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I.
Ordnung ist ein Menschenbegriff. In der wirklichen Natur gibt es weder Ordnung noch den Wunsch nach Ordnung. Auch im Menschenhirn, weil es wirkliche Natur ist, gibt es keine Ordnung; wohl gibt es aber da einen Ordnungssinn, eine Sehnsucht, zuerst das Wissen um eine bestimmte Disziplin, dann alles Wissen überhaupt methodisch zu ordnen, in einem System beisammen zu haben, das ganze Wissensgebäude der kommenden Generation in einer Encyklopädie zu übergeben. Man achte darauf, wie menschliche Bilder in allen diesen Begriffen stecken. Methode, μεϑοδος, ist der Weg, den man beim Verfolgen einer Idee einschlägt; Wege gibt es nicht in der Natur. System, συστημα, war ursprünglich wohl eine taktische Einheit im Heere, eine Zusammenstellung von Soldaten, dann ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Ganze, insbesondere das organische Ganze einer Wissenschaft; wenn die Vorstellung eines Organismus dabei mehr wäre als ein Bild, so könnte man sich darauf berufen, daß in der Natur Einheiten, aus Teilen bestehende Ganze, Organismen, vorhanden seien, obgleich eine schärfere Aufmerksamkeit lehrt, daß wir auch die Begriffe Einheit, Teil und Ganzes erst in die Natur hineingetragen haben; sicherlich ist es aber nur ein bildlicher Ausdruck, wenn wir ein geordnetes Wissen mit einem lebendigen Organismus vergleichen; unser Wissen ordnen wir wirklich nach Rücksichten der Zweckmäßigkeit, in die lebendigen Organismen ist die Vorstellung der Zweckmäßigkeit erst künstlich hineingetragen worden. (Vergl. Art. Endursachen.) Besonders zweckmäßig mußte das Wissen für den Schulunterricht angeordnet werden; der Haufe eines solchen, je nach dem Zeitgeschmack allgemein verlangten Wissens hieß bei den Griechen die Encyklopädie, ἡ ἐγ κυκλιος παιδεια, der gewöhnliche Unterricht, die triviale Erziehung, wobei die Etymologie von ἐγ κυκλιος, was im Kreise herumgeht, was sich in den Schwanz beißt, vielleicht mitgewirkt haben mag. Das Mittelalter nannte später diese Encyklopädie für die Knaben der besseren Stände die artes liberales, was wir heute noch ganz buchstäblich und schlecht mit freie Künste zu übersetzen pflegen; es bedeutete eigentlich: anständige Kenntnisse. Als die Schulmeister diese sieben freien Künste in zwei Gruppen teilten, das quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) und das trivium (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), da ergab sich die spaßige Zweideutigkeit, daß trivialis sich sowohl auf den dreifach geteilten Schulunterricht der höheren Jugend als auf die Gemeinheit (im übeln Sinne) beziehen konnte; aber trivialis hatte diesen Doppelsinn schon im klassischen Latein. Und in meiner Jugend sprachen meine geistlichen Gymnasiallehrer noch verächtlich von den Volksschulen oder Klippschulen als von Trivialschulen und dachten dabei gewiß nicht an das Trivium des Mittelalters. Erst mit dem Aufblühen der Wissenschaften, der sogenannten Renaissance, entwickelten sich, über das theologische und praktische Bedürfnis hinaus, die Gelehrtenanstalten, an denen alles Wissen der Zeit vorgetragen wurde, und sie wurden mit einem billigen Summenworte universitates genannt; jede von ihnen ein Inbegriff, der das Ganze des menschlichen Wissens umfassen sollte. Schon vorher hießen die Bücher, aus denen man jedes Wissen über Gott und die Welt schöpfen konnte: summae. Die Mode der Renaissance nahm das griechische Wort wieder auf und hielt wohl eine encyclopaedia für vornehmer und für wissenschaftlicher als eine summa. Ich möchte an dieser Stelle, wo von dem Bedeutungswandel der obersten Schulmeisterausdrücke die Rede ist, die Vermutung wiederholen, daß der berühmte Satz des Pythagoras: μηδεις ἀγεωμετρητος εἰσιτω, niemand dürfe ohne Kenntnis der Geometrie sein Schüler werden, vielleicht doch nicht, wie man das jetzt auffaßt, eine besondere Hochschätzung der mathematischen Wissenschaft verriet; die Encyklopädie wurde bei den Griechen auch τα ἐγϰυϰλια μαϑηματα genannt, und unter diesen μαϑηματα wurde allerdings die Geometrie für besonders nützlich gehalten; vielleicht hieß der Satz nicht viel mehr als unsere viel umstrittene Bestimmung: Niemand darf die Universität ohne Abiturientenexamen besuchen. Als nun seit Bacon das theologische und logische Wissen der summae an Ansehen sank und eine Menge wirklicher Kenntnisse gesammelt wurde, fiel es immer schwerer, an die Ganzheit, die Rundheit, an ein inneres System aller Wissenschaften zu glauben. Bescheidenere Gelehrte, wie unser Morhof, verzichteten darauf, ihren Lesern eine Encyklopädie zu bieten und standen dieser Bezeichnung skeptisch gegenüber; sie versprachen nur einen großen Haufen von wissenswerten Kenntnissen: Polymathie, Polyhistorie. Natürlich waren solche Bücher möglichst systematisch geordnet; wer sich aber aus ihnen Belehrung holen wollte, der mußte den gesuchten Gegenstand erst im Index nachschlagen; und der Index war alphabetisch geordnet. Da lag es nahe, was freilich schon früher hie und da in kleinerem Umfange versucht worden war, alles zugängliche Wissen gleich von vorn herein alphabetisch nach Schlagworten aneinanderzufügen und für die Darstellung auf jede Systematik zu verzichten. Die moderne Encyklopädie war erfunden. Die Wirkung auf die Zeitgenossen war durch den Mangel eines Systems nicht geringer; die beiden großen Encyklopädien, die des 17. und die des 18. Jahrhunderts, haben welthistorische Bedeutung und lassen sich in ihrer Wirkung recht gut mit der Summa von Thomas vergleichen. Das historische und kritische Wörterbuch von Pierre Bayle war und blieb durch mehr als ein Jahrhundert das