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Die geistige Freiheit hat dennoch bestanden, einzig die Republik hat sie den Deutschen jemals gewährt – nicht aus Schwäche, sondern weil in ihrer Exekutive einige sich selbst achteten.
Sie hat die Literatur amtlich anerkannt und hat sie geehrt. Jede vorige Literatur war dem Staate fremd gewesen: die unsere nicht. Die preußische Akademie der Künste, eine Gründung Friedrichs des Großen, hatte solange die bildenden Künste und die Musik umfaßt; sie bekam endlich eine Sektion für Dichtung. Das war nötig und darauf berechnet, daß die Literatur eine Macht sei. Allein durch ihre innere Auszeichnung wird sie keine, aber sie wird es vermöge ihrer behördlichen Zuständigkeit, im Mitbesitz eines Palastes, Sitzungssaales und der Mittel, um öffentlich zu repräsentieren. Der Staat gewährte der literarischen Akademie ihre Unabhängigkeit, er hat die Zuwahl von Mitgliedern niemals beeinflußt. Daher ließ er geschehen, daß dort, wie überall, seine Feinde eindrangen.
Gleichwohl beschloß die Sektion ein Volkslesebuch – sein Inhalt sollten die Arbeiten des Volkes und seine Freuden sein, die Geschichte Deutschlands sollte nicht länger beschränkt werden auf Schlachten, auf den Ruhm von Feldherren und Fürsten. Das Buch wurde fertig, der Minister Grimme, der letzte sozialdemokratische, begünstigte es. Seine Beamten hüteten sich, es in die Schulen einzuführen: das Ende der Republik kam schon in Sicht. Der Vorsatz war gewesen, die Erziehung der Deutschen umzugestalten im Sinne der gegebenen Tatsachen, gesetzt, sie wären Tatsachen und wären gegeben. Die Vernunft und die Menschlichkeit, wenig angewendete Begriffe, sollten eine Handhabe bekommen.
Dieser war nicht der erste Versuch der Republik, die nationale Erziehung geistig und sittlich zu berichtigen. Ein anderer hochgebildeter Unterrichtsminister, Becker, der es vorzog, bald zu sterben, hatte zwischen Lehrerseminare und Hochschulen eine vermittelnde Stufe gelegt, der Abstand wurde verringert von den Studien der Elementarlehrer zu der Ausbildung höherer Dozenten. Nur Zeit, der Nachwuchs der arbeitenden Klasse hätte eine Grundlage von Wissen erworben. Gemeint war gewiß, die Feindseligkeiten abzustellen zwischen den halb belehrten Zöglingen der Mittelschulen, die ihre Unwissenheit nicht empfinden, und den Gemeinen, die immer unter ihr leiden. Die entschiedenste demokratische Maßnahme der Republik ist diese. Die Republik, in jeder anderen ihrer Betätigungen unfrei, hat wenigstens die Erziehung nach ihren Kräften befreit.
Das ist, für sich allein, nicht viel. Die Lehrer mußten nicht alle guten Willens sein. Die Machtverteilung im Staat aber blieb sich gleich; da hilft nicht, daß die Benachteiligten mehr wissen. Oder es hülfe erst, wenn die friedlichen Zeiten und Zustände lange genug gedauert haben. Sie sollten nicht anhalten, dafür war gesorgt.
Die Schriftsteller standen bei der Menge, einer erheblichen Menge aus arm und reich, nicht nur im Ansehen, sie waren ihr bekannt. Ein Mittelstand, der umfänglicher wurde mit dem Anwachsen einer gehobenen Arbeiterschaft, ließ sich nicht mehr genügen an den literarischen Äußerungen des Augenblicks: die Leute fingen an, die Zusammenhänge des Geschehens zu beachten. Das ist aber das erste. Eine nationale Gemeinschaft muß urteilen lernen bis in ihre Vergangenheit, damit sie endlich selbst über sich bestimmt. Das eigene politische Handeln setzt Literaturkenntnis voraus.
Zu derselben Zeit, als gute Bücher Massenauflagen hatten, soll eine nationalsozialistische Schundware reißend abgegangen sein. Der Schaden wäre gering, wenn diese Sorte nur geschrieben, nicht auch gemordet hätte. Aus dem 19. Jahrhundert Rußlands, von Puschkin bis Gorki, sind die Meisterwerke erhalten: sie, und nicht die minderwertigen Produkte, haben das öffentliche Bewußtsein durchdrungen. Deutschland erlebte ähnliches, aber flüchtig wie alles, was der Republik beschieden war.
Ich denke an meinen Briefwechsel mit einem Berliner Zimmermaler. Er sah seine Kameraden verbittert, begriff die Gründe, durchschaute die Fehlschlüsse. Ihm war es klar, daß ein Abenteuer, den meisten unerwünscht, nur aus Ärger zugelassen, endlich hereinbrechen und daß es alle enttäuschen muß. Es war ein Gefühl; aber es war die verhängnisvolle Wendung des Lebensgefühls.
Das Lebensgefühl der Republik, solange sie noch nicht in voller Auflösung begriffen war, umfaßte eine innere Gehobenheit, mitsamt der Voraussicht, sie sei vorläufig, sei bedroht. Ja, an den Arbeitsstätten wurden Waschräume erzwungen. Ja, Bibliotheken standen zur Verfügung. Versichert war man gegen Unfälle, Krankheit, Alter, gegen die meisten Beschwerden, bis auf den Tod. Aber die Besitzer hörten nicht auf zu klagen, sie seien nicht »Herren in ihrem Betrieb« – und tatsächlich, die wirkliche Machtverteilung rechtfertigte keinerlei soziales Entgegenkommen der Republik.
Ihre wirtschaftliche Lage widersprach durchaus den luxuriösen Gebäuden, die sie den Arbeitern als gemeinsame Wohnstätten errichtete: jede Wohnung mit Sonne und Bad, große Höfe voller Zierpflanzen, Dächer für hygienische Bestrahlungen. Das Geld, das diese volkstümlichen Herrlichkeiten kosteten, war den internationalen Verpflichtungen entzogen. Ein Berliner Stadtrat, der mich durch die Arbeiterkolonien führte, gestand: »Fremden dürfen wir das nicht zeigen.« Es Nazis zu zeigen, wäre zwecklos gewesen, es hätte sie gegen eine menschenfreundliche Verwaltung der Existenz nur weiter aufgebracht.
Die Arbeitslosigkeit nahm zu. Dann aber Bäder? Sonnendächer? Die Arbeiter selbst wußten es der Republik nicht Dank. Wir sind skeptisch gegen einen Mäzen, der auch nichts hat. Damit einer uns helfen kann, verlangen wir von ihm die Kraft, sich selbst zu erhalten. Die Republik ist schließlich furchtbar entartet. In ihren besten Jahren, 1925 bis 1927, genoß sie dennoch kein Vertrauen.
Vierzehn Jahre sind vom Leben des einzelnen ein beträchtlicher Teil. Er nimmt die gewährten Wohltaten hin, zeitweilig vergißt er, daß nichts sie sichert. Ich schrieb meine Romane, sie behandelten Gegenstände von leidlicher Friedfertigkeit, nur der Boden schwankte: von Mal zu Mal spürten die dargestellten Personen, die als erste von meinen Handschriften Kenntnis nahmen: »Wenn Deutschland ist, wie Sie es schildern, verdient es die Nazis.« Das Wort ist wahr geworden. Ein anderes auch: »Wie lange soll das Romaneschreiben noch dauern?« Sehr richtig, und wie lange die hohen Einnahmen, das behütete Arbeitszimmer mit den angesammelten Büchern und Möbeln, ererbten, alterworbenen? Wie lange bleiben die Erinnerungen eines Lebens noch verschont?
Der Haß, der mir fremd war, mich wußte er zu finden. Nachgerade war ich sichtbar genug. Ich trug nunmehr den Titel eines »Präsidenten der Dichterakademie«, wie man sagte, obwohl ich einfach Vorsitzender der literarischen Sektion in der Akademie der Künste war. Das bedeutete, wenn man wollte, einen amtlichen Rang; ob ich mochte oder nicht, stellte es mich in die Öffentlichkeit, wo einer unaufhörlich photographiert wird.
Meine Feinde konnten mich mit niemandem verwechseln. Auch Geschäfte mit mir zu machen, ergaben sich ungeahnte Gelegenheiten, als die persönliche Namhaftigkeit verstärkt wurde durch staatliche Geltung. Ich hatte von jeher in Vortragsreisen gewilligt, sooft sie mir angeboten wurden. Jetzt beriefen mich nicht nur literarische Vereine, sondern Theater, politische Parteien, die Hamburger Demokraten, ihr großer Bürgermeister Petersen; und andererseits Warenhäuser. Ich hätte es nie geglaubt, aber sie wünschten mein Auftreten – den Rhein entlang von Stadt zu Stadt oder in Berlin.
Ich gedenke eines Nachmittags bei Karstadt am Hermannplatz. Belebteste Geschäftszeit des Tages, eine Fülle kleiner Hausfrauen machten ihre Einkäufe, aber der Durchgang von den Nahrungsmitteln zur Konfektion war ein Saal, wo nichts verkauft wurde. Ein Mann, der etwas vorlas, saß hinter dem Tisch, Bänke waren vorhanden, die Frauen mit ihren Lasten, die zufällig diesen Weg nahmen, ließen sich nieder. Sie atmeten ein wenig auf und gingen weiter, wenn sie nicht sitzen blieben und zuhörten, solange ihre häusliche Pflicht es erlaubte.
Sie äußerten sich über ihre Eindrücke nicht, möglichenfalls waren ihre Gedanken anderswo, oder der Sprecher vermittelte ihnen ganz ungewohnte, vielleicht angenehme. Aber sie waren kein Publikum wie das übliche, waren weder eingeladen noch befugt. Ein Warenhaus stellt manches aus, hier gab es seinen Kunden die Gelegenheit, einen Einblick in die Literatur zu nehmen. Die Frauen kamen und gingen. Meinen Namen haben sie kaum gekannt, von den gehörten Sätzen kann ein halber bei der und jener haften geblieben sein. Dieses mein anonymes Auftreten in einer fließenden Menge, die meinetwegen keine Umstände machte, zählt zu meinen reinsten Erinnerungen an das öffentliche Leben der Republik.
