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Der Fortschritt der Menschheit zu höheren und immer höheren Kulturstufen, die Perfektibilität der Menschheit, und nur der Menschheit, ist etwa seit Herder so sehr zum Dogma geworden, daß der Begriff Humanismus, d. h. Menschlichkeit, geradezu das Ziel dieses Fortschritts bezeichnet. Den Namen Herder habe ich da natürlich nur vom deutschen Standpunkte aus zuerst genannt; für Europa war Shaftesbury, der als weltmännischer Lehrer der Humanität auf Diderot und Lessing, sogar schon auf Leibniz Einfluß hatte, von ungleich größerer Bedeutung; Herder selbst hat ihn (»Briefe z. B. d. Hum.« 33) einen Virtuoso der Humanität genannt. (Für unsere Ohren klingt Humanität ein wenig altmodisch, Humanismus wieder hat einen Anklang nach dem philologischen Begriffe hin.) Mit einer sprachlichen Inkonsequenz, deren Grund wir bald einsehen werden, bezeichnet Humanismus aber nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg, nicht nur den Zweck, sondern auch das Mittel. Und genau so bezeichnet für eine große politische Partei, deren Dogma eigentlich auch von der Sozialdemokratie geglaubt wird, Fortschritt zugleich Ziel und Methode des richtigen politischen Lebens. Schon darum wäre der Redner in einer fortschrittlichen Versammlung in einige Verlegenheit gebracht, wenn er plötzlich die Frage beantworten sollte, wie der Zentralbegriff seiner Ausführungen, eben das Schlagwort Fortschritt zu definieren wäre, und er wäre überrascht zu hören, daß auch dieses Wort, wie so viele dogmatische Wörter, jünger ist als es aussieht. Noch Herder, für uns Deutsche der Begründer des Dogmas, sagt lieber Fortgang als Fortschritt; und bis zu Ende des 18. Jahrhunderts sagten unsere Schriftsteller gern Fortschreitung. Es sind Übersetzungen von lat. progressio und progressus. Die lateinischen Wörter sind wieder freie Übersetzungen des von den Stoikern geschaffenen Ausdrucks προκοπη. Für die Verbreitung der lateinischen Wörter ist es vielleicht nicht gleichgültig, daß progressus und regressus (Rückschritt) technische Ausdrücke des Militärs für den Vormarsch und den Rückzug waren. Die Relativität des Begriffs, die eben deutlich an der unklaren Beziehung auf den Weg und das Ziel sich verrät, liegt schon in der Vorsilbe pro, deren zwecksetzende Tendenz unbewußt und gedankenlos mitübersetzt worden ist; es kommt zum Schreiten doch durchaus nichts Neues hinzu, wenn wir es ein Fortschreiten nennen; wir stellen uns nur bei fort, weiter sofort eine Bewegung in einer Richtung vor, die wir, um eines uns unbekannten Zieles willen, die Richtung nach dem Höheren, dem Besseren, dem Vollkommeneren nennen, und die wir deshalb höher bewerten als die entgegengesetzte Richtung oder als den Stillstand. Um zu erfahren, was dieser Fortschritt als Ziel oder als Richtung eigentlich sei, müßten wir vorher wissen, was das Gute ist, was das Vollkommene ist. Und das wissen wir wirklich nicht. Es sind Ideale, die wir nicht kennen, von denen wir aber die Richtung zu kennen glauben, in der sie liegen. Der Begriff einer fortschreitenden Geschichte der Menschheit oder (wie Lessing es nannte) einer Erziehung des Menschengeschlechtes ist also um etwa 100 Jahre älter als der klare Begriff von einer Entwicklung der Organismen, der Evolution, die seit Darwin zum Dogma der Biologie geworden ist. Dennoch besteht ein Zusammenhang zwischen beiden Vorstellungen oder Dogmen. Das christliche Mittelalter, das in der Menschenseele ein geschaffenes reales Wesen sah, stellte sich diese Seele ganz natürlich so vor, als ob sie unveränderlich wäre wie die von Gott geschaffenen Arten der Tiere. Die Menschenseelen bildeten eben eine besondere Art unter den Geschöpfen; es war darum für die Scholastiker eine wohlaufzuwerfende Frage, ob