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Bacon's Gespensterlehre

Boisserée berichtet gewissenhaft, wie Goethe ihm einmal, am 3. Oktober 1805, Beiträge zur Geschichte seiner philosophischen Entwicklung gegeben habe: »Philosophisches Denken; ohne eigentliches philosophisches System. Spinoza hat zuerst großen und immer bleibenden Einfluß auf ihn geübt. Dann Bacos kleines Traktätchen (?) de Idolis; Ε ἰδωλεις (?), von den Trugbildern und Gespenstern. Aller Irrtum in der Welt komme von solchen Ε ἰδωλεις Vielleicht sagte Goethe ε ἰδωλοις und Boisserée verstand ein bischen falsch; zu notieren für eine Doktorarbeit: »Über die Wirkung von Goethes phonetisch mangelhafter Aussprache auf die Überlieferung seiner Schriften und Gespräche.« (ich glaube, er nimmt deren 12 (?) hauptsächliche an). Diese Ansicht half Goethe sehr, sagte ihm ganz besonders zu. Überall suchte er nun nach dem Eidolon, wenn er irgend Widersprüche fand, oder Verstockung der Menschen gegen die Wahrheit, und immer war ein Eidol da. War ihm etwas widerwärtig, stieß man gegen die allgemeine Meinung, so dachte er bald, das wird wieder ein Eidol sein, und kümmerte sich nicht weiter. So reiste er nach Italien; da besonders wurde er immer von philosophischen Gedanken verfolgt und kam auf die Idee der Metamorphose. Als er nachher Schiller in Jena sah, teilte er ihm diese Ansicht der Dinge mit; da rief Schiller gleich: Ei, das ist eine Idee! Goethe mit seiner naiven Sinnlichkeit sagte immer: Ich weiß nicht, was eine Idee ist, ich sehe es wirklich in allen Pflanzen usw. Nun wollte er sich doch auch mit der Sprache und dem System dieser Männer bekannt machen; so kam er durch Schiller an die Kantische Philosophie, die er sich von Reinhold in Privatstunden vortragen ließ usw.« Goethe dachte da natürlich zunächst an die Paragraphen 38 bis 68 des ersten Buches von Bacons Novum organon. Ich hatte einmal dieses merkwürdige Stück kurz in meine Sprache übersetzt, oft recht frei in den Worten, doch getreu in der Sache, um die Übereinstimmung Bacons mit der Skepsis der Sprachkritik hervorzuheben. Idole hatte ich, ein Nachkömmling von Stirner und Ibsen, durch Gespenster übersetzt. Es war mir doch eine freudige Überraschung, daß ich mich bei dieser Freiheit auf Goethe hätte berufen können. Ich gebe meine Paraphrase hier als selbständigen Traktat; sie kann vielleicht bequemer als das Studium des dunkeln Novum organon in den Geist von Bacons Erkenntnistheorie einführen. Auf die oft überraschenden sprachkritischen Ergebnisse brauche ich nicht besonders hinzuweisen. Die Natur wird nur durch Unterwerfung besiegt. Der Mensch kann nichts tun, als daß er die Dinge, die auf seine Sinne wirken, einander so nahe bringt, daß sie aufeinander wirken, oder daß er sie bis zur Unwirksamkeit voneinander entfernt. Die alleinige Ursache und Wurzel fast alles wissenschaftlichen Unheils liegt darin, daß man die Kräfte der menschlichen Vernunft oder Sprache fälschlich bewundert und erhebt; die Feinheit der Natur übertrifft bedeutend die Feinheit der Sinne und der Vernunft. Sowie die scholastischen Wissenschaften nutzlos sind für die Kultur, so die bisherige Logik für die Entwicklung von Wissenschaften. Die Logik dient mehr dazu, die in den sprachlichen Begriffen steckenden Irrtümer zu befestigen, als die Wahrheit zu entdecken. Der Syllogismus bindet die Zustimmung, aber nicht die Sache; er besteht aus Sätzen, die Sätze bestehen aus Worten, die Worte sind Merkzeichen der Begriffe; sind daher die Begriffe verworren und voreilig abstrahiert, so kann der Bau auf solcher Grundlage keine Festigkeit haben. Es ist ein großer Unterschied zwischen den Idolen und den Ideen, zwischen den Gespenstern der menschlichen Sprache und den Beziehungen in der Natur. Die menschliche Auffassung, die man gemeinhin von der Natur hat, pflege ich Vorausnahmen aus der Natur zu nennen, Antizipationen. Diese Antizipationen sind recht gut für die Übereinstimmung unter den Menschen; da ja selbst, wenn die Menschen gleicherweise und gleichmäßig toll wären, sie dabei ganz wohl einig oder einstimmig sein könnten. (27.) Die Übereinstimmung in den Antizipationen gründet sich auf die Sprache. Auch wenn die geistvollsten Männer aller Zeiten sich verbänden, gemeinsam arbeiteten und alles sich mitteilten, würde durch die Vorausnahmen kein großer Fortschritt in den Wissenschaften erlangt werden, weil die radikalen, gleich bei dem Beginn der Arbeit einfließenden Irrtümer durch die Vortrefflichkeit der späteren Arbeiten und Hilfsmittel nicht wieder gut gemacht werden können. (30.) Die Gespenster der menschlichen Sprache halten die Vernunft so gefangen, daß die Wahrheit nur schwer Zutritt