nein. Und wenn es ankommen sollte, so wird mein Freund es uns bringen, bevor es an den Adressaten geht. Dafür verlangt er einige Chancen bei Sennorita Miranda. Wie steht es, meine wertheste Donna?«
»Was versteht Ihr unter dem Ausdrucke Chancen?« lächelte Miranda.
»Dasselbe, was auch Ihr jedenfalls darunter verstehen werdet. Der arme Junge findet Euch schön. Für unser Vorhaben ist es sehr vortheilhaft, daß er Euch nachgiebig findet.«
»Das wird sie sein!« sagte Walker in einem Tone, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß Miranda ihre Liebe in seinen Dienst und Nutzen stelle. Sie schien von diesem Tone nicht sehr angenehm berührt zu werden, denn sie antwortete:
»Und wenn ich es nun nicht sein will?«
»Pah! Wir haben einen gemeinschaftlichen Zweck und ein Jeder von uns muß das Seine thun, damit wir ihn erreichen.«
»Sogar, wenn mir dieser Sennor nicht gefällt?«
»Sogar dann!«
Er sagte das in beinahe drohendem Tone. Dieser Letztere rief ihren Widerspruch wach:
»Ich glaube, daß ich das Meinige bereits gethan habe.«
»Daß ich nicht wüßte!«
»Ist es nicht ein Opfer, daß ich meine Bequemlichkeit verlassen habe und Euch hierher gefolgt bin?«
»Das ist etwas ganz Selbstverständliches. Du gehörst zu mir. Uebrigens, so weit ich diesen Sennor betrachtet habe, halte ich ihn nicht für häßlich. Es ist gar kein Opfer für eine Dame, wenn sie sich von ihm den Hof machen läßt. Streiten wir uns nicht. Da kommt er!«
Balzer trat herein und wurde von Roulin den Anderen vorgestellt. Er zog Miranda's Händchen galant an seine Lippen und verschlang ihre üppig schöne Gestalt mit seinen Augen. Sie beantwortete diesen Blick mit einem Lächeln, welches so verheißungsvoll war, daß es ihn heiß überlief. Sie hatte vorhin opponirt, aber Balzer war wirklich ein hübscher Kerl, hübscher als die Andern alle; das söhnte sie mit ihrer Aufgabe, welche ihr zugefallen war, aus, und sie nahm sich vor, seiner Freundlichkeit nicht mit dem Gegentheile zu begegnen.
Ihr Lächeln electrisirte ihn. Es kam ihm ein Gedanke. Jedenfalls wollte die Gesellschaft sich hier in Mohawk-Station verweilen. Wie nun, wenn er sie nicht in das Hotel gehen ließ, sondern sie einlud, bei ihm zu bleiben! Kaum hatte er diesen Gedanken gefaßt, so gab er ihm auch Ausdruck:
»Es ist mir ein außerordentlich lieber Zufall,« sagte er, »Sennor Roulin zu treffen. Wir haben mit einander studirt und sind stets die besten Freunde gewesen. Ich möchte dieses Wiedersehen möglichst ausnützen. Wie lange gedenken die Herrschaften hier in Mohawk-Station zu bleiben?«
»Das ist unbestimmt,« antwortete Roulin. »Vielleicht fahren wir bereits morgen fort.«
»O weh! So schnell darf ich Dich nicht fortlassen.«
»Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.«
»Es giebt auch eine Freundschaftspflicht. Hast Du Dich bereits entschieden, wo Du hier wohnst?«
»Nein. Ist nur ein Hotel da?«
»Hoffentlich fragst Du gar nicht nach dem Hotel. Zunächst bin ich da, und ich erwarte, daß Du meine Gastfreundschaft nicht von Dir weisest.«
»Würde sehr gerne geschehen, aber unser Reisezweck ist ein solcher, daß ich mich von meinen Gefährten unmöglich trennen kann.«
»Wer sagt das oder wer verlangt das?«
»Willst Du Dir etwa die ganze Gesellschaft auf den Hals laden?«
»Sogar mit dem allergrößten Vergnügen!«
»So viele Personen!«
»Und wenn es noch mehr wären. Wir haben hier Raum genug. Freilich auf die Bequemlichkeit des Nordens müßtet Ihr verzichten. Hier im Süden können wir weit anspruchsloser sein. Das Klima erlaubt uns, auf Vieles zu verzichten, was droben in den alten Staaten unumgänglich nöthig ist. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Hängematte, das ist Alles, was wir hier von Mobiliar verlangen. Ist Euch das nicht zu wenig, so kann ich Euch einige Zimmer anbieten.«
»Wir werden Dir beschwerlich fallen.«
»Nicht im Mindesten.«
»Aber Dein Vater?«
»Hat die sehr angenehme Eigenschaft, sich um mein Thun und Treiben gar nicht zu bekümmern. Die Stationsgebäude sind sehr weitläufig, für die Zukunft und einen weit bedeutenderen Verkehr eingerichtet, als der gegenwärtige ist. Zimmer giebt es also in Menge. Ihr könnt bei mir wohnen, ohne daß nur ein Mensch Eure Gegenwart beachtet. Also, sage ja!«
»Nun, aufrichtig gestanden, kommt mir Deine Einladung außerordentlich gelegen. Wir haben Grund, uns von Wilkins und seinen Damen nicht sogleich sehen zu lasten.«
»Dann müßt Ihr eben bei mir bleiben. Mohawk-Station ist kein New-York. Sobald Ihr den Ort betretet, bemerkt Euch Jedermann.«
»So bleiben wir also bei Dir, hoffen aber, daß wir Dir keine Sorge bereiten.«
»Sorgen? Wo denkst Du hin, alter Junge! Vergnügen, ungeheures Vergnügen bereitest Du mir. Darf ich hoffen, Sennorita, daß meine Einladung Euch nicht ganz unangenehm ist?«
»Im Gegentheil, Sennor. Ihr zwingt uns, Euch den größten Dank zu zollen.«
Sie schlug die Augen mit einem Blicke zu ihm auf, in Folge dessen er sofort ihre Hand zum zweiten Mal an seine Lippen drückte.