und wie die Seele der ihr von Gott gesetzten Aufgabe entsprechen, wie die Seele sich der Vollkommenheit nähern könnte. Die Frage war die nach der Perfektibilität des Menschen. Die einseitige Betonung der religiösen Vervollkommnung tut nichts zur Sache; immer handelt es sich darum, den Widerspruch aufzulösen, daß die Seele von Gott unveränderlich geschaffen war, und dennoch ihre sündige Art ändern mußte, um an der Vollkommenheit Gottes Teil zu haben, also an der Glückseligkeit. Wir werden (vgl. Art. Vollkommenheit) den Begriff der Vollkommenheit als eine Wortleiche kennen lernen, mit der wir uns wie mit so vielen andern Leichen und Gespenstern zu unserer Qual herumschleppen. Als man den Begriff der Perfektibilität noch ernsthaft behandelte, wußte man das noch nicht, wußte man noch nicht, daß mit der perfectio ein Scheinbegriff von ganz ungewöhnlicher Unfaßbarkeit geschaffen worden war: ein Ideal, von dem man die Realität behauptete; durchschaute man den Scheinbegriff nicht, so wurde er dadurch dennoch nicht faßlicher, und so war die Scholastik außerstande, den Widerspruch zu lösen. Die Scholastik konnte sich freilich nicht mit der Resignation begnügen: die Vollkommenheit ist nur eine Sehnsucht, eine Richtung des Blicks; wir müssen schon befriedigt sein, wenn die Richtung des Blicks und die Richtung des Weges die gleiche scheint; eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Blick und Weg kann niemals behauptet werden, geschweige denn zwischen Ziel und Weg; denn das Ziel, dem Vollkommenheit beigelegt wird, kennen wir nicht. Ist es nun zu gewagt, wenn ich einen Zusammenhang sehe zwischen dem alten Streite um die scholastische Perfektibilität und dem neuen Streite über Darwins Evolutionslehre? Wenn ich gar in diesem Zusammenhange scholastische Rudimente im Darwinismus erkennen will? Der Widerspruch aber, der uns bei dem Begriffe Fortschritt Ziel und Weg verwechseln ließ, der den Vollkommenheitsbegriff unfaßbar machte, steckt doch auch im Evolutionsbegriff. Zielstrebigkeit hat man neuerdings die Entwicklung zu zweckmäßigeren Formen genannt und mit dem neuen Worte den Widerspruch zu beseitigen geglaubt, der den Zweckbegriff eliminieren wollte und die lebensfähigen Formen dennoch zweckmäßig nannte. Und wenn man auf das Wort Zielstrebigkeit, das doch nur die alte Teleologie wiederbringt, auch wieder verzichten wollte, wenn man sich mit dem Worte Richtung begnügen wollte, so wäre der Widerspruch nicht beseitigt; ob man dabei an eine gewiesene Richtung denkt oder eine selbstgesetzte, immer müßte ein Auge, ein sehendes, dazu gedacht werden, und dieses Bild verträgt sich schlecht mit der Vorstellung von einer blinden Notwendigkeit des Naturgeschehens. (Vgl. Art. Richtung.) Der Zusammenhang zwischen der vermeintlich so streng wissenschaftlichen und gar nicht scholastischen Entwicklungslehre und dem theologischen Streite um die Perfektibilität wird noch deutlicher, wenn wir versuchen, an dem Begriffe, der so gemeinverständlich Fortschritt heißt, die psychologische und die kulturelle Seite auseinanderzuhalten. Daß die Kultur der Menschheit fortschreite, d. h. daß wir komfortabler oder auch raffinierter unsere Lebensbedürfnisse befriedigen, als die Vorfahren es taten, daran hat im Ernste niemals ein Mensch gezweifelt; man denke nur an die Fortschritte im Beleuchtungswesen und im Reiseverkehr. Die Phantasie, welche ein goldenes Zeitalter in die Vergangenheit versetzte, war ein poetischer Traum; irgendwo mußte es doch einmal ganz schön gewesen sein. Der neue Poetentraum, der ein goldenes Zeitalter in die Zukunft setzt, ist nicht ganz klar und oft nicht ganz ehrlich. Die Utopisten mit ihrem »alles oder nichts« haben ja trotzdem das nicht geringe Verdienst, durch ihren Glauben an die Realität