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Neunzehntes Kapitel.
Letzter Aspekt und Dank

Was alles gegen die menschliche Natur zeugen möchte, ihre monströsen Erkrankungen, ihre Wirrnis und Schwäche – dieses Zeitalter verdient Dank, daß es zum Schluß die bessere Seite freigelegt hat, die rechte, die sich sehen lassen kann. Die Arbeit war unverhältnismäßig teuer, die Handwerker kamen spät und sind längst nicht fertig geworden. Gleichviel: »Man kann einander wieder in die Augen sehen«, sagte im vorigen Krieg eine Theaterbesucherin. Diesmal geht mehr vor, als nur ein inszenierter Trost.

Das ist mein Aspekt – nicht zuerst der Dinge, der Meinungen, Nachkriegspläne, Gesetze über die Existenz, was alles erst Folge und Ergebnis ausmacht. Mein Generalaspekt wird beglaubigt durch das Bild amerikanischer Soldaten, wenn französisches Volk sie als die Befreier empfängt. Französisches Volk erinnert sich entfernt seiner eigenen wunderbar gehobenen Einzüge in befreite Länder, einst mit dem General Bonaparte. Aber dieselbe Begeisterung, dasselbe rechtschaffene Wohlwollen trägt die nächsten, nach den vorigen: sie haben dann die gleichen Gesichter, einfacher als je, schöner als geträumt.

Mr. Churchill, le général de Gaulle, anzusehen, stürmisch oder dunkel, stellen vorsätzlich dar, was gemeint ist: die menschliche Verwandlung – die meisten lassen sie mit sich nur geschehen. Im Zwielicht zweier Zeitalter, des abgelaufenen, des angetretenen, nimmt der Durchschnitt es ungenau und leicht. Es wäre auch gegen die Absicht, wenn sie eindrängen, wie die beiden Genannten, oder die anderen beiden, Ungenannten. »Krieg wird es immer geben?« Sie mögen glauben, daß sie sowohl den Krieg wie den Existenzkampf besiegt haben. Je länger sie es glauben, um so länger wird es wahr sein.

Der Mensch, das Menschengesicht sind, was sie nicht mehr gewesen waren, rührend geworden. Rührung erregt der Gleichgültige nie, wäre er so vortrefflich, wie er meint. Nicht das Vortreffliche, das Fragwürdige rührt, mit seinen Gefahren. Was rührt mich? Die geheime Unzuverlässigkeit hinter einer Stirn, die gern hart und treu wäre. Der Gefährte, dessen Herz nicht sicher ist. »Toujours ce compagnon dont le coeur n'est pas sûr« – wenn das nur die Frauen wären! Die unterwegs liegengebliebenen Vorsätze, vergeblichen Hochgefühle, Freundschaft, die vergessen wird, die Sehnsucht nach ewiger Liebe in einem Leib, dessen Zellen unbeständig sind.

Goethe war es, der niemals ohne Rührung in ein Menschengesicht blickte. Um ihn zu befriedigen, waren sie nicht fest und sicher genug: dies der eingestandene Grund seiner Naturforschung. In seinem Aufsatz »Über den Granit« (1784) steht:

»Ich fürchte den Vorwurf nicht, daß es der Geist des Widerspruches sein müsse, der mich von Betrachtung und Schilderung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles der Schöpfung zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat.«

Weiterhin: »Ja, man gönne mir, der ich durch die Abwechslungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnellen Bewegungen derselben in mir selbst und in andern manches gelitten habe und leide, die erhabne Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Natur gewährt, und wer davon eine Ahnung hat, folge mir.«

Die Ruhelosigkeit des Menschenherzens hat ihn gerührt und ermüdet, als seine Zeitgenossen, wie meine, in ihren falschen-richtigen Freiheits-Ekstasen befangen waren. 1792, während des Feldzuges in Frankreich, als die fremden Armeen zurückgingen, machte er ein Aquarell: um die Mitte seines Lebens kommt es einem Bekenntnis gleich – aber welchem? Am Straßenrand ein Mast mit der roten Mütze oben. Goethe kopierte die angebrachte Inschrift: »Passants, cette terre est libre.« Um zu sagen: »Große, schöne Vorsätze?« Um mitklingen zu lassen: »Aber ich kenne euer mannigfaltiges Herz?« Was schriebe er wohl an die Grenze der Sowjetunion? »Vorübergehender, verweile!«

Ein neuer Mensch, ein anderes Zeitalter nehmen ihren Anfang hier. Die menschliche Fähigkeit der Verwandlung erreicht ihr relatives Höchstmaß diesmal. Eine sittliche Welt ohne Vorgang und Vergleich entsteigt – unnütz zu fragen, welchen weitläufigen Zusammenhängen. Sie ist da, sie erhält sich – erhält sich nunmehr länger als die französische Revolution einbegriffen den Kaiser. Die Sowjetmenschheit, »mit dem Bewußtsein was sie soll geboren«, siegt. Aber mehr, ihr sieghaftes Lebensgefühl ergreift andere.