findet; würde aber dieser Zutritt dennoch gewährt und bewilligt, so würden bei der Erneuerung der Wissenschaften diese Gespenster immer wiederkehren und belästigen. (38.) Es gibt vier Arten von Gespenstern, die die menschliche Vernunft gefangen halten: die der Horde, die der Höhle, die des Marktes und die des Theaters. (39.) Die Gespenster der Horde haben ihren Grund in der menschlichen Natur selbst, in der Art und Weise des Menschengeschlechts. Es ist unrichtig zu sagen, daß der menschliche Verstand das Maß der Dinge sei; die Angaben des Verstandes oder der Sinne geschehen freilich nach der Natur der Menschen, aber eben nicht nach der Natur der Natur. Die menschliche Vernunft gleicht einem Spiegel mit unebenen Flächen; er entstellt die Natur. (41.) Die Gespenster der Höhle sind die Gespenster der einzelnen Menschen. Denn jeder Einzelne hat außer den Verirrungen der allgemeinen Menschennatur noch seine besondere Höhle oder Grotte, welche das natürliche Licht bricht und fälscht. Das ist eine Folge der besonderen Natur der Individuen, eine Folge der Erziehung und des Verkehrs, eine Folge der Bücher, die der Einzelne gelesen, der Autoritäten, die er verehrt hat; dazu kommen Unterschiede des Charakters, der Stimmung und dergleichen mehr. Die menschliche Vernunft ist also auch individuell ein veränderliches, sehr unruhiges und fast zufälliges Ding. (42.) Es entstehen auch Gespenster durch die gegenseitige Berührung und Gemeinschaft der Menschen; diese nenne ich wegen des verbindenden Verkehrs die Gespenster des Marktes. Denn die Menschen verkehren miteinander vermittelst der Sprache; die Worte aber sind zwischen den Menschen nach der Auffassung der Menge entstanden; daher behindert die schlechte und dumme Namengebung die Vernunft in merkwürdiger Weise. Die Definitionen, mit deren Hilfe die Gelehrten sich gegen die Sprache zu schützen pflegen, bessern die Sache keineswegs. Denn die Worte der Sprache vergewaltigen die Vernunft. (43.) Es gibt endlich Gespenster, welche erst aus philosophischen Systemen und aus der Logik in die Seele des Menschen eingedrungen sind und die ich die Gespenster des Theaters nenne; denn soviele philosophische Systeme erfunden und angenommen worden sind, ebenso viele Fabeln sind damit erfunden und aufgeführt worden. Die Philosophen haben aus der Welt eine Dichtung und eine Schaubühne gemacht. Ich meine nicht bloß die Welterklärungen der alten und neuen philosophischen Sekten, nicht bloß die Wortgebäude, die man gewöhnlich zur Philosophie rechnet; ich meine auch manche Prinzipien der Naturwissenschaften, die durch Nachsprechen, Leichtgläubigkeit und Schlendrian Geltung erlangt haben. (44.) Denn die menschliche Vernunft setzt nach der Natur der Sprache eine größere Regelmäßigkeit oder Gesetzlichkeit in den Dingen voraus, als man nachher in ihnen findet. Und obgleich in der Natur vieles nur einmal vorkommt oder voller Ungleichheiten ist, so legt die Sprache doch den Dingen viel Gleichlaufendes, Übereinstimmendes und Beziehungen bei, die es nicht gibt. Solch eitles Spiel wird nicht bloß mit Urteilen getrieben, sondern auch mit einfachen Begriffen. (45.) Die menschliche Sprache oder Vernunft hat eine Menge von Begriffen für richtig angenommen, weil sie von altersher gelten oder geglaubt werden oder weil sie gefallen; alles andere wird diesen Begriffen angepaßt, um sie zu stützen. Entgegengesetzte Instanzen werden nicht genug beachtet. Einem Cyniker wurden einmal in einem antiken Tempel die aufgehangenen Votivtafeln gezeigt, welche in der Gefahr gelobt und nach Errettung aus dem Schiffbruch geweiht worden waren; er sollte daraus das Walten der Götter erkennen. Der Cyniker fragte mit Recht: aber wo sind denn die Votivtafeln der anderen, die trotz ihrer Gelübde untergegangen sind? – So verhält es sich natürlich mit jedem Aberglauben. Man freut sich der eingetroffenen Fälle und merkt sie sich; die viel zahlreichern Gegeninstanzen werden übergangen. Aber in viel feinerer Weise kriecht dieser Denkfehler in der Philosophie und in den Naturwissenschaften umher; was einmal den Beifall der Menge gehabt hat, steckt alles Übrige an und unterwirft es sich. Selbst wenn dabei nicht die Freude und die Eitelkeit mitgewirkt haben, wie bei der vermeintlichen Erhörung durch die Götter, haftet der menschlichen Vernunft doch der eigentümliche Fehler an: sie neigt durch die Natur der Sprache mehr der Bejahung zu als der Verneinung, mehr der Gleichmachung als der Unterscheidung, während sie sich doch gegen beide gleich verhalten sollte. (46.) Der menschliche Geist wird nun zumeist von dem ergriffen, was ihn plötzlich packt und erschüttert; damit erfüllt sich die Phantasie, daran