des Ideals den Aktivismus der Menschen immer neu anzuregen; ihre Gefolgschaften sind gewöhnlich bescheidener, nehmen Abschlagzahlungen an und würden mit einem silbernen Zeitalter ganz zufrieden sein. Ein Doppelantlitz zeigt derjenige Dichter, der unter den neuern am wirksamsten den Fortschritt geleugnet, das goldene Zeitalter in die Vergangenheit verlegt und Rückkehr zur Natur gepredigt hat: Rousseau. Die große Revolution, die von Rousseau und seinen Fortsetzern aufgepeitscht worden ist, hätte ja keinen Sinn gehabt, wäre ja ein ruchloses Unternehmen gewesen, wenn die Völker nicht durch den Sieg der Vernunft hätten zu einem ganz schönen Leben kommen können. Kein Rebell, und Rousseau war ein Rebell, ist ein Pessimist; Rousseau, der Pädagoge der Jugend und der alten Menschheit, war ein Optimist und glaubte an den Fortschritt. Mit seiner Rückkehr zur Natur wollte er ja nicht leugnen, daß man zu seiner Zeit die Lebensbedürfnisse komfortabler oder raffinierter befriedigte als in Urzeiten, wollte er den Kulturfortschritt nicht leugnen; er wollte nur sagen (und alle unsere Dichter haben es ihm nachgesprochen): die Menschen der Urzeit waren glücklicher und besser als wir. Gerade über diese Relation läßt sich aber gar nichts Sicheres aussagen, abgesehen davon, daß auch die Positive glücklich und gut nur relative Menschenbegriffe sind; der Komparativ vollends, der die Relation von Bedürfnissen und Befriedigungen durch das Wort glücklicher ausdrückt, entzieht sich einer objektiven Maßbestimmung. (Vgl. Art. Glück.) Wenn also zweierlei zugegeben werden kann, erstens, daß ein goldenes Zeitalter nicht hinter uns in der Vergangenheit liegt, zweitens, daß wir die Bedürfnisse komfortabler und raffinierter befriedigen als die Vorfahren, so ist damit für das Verständnis des Begriffes Fortschritt nicht viel gewonnen. Höchstens vom Kulturfortschritt können wir unter der Herrschaft der herrschenden sozialen Ideen sagen, daß unter den Kulturvölkern die große Mehrzahl der Menschen reicher geworden ist als früher, reicher an Verbrauchsgegenständen, reicher auch an Genußmöglichkeiten. Man denke nur daran, daß die Freude an der Natur in solcher Weise, wie der moderne Kulturmensch sie genießen kann, den alten Völkern unbekannt war und sich ganz gewiß zu der sentimentalen Stärke, die sie jetzt anzunehmen vermag, erst seit etwa zwei Jahrhunderten entwickelt hat. Wir sind also wirklich reicher geworden an Brotfrucht und an Genüssen, die wir zu den ästhetischen rechnen. Ist damit bewiesen, daß die Entwicklung der Menschheit eine Richtung nach aufwärts hat? Ich glaube: nein. Wieder wird Ziel und Weg miteinander verwechselt. Wenn wir einen hohen Berg besteigen und in Spirallinien oder auf Serpentinen dem Gipfel zustreben, so genießen wir allerdings die verheißene Aussicht mit einem immer weitern Horizonte von einem höheren und höheren Punkte aus; und nur ein ganz intimer Freund der Natur wird einwenden, daß der Weg ebenso schön war wie das Ziel, daß unterwegs mancher Stein und Busch und Nebel selbst ebenso entzückte, wie die gepriesene Aussicht. Das Ziel aber, der Berggipfel, war doch nur ein Ziel für diesen Tag. Es ist dafür gesorgt, daß Bäume und Berge nicht in den Himmel wachsen. Nach einer Stunde kommt der Abstieg; jetzt ist das Tal das Ziel und der Weg kann ebenso reizvoll sein wie der Aufstieg. Wir können aus diesem Bilde mancherlei lernen. Auch die Bergfahrt der Menschheit scheint ja nicht in Ewigkeit fortzugehen; es ist dafür gesorgt, daß die Menschheit nicht in den Himmel wachse, daß der Turmbau von Babel nicht gelinge. Auch in historischer Zeit sind auf Zeiten hoher Kultur Zeiten der sogenannten Barbarei gefolgt. Ich hätte es mir bequemer machen und darauf verweisen können (vgl. Art. Geschichte), daß es keine