Fünfundzwanzig Jahre früher bot ein Warenhaus als besondere Attraktion die »wundertätige Alraunwurzel« unter Glassturz. Man sollte sie nicht kaufen, nur staunen sollte man. In dem Jahrzehnt vor dem zweiten Krieg waren die Kaufhäuser (ich kann nicht wissen, ob auch in Deutschland) beständig durchtobt von dem Lärmen einer Radiojazzmusik. Verkäuferinnen, die noch nicht taub dagegen waren, müssen nervöse Zusammenbrüche erlitten haben. Während der deutschen Republik wurde es zeitgemäß und nützlich befunden, Autoren vortragen zu lassen für alle, die vorbei kamen und das Ohr hinhielten. Das bedeutet, daß die deutsche Republik besser gewesen ist als ihr Ruf, ihr Geist besser als die Tatsachen, die ihr ein Ende machten.
Die Tatsachen wurden übler mit jedem Jahr, und diese waren schon die letzten. 1931 auf einer Terrasse in der Nähe von Innsbruck, hörte ich am Nebentisch flüstern, daß die Berliner Banken gesperrt seien. Reichskanzler Brüning, ein frommer Katholik, denn Stützen der Republik waren die Katholiken, hat mit den unfähigen Männern der Wirtschaft erregte Auseinandersetzungen gehabt. Sie kamen zu dem Ende, daß der Staat die Verluste der Banken übernahm, dagegen die Gewinne ihnen allein überließ.
Eine Beteiligung des Staates an den Gewinnen wäre, so scheint es, sozialistisch gewesen: das ging nicht. Erlaubt waren staatliche Zuschüsse: der Landwirtschaft die »Osthilfe«, der Industrie die dreifach ersetzten Löhne – die erste amerikanische Anleihe, 800 Millionen, wurde von einem Reichskanzler, der Luther hieß, an die Industriellen abgeführt, ohne daß er irgend jemand um Erlaubnis bat. Alle diese Klienten der Republik haben bares Geld gehabt, um es in die Kasse Hitlers, ein Loch ohne Boden, zu werfen. Kein Geld hatten sie, sieben Millionen Arbeitsloser zu beschäftigen. Die mußten sein, sonst half dem ganzen Hitler ihr Geld nicht.
Dieser Hitler, ein Tribun der Republik – er hat ihre eigenen Beschwerden vorgebracht, unredlicherweise richtete er sie gegen die Republik –, hatte »zwei Hände zum Nehmen«, wie seine Juden es ausdrücken: von seinen Talenten war nur dieses unbezweifelbar. Übrigens die Vorsicht in Person; ist kein Risiko eingegangen, außer er wußte es straffrei. Immer gehorsam, immer geduldig. Die Machtergreifung war näher als er dachte, da sprach er, was mehrere Wiederholungen lohnt: »Zehn Jahre habe ich gewartet: wart' ich noch zehn Jahre!« Ihm war der Aufschub nicht vergönnt, so gern er den Ungewißheiten der Machtergreifung weiterhin ausgewichen wäre. Aber Hindenburg verriet und die Arbeitslosen nahmen überhand.
In der Uhlandstraße, einer reichen Gegend, wandelte fluchend ein nackter Mensch. Von der Hose bestanden die unerläßlichsten Reste, oben nichts, und es war Winter. Am Alexanderplatz, dem alten Zentrum Berlins und Hauptquartier der Polizei, schlug einer, der Kleider benötigte, in aller Ruhe ein Schaufenster ein, die Passanten fanden nichts einzuwenden. Er versah sich mit einem Anzug und ging seiner Wege. Die Verzweiflung hatte ihn entschlossen gemacht, übrigens gehörte er zu den Ungeschickten. Wer die Wohlfahrtseinrichtungen der Republik auszubeuten verstand, brauchte nicht einzubrechen. Mann, Frau und die Halbwüchsigen genossen, jeder unter einem anderen Vorwand, die staatliche Unterstützung.
»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«, behauptet der Dichter Brecht. Leider traf es nicht zu. Die allgemeine Unzufriedenheit erstreckte sich von den kahlsten Gelassen in die bequemen Wohnungen, wo man aß. Das Gefühl: so bleibt es nicht, hier ist unseres Bleibens nicht, greift durch Ansteckung um sich. Überlegung und Wille sind meistens unbeteiligt. Quer über die Potsdamer Straße, eine wichtige Verkehrsader, lief eine Inschrift auf Leinen: »Den Rundfunk frei für Hitler!« Er erfreute sich aller Freiheiten, er allein war überall zu hören – ob auch noch auf der Luftwelle, verschlug nichts mehr.
Kein Mensch sehnte sich, dieselbe Rede zum tausendsten Male zu genießen, nur der Haß gegen die vorhandene Ordnung oder Unordnung diktierte die Forderung. Sie wurde nicht befriedigt, aber die Republik fand auch keine Antwort. Man hat versucht, sie ihr beizubringen; für meinen Teil unterbreitete ich dem Preußischen Ministerium des Innern meine Anregungen, die nationalsozialistische Propaganda zu überbieten, sie mit ihren eigenen Griffen zu ersticken. Der Staatssekretär, heute ein Schweizer Fürsprech, von jeher ein wohlwollender Mann, ließ seine Angestellte ein Stenogramm aufnehmen und verlangte die Reinschrift. Wir warteten eine Stunde, bis wir erfuhren, die Abschreiberin sei zum Essen gegangen. So ernst wurde an der Stelle, die, mehr als jede andere, die Republik verantwortete, ihre Erhaltung genommen.
Sie ist gefallen, woran niemand gezweifelt hatte; nur die Art, wie sie fiel, übertraf die Erwartungen. Gleichviel, gesiegt hat nicht Hitler: der Überdruß an einem Staat, der nicht leben will, entmutigt seine Anhänger. Die Republik hat bis zuletzt eine Mehrheit gehabt, am sichtbarsten in ihrer Hauptstadt. Eines Nachmittags beobachtete ich aus einem hohen Fenster der Akademie der Künste, wie daneben, am Brandenburger Tor, die berittene Polizei ihre Wache ablöste.
Es war eine stattliche Truppe mit den Merkmalen der militärischen Schulung. Sie betrug in ganz Deutschland dieselbe Zahl, die der Reichswehr vertraglich erlaubt – aber längst überschritten war: 100 000 Mann. Die Polizei umfaßte nur verläßliche Republikaner, insofern ihr Kommandeur die Rekrutierung bestimmte; er selbst war sicher. Er hätte auf das erste Wort jeden Feind des Staates angegriffen und ihn zweifellos niedergeworfen. Es kam auf die Probe an; er hat sie erwartet.
Das Getrappel der Pferde damals, auf dem Pariser Platz, reichte weithin Unter den Linden; das Aufgebot von Mannschaft war offenbar stärker, als eine einfache Ablösung gerechtfertigt hätte. Sondern die republikanische Schutztruppe demonstrierte – und mit ihr eine angesammelte Menge. Ich sah geöffnete Münder, erregte Augen; die Zurufe, wie sie auch lauteten, meinten alle dasselbe: Rettet! Rettet! Sie klangen empört und doch verzagt. Ihr Unterton hieß: zu spät. An meinem Fenster oben begriff ich ihn zu gut.
Wenige Tage später, der Minister, der über diese zuverlässige Truppe verfügte, der Polizeiminister, ließ sich verhaften von einem Leutnant der Reichswehr. Das war das erste Auftreten des Heeres. Von 1918 bis 1933 hatte es nie gehandelt. Aufstände warf es auf Befehl nieder, auch den Münchener Putsch eines obskuren Hitler. Es hatte Geld genommen, heimlich gerüstet und verräterische Pläne für den nächsten Krieg gebrütet. Die Leitung dieses vorgeblichen Volksheeres war verschlagen und feig. Ihre erste eigene Tat: die Verhaftung eines Ministers der Republik – der nur auf den Knopf zu drücken brauchte, und seine Schutztruppe schritt ein, und Berlin war im Aufstand: war für die Republik, gut oder schlecht, wie man sie kannte. Der schlimmere Fall blieben immer noch ihre Feinde.
Die Sache ist, daß alle Verantwortlichen neutral waren; daß die Deutschen in tiefster Brust neutral sind, sobald es ihre eigenen Angelegenheiten angeht. Sich in fremde einmischen, gut. Länder, wo sie nichts zu suchen haben, anfallen, zu schweigen von dem blödsinnigen Wachtraum einer Welteroberung: das geht. Was nicht vorkommt bei ihnen, ist ein innerer Krieg. Ihr Land, ihren Staat und sich selbst verteidigen gegen wen immer, ich fürchte, es wird nicht erlebt werden. Irre ich, dann war alles bis jetzt Geschehene fehlerhaft, oder mußte geschehen, um spät berichtigt zu werden.
Die Republik hat um Berlin nicht gekämpft, obwohl sie es konnte. Die Generale dieses verlorenen Krieges werden erst recht nicht um Berlin kämpfen. Die Armee der Republik hat der Machtergreifung Hitlers unbeteiligt zugesehen. Das Schicksal Deutschlands berührte die Generale nicht: ihre Selbstherrlichkeit oberhalb des Staates interessierte sie allein. Gegen Hitler, der die Armee gleich anfangs unter seinen Befehl zu bringen dachte, haben sie sich in der Bendlerstraße verschanzt, sie fuhren Kanonen auf, der Führer und unumschränkte Gebieter aller Folterkeller bewerkstelligte den ersten seiner planmäßigen Rückzüge – nachher im Krieg folgten viele.
