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– daß ich mich vorstelle. Mein Name ist X, ich bin ebenso gewöhnlich wie auserlesen. Meinesgleichen kommt überall vor, aber jeder bleibt das einmalige Phänomen. Manchmal soll es beträchtlich sein. Das könnte ich von mir nicht sagen, vielmehr habe ich das Gefühl: was ich denke, mache und kann, sollte eigentlich jeder fertigbringen. Nur wenig fehlt ihm dazu. An seiner Maschine muß gedreht worden sein.
Wollte ich mich hinwieder nicht nur für einen leicht verständlichen Fall, sondern auch für einen allgemein verbindlichen halten, dann wäre ich alsbald die einfache Norm nicht mehr: Ich würde mich als ein höchst anspruchsvolles Vorbild aufstellen. Davor hüte ich mich. Auf diesem Wege verkehrt sich eine Bescheidenheit, die zu weit geht, in einen noch unleidlicheren Stolz.
Aus Tugenden werden, bevor man es sich versieht, Fehler, während die Fehler, so scheint es, auch Lob verdienen. Nur die Lumpe sind bescheiden, meint Goethe. Ein anderer Dichter desselben Zeitalters, Klopstock geheißen, hat seinen Landsleuten ihre übertriebene Gerechtigkeit widerraten. Nehmen wir an, daß sie einst »allzu gerecht« waren: seither sind sie es nicht im geringsten und halten dieses eklatante Gebrechen für eine Auszeichnung. Man muß sich wirklich hüten.
Eine Autobiographie sieht am besten von ihrem Urheber ab, wenn es anginge. Er trete als Augenzeuge auf – der Ereignisse und seiner selbst. Das verdirbt noch nichts. Ein Zeitalter wird besichtigt. Von wem? ist immer die Frage. Sie verpflichtet X, sich vorzustellen, aber mit Maßen. Zu sagen: ich bin der und der, und bin es ganz für mich allein, ergibt Widersprüche. Ein moralischer Wirrwarr tut sich auf. Mit wirklichem Recht weiß X nicht einmal, ob er platt wie der Tisch ist oder die Höhen und Tiefen eines geschlachteten Kalbes aufweist.
Das besichtigte Zeitalter kennt sich ebensowenig. Wie nun, wenn zwei Masken einander begegnen. Aus meinen jungen Tagen gedenke ich der italienischen Masken, des Stenterello von Florenz. Ami la vita? wurde er gefragt. Ob er das Leben liebe. Er umgürtete mit den Händen seine Taille, die gleichfalls la vita genannt wird. Aber ja, antwortete er, ich liebe die Ohren, die Füße, la vita, alles liebe ich.
Auf Umwegen und durch ein Mißverständnis hatte sich herausgestellt, daß er das Leben liebe. Mehr und Besseres kann eine gesamte Zeitgenossenschaft, jeden X mit einbegriffen, über sich nicht aussagen. Sie kommt darauf umständlich wie Stenterello: Ein Zeitalter tötet, tötet – um endlich zu bemerken, daß es das Leben liebte.
Le maschere hieß ein Spiel, das ich mit Entzücken sah – vor dreißig Jahren, aber sie konnten das Entzücken nicht tilgen. Der Maestro Mascagni hat wahrhaftig mehr gemacht als nur die eine Oper, durch die sein Name lebt. Wie das glücklich und schön war, alle die Masken, jede aus einer anderen der hundert Städte Italiens, jede ein herkömmlicher Charakter. Zusammen aber, mit ihren grotesken Nasen oder auf süß geschminkten Gesichtern, stellten sie die Menschheit dar. Sie sangen unvergeßlich reizend. Die Menschheit wäre erfreulich, wenn sie es könnte, wie sie im Grunde möchte.
Das wirkliche Leben ist nicht so übersichtlich, ist im Durchschnitt nur mäßig begabt. Die Intensität von gutem Theater wird in der Wirklichkeit selten erreicht. Was ist ganz ernst? Das Spiel der Kinder.
Hieran erinnerte meine Gedenkrede an den Theatermann Max Reinhardt. Er war in der Verbannung gestorben, und ich sprach plötzlich englisch: beiläufige Einzelheiten eines Zeitalters, das noch ganz anders ausschweift.
Diesmal könnte man das Leben intensiv nennen, wäre es nur nicht ganz so verlottert. Une vie de bâton de chaise, heißt das. Jemand, dem ich gern glaube, sagte: »Der Krieg ist ein Hinter-die-Schule-Laufen.« Er ist, was man will: hochherzig, teuflisch, Ehrensache, Niedertracht, heldenhaft allerseits, ein großes Schauspiel sowieso. Eigentlich aber liefert er Schülern eine Ausrede, die gegen Tadel geschützt ist, um nicht zu arbeiten, nichts mehr zu lernen.