Konversationslexikon aller skeptischen Geister. Trotz seiner unhandlichen Ausgabe in riesigen Foliobänden legt man es nicht gern aus der Hand; ich wenigstens konnte oft stundenlang nicht wieder loskommen, wenn ich es einmal geöffnet hatte. Pierre Bayle liest sich bald wie Voltaire oder Lessing, bald (namentlich in den gepfefferten Anmerkungen zu manchen nüchternen Artikeln aus dem Gebiete der Mythologie und Theologie) wie ein altmodischer Heinrich Heine. Der Dictionnaire Historique et Critique ist die einheitliche Schöpfung einer starken Persönlichkeit, eines eminent kritischen Geistes. Aber Pierre Bayle steckte doch wieder in der Scholastik, was den Umfang seines Wissens betrifft. Daß Mathematik und Naturwissenschaften zur allgemeinen Bildung gehörten, zu einer Encyklopädie, war ihm noch ein fremder Gedanke. Man wird den Namen Newton vergebens suchen, trotzdem dessen Hauptwerk zehn Jahre vorher erschienen war. Die Gesamtheit des Wissens bestand für Bayle in dem Erbe des Mittelalters: in der antiken Weltanschauung oder der klassischen Gelehrsamkeit und in der christlichen Spekulation, mit welcher die scholastische Philosophie unlösbar verquickt war. Mit bewunderungswertem Scharfsinn und Witz hat Pierre Bayle die Summe dieser Kenntnisse gezogen und jeden einzelnen Posten kritisch analysiert. Die Wirkung seines Wörterbuchs war gewaltig; sie ist vielleicht bis heute nicht ganz ermessen und nicht ganz erschöpft. Es war kein kleines Verdienst von Gottsched, ein Verdienst um Deutschland, daß er dieses freie Werk in sein ledernes Deutsch zu übersetzen wagte. Lessing und Goethe haben sich entscheidende Anregungen aus dem Bayle geholt. Ich glaube, daß die folgenreichen Beziehungen von Goethe zu Spinoza mit der Lektüre von Bayle anfingen, trotzdem gerade der Artikel Spinoza nicht gerade ein Ruhmestitel des großen Wörterbuches ist. Womöglich noch größer war der Einfluß, welchen das Wörterbuch des 18. Jahrhunderts ausgeübt hat, das Werk, welches man par excellence die Encyklopädie zu nennen pflegt und dessen Mitarbeiter die Encyklopädisten heißen. Ich werde auf das System, das Diderot seinem Unternehmen bewußt zugrunde legte, noch zurückkommen; hier handelt es sich mir darum, auf den Umfang des damals anständigen Wissens hinzuweisen. Die Encyklopädie behandelt auch staatswissenschaftliche Fragen und ist dadurch eine Mitursache der großen französischen Revolution geworden. Nach einem englischen Vorbilde war sie entstanden; englische Staatslehre wurde gelehrt, aber auch der Sinn der Engländer für die Nützlichkeit des Wissens war vorbildlich. Französisch war das rücksichtslose Vorgehen gegen die Autorität der Kirche und überhaupt die logische Konsequenz. In etwa 40 großen Bänden wurden außer allen Geisteswissenschaften auch Mathematik, Naturwissenschaft und Technologie mit einer ganz neuen Tendenz behandelt. Die Encyklopädie ist das Konversationslexikon der Aufklärung. Die Aufklärung war nicht skeptisch, am wenigsten in Frankreich; an den Dogmen der Kirche zu zweifeln, das war nicht mehr Skeptizismus. Die Aufklärung hatte ein neues Dogma: den Glauben an die Allmacht der menschlichen Vernunft. Religion und Staat, Kunst und Sprache erschienen und wurden dargestellt als Fabrikate des bewußten Menschengeistes. Es ist vollkommen im Sinne der Encyklopädie, wenn die Revolution eine ungeheuerliche Komödie in Szene setzte: das Fest der Göttin Vernunft. Hegel hat einmal einen unübertrefflichen Witz gemacht: die französische Revolution habe alles auf den Kopf gestellt, also auf den Gedanken (wie er selbst, möcht' man sprechen). Die Andacht zur Vernunft und zum Raisonnieren spricht sich schon im Titel des Werkes aus: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Der Umfang des anständigen Wissens, der Umfang einer Encyklopädie war so angewachsen, daß der merkwürdige Fall eintrat: nur das bißchen Menschenwissen sollte gesammelt werden, und nur für die Benützung bescheidener Menschen geordnet, und dennoch konnte diese Arbeit nicht mehr von einem Einzelnen bewältigt werden; das gesamte Menschenwissen war in keinem Individuum mehr vereinigt. Diderot, der Meister der Wirklichkeitsbeobachtungen, hatte sich mit dem ausgezeichneten Mathematiker d'Alembert verbunden; sie hatten mehr als 30 Fachgelehrte und Schriftsteller als Mitarbeiter gewonnen, unter ihnen bekanntlich Rousseau und Voltaire. Keinem von ihnen schwebte das künftige Ziel so deutlich vor wie dem gelehrten d'Alembert, dessen glänzende Vorrede heute noch an der Spitze einer Encyklopädie stehen könnte, eines Konversationslexikons; das Ziel: alle wissenswerten Kenntnisse der Zeit in einem einzigen Buche schnell zugänglich zu machen. Nur darin unterscheidet sich das moderne Konversationslexikon von den alten Encyklopädien, daß sie nicht mehr die Lebensarbeit eines einzigen Mannes sind, aber auch nicht mehr die gemeinsam gerichtete Arbeit einer geschlossenen Gruppe. Die großen deutschen Realwörterbücher von Brockhaus und Meyer brauchen hier nicht gelobt zu werden; sie sind wirklich unentbehrlich geworden. Aber Brockhaus und Meyer sind so wenig Kulturkämpfer, daß Fachleute aus allen Wissenschaften (freilich keine Forscher und keine glänzenden Schriftsteller) Mitarbeiter sein können, unbekümmert um die Tendenz des Unternehmens. Höchstens, daß Theologie auf einen kleinen Raum beschränkt wird, und daß, wie in Deutschland natürlich, solche Fragen etwa vom Standpunkte eines höflichen Protestantismus behandelt werden; freilich genügte dieser kleine Rest einer aufklärerischen Tendenz, um eine katholische Gegenencyklopädie, die von Herder, ins Leben zu rufen. Abgesehen von der leise protestantischen