Von der Neutralität, deren die Generale sich befleißigten, war der Leutnant, der den Minister auf den Arm nahm, eine leichte Abweichung. Der damalige Reichskanzler von Papen gewann sie ihnen ab. Im vorigen Krieg war er ein berufsmäßiger Spion gewesen, er fand unter Hitler seine Sendung wieder, die Gabe der Verführung ist ihm angeboren. Später versöhnten die Generale sich auch mit Hitler – dessen Dummheit ihnen doch eingeleuchtet haben muß und der als Mörder bei ihnen nicht haltmachte. Er brachte General von Schleicher schon 1934 um, General von Fritsch ließ er 1939 an der polnischen Front erschießen.
Gleichviel, die Kameraden der Ermordeten rückten in die höchsten Kommandostellen, sie wurden Marschälle, zwölf auf ein Dutzend; das alte Preußen hatte einen oder zwei, niemals mehr zur gleichen Zeit gehabt. Sie herrschten über Frankreich und ließen sich in Rußland schlagen. Sie wurden abgesetzt, wieder eingesetzt, verschwanden, unbekannt, ob lebend oder tot. Der französische Minister Mandel starb an seiner ersten Mahlzeit in einem deutschen Gefängnis. Ihm glaubte man es. Kein anderes Heer der Welt hat die Inhaber der Befehlsstellen so oft ausgewechselt von Schlacht zu Schlacht wie dieses. Tut nichts, dieselben Militärs, mit denen umhergeworfen ist wie mit Alteisen, mal Hausarrest, mal Dank ihres lumpigen Kriegsherrn, haben ihm gehorcht, solange sein erschwindelter Ruf ihm den Schein der Macht verlieh. Erst seit dem Ende seiner Geltung erfährt man, daß sie ihn immer verachtet haben; daß Deutschland nicht Hitler ist; – sondern das Heer, ihr Heer, das sie verachtet, wie sie selbst den Hitler, sei Deutschland! August 1943, es ist so weit, daß sie Frieden anbieten, ohne geheime Umwege, laut und deutlich durch Funkspruch – und vergeblich – über den Kopf und Körper des gestürzten Führers hinweg.
Natürlich hat er zugestimmt, seinesgleichen ist imstande, sogar die Bestrafung der »Extremisten« – seiner Partei – den siegreichen Feinden zu versprechen. Was Hitler schwört oder seine Generale auf ihr Gewissen nehmen, wiegt beides gleich. Die Voraussetzung bleibt, daß es den siegreichen Feind nie geben wird, die deutschen Heere sollen »im Felde unbesiegt« heimkehren, genau wie 1918. Bevor der Sieg des Feindes offenkundig wird, muß er um ihn betrogen sein. Drohungen mögen helfen, wenn man sie schlau den Versprechungen beimischt.
Der Feind, ohnedies keine lückenlose Einheit, kann mit sich selbst entzweit werden. Der Sieg macht Verbündete zu Gegnern. Hütet euch, Deutschland zu betreten! Dort beginnt eure wahre Gefahr! Denn ihr habt mit Deutschland verschiedene Absichten! Das ist die Methode, das ist der Klang. Der einzige Sinn heißt: Deutschland nicht verteidigen müssen. Diese Generale, mitsamt ihrem Hitler, fanden nichts dabei, in alle Länder Europas den Schrecken zu tragen. Die Verwüstungen eines Kontinentes haben ihnen nicht heiß gemacht, die Massengräber der Ermordeten nicht übel. Die Jugend einer Welt auszurotten, hielten sie sich für befugt. Sie waren bemüht, kein Erbe, keine Überlieferung zu verschonen. Versklavung der Nationen, Hungertod der einen Hälfte, die andere Hälfte mit Zwangsarbeit zugrunde gerichtet, und wo immer man sie antraf, Vernichtung der Kultur: wie begreiflich ist dies alles, wie entschuldbar!
Der Vertrag von Versailles erklärt, was geschehen ist, der totale Krieg entspringt dem Vertrag von Versailles – dem gesittetsten Vertrag das Äußerste von Barbarei. Das wird hingeredet wie nichts, in dem Funkspruch der Generale, desgleichen vorher von Hitler, nicht anders schon in der Republik. Sie bleiben dabei, sie haben recht gehabt, schon 1914. Dem Willen der Geschichte entgegen und unter Nichtachtung der deutschen Weltanschauung ist es ihnen ausgerutscht. Bei nur wenig verschiedenen Umständen – wenn Deutschland nicht Deutschland, die Welt nicht die Welt wäre – hätten sie Glück gehabt. Recht behalten sie auch so, und verdienen, belohnt zu werden mit einem noch viel milderen Vertrag als Versailles war.
Vor allem aber bleibe das einzige Land, das nie ein Feind betritt: Deutschland! Diese Neuheit soll, ihnen zu Ehren, erfunden werden. Als der Kaiser der Franzosen in sämtliche Hauptstädte des Kontinentes eingezogen war, besuchten endlich drei Herrscher die seine. Berlin darf keinen ungemütlichen Gast empfangen müssen! Was wäre denn das, die Generale hätten den Weg nach der Hauptstadt zu verteidigen. Das ist innerer Krieg, der Krieg gegen den Feind im Lande und gegen die Nation, die genug hat – von den Generalen samt Zubehör, von der Autorität, dem Feudalbesitz, den Herrschaften, die sich die Industrie nennen. Es wäre der Krieg im Lande, kompliziert durch Bewegungen, die gewöhnlich Revolution heißen.
Die Deutschen sind nur ohne Erfahrung hinsichtlich beider Formen des inneren Krieges. Ihre fremden Kriege spielen außer Landes. Ihre vorigen Revolutionen, die demokratische und die faschistische, haben sie Gegenrevolutionären überlassen. Menschlichem Ermessen zufolge werden sie Deutschland nicht verteidigen wollen. Auch den Generalen fehlt durchaus die Begeisterung, in diesem Punkt wie in anderen: ein de Gaulle wird unter ihnen noch nicht bemerkt.
Als die Republik stürzte, verhielt die Nation sich neutral. Die Generale verhielten sich neutral, bis auf die Verhaftung des Ministers durch den Leutnant, eine leichte Abweichung. Stärkere können einst vorkommen. Die Nation kann ihren Widerwillen, sich selbst zu helfen, dennoch überwinden. Die Generale könnten sich genötigt sehen, um Berlin zu kämpfen, nach so vielen entlegenen Städten, deren Namen man nicht gekannt hatte.
Worauf es ankommt: der Geist, der bis jetzt vorherrscht, ist noch immer der Geist der Republik – ausgeschweift, zerrüttet, anstaltsreif, bleibt er ihr Geist. Gegenrevolution und Weltkrieg, beide mit einem alten Vertrag begründet, und die Unlust, Berlin zu verteidigen, machen die Republik nicht ungeschehen: sie setzen sie fort.
Erstaunlich ist nicht das Ende der deutschen Republik. Vorzeitig kann es nicht genannt werden, wahrhaftig hatte die Republik beizeiten mit ihrem Ende den Anfang gemacht: ihr Beginn ist gleich der Schluß. Da erblickt man einen Reichspräsidenten, Vorsitzenden im Rat der Volksbeauftragten, oder welchen irreführenden Titel der Arme sich beilegen muß. Unter dem Brandenburger Tor empfängt er Truppen, die aus dem verlorenen Krieg zurückkehren. »Im Felde unbesiegt«, redet er sie an. Er weiß nicht, daß sein Wort sie mit Schmach bedeckt, die Republik und ihn selbst mit Schmach und Schande bedeckt. Unbesiegt ziehen sie ein wie die Sieger (und knütteln alsbald die Revolution nieder?). Hätten noch kämpfen können und tun es nicht? Sind lieber risikolose Heimkämpfer? Was für erbärmliche Truppen! Welch ein unwürdiges erstes Auftreten des Staates, der neu sein sollte!
Die französische Dritte Republik hat siebzig Jahre gedauert, weil sie weiterkämpfte, als das Kaiserreich geschlagen war – und weil sie nicht log: im Felde unbesiegt. Ehrlichkeit mildert eine erlittene Niederlage. Der Endkampf eines Besiegten, der ihm nicht ausgewichen ist, erwirbt Achtung, die lange nachhält. Sie rechtfertigt seine Selbstachtung – auch wenn eine Kommune niedergeschlagen wird, was 1871 eher im Gesetz des Augenblickes lag als 1919. Die deutsche Republik hat sich niemals geachtet. Daher hat sie niemand begeistert – womit auch? Mit der Lüge: unbesiegt? Einzig ihre Verlogenheit war unbesiegbar. Niemand hat sie geliebt – wofür wohl? Weil sie in Versailles anstandslos unterschrieb? Clémenceau saß da, er warf keinen Blick auf die armen Hunde, die in Vertretung hereinschlichen, während Hindenburg, Ludendorff und der Kronprinz sich drückten. Gleichviel, den Augenblick hatte der Alte sein Leben lang erwartet. Jeden Deutschen, der sein Diktat entgegennahm – und es verdiente –, hätte er genau so verachtet wie diese Namenlosen.
Die Republik ist sich zeit ihres Bestehens bewußt geblieben, daß sie Verachtung verdiente. Sie hat sich nicht geschämt, zu winseln, das Mitleid in Anspruch zu nehmen, es zu organisieren, als sie schon heimlich den nächsten Krieg organisierte. Ihre vierzehn Jahre sind vierzehn Jahre der Schmach – in einer Bedeutung, die kein Hitler versteht. Dieser Machtergreifer hat die vierzehn Jahre der Schmach viertausendmal ausgespielt gegen die Republik. Seine eigenen Jahre – das vierzehnte ist nicht erreicht – sind ausgefüllt mit derselben Verlogenheit, aber technisch vervollkommnet: eine Propaganda der Lüge, die der matten Republik nicht beigefallen war. Keine Erwähnung verdient es, wird auch unwert der Geschichte sein, daß er seine Lügen wahrgemacht hat, insofern sie den Betrug der Welt und ihre Katastrophe betrafen. Die Republik ließ sich von den deutschen Triumphen und dem Weg zu ihnen das Beste nicht träumen. Die Macht, die ein gründlich Verlogener im Schoß trägt, jeden angemaßten Feind durch Betrug zu vernichten, die Republik hat ihr entsagt. Sie war so sanft. Auf ihre Art war sie so redlich.
