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Wenn die Graphologie mehr wäre als eine Belustigung des Verstandes und des Witzes bei den einen und ein schwindelhafter Erwerbszweig bei den andern, wenn die Graphologie wirklich eine Wissenschaft wäre, auch nur eine unvollkommene Wissenschaft, so besäßen wir an ihr für die Praxis wie für die Theorie die wertvollste Disziplin. Für die Praxis wäre es von unvergleichlichem Nutzen, den Charakter oder die Persönlichkeit eines Menschen aus seiner Handschrift mit Sicherheit bestimmen zu können; denn die Handlungen eines Menschen folgen notwendig aus der Wirkung der äußeren Umstände auf seinen Charakter, und wer sich verheiratet, wer sich verdingt oder wer einen Diener aufnimmt, wer immer im Leben auf die Mitwirkung eines andern Menschen angewiesen ist, könnte sich mit Hilfe der Graphologie vor jeder unangenehmen Überraschung sichern. Womöglich noch größer wäre die theoretische Bedeutung für die Psychologie; da besäßen wir endlich die lang gesuchten Gesetze des influxus physicus; die alten Seelenvermögen, die vielverspotteten, kämen wieder zu Ehren und wären in ihren unmittelbaren Wirkungen an den Strichen der Handschrift nachzuweisen. Als ein witziger Zeitvertreib müßiger Menschen wäre die Graphologie nicht würdig, in einem Wörterbuche der Philosophie auch nur erwähnt zu werden; als eine schwindelhafte Methode, den Leuten ein bißchen Geld aus der Tasche zu ziehen, verdiente sie diese Ehre um so weniger, als die Aufzeigung des Unsinns einen überzeugten Graphologen ebensowenig belehren wird, wie ähnliche Anstrengungen einen Spiritisten heilen können. Ich will auch nur erstens eine Grenzlinie ziehen zwischen der Graphologie als einer vermeintlichen Wissenschaft, die aus Schriftzügen den Charakter erkennen lehrt, und der Graphologie als Kunde der Handschriftenvergleichung; ich will zweitens auf die Ähnlichkeit hinweisen zwischen dem graphologischen Kram, der gegenwärtig zu einer Mode geworden ist, und der Physiognomik, wie sie zur Zeit des jungen Goethe als gefährliche Epidemie Europa beherrschte. Graphologie im Sinne von Handschriftenvergleichung treibt jeder von uns unbewußt und dilettantisch sein Leben lang; wir erkennen, je nach der Ausdehnung unseres schriftlichen Verkehrs, Hunderte von Handschriften mit derselben unbedingten Sicherheit wieder, mit der wir Gesichter wiedererkennen, mit der wir die Stimme eines guten Bekannten wiedererkennen. Und die physiologische Psychologie hätte noch viel zu leisten, wenn sie genau erklären wollte, wie eines Menschen unveränderlicher Charakter, insofern es einen solchen gibt, den Gesichtszügen, der Stimme und am Ende auch der Schrift bestimmte Züge aufzuprägen pflegt; wobei nicht zu übersehen ist, daß die Eigenschaften eines Individuums die bei der Geburt mitbekommenen Züge nur sehr wenig verändern können, daß auch die Stimme vor allem durch die Ruhelage der Sprachwerkzeuge ihre Klangfarbe erhält, an der durch Lebensgewohnheiten nichts Wesentliches mehr geändert wird; daß aber die vom ersten Schreiblehrer übernommene Schreibart sofort individuell wird, wenn der Schüler sich ein geläufiges Schreiben angewöhnt hat; daher mag es gekommen sein, daß man, und nicht ganz mit Unrecht, die Gesichtszüge und das Sprechorgan eines Menschen mehr als Gaben der Natur ansieht, seine Handschrift mehr als seine Tätigkeit. Eine intime Psychologie weiß nun, daß schon die Einübung der Nervenbahnen äußerst kompliziert ist, die das eigentümliche Sprechen jedes Individuums hervorbringt, daß die Komplikationen beim Schreiben nur noch zahlreicher werden, und ein besonderer Zweig der Psychologie beschäftigt sich damit, wie die Sprechfehler und Versprechungen so auch die Verschreibungen zu ordnen und psychische Defekte aus solchen Versprechungen und Verschreibungen wahrzusagen. Nicht ganz so wissenschaftlich, aber immerhin auch nicht verächtlich sind die Systeme, mit deren Hilfe die sogenannten Schriftsachverständigen viel sorgsamer als wir es dilettantisch zu tun pflegen, die Frage zu beantworten suchen, ob zwei Handschriften von der gleichen Hand herrühren oder nicht. Es handelt sich da um keine Wissenschaft, sondern nur um eine durch Übung gesteigerte Aufmerksamkeit auf die einzelnen Striche, während wir Dilettanten unser Urteil nach dem Gesamtbilde fällen; wie der Sachverständige für Bilder durch Untersuchung