erhitzt sie sich; alles andere soll sich in unbegreiflicher Weise ebenso verhalten wie das Wenige, was plötzlich eingedrungen ist. Der menschliche Geist ist das Maß seiner selbst, nicht das Maß der Natur. Daher unser Unvermögen, einerseits das unendlich Große, anderseits das unendlich Kleine vorzustellen. Noch verderblicher zeigt sich die Ohnmacht der menschlichen Vernunft bei der Auffassung der Kausalität. Alle diese Begriffe gehören zu den Gespenstern der Menschenhorde. Dazu kommt die Trübung des Intellekts durch den Willen. Die menschliche Vernunft ist kein reines Licht, sondern sie wird beeinflußt von Gefühlen, von Interessen. Auf unzähligen Wegen und oft unmerklich drängen sich die Gefühle in das Denken und ändern es ab. Das allergrößte Hemmnis kommt aber in dem Menschen zustande von der Natur seiner Sinne. Was auf die Sinne wirkt, wird über all das gestellt, was die Sinne nicht unmittelbar angeht, wenn auch dieses Andere das Mächtigere sein sollte. So wurde bisher die unsichtbare Natur gegenüber der sichtbaren vernachlässigt. Auch die Veränderungen in den materiellen Dingen (Veränderungen, die minimale Bewegungen sind) sind uns in ähnlicher Weise verhüllt. Werkzeuge zur Erweiterung und Verschärfung der Sinne helfen nicht viel; die wahre Einsicht in das Wesen der Natur kann nur von besondern Fällen und geeigneten Versuchen kommen; die Sinne entscheiden dann über den Versuch, der Versuch aber über das Wesen der Sache. (50.) Die Vernunft oder die Sprache wird ihrer Natur gemäß zur Abstraktion gedrängt, zum Begriff; und der Begriff nimmt das Fließende für ein Beharrendes. Es ist aber wertvoller, alles in seine Bestandteile zu zerlegen, die Natur zu zerschneiden, zu analysieren als von ihr Abstrakta zu bilden. Die Atomistiker sind immerhin tiefer in die Natur eingedrungen als die Begriffsphilosophen. Es ist äußerst wichtig, die Gestaltungen und Umgestaltungen des Stoffes als Tätigkeiten oder Bewegungen kennen zu lernen und die sogenannten Gesetze dieser Bewegungen; die Formen, sind Erdichtungen der menschlichen Vernunft. Man müßte denn jene sogenannten Gesetze als das erkennen, was sie sind, als verbale Formen. Als Substantive sind sie Erdichtungen. (51.) So sind die Gespenster der Horde. Sie entspringen entweder aus dem überall gleichen Wesen der Menschenvernunft, aus ihrer Beschränktheit oder aus ihren Vorurteilen oder aus ihrer Unruhe oder aus dem Einfluß der Gefühle oder aus der Unzulänglichkeit der Sinne oder aus den Beziehungen zwischen den Sinnen und der Wirklichkeit. Die Gespenster der Höhle entstehen aus der besondern geistigen und körperlichen Natur der Individuen; auch, wie gesagt, aus der Erziehung, den Gewohnheiten und den Zufälligkeiten des Lebens. Die Fälle dieser Gattung sind zahlreich und mannigfaltig; ich will nur einige erwähnen, welche die meiste Vorsicht erfordern und besonders die Reinheit der menschlichen Einsicht schädigen. Es lieben nämlich die Menschen Spezialuntersuchungen, weil sie darin etwas geleistet haben oder auch nur, weil sie sich daran abgeplagt oder gewöhnt haben. Wenn solche Menschen dann zu allgemeinen Gedanken übergehen, so verdrehen und verderben sie sie durch ihre frühern Einbildungen. Dieses zeigt sich besonders deutlich bei Aristoteles, der seine Naturphilosophie zur Sklavin seiner Logik machte. Auch die Chemiker generalisieren leicht und schaffen aus einigen Laboratoriumsversuchen eine phantastische Philosophie. (54.) Alles wurzelt darin, daß manche besser auf die Unterschiede in den Dingen achten, manche auf die Ähnlichkeiten. Beide Neigungen geraten leicht ins Extrem. Es sind die feinsten und die überlegenen Geister, die die zartesten Ähnlichkeiten entdecken und verbinden, während konsequent scharfsinnige Geister leicht bei den Unterschieden stehen bleiben. Die einen greifen in die Luft nach Distinktionen, die sie nicht in Worten ausdrücken können, die andern greifen nach Worten oder Schatten. (55.) Manche Geister gehen auf im Studium der hergebrachten Ansichten, andere in leidenschaftlicher Hingabe an das Neueste. Nur selten finden sich Köpfe, die weder das Alte noch das Neue grundsätzlich verachten. Dieser Hang ist den Wissenschaften sehr schädlich; er führt zum Alexandrinismus hier und dort, niemals zu freien Urteilen. Die Wahrheit ist nicht an den Glanz einer bestimmten Zeit gebunden, dessen Leuchtkraft ja wechselt; Wahrheit wohnt im Lichte der Natur und der Erfahrung, dem ewigen Lichte. (56.) Die Gespenster des Marktes sind die lästigsten von allen; sie haben sich durch ein Bündnis der Worte und ihrer Bedeutungen im Geiste festgesetzt. Es glauben nämlich die Menschen, ihre Vernunft herrsche über die Sprache; aber