Sie war der Meinung, daß Recht – Recht bleiben müsse, und eigentlich regiere der Kaiser noch, weshalb sie ihm auch sein Geld nachschickte. Der republikanische Minister, der es übernahm, ist von Hitler ungeschoren geblieben (nicht geblendet, keine Niere zerschlagen). Er wird noch immer seine Gage beziehen, wie der sichere Noske, der um den Betrag sogar feilschen durfte mit Hitler. Er hatte 1919 die Revolution zerschlagen: ohne ihn kein Hitler, jedem das Seine. Ein bayrischer Nachkriegs-Nachrevolutionsminister mußte darauf hingewiesen werden, daß der Majestätsbeleidigungsparagraph nach Lage der Dinge wegfalle. Erstaunt gab er zu, daß die Majestäten abhanden gekommen waren: er hatte es noch gar nicht bemerkt. Woran wäre es zu erkennen gewesen? Im Vorzimmer des Reichspräsidenten (»Im Felde unbesiegt«) versah den Dienst ein kaiserlicher General mit allem Prunk seiner Orden. Wegen der Ungehörigkeit berufen von einem adligen Offizier und ehrlichen Mann – Ludwig Renn – ließ der Präsident – wörtlich – seine Stirnader anschwellen, er stotterte vor Entrüstung. Auszeichnungen, auf dem Felde der Ehre gewonnen!
Dies und noch viel mehr der Gattung nannte sich schandenhalber Republik. Ihre Würdenträger wurden dann auch erdrückt von dem, was sie trugen. Ich war dabei, als im Münchener Rathaus der kranke, von niemandem geschonte Ebert einen unwillkommenen Besuch machte. Draußen hatten sogenannte Nationalsozialisten – der Komikername Nazi war ihnen noch nicht beigelegt – den ungeschützten Touristen ausgejohlt. Allein, ohne einen Begleiter (mit Orden) betrat er den Saal, der leer war. An der entfernten Schmalwand genügte ein einziger Tisch dem kleinen Dutzend Personen, die sich nicht zu gut befunden hatten, den Reichspräsidenten zu empfangen. Man blieb sitzen, man holte ihn von drüben nicht ab. Die gleichgültigste Begrüßung an der Tür von Seiten eines Beamten (ich war keiner und war nur im Notfall zugezogen) hätte dem Gedemütigten seinen Weg erleichtert.
Er mußte ihn machen wie er war, in einer Art verlegener Hypnose unter den Blicken, die ihn herbeikommen ließen, und das geschah langsam, es wollte nicht aufhören. Der Saal wurde noch einmal so lang. Die kurze, dickliche Figur nahm kleine Schritte, mehrmals verdrehte sie die Hüften, ein aussichtsloser, übrigens unbewußter Versuch, umzukehren. Aber sein gewohnter Auftrag war vielmehr: hinzunehmen, gutzuheißen. Sein Hilfsmittel, daß er auf dem Magen die Hände gegeneinander bewegte, nicht viel, und er hätte sie gerieben. Endlich langt er an; wird man sich nunmehr von den Sitzen erheben – wenn nicht anders, dann wenigstens in Anerkennung seines gelungenen Ganges? Weit gefehlt, im Panoptikum die Wachspuppen starrten einstmals nicht gläserner drein. Der Unglückliche ist dennoch gerettet: er hat einen General entdeckt. Ein leibhaftiger General hat sich um seinetwillen herbequemt! Sogar ein Stühlchen ist frei, das Stühlchen daneben. Bitte sehr, bitte gleich, der Reichspräsident läßt sich nieder, jetzt folgt tatsächlich das Händereiben. Das anwesende Dutzend wird ihm nicht vorgestellt, aber er bekommt Bier.
So hat die Republik gelebt, ihr amtliches Dasein war dieses. Sie ist dem Kaiserreich nachgehinkt, dem Nationalsozialismus hat sie im Maß ihrer Kräfte vorgegriffen. Sie hat den »Dolchstoß« des Volkes in den Rücken der alten Armee weder selbst erfunden noch brachte sie ihn zum Schweigen. Heute wird er anderen Ortes amtlich ausgesprochen. General Giraud in Algier gibt an der Niederlage Frankreichs die Schuld den Arbeitern: wörtlich so. Damit überbietet er die deutsche Republik – die auch nicht feststellen konnte wie Giraud: der Faschismus habe doch schätzbare Ergebnisse gehabt. Das Zeitalter ist fortgeschritten seither. Die deutsche Republik, gleich ihr Antritt, hat den Faschismus ermutigt: das ging sie nichts an, sie sah ihn gar nicht, und ob er auf sie schoß. Hitler ist früher dagewesen als Mussolini, der Putsch am Odeonsplatz hält Schritt mit dem Marsch auf Rom, ein kopfloser Handstreich begleitet das andere, überlegte Unternehmen. Das Zeitalter und seine technischen Umstände haben bestimmt, daß von den beiden Wagehälsen (die nichts wagten) der unbegabtere ganz vorn zu liegen komme. Am Odeonsplatz lag er ganz hinten, flach ausgestreckt, weil geschossen wurde. Das hat er nie gemocht.
Wenn die Republik den Dolchstoß und die Schmach des Diktates von Versailles gehabt und benutzt hat, ohne daß sie dafür einen Hitler brauchte, er wurde ebensowenig benötigt für den Pakt Eberts mit den Generalen (gegen den Umsturz von links, vorläufig auch gegen den rechten). Der Gewerkschaftsführer Legien dachte an keinen Hitler, nur an die sozialistische Gefahr, als er mit den Herrschaften, die sich »die Industrie« nennen, eine gegenseitige Versicherung einging. Der Schwindel des nationalen Sozialismus, von der Republik ist er aufgebracht worden, als sie fett an die Plakatsäulen schrieb: »Die Sozialisierung marschiert.«
Das war ein Witz, bestimmt, den leichtesten Anflug von Reformen zu verhindern. Nicht nur die ewig belogene Menge ließ sich täuschen. Die Großgrundbesitzer fielen auf die Plakate herein, einen Teil ihres schlecht bebauten Landes boten sie an, damit sie das übrige retteten. Tausende von Familien hätten das Brachland fruchtbar gemacht. Deutschland wäre zu einem guten Teil ein Bauernland geworden, die ungesunde Übermacht der paar Herrschaften, die sich die Industrie nennen, hätte von selbst aufgehört: kein Hitler, kein Krieg. Die Regierung der Republik hat das Angebot der Großgrundbesitzer abgelehnt.
Sie konnte das Doppelte fordern: zu der Stunde, als die Revolution gefürchtet wurde, hätte sie es bekommen – und hätte die Revolution besänftigt, anstatt sie für eine unabsehbare Zukunft zu vergiften. Deutschland, seine geldlose Menge, wäre froh gewesen, um 130 Jahre zu spät dennoch mit Augen zu sehen, was die Französische Revolution ihrem Volk als erstes beschert hatte: die Verteilung des Ackerbodens, zahlreicher kleiner Besitz, die Ernährung gesichert, die Wirtschaft stabil. Aber diese Republik ist nicht nur vor möglichen Umwälzungen zurückgeschreckt, auch die längst erfolgten waren ihr verdächtig, die alte westliche so gut wie die neue im Osten.
Willkommen war ihr jeder Gegenrevolutionär, woher er käme. 1933 nach dem Reichstagsbrand haben russische Weißgardisten die Erlaubnis ausgeübt, in den Straßen Berlins Leute – deutsche Leute – zu prügeln und zu verhaften. Daß ich es nur nicht für unerhört halte! Dasselbe war 1919 geschehen. Hitler hatte die Lehren der Republik einfach anzuwenden, erstens ungehemmt, zweitens gegen sie selbst. Aber auch sie hat gegen sich selbst gearbeitet, von ihrem ersten Tag bis zum jüngsten, getrieben von einem mehr oder weniger unschuldigen Sadismus und einer kopflosen Folgerichtigkeit, wenn es keine berechnete war.
Warum hat sie heimlich aufgerüstet – bevor Hitler es offen tat? Ein Land, vom Wohlwollen der Welt getragen, vom zarten Gewissen der Sieger in Pflege genommen, rüstet störrisch seine Rache für die Niederlage, die alle vergessen möchten – mitsamt dem unterschriebenen Schuldgeständnis. Deutschland allein, Deutschland in Gestalt einer demokratischen Republik, hat das Andenken des Krieges verschleppt, ihn selbst verlängert, bis jetzt beträgt er dreißig Jahre.
Die Kosten des kleinen Söldnerheeres, das der Republik zugestanden war, näherten sich mit den Jahren dem Budget der französischen Landesverteidigung: niemand nahm Anstoß, der gesamte Reichstag, bis auf Querulanten, die im In- und Ausland niemand hörte, bewilligte und schwieg. Um Panzerkreuzer, die sich nicht wohl übersehen lassen, entbrannte ein Streit: gebaut wurden sie um so sicherer.
Im Grunde war es der bösartige Wille einer Minderheit, der sich durchsetzte. Die Mehrheit hat nichts gewollt, weder Böses noch Gutes. Sie nahm vorlieb mit der formalen Gesetzlichkeit, unter der sie leben durfte. Nicht, daß sie ihr wirklich getraut hätte, aber die Tage vergingen, es wurden endlich vierzehn Jahre, viel mehr als dieser hohle Grund einem Staat versprach, wenn er sich, unvorsichtig genug, als einen Volksstaat ausgab.