»So bitte ich, mir zu folgen, meine Herrschaften. Hier durch diese Thüre!«
Eben wollten sie gehen, da fiel Walkers Blick zum Fenster hinaus. Er zuckte zusammen und sagte:
»Ja, gehen wir schnell. Dort kommt Wilkins.«
Der Genannte kam auf das Stationsgebäude zugeschritten.
»Das also ist er,« sagte Balzer. »Er darf Euch nicht sehen. Tretet einstweilen hier durch die Thür. Jedenfalls werde ich selbst fragen, was er will.«
»Recht so! Aber uns ja nicht verrathen!«
»Unsinn! Also hier durch die Thür.«
Er ging zum Ausgange und stellte sich draußen so, daß Wilkins zu ihm und zu keinem Andern kommen mußte. Der Letztere lenkte auch grad auf ihn ein, grüßte höflich und fragte:
»Bitte, Sennor, wann ist der letzte Zug nach Dos Palmas hier fort?«
»Vor einer kleinen halben Stunde.«
Es war derjenige Zug, mit welchem Walker und seine Begleiter gekommen waren.
»Höchst angenehm. Eine Depesche, welche vor vier oder fünf Stunden an mich gekommen ist, ruft mich nach Dos Palmas; leider aber bin ich nicht anwesend gewesen und habe sie also erst jetzt geöffnet. Wann geht denn der nächste Zug?«
»Morgen um dieselbe Zeit.«
»Erst?«
»Ja. Die Bahn ist neu, der Betrieb noch nicht im Gange. Es wird bis jetzt täglich nur ein Zug abgelassen.«
»Unangenehm, höchst unangenehm! So muß ich also wirklich bis morgen warten?«
»Leider, Sennor.«
»Giebt es keine andere Gelegenheit?«
»Es giebt hier keine Post, würde auch nichts helfen. Dos Palmas liegt jenseits des Colorado. Die Tour ist beschwerlich und langweilig. Ihr kämt überdies später hin als mit dem Zuge, obgleich dieser erst morgen von hier fortgeht.«
»Und zu Wasser?«
»Hm! Wir befinden uns am Rio Gila. Dieser ist nur zwanzig Meilen oberhalb seiner Mündung in den Colorado für Kähne fahrbar. Und diese Kähne sind nicht empfehlenswerth. Ich kann Euch nur rathen, bis morgen zu warten.«
»Dann muß ich wohl. Danke sehr.«
Er entfernte sich. Balzer kehrte zu seinen Gästen zurück und berichtete ihnen den Gegenstand des Gespräches mit Wilkins.
»Das hast Du recht gemacht,« sagte Roulin.
»O, ich hätte auch nicht anders gekonnt. Die einzige Wassergelegenheit wäre mein Seelenverkäufer; aber erstens gebe ich den nicht für Reisende her und zweitens würde Master Wilkins damit nur bis Gila City und Yuma kommen, dann aber immer noch auf den Zug warten müssen, um die Landstrecke, welche übrig bleibt, zurückzulegen.«
»Wie, Du hast einen Seelenverkäufer?«
»Ja, ganz Sant-Louiser Modell. Ein prächtiges Fahrzeug. Ich liebe den Wassersport und da ich hier, wie bereits gesagt, an langer Weile leide, so habe ich die gute Gelegenheit, welche sich mir zum Ankaufe des Fahrzeuges bot, natürlich benutzt. Ich habe es noch dazu außerordentlich billig. Doch bitte, kommt mit!«
Walker wäre gern noch stehen geblieben, um weiter über da« Fahrzeug zu sprechen. Es war ihm ein sehr guter Gedanke gekommen. Da er sich aber sagte, daß zum Ausspruche desselben ja noch Zeit sei, so folgte er den Anderen, welche von Balzer eine Treppe emporgeführt wurden und zwar nach drei Zimmern, welche neben einander lagen und noch ein wenig besser meublirt waren, als Balzer vorhin gesagt hatte. Eines derselben wurde für die Sennorita bestimmt, während die beiden anderen den Sennores als Wohnung dienen sollten.