die Worte haben wiederum Macht über die Vernunft; und davon ist die Philosophie sophistisch und unwirksam geworden. Die Worte entstehen nach vulgärer Weltauffassung und teilen die Weltdinge brutal nach den Zielen, welche dem vulgären Verstande einleuchten. Wenn dann schärferer Verstand oder genauere Beobachtung die Definitionen der Begriffe mit der Natur mehr in Übereinstimmung bringen möchte, so schreien die Worte dagegen. Darum endigen gelehrte Kämpfe so oft in Wortstreitigkeiten; es wäre besser, nach der klugen Art der Mathematiker zuerst die Worte und ihre Bedeutungen in Ordnung zu bringen. Aber in den Naturwissenschaften würde das nicht viel helfen; denn die Definitionen selbst würden aus Worten bestehen, und Worte zeugen Worte. (59.) Die Gespenster des Marktes oder der Sprache sind zweierlei Art: bald sind es Namen von Dingen, die es nicht gibt (denn so wie manche wirkliche Dinge aus Achtlosigkeit keinen Namen erhalten haben, namenlose Dinge, so gibt es dinglose Namen, von der Phantasie Gnade), bald sind es Namen von existierenden Dingen, aber konfus, schlecht definiert, voreilig und unordentlich abstrahiert. Zu den dinglosen Namen gehören Worte wie: Glück, Anfang der Bewegung, Planetensphäre, das Element des Feuers und ähnliche Hirngespinste. Es sind Theorien und Begriffe, an die eigentlich niemand glaubt, und die eines Tages gegen neue dinglose Begriffe umgetauscht werden. Die zweite Art entspringt aus schlechten und unvorsichtigen Abstraktionen, ist darum verwickelter und wurzelt tiefer. Das erste das beste Wort giebt ein gutes Beispiel. (Bacon's Beispiel vom Feuchten ist in der heutigen Sprache nicht gut wiederzugeben; warm wäre das entsprechende Wort, auch noch nach den Untersuchungen von Mach). In den Worten gibt es gewisse Stufen der Elendigkeit und Fehlerhaftigkeit. Weniger falsch sind die Namen für Stoffe, besonders für die untersten Arten. Kreide, Ton sind gute Begriffe; Erde ist schon ein schlechter Begriff. Schlimmer steht es um Tätigkeitsworte wie: erzeugen, verderben, verändern. Am schlimmsten um die Eigenschaften (abgesehen von den unmittelbaren Sinneseindrücken) wie: schwer, leicht, dünn, dicht usw. Wobei natürlich immer die Begriffe besser oder schlechter ausfallen, je nachdem sie direkt auf Sinneseindrücke zurückgehen oder nicht. (60.) Die Gespenster des Theaters sind dem Hordengeist der Menschen nicht angeboren und haben sich auch nicht heimlich und zufällig in die Individualgehirne der Menschen eingeschlichen; sie sind vielmehr aus den Fabeln der Philosopheme und aus den verkehrten Regeln der Logik entstanden. Es wäre da müßig widerlegen zu wollen; denn wo weder in den Grundsätzen noch im Gedankengange Übereinstimmung herrscht, da hört jede Möglichkeit des Verständnisses auf. So bleibt glücklicherweise das Ansehen der alten Philosophen gerettet. Ein Lahmer auf dem richtigen Wege kommt schneller vorwärts als ein verirrter Schnelläufer. Die Gespenster des Theaters oder der philosophischen Systeme sind zahlreich; sie wären noch zahlreicher, wenn die letzten Jahrhunderte nicht dem Errichten neuer Systeme hinderlich gewesen wären. Die besten Köpfe haben sich einseitig mit Religion und Theologie abgegeben; auch waren die Behörden, besonders in monarchischen Staaten, allen Neuerungen feindlich, selbst neuen Gedanken; so setzten sich die Neuerer der Gefahr aus, an Gut und Blut Schaden zu leiden, während die Konservatoren der alten Weisheiten Titel und Mittel als Lohn erhielten. Sonst hätten wir zu unserer Zeit so viele philosophische Sekten aufblühen sehen wie nur im alten Griechenland. Die Ähnlichkeit zwischen den philosophischen Systemen und den abendfüllenden Theaterunterhaltungen ist wirklich sehr groß; auch die historischen Dramen sind abgerundeter, eleganter und mehr nach dem Geschmack des Publikums als die Daten, auf denen sie beruhen. (62.) Die Erfinder dieser philosophischen Theatergespenster sind häufig Sophisten; ein Beispiel bietet Aristoteles, der seine Naturwissenschaft durch Dialektik verderbte, weil er die Welt aus seinen Kategorien herauskonstruierte, der ein schlechter Psychologe und ein ebenso schlechter Physiker war. Es war ihm überall mehr darum zu tun, daß man im Disput recht behielte und daß in Worten etwas herauskäme, was in seiner Sprache positiv klang; um die innere Wahrheit kümmerte er sich nicht. Man lasse sich nicht dadurch täuschen, daß er in manchen seiner Traktate von Experimenten redet. Denn er machte seine Experimente erst, wenn er seine Sätze willkürlich dekretiert hatte; erst hinterher mußte sich die Erfahrung, und mit wie verrenkten Gliedern, an seine Lehrsätze heranschleppen lassen. (63.) Die philosophischen