Färbung wird man in jenen Werken nichts von Skepsis oder Aufklärung finden. Die Organisationstätigkeit der Unternehmer beschränkt sich darauf, den Artikeln die Länge vorzuschreiben, dafür zu sorgen, daß nichts übersehen und alles womöglich auf den Stand der Stunde der Drucklegung fortgeführt werde; sonst überläßt es die Organisation dem Zeitgeiste, für die geistige Einheit unter den ungleichen Mitarbeitern zu sorgen. Dieser Zeitgeist aber ist nicht kulturkämpferisch; er verlangt nach einem objektiven Nachschlagebuch, in welchem jedermann finden kann, was an wissenswerter Kenntnis auf der Welt vorhanden ist. Vorhanden nur noch in solchen Büchern, nicht mehr in einem einzelnen Gelehrtenkopfe. Der Zeitgeist ist nicht skeptisch und verschwendet seine höchsten Geisteskräfte nicht mehr gern an die Besiegung mittelalterlicher Gespenster; der Zeitgeist glaubt auch nicht mehr, mit Hilfe seiner Vernunft die Natur umschaffen zu können. Eine ungeheure Detailarbeit ist an die Stelle von Skepsis und Aufklärung getreten. Oft eine geistlose Detailarbeit. Die Freude am Detail und philosophische Resignation sind charakteristisch für das Konversationslexikon der Gegenwart. Es ist realistisch geworden. Und weil das Detailwissen von einem einzelnen Kopfe nicht mehr zu beherrschen ist, weil bei der oft beklagten Arbeitsteilung auch der beste Fachmann gewöhnlich die Forschungen des Nachbargebietes nicht mehr übersehen kann, darum sind diese Bücher nötig geworden, die – ganz ernsthaft – wissen, was kein Mensch weiß. Die gelehrter sind als irgend ein Gelehrter, und die den geschmacklosen Namen Konversationslexikon beibehalten haben. Sie sind an Polyhistorie allen Polyhistoren aller Zeiten überlegen, halten für ihre Besitzer unendliches Wissen bereit (es ist natürlich nicht wahr, daß sie selbst etwas wissen) und verdanken diesen Vorzug der Klugheit, mit der sie auf systematische Ordnung verzichtet und das kindlichste aller Ordnungsprinzipien, das Alphabet, angenommen haben.
II.
Sollten die großen Encyklopädien den Dienst von Nachschlagebüchern bieten und gut leisten, so mußte ihrer äußeren alphabetischen Anordnung ein System zugrunde gelegt werden, welches verhinderte, daß wichtige Materien völlig übersehen wurden. Ein solches System konnte vorläufig ein künstliches sein; handelt es sich nur um das Bestimmen eines Insekts oder einer Pflanze, so ist ein künstliches System sogar dem natürlichen überlegen, aus dem bescheidenen Grunde, weil ein künstliches System nach dem jeweiligen Grade des Wissens immer möglich ist, das natürliche System aber noch nicht gefunden wurde. Nicht einmal auf den beschränkten Gebieten der einzelnen Naturwissenschaften, bei denen der Gegensatz seit Jahrhunderten deutlich gefühlt wird. Daß auch die streng mathematische oder systematische Darstellung der reinen Mathematik auf einem künstlichen System beruhe, wird noch heute nicht allgemein zugegeben werden; es ließe sich aber z. B. die euklidische Geometrie ebenso gut oder besser so vortragen, daß man vom Kreise ausginge anstatt von der Geraden, weil doch die schwierigsten geometrischen Begriffe (Gleichheit, Deckung, Unendlichkeit) am Kreise viel leichter anschaulich zu machen sind als an der Geraden. Weit über die Forderung einer methodischen Darstellung der Einzelwissenschaften hinaus geht aber just bei den Verfassern von Encyklopädien der Wunsch, das velle scire, ein einheitliches System aller Wissenschaften zu schaffen, einen globus intellectualis. Der Erste, der sich einer solchen architektonischen Gedankenarbeit vermaß, war meines Wissens Bacon, der alle menschliche Erkenntnis und alles menschliche Schaffen dazu unter drei Rubriken brachte: Gedächtnis, Phantasie und Vernunft. Auf Bacon geht der fast pedantische Versuch Diderots zurück, die ungeheure Arbeit der Encyklopädie durch Zugrundelegung einer Art von Stammbaum aller Erkenntnis zu organisieren. In seinem Prospectus de l'Encyclopédie nennt er als Vorgänger Chambers, den er unmittelbar nachahmte, Leibniz, der eine solche Organisation plante, und vor allem Bacon, der zuerst den Gedanken gefaßt hatte, durch Sammlung und Ordnung alles Wissens zu erfahren, wo unser Wissen lückenhaft wäre, wo das Experiment nachzuhelfen hätte. Diderot sieht die ungeheuren Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind, einerlei ob man nun den Stammbaum oder vielmehr das System nach den Stoffen oder nach den Methoden ordnen will. »Si nous en sommes sortis avec succès, nous en aurons principalement obligation au chancelier Bacon, qui jettait le plan d'un dictionnaire universel des sciences et des arts en un temps où il n'y avait, pour ainsi dire, ni sciences ni arts. Ce génie extraordinaire, dans l'impossibilité de faire l'histoire de ce qu'on savait, faisait celle de ce qu'il fallait apprendre.