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So uralt das Wort anklingt, ist es doch erst vor wenigen Jahrzehnten aus England herübergekommen, wo die freiesten Menschen sich Agnostiker nennen, um das unschickliche Wort Atheist zu vermeiden. Die altchristlichen Agnoëten hießen so nicht, weil sie sich selbst zur Agnosie, zum Nichtwissen bekannten, sondern aus rein theologischen Gründen; sie gehörten zu der im Orient weitverbreiteten, zeitweise herrschenden Sekte der Monophysiten, sprachen dem Sohne Gottes nur eine Natur zu, die menschliche, und glaubten darum nicht an seine Allwissenheit. Und 1500 Jahre später führen Spencer und Huxley zur Schonung der respectability, das Schlagwort Agnostiker ein, um damit auszusagen (was doch schon in der Blütezeit der Scholastik immer gelehrt worden war): daß es eine doppelte Wahrheit gebe, daß Glauben und Wissen nicht vereinbar seien, daß der Mensch, das endliche Wesen, keinen Begriff habe von Gott, dem unendlichen Wesen. In Deutschland war der protestantische Theologe Ritschl (das Christentum Bismarcks soll Ritschlianismus gewesen sein) zu einem ähnlichen Standpunkte gelangt, da er lehrte, daß die Menschen nur Erscheinungen, Phaenomena erkennen könnten, den Gott aber nicht, weil Gott kein Phaenomenon wäre. Dieser Agnostizismus störte den ehrlichen Ritschl nicht in seiner Zuversicht auf Jesus, die korrekten Engländer nicht im Kirchenbesuch; wie denn dieser religiöse Agnostizismus eine um Jahrhunderte verspätete Höflichkeit gegen Gott zu sein scheint. Ernsthaften Agnostizismus würde nur Sprachkritik lehren, wenn sie die Begriffe Gott, absolut als Scheinbegriffe erkannt und die Begriffe unendlich, Wissen in ihrem historischen Wandel untersucht hat; nur daß diese skeptische Weisheit, die von Sokrates in die hübsche Formel gebracht worden war: »Ich weiß, daß ich nichts weiß«, doch wohl nicht gut zur Grundlage eines Systems, irgend eines -ismus gemacht werden kann.