Um Gottes willen, was erlaube ich mir. Hunderttausende lassen sich töten, opfern sich in einer einzigen Schlacht! Zählt das nicht höher, als hätten sie Ingenieur studiert? Aber erstens will keiner sterben, die anderen sollen es für ihn. Ferner: was wird aus den Siebzehnjährigen, die jetzt ihr Bildnis mit dem Ehrenzeichen in der Zeitung bewundern? Zu fürchten ist, daß dies ihre beste Zeit war, daß nichts Erhebliches nachkommt. Sie werden nachher enttäuscht sein. Sie selbst werden enttäuschen, oder kaum das: nicht benötigt, schnell vergessen sein. Wenn in die Spanne eines kurzen Menschenlebens zwei Kriege fallen – richtiger derselbe Krieg mit eingelegter Pause –, dann können wir über manches Bescheid wissen.
Kriege ersten Ranges, die napoleonischen, jetzt dieser, gefährden bei mehreren Generationen das Lebensgefühl. Sie waren die unsinnigste Überanstrengung aller Lebenden – immer ohne ergiebige Arbeit, ohne daß gelernt wurde. Davon erholen sich die Folgenden nicht so bald. Ein Lebensgefühl ist noch schwerer wieder aufzubauen als die zerstörten Länder und Städte, ganz zu schweigen von den Lücken im Nachwuchs.
Zuletzt kommt alles ins Gleiche. Meines Amtes ist es nicht, das Schicksal einer Welt zu beklagen, wenn sie es gewollt hat. Die einen ergingen sich in Herausforderungen des Unheils. Die anderen waren, um es aufzuhalten, weder einmütig noch entschlossen. Gut, ich beklage alle, obwohl ich es nach ordentlicher Überlegung nicht dürfte. (Den gewissen X beklage ich nicht. Bei ihm allein finde ich unverzeihlich, daß er nichts ändern konnte.)
Ich bewundere sie auch. Sogar die Zähigkeit im Falschen, nachgerade eine deutsche Eigenschaft, hat, bis auf weiteres, etwas Großartiges; ausgehen wird es damit eher klein und weinerlich. Wirklich überzeugt bewundere ich den Aufschwung mehrerer kämpfenden Nationen, voran Großbritanniens und der Sowjetunion. Ihre Wandlung im Krieg, ihre Bestätigung durch den Krieg sind von imposanter Sittlichkeit. Nur das Sittliche ist imposant. Ein Ausbruch von Wahrheitsliebe, dem ich beiwohne, ein ganz neues Interesse für die menschliche Lage, das sich anmeldet, lassen mich hoffen, daß dennoch kein herabgesetztes, vielmehr ein erhöhtes Lebensgefühl das Zeitalter beenden werde. Taten, auch wenn sie unerhört wären, erhalten durch sich allein keinen Anspruch auf Geltung. Der Gedanke macht sie groß, gesetzt, daß er sie nicht entwertet. Welcher Gedanke wird die Abgründe der Natur, die während eines Krieges geöffnet sind, den Haß, die Rache, das betäubte Erbarmen – nicht rechtfertigen, aber weniger beschämend machen? Es ist die gedachte Verbesserung der menschlichen Lage. Die Ehrlichsprechung unseres Geschlechtes. Der Vorsatz eines Daseins in Gerechtigkeit und Wahrheit. Kurzum, das Menschenglück – wenn es erfaßlich wäre und nicht sooft sein Gesicht änderte.
Wenigstens essen und ruhig schlafen wollen alle. X, die zahllosen Personen dieses Namens, haben für die voraussichtlichen Sieger dieses Krieges – und Zeitalters – Stellung genommen, zuerst aus den primitiven Beweggründen, die auch ein Höhlenbewohner hätte. Von den Deutschen, wenn sie siegen könnten, drohen für unabsehbare Zeiten schlechte Ernährung, gehetzte Nächte, lustlose Arbeit ohne anderes Ergebnis als nur wieder Krieg. Der Sieg der Alliierten soll den Menschen, die übrigbleiben, so viel Sicherheit des Lebens bringen, wie manche Tiere ohne Krieg haben.
Unbescheidene erwarten mehr. Schonung, ja etwas Pflege von Seiten der Gewinner, die den Krieg führten unter dem Zeichen der Menschenfreundschaft. Oder mindestens die Gegner eines Feindes waren, der sich als der Antichrist, als ein wahres Anathem etabliert hatte. Da sollte es doch nicht schwer sein – ich bitte um Entschuldigung –, nie wieder Faschist zu werden. Das war doch der Widersacher, der Fluch, der so furchtbar schwer, so über die Maßen teuer zu entkräften war.