Balzer sorgte zunächst für Wasser zum Waschen und sodann für eine Mahlzeit. An der Letzteren nahm er selbst Theil. Noch aber hatte man kaum mit dem Essen begonnen, so wurde er zum Telegraphisten gerufen. Er ging, und die Anderen warteten mit großer Spannung auf seine Rückkehr. Als er kam, zeigte er mit triumphirender Miene eine verschlossene Depesche vor.
»Da ist sie, meine Herrschaften!«
»An Wilkins?«
»Ja. Da steht: Sennor Wilkins vom Silbersee. Zu erfragen in Mohawk-Station.«
»Prächtig! Zeig einmal her!« sagte Roulin.
»Hier! Aber Vorsicht!«
»Natürlich!«
Roulin befeuchtete den Verschluß so lange von außen, bis die Feuchtigkeit durch das Papier drang und die Klebmasse auflöste. Dann konnte er leicht öffnen. Ohne daran zu denken, daß er sich durch den Inhalt vor Balzer blamiren könne, las er laut vor:
»Walker und Genossen suchen Euch. Sie kommen noch vor uns hin. Ergreift Eure Maßregeln. Leider geht kein Zug mehr. Wir können erst morgen Nachmittag kommen. Gila-Bend. Steinbach.«
»Sapperment! Das ist doch dieselbe Unterschrift: Steinbach!« sagte Balzer.
Erst jetzt fiel es Roulin ein, daß er seinen Studiengenossen ganz absichtslos in das Vertrauen gezogen hatte, doch war er um eine Ausrede gar nicht verlegen. Er erklärte ihm:
»Ja, Steinbach, mein Nebenbuhler.«
»Nebenbuhler? So handelt es sich um eine Dame?«
»Ja, um meine Geliebte.«
»Alter Kerl! Was höre ich? Du bist verliebt?«
»Bis über die Ohren.«
»Ich auch. Darum entschuldige ich Dich. Darf man erfahren, wer die Süße ist?«
»Eben eines der beiden Mädchen, welche sich bei Wilkins hier befinden!«
»Ah! Jetzt errathe ich!«
»Nicht wahr? Die Sennorita liebt mich; ihr Vater aber ist gegen mich. Ich bin ihr nachgereist, um sie zu treffen. Nun reist dieser dumme Steinbach mir nach, um das zu verhindern. Ein Glück, daß er noch einen Tag auf den Zug warten muß.«
»Aber in welchem Verhältnisse steht denn dieser Wilkins zu Deiner Geliebten?«
»Er ist ihr Oheim,« log Roulin. »Er steht auch auf der Seite dieses Steinbach.«
»Ein deutscher Name.«
»Der Kerl ist auch ein Deutscher.«
»Hole ihn der Teufel! Ich habe diese Nation nie leiden können. Ich würde mich freuen, wenn ich Dir dienen könnte.«
»Das kannst Du. Und da Du sagst, daß auch Du verliebt bist, so ist es mir vielleicht möglich, auch Dir beizustehen.«
Balzer warf einen vielsagenden Blick auf Miranda und antwortete:
»Das ist möglich, sogar sehr leicht möglich. Schließen wir also einen Bund miteinander. Was kann ich für Dich thun?«
»Jedenfalls nur eins: Sorge gefälligst dafür, daß Wilkins diese Depesche nicht bekommt!«
»Das ist unmöglich!«
»Nichts ist unmöglich!«
»Ich würde bestraft werden.«
»Du hast sie verloren.«
»Das müßte ich melden.«
»So gieb sie wenigstens nicht vor morgen Mittag ab.«
»Auch darauf darf ich nicht eingehen. Es thut mir sehr leid, unendlich leid. Ich möchte Dir sehr gern zu Diensten sein.«
Miranda saß neben ihm. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, blickte ihm siegreich in die Augen und sagte:
»Sennor, würdet Ihr auch mir diesen Gefallen nicht thun?«
»Euch?«
Er schlug die Augen nieder und gab weiter keine Antwort. Die Pflicht rang in seinem Innern mit dem Gefühle, welches ihm das reizende Mädchen eingeflößt hatte. Miranda bog sich ihm noch näher und sagte:
»Fällt es Euch so schwer?«
»Unendlich schwer, Sennorita. Ich möchte für Euch Alles thun, was menschenmöglich ist. Hier aber handelt es sich um meine Ehre.«
»Das sehe ich nicht ein.«
»Was Ihr von mir verlangt, ist ein ganz gemeines Verbrechen und wird als solches bestraft.«
»Das wollen wir nicht so schnell beurtheilen. Sprechen wir nachher davon, Sennor, nachher, wenn wir gegessen haben.«
»Ja,« fiel Walker ein. »Ich habe da eine viel wichtigere Frage an Euch zu richten. Ihr spracht vorhin von einem Schiffe. Ihr nanntet es einen Seelenverkäufer. Was ist das?«
»Es ist ganz dieselbe Art von Boot, welche auf dem Mississippi Chikenthief, Hühnerdieb, genannt werden, einmastig, schmal, scharf auf dem Kiel gebaut mit einer verdeckten Cajüte.«