Gerade das ist er nie gewesen. Die Republik hat an der vorgefundenen Machtverteilung nichts geändert. Herrschend blieben, wie je, Generale, Großgrundbesitzer und Industrielle – damals drei Unterabteilungen derselben Klasse. Seither sind alle Unterschiede aufgehoben, die beiden anderen Gruppen funktionieren nur noch mit Genehmigung der Fabrikanten, im besten Fall als Zugelassene, im allerbesten als Juniorpartner. Da war die Republik anders, sie hegte den mitgebrachten Respekt vor dem übermäßigen Landbesitz, der, unfähig verwaltet, ewig um Zuschüsse bettelt.
Ihre »Osthilfe« hat ihn künstlich erhalten, hat ihn genudelt und gestopft, bis die offenkundige Korruption laut zu werden drohte. Durch wen? Hitler, der bewährte Vorkämpfer der sozialen Gerechtigkeit, drohte den zweiten, letzten Präsidenten der Republik zu entblößen: da wurde es Zeit, daß dieser Marschall sie an den »böhmischen Gefreiten« verriet – nur vier Wochen nach seinem Ausspruch: Niemals.
Nebensächliche Erscheinungen beiseite, hat die amtliche Republik ihr Zeitalter richtig dahin verstanden, daß die Industrie, die Herrschaften, die sich so nennen, auf dem Marsch zur Alleinherrschaft seien. Zur Zeit des amtlichen Plakates »Die Sozialisierung marschiert«, schon 1919, stand fest, wer vordrang, wer die Macht ergriffen hatte, um sie, als der Tag erschien, seinem treuen Knecht Hitler zu überantworten.
Die Inflation – sie vor allem räumte auf, als Deutschland seine soziale Reformation vielleicht hätte haben können. Ihre Vorbedingungen waren möglichenfalls gegeben. Was nicht geschehen ist, hinterläßt nicht einmal Zweifel, die Erkenntnis ist machtlos über das Irreale. Tatsächlich haben Parteien gekämpft – Sieger war die Inflation. Sie konnte jederzeit ebensowohl abgebrochen werden wie im letzten Monat des Jahres 1923, als auf bloßen Taschenzauber hin plötzlich die Goldmark da war.
Aber zuerst mußten Kaufmann Stinnes, ein Komet, und seine zauberhaften Mitgestirne alle vielberufenen Sachwerte, will meinen: die greifbaren Grundlagen des nationalen Einkommens, in ihren Besitz bringen. Das erledigte die Ansprüche eines Volkes endgültig, anders als jede militärische Vernichtung.
Ein Volk, das nichts bis auf die Hoffnung, und auch sie nicht mehr, zu verlieren hat, ergibt sich. Der Hunger beschäftigt es dringlicher als sonst sein Aufbegehren. Empörung wird unstatthaft, wenn schon zu vielen das Essen vergeht – überflüssig war sie erschienen, als man noch satt wurde. So sind denn im Tiergarten, damals zur Morgenstunde, die Hungerleichen aufgesammelt. Auf sie, durchaus auf sie geht die Größe der deutschen Industrie zurück. Sie sind Anfang und Ende.
Nach dem nächsten Abschluß des Krieges werden ganze Haufen Verhungerter da liegen – als Dung für den Wiederaufbau, die Wiederermächtigung der Industrie, die Macht der Truste, die mittlerweile zusammengequollen sind in einem einzigen. Den löse einer auf! Schon die Abtrennung des geraubten europäischen Besitzes von dem »deutsch« genannten wird ein Problem sein.
Um mit ihm fertig zu werden, müssen Sieger – die westlichen ebensowohl wie die aus Osten – eine gründlich neue soziale Moral dem Kontinent beibringen. Deutschland ist ein aufgelockerter Boden, sie zu empfangen. Aber dies sind Verheißungen. Großbritannien selbst plant eine Sicherung der menschlichen Existenz – soviel wie eine Revolution –, wenn der Krieg gewonnen sein wird. Mehr als nur der Krieg soll gewonnen sein. Dieser Gewinn, die Sicherung, der menschlichen Existenz, stände auch anderen frei.
In jedem Fall bedarf ein Deutschland, wie Hitler und die Truste es hinterlassen werden, bei einer Ausbeutung von grausiger Tödlichkeit angelangt, bedarf es. – Unnötig zu vollenden. Es bedarf der zwanzigjährigen Entsagung und Festigkeit des Sowjetvolkes, die sich gelohnt hat.
Um genau zu sein: die Enteignung einer Nation erfaßt nicht alle Abhängigen auf einmal: das ist der beste Trick. Die Handarbeiter haben 1920-1923 tarifmäßige Lohnsteigerungen erzwungen, je nachdem die Inflation ihre Löhne entwertete. Die Kopfarbeiter konnten es nicht. Die Schriftsetzer lachten über die Honorare der Schriftsteller, niemand glich sie aus. Ein Abenteurer wie Kaufmann Stinnes ließ die Heere seiner Angestellten und Arbeiter an seinen geglückten Scherzen teilnehmen, obwohl mit Maßen. In äußersten Fällen ist es geboten, eine Nation mit sich selbst zu entzweien: während die einen schon verrecken, haben die anderen noch Würstchen. Der Klassenkampf will gekonnt sein.
In Deutschland, mir scheint auch anderswo, hat dieses Zeitalter ihn einzig die Besitzenden gelehrt. Der Klassenkampf ist einseitig gegen die Besitzlosen geführt worden: sie nahmen die Schläge hin, das war ihr Anteil. Die amtliche Republik behandelte jeden nach Verdienst; sie hat sich niemals damit aufgehalten, den Unwehrhaften beizustehen.
Einst hieß der Reichskanzler Luther, ein vielversprechender Name, er schoß denn auch den Vogel ab. Zu seiner Zeit traf in dem entblößten Reich die erste amerikanische Anleihe ein: 800 Millionen. Luther, nicht faul, übersandte den Scheck der Industrie, den Herrschaften, die sich so nennen und deren Beauftragter er war. Er fragte niemand. Nachher erklärte er, er habe die zuviel gezahlten Löhne ersetzt – sie waren schon zweimal erstattet worden, abgesehen davon, daß inzwischen die gesamte Wirtschaft eine Funktion derselben Herrschaften geworden war. Kein Grund, sich aufzuregen. Man mußte nicht einmal Luther heißen, um unbestraft zu bleiben. Mir ist der Vorgang als einer der ungeheuerlichsten im Gedächtnis geblieben: mag sein, nur gerade mir. Er machte mit Recht kein Aufsehen mehr.
Die deutsche Republik hat immer links gewählt: es kostete nichts, es verpflichtete zu nichts. Denn regiert wurde unweigerlich rechts. Jede ihrer Regierungen war eine Minderheitsregierung – wie nachher die nationalsozialistische. Amtlich wurde nicht einmal die äußere Form einer Demokratie gewahrt – was niemand verhindert hat, die Sozialdemokratie schuldig des gesamten Unfugs zu machen. Sie hat mit Recht erwidert, daß sie von den vierzehn Jahren nur ein einziges allein verantwortete. Zu leicht hat sie vergessen, daß die Reaktion, die militärische, politische, soziale, nicht aus der Welt zu schaffen, aber im Tempo herabzusetzen war, wenn sie selbst, gleichgültig gegen Doktrin, Redensart und abgetane Kämpfe, mit den Kommunisten ging. (Wahrheit hinter ewig verschlossenen Wolken hinterläßt nichts Wirkliches, auch keine echten Zweifel.)
Trotz allem gab es rühmliche einzelne. Skeptiker wollten wissen, dies sei eine Republik ohne Republikaner. Gerade umgekehrt, ich habe Republikaner gekannt, nur keine Republik. Ich will nicht lange bei ihnen verweilen, sie hatten selbst so wenig des Bleibens, und wo sind sie jetzt? Da war die wohlgesinnte Schutztruppe der Polizei, völlig bereit, die Republik zu schützen, nur niemals ernstlich für sie eingesetzt. Kommissare vom achtbarsten Typ haben mich durch Berlin geführt, um mir die vorkommende Armut und die vernachlässigte Unterkunft ihrer Ämter zu zeigen.
In ihrem Interesse sprach ich öffentlich, mein vorderster Hörer war der Vizepräsident Weiß, natürlich leugnete er meine Anklagen: verübelt hat er sie mir nicht. Im Gegenteil schützte er mich, solange er es noch konnte. Er war ein altgedienter kaiserlicher Polizist, seine erste Stufe zum hohen Kriminalisten war der Dienst auf der Straße gewesen. So einer begreift am wenigsten, daß Ordnung und Sicherheit, um derentwillen er da war, plötzlich enden, weil irgendein Hitler nicht verhaftet worden ist. Schon auf der Flucht, besann er sich nochmals, kehrte um, betrat das Polizeipräsidium – seine alten Untergebenen erschraken für ihn. Sie hatten Mühe, ihn zu entfernen, als er noch heil und ganz war.
Der Mann, dessen ich besonders gedenke, hieß Falk, er war Oberpräsident der preußischen Provinz Sachsen und war ein Mann. Ihm schulde ich einen eigenen Paragraphen in der »kleinen Enzyklopädie des Zeitalters«, gesetzt, ich brächte auch nur ihren Anfang zustande. Gewiß, die Republik, deren Dasein anzuzweifeln war, manche überzeugte, tatkräftige Republikaner hatte sie dennoch, nur daß die Gewalt zu befehlen ihnen niemals zugestanden wurde.
Mitgerechnet die Publizisten, vermehrt sich die Zahl der verhinderten Republikaner: wer die Republik gerettet hätte, wird um so weniger erkennbar. Viel beleuchtet, täglich nach vorn gerückt – und kompromittiert und der Rache künftiger Machtergreifer empfohlen –, blieben wir dennoch obskur: der amtliche Bestand der Republik hat von uns keine Kenntnis genommen. Wir schrieben. Wir wurden gelesen – gewiß auch von Ministern, die mit den Achseln zuckten. Sie haben wohl auch gestutzt, wenn unsere moralische Deutung des Zustandes und Verlaufes sie in das Gewissen traf. Das soll vorkommen, auch bei Staatsleuten der gegebenen Tatsachen, die zu verschärfen, nicht zu ändern sie bestellt sind.