« Der Unterschied zwischen Bacon und Diderot verrät sich hier deutlich; Bacon skizziert den Grundriß zu einem Zukunftsbau, Diderot bringt unter Dach, was hauptsächlich unter dem Einflusse Bacons an Erkenntnissen in den letzten beiden Jahrhunderten gesammelt worden war. Und wieder einmal glaubte ein Mensch am letzten Ziele angelangt zu sein, wieder einmal hatte es die Erkenntnis herrlich weit gebracht. Diderot hofft que l'Encyclopédie devienne un sanctuaire où les connaissances des hommes soient à l'abri des temps et des révolutions. Aber er leugnet doch weitere Fortschritte nicht, tant nous sommes persuadés que la perfection dernière d'une Encyclopédie est l'ouvrage des siècles. Il a fallu des siècles pour commencer; il en faudra pour finir: mais à la postérité et à l'être qui ne meurt point. Diderots tabellarisches Système des Connaissances Humaines folgt genau der Anregung Bacons. Alles menschliche Wissen, als welches in der Encyclopédie zum Nachschlagen bereit liegen soll, läßt sich einteilen in Geschichte, Philosophie und Poesie; die Geschichte ressortiert vom Gedächtnis, die Philosophie von der Vernunft, die Poesie von der Einbildungskraft. Man würde heute Kunstgeschichte, Poetik usw. unter den menschlichen Kenntnissen aufzählen, schwerlich aber die Künste selbst; man würde heute Zauberei und Wahrsagekunst, Aberglauben und auch Religion größtenteils zur Geschichte rechnen (geringerenteils zur Psychologie oder Psychiatrie) und nicht zur Philosophie, man würde ebenso das große Gebiet der Sprachwissenschaft zur Geschichte rechnen; man würde vor allem die Naturwissenschaften prinzipiell von der Geschichte loslösen und den technischen Künsten unter dem Namen Kulturwissenschaft eine besondere Abteilung gönnen. Die ganze Tafel von Diderot könnte vor der logischen Schärfe der jetzigen Encyklopädiologie (ich mußte das Wort erfinden, aber die Sache existiert) nicht bestehen bleiben; aber zu Diderots Absicht, für sich und seine Leute eine Art Netz mit feinen Maschen zu verfertigen, das keine wichtige Kenntnis durchschlüpfen ließ, war diese provisorische Tafel ganz brauchbar. Und Diderot erkannte die Künstlichkeit oder die Willkür in seiner Tafel. Soviel Köpfe es gibt, soviel Systeme der Wissenschaft seien möglich. Er entschuldigt sogar am Ende seines Prospectus die alphabetische Anordnung des eigentlichen Buches, durch welche das System wieder aufgelöst werde. Ich werde auf den ganz unersetzlichen Wert der alphabetischen Anordnung bald zurückkommen. Selbst Diderot flüchtet zu dem asylum ignorantiae, da er das einzig wahre System aller Wissenschaften, das natürliche System, dem göttlichen Verstande zuschiebt, d'où l'arbitraire soit exclus. Es hat seit Diderot an encyklopädischen Köpfen nicht gefehlt, die wenigstens eine geordnete Übersicht über alles Menschenwissen anstrebten, weil die Beherrschung alles Menschenwissens für den Einzelnen ganz unmöglich geworden ist, weil die ganze Fülle von Tatsachen nur noch in Büchern zu finden ist und die weise Benützung dieser Schatzbücher davon abhängt, ob der Leser die Tatsachen einem lebendigen eigenen Wissen angliedern könne oder nicht. Die Übersicht über alles Menschenwissen oder die Einteilung der Wissenschaften ist so oft neu versucht worden, als ein Schriftsteller von ungewöhnlicher Kapazität des Geistes das Bedürfnis einer solchen Orientierung fühlte. Es mag hart klingen, wenn ich dieses Bedürfnis in den allermeisten Fällen, auch bei ganz hervorragenden Männern, ein äußeres Bedürfnis nenne, ein architektonisches Bedürfnis, wenn man lieber will. Ich denke da zunächst an Comte und Spencer, die sich beide die Riesenaufgabe gestellt hatten, etwa das Leben zwischen den Menschen und alle Aufgaben der Soziologie aus der Biologie und der Psychologie des Menschen zu erklären, und die Natur des Menschen wieder aus der Physik, die beide die Riesenaufgabe nicht lösen zu können meinten, wenn sie nicht vorher eine Hierarchie der Wissenschaften erfunden hätten, die mit der Architektonik ihrer Aufgabe zusammenfiel. Es waren Einteilungen zum persönlichen Gebrauche, ideale Einteilungsgründe für einen Zettelkasten, der die Welt umfassen sollte. Die Wissenschaften bildeten eine Hierarchie, weil jede folgende die vorausgehende zur Voraussetzung hatte und ihr Wert oder ihre Würdigkeit darum höher schien; Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie, Biologie, Soziologie bildeten eine Stufenreihe und diese Aufwärtsbewegung, die sogar der historischen Entwicklung entsprechen sollte, machte auf den Leser einen ästhetischen Eindruck. Etwas weniger erfreulich sind die Einteilungsversuche, die besonders von deutschen Professoren ausgegangen sind, und die dem äußerlichen Bedürfnisse entsprochen haben, den großen wissenschaftlichen Betrieb, in dessen Mittelpunkte der Einteiler sich fühlte, zu organisieren. Ökonomische Arbeitsteilung war das Ziel; wie denn auch bei Gelegenheit von Gelehrten-Kongressen hie und da (besonders gut von Münsterberg) der Versuch unternommen worden ist, im vorhinein eine reinliche Scheidung der Arbeitsgebiete vorzunehmen. Zu diesen praktischen Einteilungen der Wissenschaften scheint mir auch die vielgerühmte Übersicht Wundts zu gehören. Man könnte auf Grund seiner Einteilung (Philosoph. Stud. V) einen ganz vorzüglichen Realkatalog einer großen Universitätsbibliothek herstellen; und es wäre eine schöne Sache um einen Realkatalog, der den alphabetischen Katalog erst recht gut benutzbar machte. Auch in den Kultusministerien sollte diese Einteilung Wundts fleißig gelesen werden, damit bei der notwendigen Reformation der deutschen Universitäten die Fakultäten und die ordentlichen Professuren vernünftiger als bisher über die einzelnen Disziplinen verteilt würden. Viel ernster zu nehmen ist die erkenntniskritische Art, in welcher Stumpf seine »Einteilung der Wissenschaften« (man vergleiche damit seine ein Jahr früher gelesene, aber auch erst 1907 herausgekommene Abhandlung »Erscheinungen und psychische Funktionen«) versucht hat. Zu bedauern wäre nur, daß Stumpf zu rücksichtsvoll ist und den Hammer seiner Kritik oft nur drohend erhebt, nicht aber kräftig genug niederfallen läßt. Gegen die praktischen Einteilungsversuche richtet sich sein Wort (S. 25): »Fakultäten sind bloße Arbeitsgemeinschaften und in ihrer Zusammensetzung und Abgrenzung durch praktische Rücksichten mitbedingt.