»Woher der Name?«
»Ein solches Boot segelt ungeheuer schnell und wird daher, früher wohl noch mehr als heute, zu Fahrten gebraucht, welche nicht ganz im Sinne des Gesetzes liegen. Die Schnelligkeit eines solchen Seelenverkäufers machte es dem Besitzer leichter, seinen Verfolgern zu entkommen.«
»Und wie kommt Ihr zu einem solchen Boote?«
»Auf die einfachste Weise von der Welt. Einige Meilen oberhalb unseres Ortes war eine Militärstation, der Apache-, Papago-, Yuma- und Maricopa- Indianer wegen, deren Gebiete hier zusammenstoßen. Der Commandant hatte sich das Boot bauen lassen, um besser hinter den Indianercanots her sein zu können. Als die Station einging, brauchte er es nicht mehr und verkaufte es mir um eine wirklich sehr geringfügige Summe.«
»Wie viel Bemannung hat es?«
»Fünf Mann. Vier Matrosen und den Steuermann, welcher zugleich Capitän ist.«
»Zwanzig, wenn man bequem fahren will. In der Cajüte können acht Personen sehr gemüthlich beisammen wohnen. Sie ist beinahe elegant eingerichtet. Wenn es Euch Spaß macht, kann ich Euch das Fahrzeug zeigen.«
»Und Ihr verleiht es nicht?«
»Nein.«
»Schade, jammerschade!«
»Warum?«
»Ihr hättet un« einen Gefallen thun und Euch dabei eine hübsche Summe verdienen können.«
»Wieso? Meint Ihr etwa, daß Ihr das Boot benutzen wolltet?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Das sollte Euch sofort einleuchten, nachdem Sennor Roulin von seiner Liebe gesprochen hat.«
»Sapperment! Da geht mir das Verständniß auf! Wilkins muß bis morgen auf den Zug warten. Ihr wollt, er soll mein Boot benutzen?«
»Ja.«
»Und Ihr wollt mitfahren?«
»Natürlich. Sennor Roulin will ja bei seiner Geliebten sein.«
»Das wäre ja ein verdammt schlauer Streich!«
»Freilich! Wenn morgen dann dieser dumme Steinbach kommt, findet er uns nicht mehr. Er braucht es überhaupt nicht zu erfahren, wohin wir sind.«
»So wollt Ihr nicht nach Dos Palmas?«
»Fällt uns gar nicht ein.«
»Wohin sonst?«
»Hm! Das ist eigentlich ein Geheimniß. Wir könnten und müßten es Euch erst dann mittheilen, wenn Ihr Euch entschließen könntet, uns Euer Boot zu dieser Fahrt zu leihen.«
Balzer wurde nachdenklich. Er blickte Miranda an und sagte dann endlich:
»Vielleicht ist es möglich. Wer von Euch fährt mit?«
»Wir alle.«
»Auch Donna Miranda?«
»Natürlich.«
»Ich werde es mir überlegen.«
»Das darf aber nicht lange dauern, Sennor. Wir haben Eile!«
»Es hat nur ein Hinderniß. Natürlich müßte ich als Eigentümer des Bootes mit.«
»Das versteht sich doch ganz von selbst.«
»So will ich unten einmal anfragen, ob meine Gegenwart nothwendig ist oder ob und wie lange ich hier abkommen kann.«
Er stand vom Tische auf und verließ das Zimmer.
»Das ist ein prächtiger Einfall, den Ihr da gehabt habt, Sennor Walker,« sagte Roulin. »Hoffentlich geht er darauf ein.«
»Ganz gewiß, nämlich wenn Miranda es klug anfängt. Er bekommt da Gelegenheit, mehrere Tage mit ihr beisammen zu sein. Wie weit würden wir fahren?«
»Von hier in den Colorado und dann diesen hinauf bis in die Gegend von Aubrey. Dort lagern die Papagoindianer, unter deren Schutz wir mit unsern Gefangenen bis nach dem Todesthale gelangen würden. Es frägt sich nur, ob wir diesen Wilkins in das Boot bekommen würden.«
»Ohne allen Zweifel.«
»Wie denn?«
»Das ist Sennorita Miranda's Sache. Sie würde sich nach dem Hotel begeben. Meine Instructionen kann sie erhalten, nachdem dieser gute, verliebte Balzer sich bereit erklärt hat.«
Der Genannte kam erst zurück, nachdem die Gesellschaft mit dem Essen fertig war. Miranda hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, nicht aus Bedürfniß sondern aus Berechnung. Dies machte Balzer sich zur Veranlassung, oder vielmehr er ging in die ihm gestellte Falle und fragte:
»Wo ist die Donna?«
»In ihrem Zimmer.«
»Dort ist ja noch nicht Alles in Ordnung. Ich war auf Gäste heut gar nicht eingerichtet. Darum muß ich gleich zu ihr, um nach ihren Wünschen zu fragen.«
Er ging.