Dasselbe wie er müßte jeder andere werden, wenn er dasselbe unternähme. Wenn er nachträglich, post festum kann man sagen, auch wieder versuchte, den natürlichen Ausgleich von reich und arm mit Gewalt zu verhindern. Was ist denn der Faschismus oder die Hitleritis? Was waren sie, sollte es heißen, wäre es nur sicher, daß sie, in Mitteleuropa geschlagen, nicht anderswo wieder aufleben!
Die Demokratie ist voll Edelmut und Würde, solange die Wähler für den freien Wettbewerb der Kräfte stimmen. Immer einmal kommt der Augenblick, wo die Menschheit schwankt. Bald vielleicht wird sie nicht mehr den freien Wettbewerb – die Freiheit unter dem Besitz – vorziehen, sondern sich dem Sozialismus zuneigen. Noch ist nichts geschehen, aber schon der Verdacht genügt. Die Mächtigen, das ist eine geringe Minderheit, denen der freie Wettbewerb gut bekommen ist – ergreifen starke Maßnahmen gegen die Beinah-Gesamtheit, der er schlecht bekommt.
Sie stellen einen homme de main an, er kann gar nicht Bandit genug sein, es handelt sich um scharfe Mittel, es geht um das Ganze. Der Bandit wird an die Macht erhoben, was nicht so leicht ist gegen eine mehr oder weniger eingesessene Demokratie. Die wenigen Reichen des einen Landes schaffen es nicht, aber ihre auswärtigen Freunde fühlen sich beteiligt an dem Experiment, sie tragen bei. Eine Unmenge Geld wird in dem Banditen investiert.
Endlich ist er oben und beginnt zu wüten. Lügen durfte er schon vorher, die Demokratie erlaubte es ihm. Wenn der Lügner wüten kann, ist es Faschismus.
Seine Gewalttaten bringen ihn dermaßen in Sicht, daß er seine Hintermänner, die wirklich Mächtigen, überschattet. Ihnen ist es recht, sie wollen nicht gesehen werden. Haben sie doch dem Banditen hinaufgeholfen, damit er statt ihrer alle Greuel verantwortet, zuletzt den Krieg. Der Faschismus erhält sich nur durch Krieg, aber er endet unfehlbar in Niederlagen. An diesem Zeitpunkt, da der deutsche Faschismus so weit ist, klingt es gewöhnlich.
In Wirklichkeit ist es nicht begriffen, nicht zu Herzen genommen. Das Problem der Gewalt bleibt aufrecht. Hitler stürzt nicht, weil er stärkere Mächte angegriffen, sich an ihrem Eigentum vergriffen hat. Er stürzt im Gegenteil, weil er das deutsche Privateigentum, die stärkste Macht im Lande, gegen demokratisches Recht mit Gewalt verteidigt hat – übrigens bevor es bedroht war. Sein Schicksal ist die Gewalt, gleichviel ob sie verbrochen wird an fremden Nationen, die er überfällt und entrechtet, oder an der deutschen: sie überfiel und entrechtete er zuerst. Eins bedingt das andere, wird das unvermeidlich tun überall und immer. Wer Gewalt ißt, stirbt an ihr.
Das ist eine Erkenntnis, sie verlangt den vollen Ernst der Geschlechter, die sie jetzt erfahren müssen. Aber der Ernst fehlt. Die törichte Sensation ist ausschließlich Hitler, als wäre er kein gemieteter Knecht, sondern aus eigener Kraft der Veranstalter. Zu hunderten von Millionen erscheint sein Name gesprochen und gedruckt. Maschinen schreien ihn über die Welt. Schlachten, »die größten in der Geschichte« heißen sie, bespritzen die Lande, die Erdteile mit seinem roten Namenszug – wie der Besitzer eines Gartens Blumen sät, von weitem liest man sie als den Namen seines Lieblings.
Der einstige Liebling einer Welt war nie etwas anderes als ein Wicht und eine Niete. Darum heult er, nun alles verspielt ist. Tränenkrisen, wie seine neuesten Besucher sie zu sehen bekommen – ach! wer doch seine Auftraggeber und Vorgesetzten bei Weinkrämpfen ertappte! Das kommt nicht vor. Die halten schon ihren nächsten Banditen in Bereitschaft. Der darf aber wirklich kein Pech haben! Sie wissen noch immer nicht, daß kein Hitler ihr Unglück war: die von ihnen selbst verbrochene Gewalt war es.
Die Gewinner des freien Wettbewerbes – der Freiheit unter dem Besitz – sind dumm, das ist es. So unfähig zu lernen war nie vorher eine andere Gruppe von Mächtigen, ist auch heute keine. Monarchen oder demokratische Führer müssen nicht ihr Leben und ihren Verstand abnutzen mit eigener Bereicherung allein. Ein König und ein Sozialist behalten geistigen Raum genug, um mit Erfolg den Leuten in ihre Gesichter zu blicken. Eine Figur wie diesen Hitler richtet doch der Augenschein! Die reichen Leute haben ihn für ihren Volltreffer gehalten.