« Stumpf weiß, daß die jeweiligen Übersichten über alles Menschenwissen vom Stande dieses Menschenwissens abhängen, und daß wir erst erkannt haben müssen, was Wissen heiße, bevor wir an eine Ordnung unserer Wissenschaften gehen können; er läßt sich darum gar nicht darauf ein, die Ordnung der Hypothesen, auf denen die Wissenschaften aufgebaut sind, nach einem logischen Schema zu erzwingen, er fabriziert keine Tabelle der Wissenschaften; er hält sich nicht an einen einzigen Einteilungsgrund, sieht vielmehr die Notwendigkeit ein, mehrere sich durchkreuzende Einteilungsgründe zu benützen. »Das Scheuklappenrezept versagt überall« (S. 34). Die Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften lehnt er nicht ab, erkennt aber ihre Unvollständigkeit und vertieft die Bedeutung beider Gruppen durch seine feine Erkenntnistheorie; die Naturwissenschaften sind nicht die Wissenschaften von den Erscheinungen, sondern von den Trägern, die aus den Erscheinungen erschlossen werden; die Geisteswissenschaften dagegen sind unmittelbar die Wissenschaften von den psychischen Funktionen, ohne welche die Erscheinungen ebenso wenig möglich wären wie ohne die Erscheinungsträger. Die Erscheinungen selbst werden in Wirklichkeit von allen möglichen Wissenschaften behandelt, müßten aber einer besonderen Abteilung zugewiesen werden, der Phänomenologie. »Aber die Trennung bedeutet auch nur eine Trennung der Aufgaben, nicht der Arbeit. Es gibt eine Phänomenologie, aber keinen Phänomenologen« (S. 32). Logik und Erkenntnistheorie faßt er, mit einer Verbeugung vor Platon, als Eidologie zusammen. Ferner gibt es eine große Wissenschaft der Verhältnislehre, die eng mit der Eidologie zusammenhängt. Auf die Fragen nach dem Ursachbegriff gründet sich die wichtige Unterscheidung in Tatsachen- und Gesetzeswissenschaften, die berufen sein könnte, dem seichten Gerede über die Bildung naturwissenschaftlicher und historischer Begriffe ein Ende zu machen. Es gibt Gesetze der Natur, es gibt nur Tatsachen der Geschichte. Ein drastisches Wort Carlyles wird zitiert: »Der Historiker spricht: nur die Tatsache hat Bedeutung; Johann ohne Land ist hier vorbeigegangen – das ist bemerkenswert, das ist eine tatsächliche Wahrheit, für die ich alle Theorien der Welt hergeben würde. Der Physiker dagegen: Johann ohne Land ist hier vorbeigegangen – das ist mir sehr gleichgiltig, da er nicht wieder vorbeikommt.« Stumpf weist ferner der Mathematik ihre Stelle unter den Wissenschaften zu und knüpft an die Untersuchung der Aufgaben von Arithmetik und Geometrie eine psychologische Kritik des Zeitbegriffs und des Raumbegriffs, die ihn bei den deutschen Metaphysikern leicht in den Verdacht des Psychologismus bringen könnte. Niemals ist vorher die Einteilung der Wissenschaften so ganz ohne Schablone vorgenommen worden; darum wird auch das Ergebnis die Freunde von Schablonen nicht befriedigen. Stumpf geht von dem Gedanken aus, daß jede Einteilung der Wissenschaften eine jeweilige, eine vorläufige sein müsse; und schließt mit dem Gedanken, daß eine Einteilung von logischer Sauberkeit nicht möglich sei. »Die Gegenstände der Wissenschaften liegen nicht wie konzentrische Kreise um einen einzigen Mittelpunkt, sondern bilden mehrere Wellensysteme, die von selbständigen Mittelpunkten ausgehend sich schneiden« (S. 88). Ich glaube die letzte Absicht nicht falsch zu verstehen, wenn ich sie für skeptisch halte und sie so ausdrücke: weder durch Dichotomien noch durch kompliziertere Schablonen läßt sich eine brauchbare Tabelle der Wissenschaften herstellen; das wissenschaftliche Denken und Arbeiten hält sich nicht an die Methode einer einzigen Wissenschaft; nicht einmal die Philosophie, als die Wissenschaft der allgemeinsten Gegenstände, kann auf Anleihen bei den Wissenschaften der nichtallgemeinsten Gegenstände verzichten. Die Resignation Stumpfs scheint sich schon in dem ernsthaften Scherze zu verraten, daß man anstatt Metaphysik ebenso gut sagen könnte: Metapsychik. Und eine Bemerkung, die Stumpf an eine Polemik gegen die Psychologisten knüpft, läßt mich hoffen, daß er dem Standpunkte der Sprachkritik gar nicht so fern steht. Zwar bemerkt er nicht, daß die letzten Fragen (Kausalität, Zweck, Unendlichkeit, Realität) sprachkritische Fragen sind, aber er weiß doch, daß die Gemeinsprache, in der alle Wissenschaften zuletzt vorgetragen werden müssen, durchsetzt ist mit unvorstellbaren, metaphorischen Begriffen, daß darum allein schon eine reinliche Scheidung eines in Menschensprache allein faßbaren Wissens nicht möglich ist. So wenigstens übersetze ich mir Stumpfs skeptischen Satz (S. 46): »Daß gemeinhin bloß Natur- und Geisteswissenschaften und über ihnen noch allenfalls Metaphysik unterschieden werden, beweist nur wieder, daß eben auch das allgemeine Denken (ich würde sagen: die Gemeinsprache) genug metaphysische Voraussetzungen mit sich führt, um die Erscheinungen ohne weiteres der Seele oder den Körpern und damit die Phänomenologie der Psychologie oder der Naturwissenschaft einzufügen.