»Angebissen!« lachte Walker leise hinter ihm her.
»Die Maus geht auf den Speck!« fügte Roulin hinzu. »O Liebe, was bist Du doch für ein albernes, dummes, kurzsichtiges Ding!«
Er beurtheilte Balzer falsch. Was dieser fühlte, war ja nicht die Liebe, die Himmelstochter, sondern es war jenes irdische Wesen, welches sich am liebsten im Schmutze herumwälzt. Als Balzer bei der Donna eintrat, lag sie in der Hängematte. Sie hatte mit Sicherheit darauf gerechnet, daß er kommen werde und sich also eine Lage gegeben, welche ihren Eindruck nicht verfehlen konnte.
Sie hatte Hut und Mantel abgelegt. Das Haar war ihr aufgegangen und fiel nun in langer Fluth hernieder. Wie um sich das Athmen zu erleichtern, hatte die Donna das Kleid aufgeknöpft, so daß durch das ebenso geöffnete Hemde die marmorne Weiße des Busens leuchtete. Das eine Bein hing herab; das Andere lag hoch in der Hängematte. Dadurch war das Kleid in der Weise drapirt, daß man nicht nur die Füße, sondern den größten Theil des unteren Beines unverhüllt sehen konnte.
Als er eintrat, heuchelte sie, erschrocken zu sein.
»Mein Gott! Wer kommt! Ihr!«
Sie wollte emporfahren. Leider aber hatte sie es so eingerichtet, daß mehrere Strähnen ihres Haares durch die Maschen der Matte hingen und sich nun verfitzten. Sie konnte mit dem Kopfe nicht empor; sie konnte sich nicht erheben.
»Geht, geht!« rief sie. »Ich dachte, hier allein sein zu können!«
Sie wehrte mit den Händen ab. Dabei aber fielen die weiten Aermel ihres Kleides zurück, so daß ihre weißen, fleischigen Arme bis hinter die Ellbogen zu sehen waren. Bei diesem Anblicke durchzuckte es ihn glühend heiß. Er eilte auf sie zu, ergriff ihre Hand und sagte:
»Verzeiht, Madonna, daß ich störe!«
Sie entriß ihm die Hand und antwortete:
»Nein, nein! Fort, fort!«
»Gnade! Laßt mich hier!«
»Unmöglich, unmöglich!«
»Ich schwöre Euch, daß – – –«
»Geht, geht!« fiel sie ihm in die Rede. »Ihr seht doch, daß ich nicht in der Situation bin, einen Besuch zu empfangen.«
»Aber, bei allen Himmeln, ich bin auch nicht in der Situation, Euch zu verlassen!«
Er ergriff abermals ihre Hand. Sie that, als wolle sie ihm dieselbe entreißen, hütete sich aber sehr wohl, die dazu nöthige Kraft anzuwenden. In der Bemühung, sich aufzurichten, verschob sie ihr Gewand nur noch mehr, so daß ihre Reize sich seinem Blicke nur noch deutlicher boten. Darüber gerieth sie scheinbar in Zorn, in schamhafte Aufregung und machte dabei die Sache desto schlimmer.
»O, könnte ich doch auf! Mein Haar, mein Haar hält mich zurück! Seht Ihr es denn nicht!«
»Wohl sehe ich es.«
»So helft mir doch! Macht mich los aus diesen Maschen!«
Sein Angesicht war vor Aufregung ganz bleich geworden. Seine Augen glühten. Halb verhüllte Reize machen ja bekanntlich einen weit größern Eindruck als ganz unverhüllte. Er hätte um Alles in der Welt den gegenwärtigen Anblick nicht hingegeben.
»Ich werde mich hüten!« antwortete er, ohne daß er eigentlich wußte, was er sagte.
»Wie? Euch hüten? Wißt Ihr nicht, was Ihr einer Dame schuldig seid, die noch dazu Euer Gast ist?!«
»Sennorita, daran denke ich nicht. Ihr seid nicht eine Dame; Ihr seid nicht mein Gast. Ihr seid ein Engel, eine Huri aus Muhammeds Paradies, eine Venus, eine Göttin. Ich bete Euch an!«
Er legte den einen Arm unter die Hängematte, den andern um die Donna und drückte diese fest, fest an sich.
»Nennt Ihr das Anbetung!«
Sie that, als ob sie ihm widerstehe, als ob sie diese Worte keuchend vor Anstrengung hervorstoßen müsse. Dabei aber drückte sie den vollen, üppigen Busen mit Absicht nur desto fester an seine Brust.
»Schweigt, schweigt, Sennorita!«
Er suchte mit seinem Munde ihre Lippen.