Dies war die Nachtseite des Zeitalters, das X und alle anderen X über sich ergehen lassen, wenn sie nicht vorziehen, dem Zeitalter beizupflichten wegen seiner Lichtseite. Natürlich hat es eine, sie läßt sich schnell benennen. Es ist die Mitwisserschaft der meisten. Niemand, der nicht halbwegs aufgeklärt wäre über Technik und Verlauf der Vorgänge. Ja, sogar die sozialen Anlässe sind Gemeingut. Die geistigen Grundlagen – das wäre viel verlangt. Um ihre Kenntnis sich zu bemühen, ist unter anderen X da.
Dieses Zeitalter ist eines der durchschautesten, nur daß die meisten es sich nicht sehr zu Herzen nehmen. Ihre Herzen sind von den nächsten tödlichen Sorgen schwer. Was kümmert sie die Ergründung der Tiefen. Die Oberfläche, wo sie weilen, ist gerade unheimlich genug. Aber sie wissen. Ich bezweifle, daß – nur beispielsweise – die Menschen des Dreißigjährigen Krieges über ihre wirkliche Lage so weit unterrichtet gewesen sind wie meine eigenen Leidensgefährten.
Ein Beweis wäre vielleicht, daß 1618-1648 von Deutschland einfach wiederholt wurde, was Frankreich während einiger voriger Jahrzehnte schon durchgeübt hatte. Eine Liga der Großgrundbesitzer und provinzialen Monopolisten zerriß und zerstörte das Königreich – natürlich ohne sich zu ihrer Sache zu bekennen. Wenn man die Herren hörte, verteidigten sie einen Glauben, sprich: Weltanschauung; unter denselben Umständen hätten sie seither ihren Antibolschewismus angepriesen. Der Befreier Henri Quatre handelte revolutionär, seither wäre er Bolschewik genannt worden. Indessen hieß er Ketzer, und die wirklichen Zusammenhänge blieben im dunkeln. Sonst wäre nicht ein verwandter Tatbestand gleich nachher im Nachbarlande eingetreten.
An unserem Zeitalter ist das Hellste, daß es über sich Bescheid weiß. Es faßt sogar den Vorsatz, seine eigenen Fehler auf seine Nachfolger nicht zu übertragen. Was seine Zuständigkeit offenbar überschreitet. Niemals mehr Krieg! scheint diesmal das wirkliche Kriegsziel zu sein. Niemals wieder Krieg von einer so wenig berufenen Seite wie der deutschen. Wenn das deutsche Verhältnis zur Welt schon vorher falsch war, kann Deutschland es mit Krieg am wenigsten richtigstellen. Sein Sieg wäre schädlich gewesen für alle und für Deutschland.
Auch wenn der Fall Deutschland einmal erledigt, kann doch nicht im Vorhinein ausgeschlossen werden, daß eine andere Macht – Mächte verlieren mitunter die Macht über sich selbst – in ein falsches Verhältnis zur Welt tritt. Dies wäre sogar sicher, sobald eine Macht sich dem Faschismus post festum, eigentlich einem posthumen Faschismus ergäbe. Sie wird ihn anders benennen, der Name hat Unglück gebracht. Die Sache, die er deckte, kann irgendwo wieder für möglich erachtet werden. Die Sache wäre modifiziert, die Lage darf nicht gleich wiederzuerkennen sein. Ganz den gleichen Kriegsmachern wird keine Nation noch einmal hereinfallen.
Die allgemein menschliche Neigung, auf Katastrophen hinzuarbeiten, kann schwer vergessen werden. Sie ist zu oft bewährt. Dieses Zeitalter bezeugt inmitten seiner Katastrophe ein sympathisches Vertrauen auf die Lenkbarkeit der menschlichen Beziehungen, zur Vernünftigkeit hin, zur Beherrschtheit hin. Es meint, jetzt sei des Unfugs genug – womit es wahrhaftig recht hätte.
In dem Konzert von guten Vorsätzen erinnere ich mich nur einer einzigen Stimme, die detonierte. Marschall Joseph Stalin sprach: »Krieg wird es immer geben.« Warum gerade er? Sein Land hat mit diesem Krieg, den es so großartig besteht, ursprünglich am wenigsten zu schaffen. Nicht einmal erklärt hat es den Krieg und spät erst vorbereitet. Es hatte ernstlich mit sich selbst zu tun. Das ist auch die beste Art, wie ein einzelnes Land der Gemeinschaft aller dienen kann: sich höher entwickeln. Warum »Krieg wird es immer geben«?