Nachdem ich in Deutschland für den Tag und Augenblick viel geschrieben hatte, oblag ich derselben unbedankten Pflicht in Frankreich. Ein Organ der französischen Regierung wollte die Erfahrungen des Verbannten bekanntmachen, tat es acht Jahre lang, bestand darauf. Von den Eigentümern der Zeitung war der eine meistens Minister, immer in der Lage, die Proteste des hitlerischen Botschafters gegen meine Beiträge abzuweisen. Darum blieben sie doch Literatur, etwas in Frankreich um seiner selbst willen Geschätztes, geschehe übrigens was will. Es geschehen aber nur Dinge, die keine moralische Deutung vertragen. Wissen wollen – und alles zulassen, was dem besseren Wissen widerspricht, man heißt dafür Konformiste. Ein Name ist auch schon etwas.
Indessen halte ich bis jetzt bei Deutschland, dem Deutschland vor der Machtergreifung, wo die Macht auf der Straße lag: Die Republik hat zugesehen, ob jemand sie aufsammelte. Ich durfte schreiben. Den Verteidigern der Freiheit war die Erlaubnis gewährt. Ebensogut hätte man sie ihnen nehmen können, denn die Angreifer der Freiheit genossen dasselbe Recht. Nun ist kein Zweifel, wer bei einer zerrütteten Öffentlichkeit die besseren Aussichten hat. Der Fürsprecher der Vernunft? Der Weltfreund, Zergliederer herrschender Mächte? Der Moralist? Offenbar eher ein beliebiger Schwätzer, wenn er nur gewalttätig auftritt und verspricht, immer darauflos verspricht, was er nie zu halten gedenkt.
Das besorgten die Leute mit dem angemaßten Namen nationaler Sozialisten. Beide Benennungen standen besser mir als ihnen an, aber da ich für mich nichts wollte, hatte ich keinen Grund, mich zu rühmen, selbst mit Recht. Die Unbefugten schämten sich nicht, sie prahlten noch, daß sie Willen besäßen: es war der Wille, an die Staatskassen zu gelangen. Übrigens schrieb ich Festtagsartikel, sie aber redeten das ganze Jahr, ihr Boß so gut wie gleichzeitig an zwei entfernten Grenzen. Mich beanspruchten einige Zeitungen, ausschließlich in Berlin, zu Weihnacht, Ostern und Pfingsten, wenn sie eine ungewöhnlich hohe Ebene aufsuchten, wenn sie, im Schutz der festlichen Ausnahme, eine starke Sprache zu wagen wünschten. Ich war bereit, ich deutete ihren zahlreichen Lesern die Vorgänge – niemals nach den Regeln einer Partei, ich maß sie einfach an den Gesetzen des menschlichen Anstandes.
Dabei gewannen die Vorgänge nicht, ich lieferte ein saftiges Stück Prosa. Den Druckorganen des abgebrühten Berlins war es gerade recht. Zuweilen hören die vorgeschrittenen Zeitgenossen die Wahrheit gern: wer zwänge sie denn, danach zu handeln. Die Verrichtungen eines moralischen Sonntagspredigers haben mir nicht genügt. Die Katastrophe der menschlichen Freiheit, der Menschenwürde selbst, kam in Sicht. Sooft gewählt wurde, entfernte sich die Gefahr, daß die Nazis siegten; nachher kehrte sie um so dreister zurück.
Im Lauf dieser Wechselfälle unterrichtete ich mein Publikum immer häufiger über die handelnden Charaktere. Sie waren viel zu billig zu durchschauen, jeder hatte die Mittel, ich sagte den Leuten, was sie ohne mich noch besser gesehen hätten: sie durften nur nicht die Augen verschließen. Zum wenigsten Berlin, wenn nicht das Land, steht bei mir in Verdacht, daß es den Führer betitelten Popanz, seine Mannschaft, seine Machart und ordinäre Verlogenheit im Grunde schon damals hinreichend gekannt hat. Anziehung bekam er, nicht weil man ihm glaubte, sondern vermöge seines groben Theaters, des unermüdlichen Gebrülls, der Massenaufzüge, der Störungen einer langweiligen Ordnung, gleichgültig wodurch.
In einem Saal, der einen Film sehen will, weiße Mäuse loslassen, ist einmal etwas anderes. Morde bringen gleichfalls Leben hinein. Sie sind kaum mit einem Überschwang der Gesinnung, eher sind sie liederlich begangen worden. Das erste Militär der Partei hatte beständig Angst; bei jedem Aufmarsch ließen die Erstürmer der Republik sich beschützen von der Polizei der Republik. Die Privatsoldaten Hitlers waren sechs Fuß hoch oder nur drei, Bucklige gingen auch mit. Uniformen trugen sie, wenn es gerade erlaubt war. Wandelte einen Minister der Mut an, die Maskerade zu verbieten, alsbald unterließ man sie gehorsam. Die Morde kamen derart zustande, daß ein Parteigenosse den anderen von hinten erschoß, worauf die ganze Bande in Laune geriet, die Kommunisten, die es getan haben mußten, niederzumachen.
Zu bemerken ist, daß an Alltagen ohne Mord die Agitatoren beider Richtungen friedlich nebeneinander vor demselben Kaufhaus standen und ihre Druckwaren anboten. In den Pausen zwischen ihren wilden Zurufen an die Kunden – nicht ihres, sondern des Hemden- oder Porzellanladens – plauderten sie. Viel Mühe hat es gemacht, diese Klassenfreunde, einer Meinung schließlich, bis zu dem Grade zu verfeinden, daß Arbeiter andere Arbeiter in ihren Betten umbrachten. Die Täter waren unweigerlich Kreaturen ihres Führers. Sie wurden verhaftet, er schickte ihnen ein Glückwunschtelegramm, strotzend von Drohungen gegen die Republik, allein dafür konnte sie ihn selbst, anstatt seiner Geschöpfe, für immer unschädlich machen.
Es hat bis gegen Schluß in ihrem Bereich gelegen, ihn auszuweisen, seine erschwindelte Einbürgerung zurückzunehmen, ihm das Reden, seiner Gefolgschaft die Existenz aufzukündigen. Was sich national nannte, hätte gelärmt, aber geschehen wäre nichts. Die Republik zog Enthaltung vor, sie verfiel fahrlässig der Selbstaufgabe – erstens aus schlechtem Gewissen. Sie hatte niemals etwas getan, hatte an der Machtverteilung im Staate nichts geändert: endlich fand sie sich unberechtigt, ihren Feind und Vernichter auch nur abzuwehren.
Zu vieles war beiden gemeinsam, der Republik und ihrem Feind: die Rache für Versailles, die Angst vor dem Kommunismus (echt bei ihr, auf seiner Seite ein Betrug), die Abhängigkeit von der Industrie. Ein Minister ließ bei den Herrschaften, die sich Industrie nennen, Haussuchungen vornehmen, ihr Hochverrat war gar zu auffällig. Nie wieder hat jemand es gewagt, die Herrschaften wurden schrecklich grob.
Vor allem war die Republik sich ihrer eigenen Langweiligkeit bewußt. Das Volk wollte Theater. Das öffentliche Leben war ohne Rest aufgegangen in nationalsozialistisches Theater. Jeden, durchaus jeden erfaßte es. Die beiden großen Häuser, die Berlin mit mehr oder weniger demokratischen Presseerzeugnissen überschwemmten, nahmen die geschuldete Rücksicht auf den Erfolg. »An sich«, so sagte mir der Sohn eines dieser Häuser, »sind uns die Nazis als Leser und Inserenten erwünscht.« Die demokratischen Abonnenten kauften ohnedies auch den »Angriff«, er war aufregender als ihr Blatt. Einmal gewöhnt, sich aufregen zu lassen, vernachlässigten sie die Organe ihrer eigenen Gesinnung, wenn nicht die Gesinnung selbst.
Für die Drucksachen der Demokratie waren Abfall und Dahinschwinden nur Zeichen – nicht, sensationell und stark, vielmehr noch vorsichtiger zu werden. Mir ist kein Artikel abgelehnt worden, schlimmstenfalls kam er in das »große Blatt«. So hieß im Hause eine Zeitung, die am Sonntag von allen die höchste Auflage hatte. Sonntags lasen auch die Arbeiter. Sie lasen die landwirtschaftliche Beilage, die sie über die Bebauung ihrer Vorstadtgärtchen belehrte.
Es war ganz fürchterlich. Der letzte Abschnitt der Republik wurde langweilig über jeden Begriff. Nur der Krieg erreicht zeitweilig wieder dieses Maß von Öde, Vergeblichkeit, Ehschonwissen. Niemand ist jetzt noch gespannt, wie es ausgeht.
Die Deutschen selbst, in ihren zertrümmerten Städten, laufen als bloße Automaten nach den eingewohnten Unterständen, werden üblicherweise wahnsinnig von einer Angst, die ihr Sonnengeflecht auch im Schlaf produziert. Manche flüchten auf die Straße, um freier zu sein als unter dem Boden. Sie versinken in den Asphalt, den die brennenden Häuser erweicht haben, bleiben hoffnungslos darin stecken, eine Patrouille erschießt sie gnädig, vielmehr aus Prinzip. Weltanschauung kann man gleichfalls sagen.
So geschehen während und infolge der vorigen Luftangriffe auf Hamburg – einst freie und Hansastadt, ein Staat, den Kaufleute regierten. Die Senatoren trugen von alters her Talare, ihr Welthandel hatte die Welt schon erobert, sie für ihren Teil hätten auf Weltkrieg verzichtet. Dieses gründlich zivile, kühle, nach den Meeren geöffnete Gemeinwesen büßt nunmehr für die verstockten Binnenländer – denen es endlich auch nicht mehr erspart bleibt, Jesum Christum kennenzulernen. Der Krieg ist im Lande. Die deutschen Funksprüche flehen, daß der Krieg das Land nicht erreichen möge: alle anderen, nur dieses nicht! Aber er ist im Land.