»Nein, rufen will ich! Hören soll man mich!«
Sie that, als wolle sie ihm mit dem Munde ausweichen, traf aber desto sicherer den seinigen. Dabei ergriff sie ihn mit beiden Händen am Kopfe, als ob sie ihn zurückstoßen wolle, hielt ihn aber im Gegentheile so fest, daß der Kuß ein langer, langer und verführerischer wurde.
»Nein, nein! Nicht so, nicht so!« stöhnte sie dann.
»Laßt mich doch; laßt mich doch! Ich hasse Euch!«
Er aber hielt sie fest und antwortete:
»Haßt mich, ja haßt mich! Aber küssen werde ich Euch dennoch, küssen, küssen, küssen, bis Ihr mir sagt, daß Ihr auch lieben wollt!«
»Niemals, nie!«
»Und doch, doch, dennoch!«
Er hielt sie so fest, daß sie sich nicht mehr zu bewegen vermochte. Wenigstens schien es so. Aber wenn sie nur ernstlich gewollt hätte, so wäre es ihr jedenfalls nicht schwer geworden, sich von ihm zu befreien.
Er küßte, küßte und küßte bis – – die Hängematte die Last zweier Personen nicht mehr zu tragen vermochte. Einer der in den Wänden befestigten Haken, an welchen sie hing, gab nach. Er wurde aus der Mauer gerissen. Die Hängematte fiel mit Beiden zu Boden.
»Himmel! Wir fallen! Da, da – liegen wir!«
So rief sie erschrocken. Aber in ihrem Schrecke hielt sie sich doch so an ihm fest, als glaube sie, daß sie sonst noch viel tiefer fallen werde. Jetzt aber machte er sich aus ihrer Umschlingung los.
»Verzeihung, Madame! Hat es Euch wehe gethan?«
»Wehe? Der Fall wohl nicht aber – Euer Benehmen! Seht Ihr denn nicht, daß mein Haar noch immer in den Maschen hängt! Helft mir doch! Macht mich doch los!«
»Gleich, gleich! Zeigt her!«
Erst jetzt gehorchte er ihr. Während er bemüht war, ihr Haar und somit sie selbst von der Hängematte zu befreien, zitterten seine Hände, so aufgeregt war er. Er mußte ja Alles berühren, ihr Haar, ihren Kopf; er streifte ihren Nacken, ihre Arme, ihren Busen. Und das bemerkte sie gar nicht; das litt sie so ruhig. Sie sah gar nicht, daß in Folge des Falles sich das Kleid noch mehr vom Fuße herauf geschoben hatte. Sie hielt so still, damit ja keins ihrer Haare bei seinem Bemühen, sie zu befreien, verloren gehe. Aber das dauerte lange, sehr lange. Dabei wurde er ruhig, und auch sie schien in eine andere Stimmung gekommen zu sein.
»Da, endlich! Jetzt seid Ihr frei, Sennorita.«
»Ich danke Euch!«
»Also der Fall hat Euch nicht wehe gethan?«
»Ich hoffe es. Gewiß weiß ich es freilich noch nicht.«
Sie wollte sich vom Boden erheben. Es schien ihr nicht zu gelingen!
»O wehe! So helft mir doch!«
Sie hielt ihm beide Arme hin. Er ergriff den einen, legte seinen andern um ihre Taille und hob sie empor. Als ob erst jetzt die weibliche Schwäche über sie komme, zuckte sie zusammen und stützte sich auf ihn.
»Was ists? Habt Ihr Schmerzen?« fragte er.
Sie deutete nach dem Herzen.
»Doch nicht! Sollte etwa eine Rippe – – –?«
»Mir wird ganz übel!«
Sie legte plötzlich beide Arme um seinen Hals und hing sich schwer an ihn.
»So kommt zum Sopha!«
Er führte sie hin und ließ sie in das Kissen gleiten. Sie legte den Kopf hintenüber, schloß die Augen und flüsterte, obgleich sie saß:
»Haltet mich!«
»Habt Ihr Schwindel?«
»Ja.«
»Herrgott! Ein Arzt – ein Arzt – – –!«
»Nein, nein! Auf keinen Fall!«
»Es ist auch keiner da. Ich hatte im Schreck ganz vergessen, daß es hier in Mohawk-Station gar keinen Doctor giebt. Aber wollt Ihr vielleicht an Stelle des Arztes ein Glas Wasser?«
»Nein; geht nicht fort!«
»Aber Etwas muß doch geschehen!«
Sie holte mehrere Male tief und ängstlich Athem und antwortete dann:
»Ich habe – habe – keinen Athem. Luft, Luft!«
Er eilte an das Fenster und machte dasselbe, welches bereits offen stand, noch weiter auf.
»So nicht. Das hilft nicht.«
»Was denn?«
»Hier!«
Sie deutete mit der Hand auf das Corset.
»Soll ich aufmachen?« fragte er.