Der Marschall, nicht zuerst ein Militär, vielmehr vom Typ des intellektuellen Militärs, wünscht vielleicht, daß dieser Krieg der letzte sei. Der Intellektuelle hält es mit der Wahrheit: mit seiner Erfahrung, die für die Wahrheit einsteht. Er kennt die Vergeblichkeit von Illusionen. Er weiß: mit dem guten Willen aller ist nicht einmal im Innern eines Landes zu rechnen. Bis es den Ansprüchen der einfachen Sittlichkeit, dem bloßen Anstand des Lebens auch nur genügte, mußte unerbittlich gekämpft werden. Der Krieg mit Hitler war die vorausbestimmte Fortsetzung der Revolution.
Intellektuelle sind sehr streitbar. Auch von den Staatsmännern erweisen sich am streitbarsten die Intellektuellen. Die den Krieg mit Hitler umgehen wollten, waren ausnahmslos Mittelmäßigkeiten. Die ihn voraussahen und durchführen, Churchill, Roosevelt, Stalin, verstehen einander auf einer geistigen Ebene: die Praxis ihrer Staaten verliert daneben an Bedeutung.
Ich glaube, daß Gott mir helfe: die beiden Angelsachsen wenden gegen ihren Freund Joe am wenigsten einen Kommunismus ein. Für ihre eigenen Gemeinwesen wird er bis jetzt nicht benötigt. Sollte der innere Verteidigungskrieg gegen Präpotente sich ihnen jemals aufdrängen, unmittelbar, unausweichlich wie der Krieg gegen Hitler, dann bürge ich weder für den Konservativen noch für den Liberalen. (Beiseite gesprochen: Hitler vernichten, ist schon ein Sieg über ihre eigenen reichsten Leute. Das sollten sie nicht wissen?) Sie sind streitbare Intellektuelle. Ihr Gesichtspunkt ist schwerlich, daß diese oder jene Form der Wirtschaft durchaus erhalten oder durchgesetzt werden muß.
Die Wirtschaft ist ein sehr wichtiger, aber nicht der einzige Anlaß der Völker, bei guter Gesundheit zu bleiben oder zu erkranken. Dies physisch verstanden, und demgemäß sittlich. Eine starke Moral beruht keineswegs auf der Wirtschaft allein. Theoretisch könnte eine ganz verkommene Ökonomie von dem entschiedensten sittlichen Aufschwung begleitet sein. Die letzten Jahrzehnte des Zarismus erscheinen als wirklicher Beleg, wenn die damals beobachtete Wirkung der Literatur so ernst genommen wird wie sie verdient: als eine sittliche Erhebung inmitten staatlichen Verfalls.
Andererseits stand das deutsche Reich in seiner wirtschaftlichen Blüte, als es ohne Not, aus purem Übermut und Luxus, zu den unsittlichsten Ideen griff. Eine düstere Tatsache. Aber hier sind wir bei der Lichtseite.
Das Zeitalter, das auch mich verdüstern könnte, hellt sich auf, sobald ich bedenke: es sind Intellektuelle, es sind Moralisten, die jetzt die Macht haben und den Sieg an sich bringen. Zwei von ihnen reden und schreiben klassisch, und denken volkstümlich. Nur eine vollkommene Sprache erreicht den Anschluß an jedes Begriffsvermögen und ergreift jedes Gemüt. Der Dritte beläßt es bei Salutschüssen aus hundertzwanzig Kanonen, wenn seine Meinung, daß die menschliche Lage besser werden könne, sich wieder einmal bestätigt hat. Denn die rote Armee siegt.
Die Sowjetunion ist ein Beispiel, nicht das einzige, des guten Willens, die menschliche Lage zu verbessern. Die westlichen Demokratien, mit ihren intellektuellsten Männern an der Spitze, geben dasselbe Beispiel. Der Sozialismus hat den Wert einer praktischen Maßnahme, zu ihrer Zeit, an ihrem Ort wird sie vorgenommen. Um seiner selbst willen wäre ein Bund sozialistischer Republiken weder hassens- noch liebenswert. Die ganze Macht dem Staat – bedeutet zunächst gar nichts. Es kommt darauf an, wie er es mit seinen Menschen meint.
Der andere große Bund von Republiken, der das Britische Commonwealth genannt wird, funktioniert geistlich und sittlich unter den gleichen Voraussetzungen: sonst hielte er nicht zusammen. Auch er überzeugt seine Völker, versichert sich ihrer Freiwilligkeit und hat erreicht, daß sie den Krieg, diese Entscheidung über Tod und Leben ihres Gemeinwohls, auf sich nahmen. Es muß wohl ein geglaubtes, der Zukunft sicheres Gemeinwohl sein, wenn Kanadier, Australier, Neuseeländer, Südafrikaner, die Indier auch dabei, ungenötigt in Europa ihr Blut opfern. Offenbar geht es um mehr als nur die Sache der Insel, die sie ihr Mutterland nennen.