Theatergespenster der entgegengesetzten Art, die der empirischen Wissenschaften nämlich, bringen noch ungeschlachtere und ungeheuerlichere Theorien hervor. Die Begriffssysteme der Sophisten gehen doch wenigstens von den allgemein geglaubten Sprachkategorien aus; die Empiriker aber generalisieren, was ihnen in kleinen und unerklärten Versuchen entgegengetreten ist (sie erklären und beschränken sich nicht darauf zu beschreiben). Vorsicht ist geboten. Denn ich sehe und sage voraus: wenn einst die Menschen meinen Rat befolgen und die Wissenschaften empirisch betreiben werden, dann wird der menschliche Geist wiederum vorschnell und in Gedankensprüngen Generalideen und Gesetze aufstellen, und die Systeme des Materialismus werden um nichts besser sein als die Systeme der Scholastik. (64.) Die Korruption der philosophischen Systeme durch Aberglauben und Theologie – ein weites Feld. Die Vernunft ist der Phantasie nicht weniger verfallen als den Einflüssen der Gemeinsprache. Die streitbare Scholastik erwürgt den Geist, die Phantasie mit ihrem dichterischen Schwulst bringt ihn weniger gewaltsam um. Denn die Menschen, besonders die bedeutenden, haben neben ihrem Willensehrgeiz auch einen intellektuellen Ehrgeiz. Daher stammen die gefährlichen Vergötterungen der Irrtümer. Die Pietät für eitle Gehirngespinste ist die Pest des Verstandes. Hat man doch bis in die jüngste Zeit Naturphilosophie auf Angaben der Bibel gründen wollen. Man hat das Lebendige unter dem Toten gesucht. Dabei leidet sowohl die Wissenschaft als die Religion. Man gebe doch nüchtern dem Glauben nur, was des Glaubens ist. (65.) Der menschliche Geist hat sich vor zwei Extremen zu hüten, welche Gespenster schaffen und ihre Macht zu verewigen suchen: dem Dogmatismus und dem Skeptizismus. Das eine Extrem ist schnell fertig mit dem Wort und lehrt Professorenweisheit; das andere predigt die sogenannte Akatalepsie, die Zurückhaltung jeglichen Urteils, und führt anstatt zum Kritizismus zu einer starr gewordenen Skepsis. So hat bis zur Gegenwart die Philosophie des Aristoteles zunächst die Schwesterschulen niedergeschlagen (wie die Türkensultane ihre Brüder ermorden), dann über jeden einzelnen Punkt ex cathedra ihren Ausspruch gefällt, Fragen und Antworten fertig gestellt, gegen alle Konkurrenz auf den Markt gebracht. Dagegen haben die Enkelschüler des Sokrates die ironische Zurückhaltung eingeführt, die Akatalepsie, zuerst Spaßes halber gegen die alten Sophisten, die alles zu wissen behaupteten. Daraus entstand eine neue Schule, welche wiederum die Akatalepsie, das Zurückhalten mit der Zustimmung, zum Dogma erhob und an deren leeren Sätzen so professionsmäßig festhielt wie die Peripatetiker an den ihren. Selbstverständlich ist die skeptische Lehre des Pyrrhon mit ihrem Verstummen anständiger als die scholastische Frechheit im Aufstellen von Lehrsätzen; sie leugnet die Möglichkeit, das Wahre zu finden, und hält sich an das Wahrscheinliche. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß die Menschen, wenn man sie an der Möglichkeit der Wahrheit erst verzweifeln lehrt, schlaff und dekadent werden. So endet der große Zug der Skepsis leicht in einem Spiele mit skeptischen Gedanken; anstatt die hohe Skepsis strenge auf Erkenntnistheorie oder Sprachkritik zu konzentrieren, wird ein skeptisches Geschwätz beliebt, eine geistreiche Bummelphilosophie. Für die praktische Orientierung in der Welt sind Sinne und Verstand ganz nützlich; da kann und mag viel zur Nachhilfe geschehen. Nur muß deren Schwäche für alle Erkenntniszwecke erkannt werden. (67.) Also muß den Gespenstern aller Art mit einem festen und feierlichen Entschlusse aufgesagt und aufgekündigt werden. Die menschliche Vernunft oder Sprache muß von diesen Gespenstern gründlich befreit und gesäubert werden. Und wenn die Kinderseele nicht schon bei der Geburt belastet wäre mit ererbten Gespenstern, eben den Gespenstern der Horde, so möchte ich sagen: der menschliche Geist sei vorurteilslos wie die Seele des neugeborenen Kindes, der Zutritt zum Erdenreich, welches auf das Wissen gegründet ist, sei nicht leichter als der zum Himmelreich, in das niemand kommen wird als die Kinder. (68.) Die schlechten Beweisarten der bisherigen Logik sind gleichsam Bollwerke und Hilfstruppen all dieser Gespenster; alle Dialektik geht darauf aus, die Wirklichkeitswelt da draußen dem menschlichen Denken zu unterwerfen, und das Denken wiederum den Worten. Man bedenkt nicht genug, daß die Daten unserer Sinne mangelhaft sind, daß darum unsere Begriffe verworren sind, nicht bestimmt und wohldefiniert genug, und daß vorschnelles Generalisieren uns so zu obersten Leitsätzen führt, nach denen sich