Dasselbe ging vor, als Hitler die Macht ergriff: bevor er sie hatte und während der vierzehn Tage, als er sie noch nicht zu gebrauchen wagte. Wir haben alles doppelt und dreifach erlebt. Unsere Erdendauer strotzt von Wiederholungen, aus denen nicht gelernt wurde. Falsch wäre zu sagen, dieses oder jenes sei uns nicht an der Wiege gesungen. Ich zum Beispiel bin während eines Krieges, 1871, geboren. Als wir heranwuchsen, ging der Singsang weiter, wir hätten endlich einmal begreifen können. Einige haben wirklich Bescheid gewußt.
Der lange erwartete Hitler traf zu guter Letzt ein und versuchte sich, da sahen sie einander an und sagten: »Eigentlich hatte man es sich ganz so gedacht.« Dies war noch vor dem Reichstagsbrand – ein witzig herbeigeführter Vorwand der angehenden Schreckensmänner.
Ihr erstes war Vorsicht; sie ließen, nach außen untätig, eine Frist verstreichen, damit nicht Deutschland – fortan wurde es um seine Meinung ebensowenig befragt wie ein Versuchskaninchen –, aber die Welt sich mit ihnen abfände. Dieser Hitler, stellte sie fest, ist ja ein deutscher Staatsmann nach gewohntem Muster – redet nur, weiß mit sich nichts anzufangen. »Für auswärtige Politik habe ich noch gar keine Zeit« – diese Auskunft erteilte der deutsche Staatsmann zur Beruhigung der Garanten des Versailler Vertrages, die verpflichtet gewesen wären, dem Kriegshetzer das Regieren einfach zu verbieten. Sie unterließen es.
Das Feuer im Parlamentsgebäude und der alsbald entfesselte Schrecken überzeugte die wohlwollenden Demokratien, daß die Rasselbande eine gute antikommunistische Politik verfolge. Mehr wurde nicht verlangt; fortan durfte sie wüten gegen kommunistische und andere Deutsche. Die Konzentrationslager, Folterkeller, Schafotte betrafen die deutsche Souveränität: die Deutschen hatten ihre Regierung selbst gewählt, eigens um hingerichtet zu werden. Ihre Sache. Die demokratischen Staatsleute hätten ihren Beruf verfehlt, wollten sie aus dem opportunen Augenblick eine unbequeme Zukunft ablesen, oder nur die nächsten psychologischen Tatsachen.
Wer einen gewalttätigen Schwindel aufführt, selbst das Feuer legt und andere dafür entrechtet, einsperrt, tötet, der wird, gleichviel wo, noch einige Brände entfachen. Die bestraften Nichttäter müssen nicht immer Deutsche sein, so wenig sie diesmal Kommunisten waren. Der verbrecherische Anfänger von 1933 wird früher oder später – nur sechs Jahre hat er gebraucht – an der Welt handeln wie an Deutschland. Dieselbe List und Tücke, dieselbe Roheit, von keiner Voraussicht aufgehalten.
Ja, der deutsche Schreck war ein Staatsmann wie andere, auch er hat nichts vorweggenommen. Das wahre Gesicht seines Krieges, von dem er redete wie von einem alten Freund, hat er nie gekannt. Den demokratischen Staatsleuten von damals erzähle einer, was kommen muß. Ich habe es ihnen sogar erzählt.
Der Krieg ist in seinem gegenwärtigen Zustand, nach fünfjähriger Betätigung, verbreitet Entsetzen und Überdruß: Spannung nicht mehr. Die Stimmung (l'état d'âme, sagte man 1890) erinnert in der ganzen Welt nunmehr an die Gefühle Deutschlands während der ersten Tage mit Hitler. Die Folter, redensartlich verstanden, hatte schon zu lange die Gedanken beschäftigt, bis es endlich zu ihrer wörtlich genommenen Einführung kam. Da war niemand mehr überrascht. Die Neugier bedurfte all der wirklichen Morde nicht. Ich spreche aus eigener Erfahrung, unter seinen ersten Objekten hatte das Regime, das sich revolutionär aufspielte, weil es mordete, auch mich ausersehen.
Ich war sogar als erster bestimmt, einen Vorgeschmack zu geben. Es machte mich nicht weiter stolz, hat mich auch wenig erregt, man war gefaßt, obwohl nicht gerade auf jede Einzelheit. Am 15. Februar 1933 ließ der Präsident der Akademie, ein Musiker, der gleich nachher so sehr wie möglich verstarb, mich überall suchen. Ich sollte großartig ausgestoßen werden von den Mitgliedern aller Abteilungen, bildende Künste, Musik und Literatur. Ihre Gesamtsitzung war einberufen, ohne daß ich davon wußte. Der Minister, aus der üblichen Irrenanstalt geradewegs in den Palast Unter den Linden versetzt – dort waltet er noch jetzt, falls der Palast noch steht –, hatte in festlicher Rede den Studenten meine Entfernung zugesichert.
Als ich gefunden war und eintraf, war sie beschlossen. Wie hätten alle die wohlbestallten Kulturträger anders beschließen können. Die Wahl war ihnen gegeben: entweder sie verleugnen mich oder werden aufgelöst. Ein vereinzelter Mann, Stadtbaurat Wagner, schlug die Tür hinter sich zu. Erst in der Türkei ist er wieder gesehen worden, dort empfing er die verdiente Anerkennung.
Die anderen, so viele von ihnen nicht auswanderten, haben seit diesem 15. das Gehorchen mehr oder weniger vollkommen erlernt; sie machten oder unterdrückten auf Befehl der Macht, die über sie gebot. Die Kunst, gleich der Wissenschaft und dem Glauben, war nunmehr eine Funktion der Macht – womit nicht gesagt ist, daß es genügt hätte, sich zu ergeben. Auf Wissen und Können verzichten war nicht das Rechte. Am besten fährt, wer sie nie gehabt hat.
Nachgerade muß es langweilig geworden sein – das Denken nach Diktat wie das abhängige Leben und vergebliche Sterben. Mir ging schon die Erwartung meiner Flucht, die merklich näher rückte, bis an den Rand des Halses; ich wünschte damals, sie läge erst hinter mir. Die Zumutung, den Unfug noch länger anzusehen, wurde unerträglich: sogar die Furcht vor eigenem, schwerem Mißgeschick trat zurück hinter dem Ekel an den Dingen. Personen meine ich nicht.
Man verachte niemand, der uns Scham macht, den wir bedauern. Er erwirbt sozusagen Ehre: er verhält sich gemäß dem Gesetz des Geschehens. Unser Widerwille trifft nicht Individuen, sondern ein Gesetz. Mein Freund Max Liebermann hat es begriffen. 84 Jahre, der vorderste deutsche Maler, einer der ersten Europas, hatte er seine Wiederwahl zum Präsidenten der Akademie gar nicht erst angestrebt: den Neidhammeln, deren Reich anhub, war er im Wege, war Jude, war ein drastischer Weiser. Alles zusammen ist des Anstößigen zu viel. Er sagte: »So viel kann ich unmöglich essen, wie ich erbrechen möchte.« Das Wort hatte noch gefehlt. Sie verboten ihm zu malen!
Nicht das Ausstellen seiner Bilder, die ohnehin in den Galerien hingen – und natürlich entfernt worden sind –: die stille Arbeit in seinem schönen, alten Haus am Brandenburger Tor wurde ihm untersagt. Gerade lag er im Sterben, seine alte Frau hat ihm den amtlichen Erlaß vorenthalten. Seine letzten Werke haben noch eine Zeitlang von den Staffeleien geglänzt, nicht mehr auf ihn, nur in den Staub und die Leere.
Drunten seine Bibliothek, die reichen französischen Bände, hat niemand mehr nachgeschlagen, wie einst er, wegen eines Satzes für seine akademischen Ansprachen. Sie werden, nach der beschönigenden Annahme verbrannt, in Wirklichkeit gestohlen worden sein. (Meine eigenen, feierlich verbrannten Bücher fanden sich später bei fliegenden Händlern wieder.) Auch seine Sammlung unersetzlicher Gemälde, die Manet, Renoir, Daumier, hat gewiß ihr Schicksal erreicht, obwohl ein anderes als das öffentlich eingestandene.
Die hinterbliebene Gattin des Meisters hat sich vergiftet, als sie »nach dem Osten« deportiert werden sollte – viele Jahre nachher, denn der Haß vergibt nicht. Das Elternhaus Liebermanns, an der sichtbarsten Stelle Berlins gelegen, ist natürlich fortgenommen worden – wie der Garten in Wannsee, dessen vielfache Wirkungen er zauberisch agieren ließ, sooft er sie malte. Die Natur, von ihm gesehen, blieb mit sich allein, nur ihr Genie wurde überdeutlich.
Die außerordentlich bemühte Beherrschung der Menschen und Dinge gewährt einem Künstler als letztes, daß er unsichtbar wird. Sein Können hat endlich die Selbstverständlichkeit der Natur. Aber einer muß zehnfach gelebt haben. Aber einer muß, nicht lange vor seiner Vollendung, bis an die Grenzen des Wissens gelangt sein: dies ist das Leben. Nach meinem Vermögen bestand auch ich es.
Soviel über Max Liebermann – ein Mensch, der mir nahestand. Ihn schlugen andere Menschen, die weder gelebt noch gelernt hatten. Die Einheit von Natur und Können war ihnen fremd. Ihre lebensfeindliche Willkür nannten sie die Macht, die sie »ergriffen«, weil sie ihnen fehlte. Ihre wirkliche Ohnmacht hat ihnen einzig erlaubt zu vernichten. Jetzt ist Krieg. Als einem Meister das Malen verboten wurde, rechtfertigte die deutsche Souveränität neben manchem anderen auch dies – und eben darum ist jetzt Krieg.