« Die Spezialforscher haben ja meist keine Ahnung davon, wie metaphysisch, wie unklar, wie wortabergläubisch just die Grundbegriffe ihrer Spezialwissenschaften sind. Der letzte Versuch, Ordnung in alles mögliche Menschenwissen zu bringen, endet also mit einer Resignation. Es fragt sich nun, ob ein solches System aller Wissenschaften, dessen Nützlichkeit für die Ordnung im Gelehrtenkopfe und für die Anordnung von Nachschlagebüchern ich nicht in Abrede stellen will, jemals ein natürliches sein kann. Es fragt sich, und in dieser Form der Frage liegt auch die Antwort, ob unserer dispositio einer Welterkenntnis ein ordo der Welt vorausgegangen sei. Die Ordnung ist ein Zweckbegriff. (Vergl. in der alphabetischen Anordnung den Artikel Ordnung.) Solange man an einen allweisen Gott als an einen zweckvollen Schöpfer der Welt glaubte, war es gar nicht ungereimt, an eine tief verborgene Ordnung der Welt zu glauben; der Gott hatte die Welt nach einem Schema geschaffen, nur pantheistische Ketzer konnten sich eine planlose, unbewußte Schöpfung vorstellen, und das letzte Ziel der menschlichen Erkenntnis mußte sein, sich dem Verständnis jenes Planes zu nähern. Das System der Wissenschaften hatte die recta ratio scibilium aufzuspüren; recta ratio war bei Cicero wie bei Thomas eine Lehnübersetzung des ὀρϑος λογος, der richtigen Vernunft, die nebenbei auch die sittliche Vernunft war. Das Adjektiv recta, ὀρϑος, richtig, verrät schon, daß es sich um eine Vernunft handelt, die nicht rein ist, die etwas soll, der von der Religion aufgetragen worden ist, den göttlichen Plan aus dem Weltlauf herauszufinden. Seitdem die Wissenschaft nicht mehr eine Magd der Theologie ist, seitdem die Theologie nur einen kleinen Raum unter den anthropologischen Wissenschaften beanspruchen darf, mußte die Vorstellung aufgegeben werden, daß der dispositio der Welterkenntnis ein ordo der Welt zugrunde liege, daß ein System der Wissenschaften einem System der Welt entspräche. Alle Erfinder von Wissenschaftssystemen, von Bacon bis Stumpf, hätten sich also an der Schwelle ihres Unternehmens sagen müssen, daß sie eine unverhältnismäßige geistige Anstrengung auf die Errichtung eines künstlichen Systems verschwendeten. Sie sagten sich's nicht. Die biologische Nützlichkeit des Irrtums bewährte sich an diesen Männern, die all ihren Scharfsinn in den Dienst einer verlorenen Sache stellten, weil es ihnen ein persönliches Bedürfnis war, in dem weiter und weiter sich ausbreitenden Wissen etwas zweckdienliche Ordnung zu schaffen. Bacon, Diderot, Ampère, Comte, Stumpf – um nur die bedeutendsten Wissenssystematiker anzuführen – schufen kein natürliches System der menschlichen Erkenntnis; aber das tief in ihnen wirkende Bedürfnis nach Erkenntnisordnung half uns andern, in dem Wuste von wissenschaftlicher Kärrner- und Sammlerarbeit, in der unübersehbaren Masse dessen, was unsere Bibliotheken füllt, ein Kriterium zu finden für Wert und Unwert der Leistungen. Wer vor 150 Jahren Diderots Prospekt in sich aufgenommen hatte, wer heute Stumpfs wirklich philosophischen Versuch einer Neuordnung der Wissenschaften gründlich nachgedacht hat, der konnte und kann von jedem einzelnen Forschungsergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, ob es an einer Stelle die Spezialwissenschaft fördere, ob es also überhaupt indirekt den Schatz der Menschheit, die Erkenntnis, mehre. Ein solches Kriterium ist zu keiner Zeit so wünschenswert gewesen wie in der unsern, wo die Staatsunterstützung, die Einrichtung der Hochschulen, die nichtswürdige Protektionswirtschaft in den Volks- und Mittelschulen, (die leichter das Söhnchen der besseren Stände als das intelligenteste Arbeiterkind durch die Schule und auf die Universität bringt) einen wissenschaftlichen Scheinbetrieb züchtet, so breit, wie ihn noch keine Vorzeit gekannt hat. Der Engländer Bacon hat den guten Rat gegeben, alle Erkenntnis auf Beobachtung zu basieren; und seitdem hält sich jeder sammelnde Engländer, und wenn er Hosenknöpfe sammelte, für einen Beobachter und für einen Schüler Bacons. Der große deutsche Philosoph hat mit erstaunlicher Geisteskraft architektonisch, in geschlossener Form aufgebaut, was er über das Verhältnis von Erscheinung und Wirklichkeit Neues zu sagen hatte; seitdem hält sich jeder deutsche Philosophieprofessor, und wenn er sein System aus eitel Luftsteinen baute, für einen Architekten und einen Schüler Kants. Der erste französische Philosoph hat, zentralistisch als echter Franzose, all sein Wissen auf ein Prinzip basiert; seitdem glauben Franzosen und andere Mitteleuropäer gute Cartesianer zu sein, auch wenn sie nur konsequent auf einem Prinzip oder gar auf einer petitio principii herumreiten. Diese Züchtung eines extensiven Betriebs aller Wissenschaften, dieser neue Alexandrinismus, hat allerdings eine Fülle von Material für Geistes- und Naturwissenschaften zutage gefördert, eine unübersehbare Fülle, und der Sammeleifer hat eine Unzahl von Disziplinen und Disziplinchen neu erstehen lassen, weil doch jeder Sammler das Recht hat, seine Sammlung, wenn er sie erst geordnet hat, eine Disziplin zu nennen. Diese berüchtigte Spezialisierung der Wissenschaften hat der Technik, der gewerblichen wie der wissenschaftlichen Technik, ohne Frage viel Vorteil gebracht; die Einheit des menschlichen Wissens ist darüber aber so völlig verloren gegangen, daß es gegenwärtig einen Beherrscher des menschlichen Wissens nicht gibt und nicht geben kann. Die Summa menschlichen Wissens steckt in den Bibliotheken; gute Auszüge stecken in den Encyklopädien, nicht einmal der Inhalt einer guten Encyklopädie steckt in irgend einem menschlichen Kopfe. Aus dieser Verlegenheit sind neuerdings eben die vielen Versuche hervorgegangen, wieder ein System der Wissenschaften herzustellen, einen übersichtlichen Weltkatalog zu ordnen. Immer in der Hoffnung, nachher die Ordnung des Katalogs in der Welt wiederzufinden.
III.