»Ja, schnell!«
Er gehorchte diesem Befehle weit lieber als jedem andern. »Schnell« hatte sie gesagt, dennoch aber brachte er sehr lange zu, ob mit Absicht oder ohne dieselbe, das war nicht zu sagen; aber als es ihm endlich gelungen war, seufzte sie langsam und tief auf und flüsterte, indem ihre Wangen Farbe bekamen:
»Dem Himmel sei Dank! Ich wäre erstickt!«
»So ist es Euch jetzt besser?«
»Viel – viel besser.«
»Und schmerzt es hier noch?«
Er legte ihr seine Hand auf das Herz.
»Nein, auch nicht mehr,« antwortete sie, indem sie die Berührung gar nicht zu fühlen schien.
Auch bemerkte sie gar nicht, daß er seine Hand an der angegebenen Stelle liegen ließ und daß er den andern Arm um ihren Nacken legte und ihren Kopf an sein Herz zog.
»So scheint es doch, daß Ihr Euch keinen Schaden gethan habt?«
»Nein; nur schwach bin ich.«
»Legt Euch fest an mich. Ich stütze Euch.«
Sie rückte fester an ihn heran und schloß die Augen. Sein Blick glitt langsam, langsam über ihre Gestalt, so langsam, daß ihm nicht die geringste ihrer Schönheiten entgehen konnte. Es fragt sich, ob er aufgestanden wäre, wenn der Blitz in diesem Augenblicke in der Nähe des Stationsgebäudes eingeschlagen hätte. Eine solche Fülle von Reizen hatte er noch nie, noch nie gesehen. Er bog sich nieder und küßte ihr Haar, ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Nacken, bis endlich sein Mund an ihren Lippen hangen blieb. Und jetzt hatte sie nichts dagegen. Sie sträubte sich nicht. Sie lag still und bewegungslos an seinem Herzen und hielt die Augen geschlossen.
War sie etwa ohnmächtig? Wohl nicht. Ihr Busen hob und senkte sich regelmäßig, und seine Hand, welche grad auf ihrem Herzen lag, fühlte die regelrechten, ruhigen Schläge desselben.
»Sennorita!« flüsterte er.
Sie antwortete nicht.
»Donna Miranda!«
Jetzt bewegte sie sich leise.
»Miranda, meine Miranda!«
Sie öffnete die Augen und richtete den Blick auf ihn, und was für einen Blick, so still, so tief, so ergeben und doch so glühend, so verlangend.
»Hört Ihr mich?«
»Ja.«
»Zürnt Ihr mir?«
»Nein.«
»Und doch waret Ihr vorhin so bös auf mich!«
»Ich kannte es noch nicht.«
»Was?«
»Die – die Liebe.«
»Und jetzt kennt Ihr sie?«
»Ja.«
»So habe ich sie Euch kennen gelehrt? Ich, ich!«
»Ja, Ihr!« hauchte sie.
»Gewiß und wahrhaftig?«
»Ich beschwöre es.«
»Ihr habt nie geliebt?«
»Niemals.«
»Nie geküßt?«
»Nie, außer meinen Vater und meine Mutter.«
Dabei sah sie so fromm und kindlich aus!
»Und Ihr seid also nie verlobt gewesen, habt niemals geliebt, wirklich wirklich?«
»Wirklich nicht.«
»Wer das glauben könnte!«
»Warum wollt Ihr es nicht glauben?«
»Ihr seid zu schön dazu.«
»Ich bin arm, so arm und habe stets so einsam leben müssen. Da denkt man nicht an Liebe.«
»Aber die Männer, welche Euch sahen, müssen daran denken, wenn sie nicht von Stein sind.«
»Ich habe es Ihnen nicht geglaubt.«
»Auch mir nicht?«
»Auch nicht.«
»Vorhin nicht, aber jetzt doch wohl?«
»Auch jetzt nicht? Wie?«
»Nein.«
»Du glaubst es nicht, daß ich Dich liebe?«
»Wie sollte ich das glauben!«
»Aber Du siehst es ja! Du liegst an meinem Herzen; Du fühlst meine Küsse!«
»Das ist nur für diese Stunde.«
»Nein, für immer, für ewig.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ebenso brauche ich Dir nicht zu glauben, wenn Du sagst, daß Du noch nie geliebt habest. Wie sträubtest Du Dich vorhin, und jetzt bist Du so duldsam!«
»Muß ich denn nicht? Ist das eine Sünde?«
»Nein, eine Sünde ist es nicht, aber es widerspricht Deinem vorherigen Verhalten.«
»Ich weiß nicht, wie das ist und wie das kommt. Ich begreife mich ja selbst nicht. Es hat mich niemals ein Mann berühren dürfen. Auch Ihr solltet es nicht. Ich habe mich gewehrt. Aber als Ihr mich küßtet, da – – –«
Sie hielt inne.