Was mich betrifft, ließ ich mich ungern warnen, als mir doch sichtlich keine Wahl blieb. Das Land mußte ich jedenfalls verlassen, zum wenigsten seine gewohnte Oberfläche: eine Grube unterhalb war jedem bereitet, oder eigenhändig hob er sie aus. Kein Zweifel, ich war verhaßt, populär machte mich gerade der Haß. Viel Nachfrage fand ein Hampelmann: mein Kopf und die Beine einer Schauspielerin. Ein Filmstoff von mir hatte alle drei, das Talent der Frau und ihre zwei reizenden Gliedmaßen, berühmt gemacht. Wenn alles, was ich gewesen war, von einer Menge so freigebig anerkannt worden wäre wie damals meine Verhaßtheit.
Aber der Haß ist eine Tatsache durch sich selbst: eine Volksmenge braucht nicht zu wissen, warum sie haßt. Übrigens haßt sie mit Gleichgültigkeit. Ich mochte die genossene Aufmerksamkeit nicht überschätzen. Auch darum hielt ich aus, in Erwartung eines letzten, unmißverständlichen Zeichens. Es erfolgte nach Wunsch. In einem befreundeten Haus, herrliche Musik wurde gemacht, das Büfett war auf der Höhe gesicherter Zustände – dabei warteten draußen schon die Möbelpacker –, trat auf mich zu der französische Botschafter Monsieur François-Poncet. Er sprach nur diesen Satz: »Wenn Sie über den Pariser Platz kommen, mein Haus steht Ihnen offen.«
Ich dankte und behielt für mich, was ich in diesem Augenblick beschloß. Auch der Gastgeber dieses schicksalhaften Abends, der aussah wie viele vorige, hütete sich, seinen Vorsatz zu verraten. Kein Teilnehmer des Festes, das eigentlich postum war, tat etwas dergleichen. Jeder mit seinem behüteten Geheimnis, wollten sie Angeregtheit vortäuschen statt der Angst, die allen im Nacken saß. Mit Hitler und dem Henker hinter sich, gaben die versammelten Reste der Republik sich den Anschein, als wäre ihre Lage interessant: unhaltbar, das Wort fiel nicht.
Einer versicherte, daß er den Tag und sein Erleben ungern gemißt hätte. Niemals sei er auf den Verlauf der Dinge so neugierig gewesen. Dieser sprach die Wahrheit, es war Graf Harry Keßler, der als Dilettant gelebt hat und sicher, aus Liebhaberei für alles Menschenmögliche, auch den Weltkrieg zwei noch genossen hätte. (Nicht, daß ich dem Toten deshalb Leichtsinn nachsage! Man kann eindringlich dilettieren, und mit Gesinnung mag einer flach sein.)
Der Staatssekretär, dem ich meine heilsamen Vorträge unterbreitet hatte – an dem pünktlichen Mittagessen seiner Angestellten waren sie gescheitert, es hatte ihn kaum berührt –: hier erkannte ich den gelassenen hohen Beamten nicht wieder. Er war schlechthin außer sich, entstelltes Gesicht, bebende Stimme, und eine sinnlose Drohung, – er stieß sie aus, um nicht vor aller Augen zusammenzubrechen. »Jagen wird man sie, wie die Ratten!« verhieß er den Nazis, nunmehr Herren im Staat, – den er jahrelang verteidigen konnte und hatte es versäumt!
Vier Dutzend Schläfer wie er, die nichts hatten wissen wollen, waren auf einmal wach und durchaus informiert. Der Abend des jüngsten Tages wird gewiß noch unterhaltsamer sein als mein letztes Berliner Fest, obwohl es mäßigen Ansprüchen genügte. Die Verzweiflung so vieler öffentlicher Männer, begleitet von Musik und einer gleich köstlichen Verpflegung, gab mir noch tags darauf zu denken.
Auch nahm ich mir die Zeit, meine Arbeiten zu ordnen im Hinblick auf ihre Fortsetzung anderswo. Das Reisegeld war auf der Bank noch erhältlich. Ich sei unter den ersten, hatte man mir gesagt, denen der Paß abgenommen werden sollte. Wahr oder nicht, das Wahrscheinliche ist nicht immer wahr, – Boileau könnte seinen Satz auch umkehren. Die tatkräftigsten Willensmenschen werden ihre zahlreichen Sorgen nicht alle gleichzeitig in die Hand nehmen. Das Haus, in dem ich mir unklugerweise eine Wohnung neu eingerichtet hatte, wurde ständig bewacht, gut damit.
Als ich am übernächsten Tage, dem 21. Februar, wirklich abreiste, hätten Gepäck, Wagen und andere Anzeichen des versuchten Entkommens mich ohne weiteres ausgeliefert. Indessen trug ich nichts als einen Regenschirm – meinen letzten; Mr. Chamberlain zu Ehren habe ich mir ihn abgewöhnt. Zu Fuß ging ich nach der Haltestelle der braven, anonymen Straßenbahn. Keine unanständige Eile, den Zug nach Frankfurt zu besteigen! Es ist nur Frankfurt, meine Fahrkarte reicht nicht weiter, wer hat etwas dagegen. Mit meiner liebevollen Frau wandele ich auf und nieder, so viele Minuten noch fehlen. Dank ihrer Geschicklichkeit liegt der Rest meiner Habe glücklich im Netz. Sie möchte sprechen, schluchzt, unterdrückt die Schwäche. Vornehmlich wünscht sie uns ein schnelles Wiedersehen. Wann? Morgen? Vielleicht kehre ich erst übermorgen zurück. So sieht, will es scheinen, der Rubikon aus. Hinter dem verhängnisvollen Fluß, den ich wähle, liegt das Exil.
Niemand hat es ermessen, bevor er es antrat, weder seine Dauer noch seine veränderlichen Umstände. Manch ein Verbannter – zu allen früheren Zeiten, als sie noch im Fourgon mit eingebauter Bibliothek fuhren oder zu Pferd saßen – ist in dem andern Land abgestiegen als ein wohlgelittener Reisender. Sein Aufenthalt wird mehr oder weniger lang sein, er behält doch immer eine Heimat, die ihn erwartet, wenn auch nicht gerade jetzt. Die fremden Freunde sind hierüber beruhigt: vom Exil kennen sie den bloßen Namen. Er selbst weiß von einer vorläufigen Tatsache nicht, daß sie währen wird, bis er steinalt ist.
Es kam selten oder niemals vor zur Zeit von Voltaire, der nach jeder Flucht heimkehren konnte, die Vorwürfe hatten sich abgenutzt. Wenn Krieg war, lebte der Angehörige des feindlichen Staates unangefochten in dem Lande, das seinen König mehr als seine Nation bekämpfte. Noch das 19. Jahrhundert, als der Begriff der Nation triumphierte, hat es geschehen lassen, daß ein geflüchteter deutscher Revolutionär in Berlin wieder einzog als Botschafter der Vereinigten Staaten.
Das wäre mittlerweile ein Mißgriff, keinesfalls zu dulden. Die Regierung, die den Botschafter vorschlüge, wäre einer Meinung mit der anderen, die ihn voraussichtlich ablehnt: daher würde die Regierung des Botschafters ihn nicht erst vorschlagen. Wer Emigrant ist, muß Emigrant bleiben: dies die Konvention im Zeitalter des universalen Bürgerkrieges, der seine ersten dreißig Jahre nunmehr hinter sich gebracht hat. Der neue Emigrant soll erst noch lernen, daß derselbe Bürgerkrieg quer durch die Lande geht: ein Entkommen gibt es nicht. Auch seine Gastfreunde erkennen es langsam.
Der Emigrant aus Überzeugung verliert an Achtung, je zweifelhafter seine Aussichten werden. Zuerst ist er einfach ein Oppositioneller, seine Geltung wird morgen wieder berichtigt sein. In dem Grade, wie sich herausstellt, daß er mit einer befestigten Macht überworfen ist, wird er auch in dem Lande seiner Zuflucht die Macht – und alle ihre Gläubigen – gegen sich haben. Macht kennt nur Macht. Ausgezeichnet verstehen die Mächte einander, die Unterschiede ihrer Doktrinen und Interessen entscheiden nicht: sondern einzig und allein die Macht, die einer darstellt und wirklich ist.
Voltaire war eine europäische Macht, gleich, ob ein Staat ihn deckte. Die Höfe von Versailles und Potsdam hatten mit ihm zu rechnen; sie erwarteten Vorteile von seinem Ruf, und sie fürchteten ihn. Er sie auch, aber er besaß diplomatische Waffen wie sie und publizistische, die ihnen fehlten. Dagegen wird ein Zeitalter der staatlichen Propaganda eine ohnmächtige Literatur haben. Exiliert wird sie immer sein, ob draußen oder im Lande. Der offenkundige Landfremde wird zuletzt keine trüberen Demütigungen ausstehen als der scheinbar Beheimatete.
Eine lange Flucht von Jahren hat die Tatsachen, eine nach der anderen enthüllt. Anfangs, einige Tage vor dem Reichstagsbrand, Signal des Schreckens – und der losgelassenen Autorität – für Deutschland, dann weiterhin, hatte man gemeinhin nichts begriffen. Auch ich nicht, aber das wäre belanglos. Übrigens hatte ich mehr Glück als Verstand. Andere sind steckengeblieben, ausgesuchte Qualen waren ihnen vorbehalten. Mir auch, wenn man mich gehabt hätte. Ich erlaubte mir, in Frankfurt zu übernachten, immer unter der Voraussetzung, daß tatkräftige Willensmenschen noch andere Sorgen haben.
Dennoch drangen sie ahnungsvoll alsbald in meine Berliner Wohnung. Da sie mich nicht fanden, verkündeten sie mit Lautsprechern, daß sie mich hätten. So und ähnlich haben sie auch sonst auf Enttäuschungen reagiert. Sie sagen einer wehrlosen Menge, was sie hören soll. Nach ihrer Beobachtung ist dies ein Mittel, die Leute gegen die Wahrheit, bis sie durchdringt, abzustumpfen. Zu der Stunde, als ihre Apparate brüllten, war ich in Straßburg, geschrieben Strasbourg.