nachher die entscheidenden Schlüsse zu richten haben. Die wissenschaftliche Sprache ist immer geneigt, bei der einfachen Beschreibung des Versuchs nicht stehen zu bleiben. Ist ein Horoskop einmal zufällig richtig gestellt worden und hält man diesen Zufall für eine Erfahrung, so kann man allerdings versucht werden, die Bewegung der Gestirne für Anzeichen menschlicher Schicksale zu halten; erst ein Einblick in eine Ursächlichkeit würde das Wunderbare aufheben. Unsere Wissenschaften haben wir immer noch von den Griechen; wenig und unwichtig ist, was die Römer, die Araber und die Modernen hinzugefügt haben; aber die Zunftsprache und die Disputierkunst der Griechen war der Erforschung der Wahrheit nicht günstig. Nicht nur Protagoras und Gorgias, sondern auch Platon und Aristoteles waren Sophisten. Beide Gruppen waren, sonst verschieden an Vornehmheit und Anstand, dem Zunftgeist ergeben und hatten es auf Wortgefechte abgesehen. Dionysios von Syrakus hatte nicht unrecht, als er zu Platon sagte: Was du sagst, ist Greisengeschwätz. Die Werke der ernsteren und tieferen Philosophen aus der älteren Zeit sind von der leichteren Gattung verdrängt worden; denn die Zeit ist wie ein Strom, führt uns das Leichte und Aufgeblasene zu und läßt das Schwere und Feste untersinken. Schon ein ägyptischer Priester hat von den Griechen gesagt: »Sie bleiben ewig Kinder, haben weder das Alter der Wissenschaft, noch die Wissenschaft der Alten«; wahrlich, wie die Knaben sind die Griechen: allzeit bereit zum Schwätzen und nicht fähig zu zeugen. (71.) Die Griechen waren nicht einmal auf der kleinen Erde zu Hause. Nicht über ein Jahrtausend erstreckte sich ihre Geschichtskenntnis, und die bestand aus Sagen und Fabeln. Räumlich waren ihre Kenntnisse nicht besser; alle nördlichen Völker nannten sie Skythen, alle westlichen Kelten. (72.) Schon der Arzt Celsus hat das Urteil der Empiriker zitiert: niemals sei ein Arzneimittel durch wissenschaftliches Denken gefunden worden. Die weisen Ägypter, welche Erfindern göttliche Ehren erweisen wollten, taten ganz recht daran, mehr Götzenbilder von unvernünftigen Tieren als von Menschen aufzurichten; denn die Tiere haben durch ihre Instinkte mehr Entdeckungen veranlaßt als die Menschen mit ihren Reden und Schlüssen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen; die Dialektik hat anstatt Weintrauben und Feigen nur die Disteln und Dornen der Disputation hervorgebracht. (73.) Die Natur wächst und vermehrt sich; was aus dem Denken der Menschen hervorgeht, verändert sich nur, ohne zu wachsen und ohne sich zu vermehren. Unsere Wissenschaften sind vom Stamme losgerissene Reiser; darum nehmen wir an ihnen seit 2000 Jahren kein Blühen mehr wahr. (74.) Die gegenwärtigen Naturforscher haben schon eine Ahnung von diesem Sachverhalt; sie klagen genug über die Feinheit der Natur und über die Stumpfheit des menschlichen Geistes. Auch diese Klagen verallgemeinern sie wieder, anstatt die bisherige Methode der Forschung anzuklagen. Sie wollen die Unwissenheit verewigen. So lehren sie z. B., daß die Wirkungen der Sonne und des irdischen Feuers nicht nur dem Grade nach, sondern auch der Art nach verschieden seien, nur damit nicht durch künstliche Wärme mit der Naturwärme um die Wette Arbeit geleistet würde. (75.) Es ist nicht wahr, daß Aristoteles alle früheren Systeme überwunden habe; nur durch den Zufall der Barbaren-Invasion und des allgemeinen Schiffbruchs sind eben die leichteren Tafeln des Platon und Aristoteles oben geblieben. Auch ist es nicht wahr, daß die Übereinstimmung aller Scholastiker etwas für Aristoteles beweise. Die meisten Aristoteliker haben sich ihrem Meister auf Autorität hin, aus Vorurteil, sklavisch unterworfen, so daß man eher von Nachbeterei und blinder Sektiererei sprechen sollte, als von Übereinstimmung. Und selbst wenn Übereinstimmung geherrscht hätte, so spräche das eher gegen als für Aristoteles. Denn in geistigen Dingen ist der Schluß aus dem allgemeinen Beifall ein elender Schluß; Angelegenheiten der Religion und des Staates natürlich ausgenommen, wo der consensus omnium – für die Regierenden – sehr angenehm sein mag. Phokion lehrte sehr weise: »Wenn man die Zustimmung der Menge erhielte, müßte man sogleich untersuchen, wo man da eine Dummheit gemacht hätte.