Die Angelsachsen, genau wie die Sowjetunion, haben Grund, sich für die sittlich Überlegenen zu halten. Dies zuerst; die staatlichen Einrichtungen folgen im Abstand. Sie sehen, daß Europa, ein alter, lange auch ein vorbildlicher Teil der Welt, jetzt Gefahr läuft, tief zu sinken. Wie tief, ist nicht ausdrückbar. Die vermeintlich dunkelsten Zeiten des viel umgetriebenen Erdteils hatten ein starkes Christentum. Mit ihm waren sie nicht unbedingt dunkel.
Finsternis sinkt und verbietet den Ausweg, wenn der Mensch selbst in Frage gestellt wird. Wesen ohne geistig-sittliche Verantwortung sind keine Menschen mehr. Wer sie so haben will, der hat sie in seinem Bewußtsein schon entmenscht. Demgemäß züchtet oder vernichtet er sie wie Getier, sobald er kann. Dies ist der deutsche Vorgang, gegen den die Welt aufsteht. Europa ist nicht wirklich erobert. Seine wirkliche Eroberung wäre der Anfang vom Ende der Menschheit. Daher ihr Aufstand, der den Sieg verbürgt.
Dies wären unpersönliche Feststellungen? Es sind die allerpersönlichsten. Mein eigenes Dasein hängt ganz und gar davon ab, daß sittliche Bemühungen möglich sind. Das Auftreten des Antimenschen und sittlichen Fluches, der Hitlerdeutschland sein will, hat der Welt die Moral interessant gemacht. Sie war es sonst nicht, im besten Fall verstand sie sich von selbst. Lebendig bleibt nur, was bestritten ist und verteidigt, wenn nicht sogar zurückerobert werden muß.
Die Auffindung der Moral, ihre überlegte Geburt für das einzelne Gewissen, geschieht durch Anschauung und vermöge Erkenntnis. In Laufbahnen wie meine ist das erste die Anschauung. Ich habe gesehen und gestaltet, bevor ich den Sinn der Dinge begriff. Die treue und hochgespannte Darstellung erwirbt zuletzt auch Geist. Wer die Geste von Menschen nachahmt, erlebt ihren Charakter. Ein unsterbliches Handbuch des moralischen Wissens heißt ausdrücklich Les Caractères.
Moralisten sind nicht so sehr Prediger wie Betrachter. Für sie wäre kein Raum mehr, sobald feststände, daß ohne Wissen, ohne Verantwortung eine Menschenwelt bestehen kann. Heute erweist sich im Gegenteil, daß sie es weder kann noch will. Der Feind der Moralisten, unser persönlicher Feind, zugleich das Symbol alles Unmöglichen: Hitler, treibt in vollem Mißerfolg seiner Versenkung entgegen.
Der Preis ist hoch, die Anstrengung unvergleichbar. Dieses Zeitalter, was es übrigens versäumt und verschuldet habe, entlastet sich mit seinen Mühen und Opfern. Sie werden dargebracht nicht um weltlichen Besitz allein, sondern weil das Unterscheiden von Gut und Böse wieder einmal erwacht, sehr großartig erwacht ist.
Dafür bedurfte es einer Gestalt wie dieses Hitler. Eine armselige Gestalt, für sich allein genommen. Aber beladen mit allen Verirrungen einer Mitwelt und ihretwegen in die Wüste geschickt, wird auch der Sündenbock ansehnlich. Will ich ihm sonst nichts zugestehen, keine Intuition, nicht einmal seinen Traumwandel – einen durchschnittlichen Verstand, soweit er die Kenntnis des eigenen Interesses angeht, hat jeder, auch dieses Exemplar besaß ihn. Ich erstaune noch jetzt: vor dem Beschreiten seiner unschicklichsten Abwege äußerte er seine Furcht vor dem Intellektualismus.
Seine Furcht kleidete sich in Ausbrüche von Haß; gleichwohl sind sie unter seinen emotionellen Kundgebungen die Vernünftigsten. Er hat selbst nie gewußt, warum er die Juden haßte, oder die Bolschewiki, und bei zunehmendem Wahn alle Welt, die Menschen, den Begriff des Menschen. Das war Bestimmung, die Traurigkeit der Dinge wollte es.