»Was war da?«
»Ich kann es nicht sagen.«
»Sage es getrost. Zwei Personen, welche sich lieb haben, dürfen und müssen sogar sich Alles sagen.«
»Ich schäme mich.«
»Unsinn! Schäme ich denn mich, zu Dir von Liebe zu reden? Also, bitte, was war da, als ich Dich küßte?«
»Da kam ein Gefühl – – ein – – –«
»Ein Gefühl über Dich?«
»Nein, nicht über mich sondern durch mich. Es ging durch und durch, als wenn ich electrisirt worden wäre! es war wie allmächtig; ich konnte Euch nicht länger widerstehen.«
»Das ist die Liebe!«
»Ja, das ist die Liebe. Ich habe einmal in einem Buche gelesen. Es betitelte sich: Die Liebe, ihr Wesen, ihre seelischen Eigenschaften und ihre körperlichen Folgen. Darinnen stand geschrieben, daß – – –«
»Wie?« fiel er ihr erstaunt in die Rede. »In diesem Buche hast Du gelesen?«
»Ja.«
»Auch von den körperlichen Folgen der Liebe?«
»Ja. Es stand ja da, und so mußte ich es lesen.«
»Du warst eine Dame; Du hattest nie geliebt. Wie kommst Du zu diesem Buche?«
»Eine Freundin besaß es. Sie lobte es sehr; da wurde ich neugierig, und sie borgte es mir.«
»Waren etwa auch Abbildungen dabei?«
»Ja.«
»Donnerwetter! So ein Buch sollte niemals in weibliche Hände kommen.«
»Warum nicht? Muß das Weib dumm und unwissend sein? Darf das Mädchen nichts lernen? Darf es nicht wissen, welche Ansprüche später an ihren Körper gemacht werden? Fällt das Mädchen nicht viel leichter in Versuchung und Stricke, wenn es nicht weiß, was es nothwendig wissen muß?«
»Du magst Recht haben. Also was stand in dem Buche geschrieben?«
Er merkte gar nicht, daß die Schlaue, welche so vertrauensvoll und hingebend, so zart, so heilig und rein in seinen Armen lag, eine raffinirte Courtisane war und nur mit ihm spielte. Sie antwortete:
»Es stand darin: Wenn es bei einem Kusse so wie tausend Seeligkeiten durch den Körper schauert, das ist die Liebe. Und Derjenige, der so einen Kuß giebt, der ist der Richtige.«
»Dich hat es bei meinem Kusse so durchschauert?«
»Ja.«
»Wie oft aber schon vorher?«
»Es war zum allerersten Male. So ein Gefühl habe ich noch niemals gehabt.«
»So bin ich der Richtige?«
»Wenn das Buch die Wahrheit gesagt hat. Das Mädchen muß beim Kusse fühlen, daß es unmöglich ist, dem Küssenden zu widerstehen.«
»Zu widerstehen? Worin?«
»In Allem.«
»Ah! In Allem. Weißt Du, was Du sagst?«
»Ist es falsch? Habe ich vielleicht etwas Unrechtes gesagt, Sennor?«
»Nein. Im Gegentheile macht mich Das, was Du gesagt hast, außerordentlich glücklich. Ich ersehe daraus, daß Du mich liebst.«
Da schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn innig und antwortete:
»Ja, ich liebe Euch. Das muß ich gestehen; das kann und darf ich nicht verschweigen.«
»So nenne mich Du!«
»Nein.«
»Warum nicht.«
»Sich lieben, das giebt noch kein Recht dazu.«
»Was sonst?«
»Mann und Weib, Braut und Bräutigam sollen und dürfen sich Du nennen. Andere aber nicht.«
»Du wirst ja auch mein Bräutchen sein.«
»Noch bin ich es nicht. Noch ist es erst bewiesen, daß ich Euch liebe. Daß Ihr mich auch liebt, das habt Ihr mir zwar versichert, bewiesen aber nicht.«
»Ah! Beweise ich es denn nicht, indem ich Dich umarme und küsse?«
»Nein.«
»Du hast mir Deine Liebe ja durch ganz Dasselbe bewiesen!«
»Das ist etwas Anderes. Wenn ein Mädchen solche Umarmungen und Küsse duldet, so liebt es sicherlich; ein Mann aber ist, wenn er darf, mit Jeder zärtlich. Seine Küsse beweisen zwar sein Wohlgefallen, nicht aber seine Liebe. Er muß ganz andere Beweise bringen.«
»Nun, welche denn?«
»Thaten. Das Weib beweißt seine Liebe durch das Dulden und Leiden: das Weib ist passiv; es duldet die Liebkosungen, die Umarmungen, die Küsse des Geliebten. Der Mann aber muß handeln.«
»Nun, was müßte denn ich thun, um Dir zu beweisen, daß ich Dich wirklich liebe?«
»Es fällt mir nicht gleich Etwas ein – und doch. Soll ich Euch Eins sagen, was Ihr thun sollt?«
»Ja, sage es!«
»Vernichtet das Telegramm!«
»Das ist zu gefährlich.«
»Ist es nicht auch für mich gefährlich, Eure Liebkosungen zu erdulden?«
»Es kann mir an die Ehre gehen!«
»Kann es mir nicht auch an die Ehre gehen, wenn ich Euch glaube. Euch vertraue, mich Euch hingebe?«
*