der Pinselstriche etwa zu dem gleichen Urteile gelangt, das wir andern durch Betrachtung des Gemäldes gebildet haben. Bei einem fachmännischen Urteile darüber, ob zwei Handschriften von der gleichen Hand herrühren oder nicht, handelt es sich also nicht um ernsthafte Wissenschaft, doch aber vielleicht um eine methodische Schriftvergleichung. Wenn ein Mensch durch einen Revolverschuß getötet worden ist, so wird der geübte Sachverständige sicherer als der Laie erkennen, ob die in der Leiche vorgefundene Kugel dem Kaliber eines bestimmten Revolvers entspreche oder nicht; wenn ein Mensch durch einen anonymen Brief verleumdet worden ist, so wird der Schriftsachverständige besser als ein Laie – so sollte man meinen – angeben können, ob der Angeklagte den Brief geschrieben haben könne oder nicht. Daß die Schriftsachverständigen trotzdem von der öffentlichen Meinung nicht ernst genommen werden, hat besondere Gründe: das ganze Gewerbe hat einen Knax weg dadurch, daß einzelnen Sachverständigen in Sensationsprozessen Käuflichkeit nachgesagt worden ist; dazu kommt, daß der Formalismus des Prozesses jedesmal zu einer lächerlichen Farce wird, wenn man den Richter zwingt, dem Gutachten eines bezahlten Sachverständigen Bedeutung beizulegen; dazu kommt endlich, daß die Schriftsachverständigen (besonders in Frankreich) verschiedene Systeme haben, die leicht zu entgegengesetzten Urteilen führen können. Unter Graphologie versteht man aber gewöhnlich nicht diese methodische Prüfung von Schriftzügen, auch nicht die schon viel wissenschaftlichere Untersuchung, ob die Form einer Schrift (abgesehen von ihrem Inhalte) auf eine beginnende Geisteskrankheit hinweise; unter Graphologie versteht man gewöhnlich die angebliche Wissenschaft, die mit ihrem vollen Namen etwas unbequem Chirogrammatomantie heißt; die Chirogrammatomantie unserer Salons unterscheidet sich von der Chiromantie, die öffentlich nur noch von Zigeunern ausgeübt wird, dadurch, daß das eine Mal aus den Linien der Handfläche, das andere Mal aus den von der Hand gezogenen Linien wahrgesagt wird. Diese Chirogrammatomantie nun ist die eigentliche Graphologie, eine angebliche Wissenschaft, nach deren Systemen (besonders verbreitet ist das des Abbé Michon) der Schwindel der Wahrsagekunst so eifrig getrieben wird, wie einst mehr als tausend Jahre lang der Schwindel der Astrologie. Man lasse sich nur nicht irreführen von so allgemeinen Sätzen wie der ist, daß alles auf der Welt seine Ursache habe, die Gewohnheiten eines Menschen also (Gang, Stimme, Handschrift) ihre Ursachen haben müssen in seinen Charaktereigenschaften. Mit den gleichen Allgemeinheiten, bei denen die Charaktereigenschaften gröblich verdinglicht wurden, hatte man vor hundert Jahren die Torheit der Phrenologie verteidigt. Für die Torheit der Graphologie nur ein Beispiel, auf das ich übrigens schon vor Jahren hingewiesen habe. Mit einschmeichelnder Dummheit wird gelehrt: wer einen offenen Charakter hat, der läßt das Oval des o oben offen; ein versteckter Charakter schließt es. Danach wären ganze Völker heimtückischer als andere, die Römer und die Romanen heimtückischer als die Deutschen, weil sie die runde Schrift der eckigen vorziehen; das o des Sanskrit, das keine Spur einer Rundung aufweist und dem Beschauer gleich sechs Öffnungen darbietet, bewiese eine seltene Offenheit der alten Inder. Und die Schreiber des Runenalphabets, das um des Schreibmaterials willen alle Rundungen vermeiden mußte, wären wieder im Vergleiche mit den Römern die besseren Menschen gewesen. Ich sehe nicht ein, warum man nicht lieber aus der Offenheit des o auf die gute Verdauung und den offenen Leib des Schreibers schließen solle. Die Geschichte der Graphologie oder der Chirogrammatomantie kreuzt sich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts mit der Geschichte der Physiognomik. Lavaters Name braucht bloß genannt zu werden; und der junge Goethe nahm an der Torheit lebhaft teil wie, seinem Genius sei Dank, an mancher andern Torheit. Damals erstand dem gesunden Menschenverstande gegen Lavaters »transszendente Ventriloquenz« der Rächer in dem geistreichsten Deutschen, in dem häßlichen und verwachsenen Lichtenberg, der allen Grund hatte es sich zu verbitten, daß man einen Menschen nach seinem Äußern beurteilte, wie die Viehhändler die Ochsen beurteilen. Lichtenberg schrieb damals seine