Aber er war fähig, Rechenschaft abzulegen über sich und die Intellektuellen. Es geschah zu Anfang, als er nur erst Deutschland quälte und verfolgte. Die übrige Welt wohnte dieser vermeintlich inneren Angelegenheit einer einzelnen Nation zutraulich bei, noch ging es niemand an, außer den Sympathisierenden anderswo, die es gemacht hätten wie Hitler. Da beschimpfte er die Intellektuellen, geräuschvoll, aber intim, als hätten er und sie an demselben Tisch im Café gesessen. »Nichts mit ihnen zu machen. Abfallprodukte der Nation.«
Er war wohl um sie bemüht gewesen, durchweg vergeblich. Die er ohnedies hatte, waren ihm gleichgültig, ihre Beflissenheit ist niemals belohnt worden. (Der Titel eines Volksdichters wurde verliehen, einfach um der Sowjetunion noch einen ihrer äußeren Gebräuche nachzumachen.) Über den verarmten Zustand der Universitäten klagte ein sonst unverdächtiger Wissenschaftler dem Führer seine Besorgnisse. Nicht lange, der alte Gelehrte wurde scharf unterbrochen. »Ich soll wohl die jüdischen Professoren zurückholen? Wenn Sie nicht so alt wären, ließe ich Sie ins Lager bringen.«
Nein, er hat keinen zurückgeholt, und die auf seinen Ruf gekommen wären, ob Jude oder Christ, hätte er seinen »Umschulungs«-Lagern übergeben. Ihn beschäftigten die Entkommenen, Gesicherten, sicher vor ihm, und sicher ihrer selbst. An ihnen hing sein giftiges Herz. Seine Reden erwähnen – mehr als einmal, wie oft, wie unruhig! – die Menschenart der Intellektuellen, die ohne äußere Not, um ihres Gewissens willen, den Strich gezogen haben zwischen sich und seinem Deutschland.
Er schildert ihnen das Exil, das sie besser kennen als er. Anders als er, haben sie kein Land, wo sie unzuständig waren, als Verschwörer überfallen. Sie haben gearbeitet, des Brotes wegen oftmals unter ihrem Rang. Sie haben sowohl Mühsal als Demütigung erlitten. Was sie im Tiefsten angriff, war die Unmöglichkeit, das Weltenunheil aufzuhalten. Das und nichts anderes wäre ihre Rechtfertigung gewesen: Sie kamen aus dem Lande des Ursprungs; sie wußten. Wenn Selbstmorde geschahen, war es auch aus Hunger, nie aus Hunger allein.
Seelische Verzweiflung, eine tödliche Sehnsucht, die ausnahmsweise sogar den Reichen, Namhaften übermannt, einem Hitler ist sie unzugänglich, er hat daneben hingeredet, wie über alle Tatsachen des Lebens. Das Exil war, ihm zufolge, die Buße des verstockten Hochmuts, es verlief rapide in das Vergessenwerden, in die gebührende Verachtung der Erfolglosen. Erfolg – war bei ihm allein. Ihnen blieb nur, ohnmächtig aus ihrem Dunkel seiner Lichtgestalt beizuwohnen.
Eitel Triumph über uns Ausgetriebene, wenn man ihm geglaubt hätte. Wie war es wirklich? 1933, im Einweihungsjahr des Tausendjährigen Reiches, nahm ich pünktlich seine Würdigung vor; heute könnte ich sie nur erweitern, nicht verändern. Das Buch hieß »Der Haß«. Seine erste Fassung war französisch, sie erschien in Paris. Die deutsche folgte in Amsterdam. Wer der unbeschränkte Herrscher über mein Land ist und die anderen Länder nächstens unterwerfen wird, darf Worte, wären es die treffendsten, für nichtig halten und darf schweigen.
Dieser meldete sich. Die Kölnische Zeitung, nächster Lautsprecher vor der Grenze, bedrohte Holland, wenn es die Verbreitung meines Buches weiterhin zuließe. Drohungen 1933! Noch nicht einmal eine Armee, groß genug gegen Holland, hatte der Fürchterliche. An Frankreich sollte er sich noch lange nur in Reden messen. Die gebotene Antwort ist nicht erfolgt. Aber während acht erwartungsvoller Jahre brachte eine Zeitung, der Regierung der französischen Republik persönlich verbunden, meine Artikel. Es waren regelmäßige Warnungen vor Hitler. Sie veranlaßten, nicht ganz so regelmäßig, einen Besuch des Hitlerschen Botschafters im Auswärtigen Amt.
Er befolgte den Auftrag, meine öffentliche Tätigkeit zu stoppen. Den Bescheid kannte er nachgerade. »Wir haben auf die Dépèche keinen Einfluß.« Gewiß nicht, wenn nur der ständige Innenminister ein Mitbesitzer der Zeitung ist! Der Präsident der Republik hätte es mindestens sein müssen, noch besser Hitler selbst.