Ich war geneigt, mit einem neuen System der Erkenntnisse aufzuwarten. Den Grundgedanken der Einteilung nur will ich hier angeben, weil er den Keim seiner Selbstzersetzung in sich trug und mich so mißtrauisch machte gegen alle derlei Systeme, wie denn die Kritik am schärfsten ist gegen die eigenen Gedanken. Ich wollte nämlich alle menschliche Erkenntnis in solche einteilen, deren Glieder durch Gesetze, Regelmäßigkeiten, wißbare Ursächlichkeiten verbunden sind, und solche Tatsachen unserer Erkenntnis, die vereinzelte Tatsachen bleiben. Diese Einteilung ließe sich ganz gut unter die schon übliche der Gesetzeswissenschaften und der historischen Wissenschaften bringen; nur daß ich genötigt wäre, den Begriff Gesetz einzuschränken, den Begriff Historie auszudehnen. Alle klassifikatorischen Wissenschaften – die der drei Naturreiche z. B. – würden unter die historischen Tatsachensammlungen fallen; ja eigentlich wären die Tatsachensammlungen nicht Wissenschaften zu nennen, sondern etwa nur Wissen; Wissenschaften wären nur diejenigen Wissenssysteme, die eine bestimmte oder wahrscheinliche Vorhersage gestatten. Man sieht gleich, daß bei dieser Einteilung der Stoff des Wissens für die Einteilung nebensächlich würde. Man sieht ferner, daß jedes derartige Wissenssystem immer dem augenblicklichen Stande der Forschung entspräche und selbst wieder, weil es fließend ist, historisch wäre. Und so kam ich zu der Überzeugung: es kann ein objektives System des Wissens nicht geben, auch diese äußerste Besinnung muß subjektives Menschenwerk bleiben. Es ist nämlich der Einteilungsgrund von Bacon und Diderot logisch nicht zu halten. Gedächtnis, Vernunft und Phantasie sind nicht koordinierte Begriffe. Vernunft und Phantasie sind dem Gedächtnis subordiniert. Wir wissen nichts, wir denken nichts, wir schaffen nichts, als was wir aus dem Gedächtnisse wissen, denken, schaffen. Gedächtnis ist auch die Sprache, in welcher wir wissen und denken. Freilich sprechen wir auch der Natur ein Gedächtnis zu, doch nur metaphorisch; das unbewußte Naturgedächtnis ist etwas ganz anderes als das bewußte, sprachliche Menschengedächtnis. Die dispositio des menschlichen Wissens, auch wo sie sich zu richtigen Wissenschaften konzentrieren konnte, ist etwas ganz anderes als der ordo der Natur. Wir haben nur unser Wissen von der Natur merken können mit Hilfe von Assoziationen, denen – was immer man sagen mag – menschliches Interesse zugrunde liegt; wir sind näher und näher an die Natur herangekommen mit unserem Wissen oder unserer Sprache, weil Herrschaft über die Natur in unserem Interesse liegt. Niemals aber deckt sich unsere Sprache mit der Natur, auch dort nicht, wo wirklich oder beinahe Gesetze gefunden worden sind: in der Mathematik, in der Mechanik. Die Relationen der Natur sind nicht Assoziationen, am wenigsten menschliche Assoziationen. Wir assoziieren z. B. Feuer und Wärmegefühl und wissen heute nach unerhörten Anstrengungen der Physiker, hundert und mehr Jahre nach der Entdeckung des Sauerstoffs, immer noch nicht, was das Feuer sei. Und wissen nicht was Wärme sei. Trotzdem assoziieren wir Feuer und Wärme. Die Natur weiß auch nicht was Feuer, was Wärme ist, aber sie braucht es auch nicht zu wissen, weil sie nichts darüber sagt, weil sie an Feuer und Wärme kein Interesse hat, kein menschliches, kein wissenschaftliches. Und wenn die Natur lachen könnte, wie Menschen lachen, so könnte sie ihren Spaß daran haben, wie Feuer und Wärme von den armen Menschen in der Religionsgeschichte, in der Kunst und der Technik, in der Psychologie und in der Kriegsgeschichte, in der Astronomie und in der Zoologie, der Botanik und der Mineralogie, in der Medizin und der Chemie usw. usw. immer wieder von einem andern Gesichtspunkte aus betrachtet werden müssen, wie alle anderen Erscheinungen der Natur ebenso auf alle Wissensgebiete oder Wissenschaften sich verteilen, wie also dem Stoffe nach ein Wissenschaftssystem ein Unding ist, wie die Methoden immer nur dem augenblicklichen Vorteile gehorchend einander ablösen, von Wissensgebiet zu Wissensgebiet und von Generation zu Generation. Wir haben gelernt, daß die anstrengenden Versuche, das unübersehbare Detailwissen in ein System zu bringen, außer dem Zweck, die Sehnsucht besonders veranlagter Geister zu befriedigen, noch den allgemeinen Zweck hatte, ein Kriterium zu schaffen für den Wert, den das Einzelwissen gegenüber dem Ganzen zu beanspruchen hatte, dem Ganzen, das ein Ganzes nur in der Sehnsucht ist. Auch mag systematisches Wissen den einzelnen Kopf besser befähigen, sein Wissen in Bereitschaft zu haben, wenn auch die Raschheit der Assoziationen im einzelnen Gehirn wohl häufiger auf einem instinktiven praktischen Systeme beruhen wird, als auf einem logischen. Die großen Encyklopädien nun, von denen wir ausgegangen sind, haben mit einer brutalen Einfachheit etwas geschaffen, was ganz gewiß himmelfern ist von dem ordo der Natur, was ganz gewiß mit der dispositio eines Wissenschaftssystems nichts zu schaffen hat, was aber in geradezu unübertrefflicher Weise fast präsentes Wissen ermöglicht, die Assoziationen vom Interesse unabhängig macht und von jedem Punkte zu jedem Punkte Verbindungen herstellt. Die Aufgabe war: auf dem notorisch unübersehbaren Felde jeden Wissenspunkt sofort auffindbar zu machen. Durch eine zuverlässige und schnelle Registratur auffindbar zu machen. Dieser unbedingt zuverlässige, just in seiner Dummheit unfehlbare Registrator ist das jedem Kinde eingebläute Alphabet. Und ich stehe nicht an zu behaupten, daß diese kindlich großartige Erfindung, omnia scibilia alphabetisch zu ordnen, ungefähr der Sehnsucht des Phantasten Lullius und des Wissenschaftsorganisators Leibniz entspricht, die beide, Leibniz nicht unabhängig von Lullius, eine Art Denkmaschine erfanden oder erfunden haben wollten. Unsere Encyklopädien sind ja all in ihrer brutalen Systemlosigkeit gerade die ars magna, die lullische Kunst oder die ars combinatoria. Freilich hatten Lullius und Leibniz noch gehofft, aus ihrer Denkmaschine mechanisch neue Gedanken hervorgehen zu sehen; die Denkmaschine hätte aber bestenfalls nicht mehr leisten können als das logische Denken selbst, und wir haben gelernt, daß auch logische Schlüsse nicht zu neuen Sätzen führen. Was Leibniz betrifft, so sei erwähnt, daß er zwar öfter in Briefen und sogar an einer wichtigen Stelle seiner Nouveaux Essays (IV, 3, § 18) über den unrechtmäßigen Nachdruck (die sog. zweite Auflage der Ars combinatoria) klagte, der Schrift also immerhin Bedeutung zusprach, daß er aber gerade an der zitierten Stelle bedauert, daß man ihn selbst für fähig halten könnte, eine Frucht seiner frühesten Jünglingszeit im vorgerückten Alter noch einmal zu veröffentlichen; »denn obgleich darin Gedanken von einiger Wichtigkeit sind, die ich noch billige, so gab es darin gleichwohl auch solche, die nur einem jungen Anfänger anstehen konnten.