Abhandlung »Über Physiognomik«; wenn wir Deutsche einen Nationalstolz auf unsere besten Geisteswerke besäßen, so wäre diese Abhandlung bei uns so bekannt wie etwa in Frankreich die Meisterstücke eines Voltaire oder Montaigne, und ich hätte nicht nötig, auf das Meisterstück Lichtenbergs besonders hinzuweisen. Jedermann dächte dann wie ich: was Lichtenberg gegen Physiognomik vorbringt, das gilt heute noch gegen die Graphologie. »So erzählen die Schnitte auf dem Boden eines zinnernen Tellers die Geschichte aller Mahlzeiten, denen er beigewohnt hat, und ebenso enthält die Form jedes Landstrichs, die Gestalt seiner Sandhügel und Felsen mit natürlicher Schrift die Geschichte der Erde, ja jeder abgerundete Kiesel, den das Weltmeer auswirft, würde sie einer Seele erzählen, die so an ihn angekettet würde wie die unsere an unser Gehirn. Auch lag vermutlich das Schicksal Roms in dem Eingeweide des geschlachteten Tieres; aber der Betrüger, der es darin zu lesen vorgab, sah es nicht darin.« Wem fällt da nicht das schöne Wort Goethes über Lichtenberg ein: »Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.« Noch ähnlicher werden die Torheiten der Physiognomik und der Graphologie, wenn man diese Wissenschaften auf die Praxis angewandt denkt. »Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen. Es wird also eine neue Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen werden müssen – ein physiognomisches Autodafé.« Auch kennt Lichtenberg ganz genau schon den Grund, der solche Gewerbetreibende zu der Selbsttäuschung führt, aus den Linien der Hand oder des Gesichtes erraten zu wollen, was sie vorher erfahren haben: »Sobald man weiß, daß jemand blind ist, so glaubt man, man könnte es ihm von hinten ansehen.« Ich habe einst den Wunsch ausgesprochen, es möchte Lichtenbergs köstlichste Parodie, die aus Sau-, Hunde- und Perrückenschwänzen auf den Charakter ihrer Träger schließen lehrt, in eine Parodie der Graphologie übersetzt werden; aber der erstaunliche Lichtenberg hat schon selbst das Unwesen der Graphologen vorausgesehen und es wie das Unwesen Lavaters eingeschätzt: »Die Hand, die einer schreibt, aus der Form der physischen Hand beurteilen wollen, ist Physiognomik.« (Schriften I 205). Die Verbindung zwischen Physiognomik und Graphologie ist schon einmal hergestellt worden, ohne jede Bosheit, in feierlichem Ernste, von einem deutschen Professor, allerdings just von Professor Preyer, der überhaupt die Beschäftigung mit unkontrollierbaren Wissenschaften liebte. Und als ob Preyer den zuletzt zitierten Satz Lichtenbergs gekannt hätte, behauptet er immer wieder, daß die Hand für die Handschrift von sehr geringer Bedeutung sei, von entscheidender Bedeutung sei das Gehirn. Was ganz richtig ist, wie denn Preyer sehr gute Bemerkungen über die physiologische Psychologie des Schreibens gemacht hat. Ich halte mich im folgenden an seinen Aufsatz »Handschrift und Charakter«. (Deutsche Rundschau 1894.) Preyer bemerkt nicht, daß die Regeln des Abbé Michon, wie in dem Falle der Offenheit des o, regelmäßig die bildlichen Ausdrücke der Sprache wörtlich nehmen und darum allein schon sinnlos werden. Aufwärts gehende Zeilen sollen Optimismus anzeigen, abwärts gerichtete Pessimismus. Und so fort. Preyer bemerkt nicht, daß seine Berufung auf die graphischen Methoden der neueren Biologie (Kardiograph, Plethysmograph usw.) töricht sind; diese Methoden geben auf einem Blatte Papier richtige symbolische Zeichen oder Bilder, z. B. von den Blutbewegungen im Raume, wie die Kurve des automatischen Thermometers Zeichen von räumlichen Bewegungen gibt; die seelischen Vorgänge aber gehen nicht im Raume vor sich, die Schriftzüge geben darum keine deutbaren Zeichen von ihnen. Nur wo eine Charaktereigenschaft unmittelbar mit dem Material des Schreibens in Beziehung gesetzt werden kann, wie der Geiz oder der Schönheitssinn, da mag man aus der Handschrift auf den Charakter schließen; und wird sich auch da noch sehr häufig irren. Vollends auf die Art, wie auch Preyer die Eigenschaften des Charakters verdinglichen muß, um überhaupt zu festen Regeln zu gelangen, möchte ich doch nicht eingehen; der Spott wäre mir zu wohlfeil. Ein wenig lächeln mag man darüber, daß die glatte Bezeichnung Graphologie vom Abbé Michon erfunden worden ist, das abschreckend gründliche Wort Chirogrammatomantie von dem deutschen Graphologen Henze.