historischen Gesetze gibt und daß die Annahme eines stetigen Fortschritts die Annahme eines historischen Gesetzes in sich schließen würde. Gäbe es aber einen solchen Fortschritt, so wäre eben die Leugnung aller historischen Gesetze unmöglich. Umgekehrt, wenn der Rückfall in Barbarei regelmäßig auf eine hohe Kultur folgen müßte, so wäre das wieder ein historisches Gesetz. Man denke an die periodischen Eiszeiten, die nach einer gut begründeten Hypothese den grünen Kulturgürtel der Erde im Wechsel von etwa 10 000 Jahren heimsuchen und die armen Menschen zwingen, anstatt Kunst und Wissenschaft zu treiben, den brutalen Kampf gegen Eis und Eisbären wieder wie in Urzeiten aufzunehmen und wohl jedesmal mit den Elementen der Kultur wieder anzufangen. Was da aber regelmäßig ist, das geht nur auf Naturgesetze zurück, nicht auf historische Gesetze. Wie sich unsere Enkel der nächsten Eiszeit gegenüber verhalten werden, darüber wissen wir nicht mehr als darüber, wie die angekündigte dereinstige Erkaltung der Sonne oder auch nur wie die Erschöpfung der irdischen Kohlenlager auf die Kultur der Menschheit wirken werde. Das sind Fragen der Psychologie, der Individualpsychologie. Schon auf dem Gebiete des Kulturfortschritts und seiner Segnungen wird mit den Summenworten Volk und Staat viel Mißbrauch getrieben; der wachsende Reichtum an Brotfrucht läßt sich noch objektiv und statistisch betrachten, aber schon die Benützung des Reichtums für die Befriedigung von Bedürfnissen ist individuell verschieden; und gar die Genußfähigkeit des Einzelnen, das Maß des Glücksgefühls, die Relation von Bedürfnis und Befriedigung gehört ganz in das Gebiet der Psychologie. Es ist einzig und allein eine psychologische Frage, ob diese Relation in der Richtung nach aufwärts fortschreite, ob wir wirklich glücklicher, besser, weiser geworden sind, weil wir reicher geworden sind an Brotfrucht, an Gefühlsbedürfnissen und – an Erfahrungen. So wird Fortschritt und Perfektibilität zu einer psychologischen Frage, die bei unsern Darwinisten die Form angenommen hat: gibt es eine Vererbung erworbener Eigenschaften? Ich glaube, auch diese Frage ist wieder einmal nur mit vorläufigen Worten gestellt, also falsch gestellt. Ich glaube, über den Kern der Frage wird man einig werden und sie dann bejahen müssen. Die Disposition zu einer größern Kompliziertheit des Nervenlebens wird vererbt; die Gehirnleistung und das Gefühlsbedürfnis steigert sich im Durchschnitt von Generation zu Generation. Ich glaube aber nicht, daß damit auch nur für die Fortschrittsmöglichkeit, für die Entwicklung zu einem glücklicheren Dasein, irgend etwas ausgemacht sei. Die Korrelaterscheinungen zu der Kompliziertheit unseres Nervenlebens, die wir heute unter dem Modeworte Entartung zusammenfassen, steigern zugleich unser Glücksgefühl und seine Hemmungen, sie raffinieren unsere Lust- wie unsere Unlustgefühle. Und ich fürchte, der intimste Menschenkenner wird, wie der intimste Naturfreund auf seiner Bergwanderung, mit lächelnder Resignation den Weg höher schätzen als das Ziel, das Schreiten für wertvoller halten als den Fortschritt. Wenn er nicht gar, wie ich gar sehr geneigt bin, lehrt: es gibt nur ein Leben, für den Einzelnen wie für die Menschheit; die Richtung denken wir uns dazu. Wir leben so dahin; aber wir wissen nicht, wohin wir leben. Es wäre denn, daß unser Glaube an ein Wohin, an ein Ziel, eine Richtung, einen Fortschritt unser Glücksgefühl steigerte. Dann wäre dieser Glaube ja sogar eine Wahrheit nach den Grundsätzen der neuesten Psychologie des Pragmatismus, der freilich dem Utilitarismus ähnlich zu werden in Gefahr ist. Und ich fürchte, es liegt auf dem Wege der Entwicklung, daß wir den Glauben an den Fortschritt im Fortschritte des Denkens einbüßen werden.