« Was aber den tollen Raimundus Lullius betrifft, der sich doch vermessen hatte, die durch den Einfluß der Araber ins Wanken geratene scholastische Philosophie neu und frei aufzubauen, so scheint mir seine ars magna allerdings in der Theorie eine Denkmaschine, in der Praxis eine mechanische Logik gewesen zu sein. Daß die zur Maschine gehörigen Definitionen durchaus abstoßend tautologisch waren, ist ihm gar nicht so sehr zum Vorwurfe zu machen; in der Denkmaschine mußte eben der natürliche Fehler aller Logik, aus Tautologien zu Tautologien zu führen, besonders deutlich werden. Genau genommen, worauf schon Ritter (Bd. VIII, S. 492) hingewiesen hat, laufen ja auch die berüchtigten Logikverslein Barbara, Celarent usw. auf eine Denkmaschine hinaus; wir können keinen Gebrauch mehr von ihnen machen, weil wir den Glauben an den Wert der Logik verloren haben, weil wir von einer neuen Topik noch weniger erwarten, endlich weil wir in der Anwendung der geheimnisvollen Worte Barbara usw. keine Übung mehr haben. Lullius hatte in ganz ähnlicher Weise die logischen Operationen an die Buchstaben des Alphabets geknüpft, hatte es auch zur Pflicht gemacht, die Buchstaben und ihre Bedeutungen auswendig zu lernen. Schon bei Lullius nähert sich die Anwendung der Zeichen B C D E F G H I K einem Systeme, das zwischen einer mechanischen Logik und einer Universalzeichenschrift in der Mitte steht. Die gewählten 9 Buchstaben konnten in dem einen Hilfskreise die willkürlichen 9 Kategorien (Zahl und Einteilung ist gleich sinnlos), in dem zweiten Hilfskreise 9 ebenso willkürlich gewählte Eigenschaften ausdrücken. Trafen nun bei der Drehung der Hilfskreise zwei solche Buchstaben zusammen, so ergaben sie eine Art Wort, welches symbolisch irgend einen Satz von äußerster Banalität ausdrückte, z. B. »die Güte ist eine große Übereinstimmung oder ein großer Unterschied, sei es zwischen Gott und dem sinnlichen Menschen, sei es zwischen den sinnlichen Menschen untereinander.« Wobei natürlich die geschwollenen Abstraktionen erst in eine Menschensprache übersetzt werden mußten, wenn auch nur eine tautologische Banalität herauskommen sollte. Bei 3 konzentrischen Hilfskreisen konnten symbolische Worte von 3 Buchstaben erscheinen, deren Auflösung bei gleicher Banalität noch viel komplizierter war. In dieser ganz schematischen Darstellung habe ich hier (vergl. Art. Denkmaschine) absichtlich den Hinweis darauf unterlassen, daß jeder Buchstabe in jedem Hilfskreise überdies alle seine Bedeutungen auf fünferlei Art haben konnte, daß also die Möglichkeiten der Auflösung schließlich, nach den Regeln der Kombinationslehre, unzählige waren. Der tolle Lullius witterte darin eben die Konstruktion einer Denkmaschine; Leibniz, der Mathematiker, führte die Kombinationslehre durch und hoffte lange Zeit, die Denkmaschine zu erfinden. Beide bemerkten nicht, daß eine Maschine, in deren Zeichenmaterial nur vergangene Erinnerungen hineingesteckt worden waren, nicht neue zukünftige Ideen von sich geben konnte. Noch einmal: entspräche der menschlichen dispositio ein natürlicher ordo, könnten wir in einer künstlichen Universalsprache einen natürlichen Weltkatalog schaffen, dann wäre so etwas wie eine Denkmaschine möglich. Dann wäre auch ein System der Wissenschaften möglich. Wir besitzen aber nicht einmal auf den beschränkten Gebieten der Zoologie, der Botanik, der Kristallographie einen natürlichen Katalog, wir haben noch weniger einen natürlichen Weltkatalog, wir haben nur nach menschlichen Assoziationen und Interessen geordnete Sammlungen menschlichen Wissens und müssen zufrieden sein, wenn wir uns in der Unmasse dieses Wissens mit Hilfe der brutalen alphabetischen Assoziationen orientieren können. Notabene: aus einem Buche, mit den Schriftzeichen des Alphabetes. Die Kapazität so eines Buches ist größer, als die irgend eines Kopfes sein kann. Nicht nur Leibniz, auch Agrippa von Nettesheim, auch Bruno, auch Kircher, der gelehrte Jesuit, sind auf die Lullische Kunst hineingefallen. Und sie wird vielleicht noch öfter wieder entdeckt werden, wie die Quadratur des Zirkels immer wieder versucht wird, auch nach ihrer Abfertigung. Die drei neuen englischen Denkmaschinen werden nicht die letzten sein. Wir aber haben die Tollheit erkannt und haben kein Interesse mehr an der Untersuchung, ob der heilige Abenteurer Lullius seine ars magna wirklich unmittelbar von Jesus Christus geschenkt bekommen, oder ob er sie von einem Araber oder einem Kabbalisten abgeschrieben habe; kein Interesse daran, ob seine Kondemnation oder seine Heiligsprechung (1419) bessere Gründe gehabt habe. Auch Lullius hat, 300 Jahre vor Bacon, etwas wie einen Stammbaum der Wissenschaften zu entwerfen versucht; sein Einteilungsschema (Maria, Engel, Apostel; Papst, Kardinäle, Bischöfe; die sieben Sakramente) mutet uns aber nicht mehr an.