Das ist ein Höchstmaß von Erfolg, das allgemeine Lebensgefühl zu steigern, nach allem Geschehenen, das es tief hätte senken müssen. Der Anstifterin, Vorkämpferin nicht zu danken, wäre schwer. Alle danken ihr jetzt: daß sie verwandelt ist und siegt, daß sie selbst nunmehr siegen und sich verwandeln können. Unter den Nationen bewährt sich als die gerechteste die Nation des lange geschulten Realismus: die britische. So verläuft diesmal eine menschliche Verwandlung. Früher kam sie auch zustande, nur daß zähe, verständnislose Koalitionen gebildet wurden gegen das revolutionäre Frankreich, mit dem konservativen Britannien immer vorweg.

Die Umstände sind dem Menschen auffallend günstig, seinen sittlichen Aussichten, der Lage seiner Existenz versprechen sie ungewöhnlich viel. Hiermit schließt aber ein Zeitalter, das in seinen Anfängen eigentlich gar nichts versprach: niemand hätte auf seine guten Vorsätze gehört. Die einzelnen – auf sie kommt alles an – waren für Verwandlungen weder vorbereitet noch gestaltet. Jetzt erfahre ich, innerlichst erstaunt, von ihren Metamorphosen.

Da ist ein Würdenträger der deutschen Republik. Noch in Paris betrachtete er, was geschehen war, »vom Standpunkt der Behörde«. In Amerika verzichtet er auf Ehrengaben und arbeitet in der Fabrik: ein älterer Mann, jetzt wieder proletarisch. Ihn bewundere ich, nicht mich, der den deutschen Arbeitern höchstens sagen könnte: »Wißt ihr noch, die Wohlfahrt? Stempeln, eure Alten haben es geübt. Ich auch, ihr guten Kinder, ich seither auch.«

Ich danke dem Zeitalter und seinen Menschen: beide sind von bequemen Anfängen zu katastrophalen Vollendungen geschritten. Meinem Geschick bin ich dankbar – nicht, weil ich bald oben, bald unten war. »Wo ich sitze, ist immer oben.« Sondern, daß meine Verantwortung heute von vielen, genau sogar von allen mitgetragen wird. Wir waren einst wenige, auf denen geistige Verantwortung lastete, ohne unser Verdienst gewiß, aber wir waren so beschaffen.

Daher habe ich erst jetzt den vollen Sinn für die schöpferische Begabung des Menschen. Er ist das Wesen, das von Gut und Böse weiß: das macht ihn zum Gestalter. Meine Bewunderung der Meisterwerke kennt keine Grenzen: sie allein sind die aufrechten Zeugen, daß gelebt und vollendet worden ist; sie und die hohen Persönlichkeiten, die großen Nationen. Auch diese dauern, vermöge derselben komponierten Vollkommenheit wie die anderen Arbeiten der Künstler: sind selbst von ihnen erschaffen. Ohne einen Michelet, nicht dieses Frankreich. Dieses Rußland, nur mit einem Tolstoi.

Die Symphonie Pathétique erreicht wahre Wunder an Schönheit und Macht, je näher die Stunde, da sie das letztemal vor mir aufrauscht. In Büchern, die ich immer kannte, entdecke ich zum Schluß das völlig Unerhörte. Der Philosoph Leibniz soll gesagt haben: »Eigentlich war alles, was ich las, richtig.« Richtig, daß es ein helles Staunen bleibt und einen Zugang, ich weiß nicht wohin, eröffnet, ist das Geschaffene.

Ich muß mich besinnen, daß auch die Meister nur ihr armes kleines Leben besessen haben, mit einer tiefen Heiterkeit als Grundstock ihres Vermögens. Aber wie oft vergaßen sie sich! Flaubert sogar wäre beinahe ins Handgemenge geraten mit seinem Kritiker. Handgemenge und Flaubert, das wahllose Beieinander der Silben erinnert mich an eine Schlacht bei Salerno, und sie hat stattgefunden.

In das Unbekannte gesendet: Ich danke euch. Ihr wißt: nicht jederzeit wird euch dergestalt Ehre erwiesen werden. Die Meisterschaft als Vorbild, die Fruchtbarkeit als Ziel und Ende: das Zeitalter, das es zum Schluß so will und mich aussprechen läßt, hat gesäumt und sich vergessen, bis es dennoch an das Werk ging. Es mitleben von A bis Z war zum Weinen und zum Lachen. Besichtigt man es nachher – ja, eigentlich schon jetzt von jenseits einer Schwelle besichtigt, hat es an Ehrenhaftigkeit überaus gewonnen.

Sei ein anderes schöpferischer! Ich lebte dieses, nahm früher als dieses die Meisterschaft zum Vorbild, aber von bequemen Anfängen schritten wir zur katastrophalen Vollendung.

 

Abgeschlossen am siebzehnten nach dem D-day.
Die Tage werden kürzer.

 


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