« Diese Regel läßt sich aus der Welt des Handelns auch auf die des Erkennens übertragen. (77.) Nachdem ich so den leidigen Zustand unserer Erkenntnis dargelegt habe, müßte ich noch die Ursachen dieses Stillstandes aufzeigen. Es ist fast wunderbar, daß ich in dieses Dickicht hineinzuleuchten vermag; eigentlich aber ist es nicht mein Verdienst, sondern es ist eine Geburt der Zeit, die mit diesen Gedanken schwanger war. (78.) Als nach der kurzen Blüte der Wissenschaften (bei den Griechen) und einigen Bestrebungen der Römer und Araber das Christentum im Abendlande sich siegreich ausgebreitet hatte, gab es nur für Theologen Schulen und Pfründen, und so wandten sich die besten Kräfte der Theologie zu. So kam es, daß nur selten ein Mönch oder ein vornehmer Herr Naturforschung um ihrer selbst willen trieb. (79.) Die große Mutter aller Wissenschaften wurde zur Magd erniedrigt, sollte bei unwissenden Ärzten Handlangerdienste tun, unreifen Buben die Rotznase wischen; Naturwissen sollte wie ein Aperitiv genommen werden, damit nachher das theologische System desto besser wirken könnte. (80.) Damit in einigem Zusammenhange steht, daß die Wissenschaften auch wegen des fehlenden Ziels nicht vorwärts kommen konnten. Die Bereicherung des Menschengeschlechts mit neuen Kräften und Erfindungen ist das wahre Ziel. Der große Haufe aber arbeitete handwerksmäßig um des täglichen Brotes willen; wenn aber einmal ein einzelner die Naturwissenschaft um ihrer selbst willen liebte, so lag ihm das Aufsuchen der Naturgesetze mehr am Herzen als ihre Anwendung auf das Menschenglück, denn das sollte ja auf der Erde überhaupt nicht gesucht werden. (81.) Doch auch die Einsicht in den wahren Zweck alles Naturwissens hätte nichts helfen können, solange kein Sterblicher danach trachtete, dem menschlichen Geiste von den Sinnen und der Erfahrung aus einen Weg zu bahnen, solange alles dem Dunkel der Überlieferung, dem bodenlosen Strudel der Logik, den Wellen des Zufalls, kurz einer wüsten und rohen Erfahrung überlassen blieb. Insbesondere die Logik oder Dialektik, die anstatt von der Beobachtung immer von den überlieferten Begriffen ausgeht, entdeckt nichts, führt vielmehr immer wieder zu Tautologien. (82.) Die schon erwähnte Einstimmigkeit in der Pietät für Aristoteles und für die Griechen überhaupt, die Überschätzung des Altertums, hat uns behext. Noch einmal: die Weisheit des Greisenalters ist bei uns, das sogenannte Altertum war die Jugendzeit. Man hat jetzt den Horizont auf der Erdkugel unendlich ausgedehnt, will aber den geistigen Horizont immer noch nach den alten Autoren richten; will nicht einsehen, daß der Autor aller Autoren für uns spricht: die Zeit. (84.) Ebenso verkehrt ist die Ehrfurcht vor den Bücherschätzen unserer Bibliotheken. Wer erst bemerkt hat, daß die Wiederholungen kein Ende nehmen, daß die Gelehrten immer dasselbe treiben und reden, der wird nicht mehr über den Reichtum, sondern über die Dürftigkeit des menschlichen Wissens staunen. Die wahre und letzte Ursache der Armut ist die Meinung, reich zu sein. Zwischen den Leuten, welche auf scholastischen Wegen den Stein der Weisen suchten, und denen, die nach meiner Methode arbeiten werden, ist der gleiche Unterschied wie zwischen den Helden der Romane, wie Amadis von Gallien (und König Arthur) einerseits und den wirklichen Helden Alexander und Cäsar andererseits. Wir wissen nicht, ob wir über solche Helden von der traurigen Gestalt lachen oder weinen sollen. (85-87.) Nicht soll vergessen werden, daß noch weit öfter bei uns als bei den Griechen der Ruchlosigkeit gegen die Götter beschuldigt wurde, wer den Menschen die natürlichen Ursachen des Geschehens aufdecken wollte. Aberglaube und Religionseifer haben sich gegen jede Neuerung erklärt. Besonders seitdem die scholastische Theologie, zur Erhöhung der Kirchenmacht, mit der streitsüchtigen und dornigen Philosophie des Aristoteles zu einem festen System verbunden worden ist. In diesen Mischmasch von Theologie und Philosophie wird nichts Neues hineingelassen, auch wenn es das Bessere ist. Man hat ein böses Gewissen: die Erforschung der Natur könnte Wahrheiten ans Licht bringen, die sich mit Glaubenssätzen nicht vertrügen; so will man Gott mit Lügen dienen. Auch unsere Schulen, die eben auch von Theologen gestiftet worden sind, halten am Alten fest. (89.) Auch der Lohn fehlt den Erneuerern der Naturforschung. Der Betrieb der Wissenschaften und ihre Belohnung ist nicht beisammen. Wachsen kann das Wissen nur durch hervorragende Geister; staatliche Belohnungen stehen beim Pöbel (der öffentlichen Meinung) und bei den Fürsten und ihren Ministern. (91.) Die bisherigen Philosophen nannten sich entweder Empiriker oder Rationalisten; sie gebrauchten aber eine schlechte Erfahrung, eine schlechte Vernunft. Die Empiriker schleppten zusammen wie Ameisen; die Rationalisten zogen ihr Gewebe aus sich selber heraus wie Spinnen; wir sollten das Verfahren der Bienen nachahmen, die den Stoff von überall her sammeln, ihn aber nachher durch eigene Kraft bearbeiten. (92-96.) Wenn ich meine eigene Wegweisung mit der Leistung Alexanders d. Gr. vergleiche, wird man das eitel nennen. Ich meine es aber nicht anders als so: Livius fand Alexanders Größe in seiner Tapferkeit, die hohle Eitelkeit der Perser zu verachten. So möge man einst von mir sagen: Er hat nichts Großes geleistet; aber er hat die Kleinheit dessen eingesehen, was man zu seiner Zeit groß nannte. (97.) Was man bis jetzt Erfahrung genannt hat, war keine wirkliche Erfahrung. Man hat es im Naturwissen bisher so gehalten, wie wenn ein Staatslenker nicht die Berichte glaubwürdiger Gesandter, sondern Straßengeschwätz und Stadtklatsch zur Grundlage seiner Entschlüsse machen wollte. Künstliche Versuche, Experimente hat man überhaupt niemals angestellt. Wie die Denkungsart eines Menschen und seine geheimen Neigungen erst unter dem Einflusse von Leidenschaften sichtbar werden, so offenbaren sich die Geheimnisse der Natur unter dem Drängen und Pressen künstlicher Veranstaltungen besser, als wenn Alles seinen Gang geht. Die lichtbringenden Experimente sind noch wertvoller als die fruchtbringenden. (98-99.) Die Teilung der Arbeit im wissenschaftlichen Betriebe muß in ihren schädlichen Wirkungen aufgehoben werden: durch Sammlung, Ordnung aller Erfahrungen, durch Erfindungstafeln, vor allem aber durch eine Revolution der bisherigen Logik; mit äußerster Geistesanstrengung muß an Stelle der bisherigen Syllogistik eine neue Induktion treten, um mit ihrer Hilfe nicht gleich neue Prinzipien, sondern erst klare Begriffe zu erhalten. Auf einer Kritik unserer Begriffe beruht unsere größte Hoffnung. (100-107.) Es ist unabsehbar, was man alles zum Nutzen der Menschheit erfinden könnte, wenn der menschliche Verstand seine Vorurteile und seine Gespenster los würde. Es mag zugegeben werden, daß zur Erfindung des Schießpulvers oder des Kompasses irgendein Zufall mithelfen mußte; aber die Buchdruckerkunst hätte doch mit einigem Verstand schon viel früher erfunden werden müssen. (110.) Ich habe diese Fortschritte gewiesen, überhäuft mit Geschäften, nicht mit der besten Gesundheit ausgestattet, als Erster bei diesem Unternehmen, ganz allein, ohne Möglichkeit, mit einem andern Menschen mich zu verstehen; und ich weiß, daß geschäftefreie Menschen in gemeinsamer Arbeit, im Laufe der Zeit auf meiner Bahn Großes erreichen werden. Und wäre ich dessen nicht so sicher, wehte der Wind von den Küsten einer neuen Welt nicht so stark und unverkennbar herüber, wir müßten dennoch den Versuch machen, aus der Stagnation unseres elenden Naturwissens hinauszukommen. (113. 114.) Es kann sich mir gar nicht darum handeln, den vielen philosophischen Systemen ein neues System hinzufügen zu wollen; nur die Macht der Menschen über die Natur möchte ich auf festeren Grund bauen helfen. Ich werde die Vollendung meiner eigenen Gedankenwelt nicht erleben; ich werde nicht selbst die praktischen Konsequenzen ziehen; aber ich weiß, daß ich den Weg gewiesen habe. (116.) Es kommt gar nicht darauf an, ob ich im Einzelnen geirrt habe. Irrtümer sind im Beginn eines solchen Unternehmens unvermeidlich. Sie haben nicht mehr Bedeutung als Schreib- oder Druckfehler. (118.) Ich möchte den alten Scherz auf mich anwenden: Wassertrinker und Weintrinker können einander nicht verstehen. Die vor mir waren, die Alten und die Modernen haben Wasser getrunken. Quellwasser wenigstens die Alten, durch dialektische Maschinen gehobenes Grundwasser die Neueren. Ich aber trinke und halte feil einen Wein aus reifen und ausgelesenen Trauben, aus unzähligen, die ich gekeltert habe, die sich geklärt haben oder noch klären werden. Mit den Wassertrinkern kann ich nicht streiten. (123.) Natürlich wird man mir einwenden, daß ich durch mein Ziel, das der Nutzen der Menschheit ist, von der Würde und Hoheit der Philosophie herabgestiegen sei; die Betrachtung der Wahrheit sei erhabener als alle Nützlichkeit. Gewiß. Das ist auch meine Meinung. Nur daß ich zu einem Nutzen für die Menschheit gar nicht gelangen kann, wenn ich nicht auf meinem neuen Wege ein wahrheitsgetreues Bild von der Welt erlange. Und um dieses Bild zu ermöglichen, müssen vorher die Affenbilder der Welt zerstört, die Gespenster hinausgejagt sein. Was nicht wahr ist, kann nicht nützlich verwandt werden. So wird der Nutzen meiner Ideen zu einem Probierstein für ihren Wert. (124.) Ich bilde mir nicht ein, alles zu wissen, wie die Scholastiker es sich eingebildet haben. Ich bescheide mich, ohne Skeptiker zu sein. Die Zeit wird kommen, wo man meine Naturanschauung auch auf die Logik, auf das Staatsleben und sogar auf die Moral anwenden wird. (126.) So Bacon von Verulam, im Jahre 1620.

 


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