Vermöge eigener Erfahrungen begreife ich völlig die deutsche Schwelgerei in französischer Meinungsmache seit der Okkupation. Ein gestautes Bedürfnis entlädt sich. Wie jetzt, mußte die Presse schon längst gehandhabt werden. Kollaborationisten, so weit das Auge reicht, hätten die deutschen Tanks erspart. Wozu dann mourir pour Danzig. »Auf eurer Halbinsel könnt ihr eure Kultur pflegen.« Hitler – an Frankreich, als noch Zeit war.
Gleichgültigkeit gegen ausgewanderte Schriftsteller ist in meinem Fall nicht erwiesen, wird auch sonst nicht bemerkt. Als wir nach dem Sturz der französischen Republik in einer Falle saßen – aber es wäre keine gewesen, sogar in Vichy wollte einer uns hinaushelfen –, da war es der Eroberer, der befahl, uns alle für ihn aufzubewahren. Wehe den Unglücklichen, die er bekam. (Er bekam Ermattete, die es nicht anders wollten.) Der, auf seine emigrierten Intellektuellen verzichten? Weil sie vergessen wären? Nicht bei ihm.
1941, bald wird er auch mit den Vereinigten Staaten seinen Krieg haben, antwortet er auf Radioansprachen, die Thomas Mann via England an die Deutschen richtet. »Bis nach Amerika ist er davongelaufen«, hieß das Hauptargument des Herrn über einen Kontinent. Spottet seiner eigenen Schande, da alle, die mit ihrer Person den Ruhm Europas für die Zukunft retten, auf anderen Erdteilen inzwischen Fuß faßten. Aber seine Schande, er kennt sie, ich bin versichert, daß er sie durchaus kennt.
Aus Ehrgefühl könnte er sie nicht begreifen, er hat keines. Er rühmt sich, daß er es »sich nicht leisten könne«. Seine Furcht allein drängt ihm Wahrheiten auf. Die deutschen Intellektuellen stehen an seinem Anfang, als der Feind selbst. Was Juden und Kommunisten! Das sind Falschmeldungen, es sind betrügerische Ausflüchte. Im Ernst handelt es sich um die Intellektuellen ohne Ansehen der Denkungsart und Geburt. Die es mit ihm halten möchten, bleiben ihm verdächtig: sie kennt er durch sich selbst. Die einzige, mißgestaltete Abart von Intellektualität, die ihm gegeben war, ist die Lüge.
Jemand kommt daher, und kommt zur Macht mit dem Auftrag und Beruf, das Denken aus der Welt zu schaffen. »Der Führer denkt für euch.« Zu ergänzen: »Wenn ihr dächtet, wär' er euer Führer – gewesen.« Darin ist er weit gegangen, die Absicht wurde laut, nur noch dem abgerichteten Parteinachwuchs das Lesen zu lehren. Weder die Deutschen noch die unterworfenen Völker sollen die Mittel haben, wahr von unwahr, Recht von Unrecht, den Antimenschen vom Menschensohn zu unterscheiden.
Wen wird der Berufene und Beauftragte hassen und fürchten unentwegt, nach elf Jahren befohlenen Nichtdenkens noch immer wie am ersten Tag? Das Wort. Der Trieb seiner Selbsterhaltung hat ihn gewarnt, um so dringlicher, als sein Glück sogar die Phantasie überstieg. »Wenn ich Reichskanzler werden konnte, ist alles möglich.« Da ist es heraus. Sein Glück geht nicht mit rechten Dingen zu. Er weiß: gegen ihn steht eine Macht und wird ihm gefährlich werden.
Den Kontinent, eine weite Sklavenplantage, in Erniedrigung erhalten vermittels einer Kriegerkaste, die zufällig deutsch ist (sie könnte auch afrikanisch sein), das geht. Man muß eine bestimmte Anzahl Zungen lähmen, diesem wissenschaftlichen Experiment erlagen Intellektuelle, von Schuschnigg bis Herriot. Könnte es allen bereitet werden, die Wette wäre gewonnen, es gäbe keine Lebenden mehr. Das Einheitsreich der Totgeborenen, die arbeiten und töten, wäre Wirklichkeit.
Es geht nicht, die Furcht dieses Hitler behält recht. Die Intellektuellen im Exil wären allein keine Macht, wenn andere Intellektuelle nicht Reiche regierten. Diese lernten aber, was zu tun sei, nicht ohne die beständigen Arbeiten, die treu übermittelten Erfahrungen der anderen, die allein nichts vermochten. Im Schwachen ist der Geist stark. Die Wege Gottes sind wunderbar. »Klopfet an, so wird euch aufgetan«, – schrieb Churchill seinem General Wavell.
Ich müßte erstaunen. Alle diese gewöhnlich hingesprochenen Worte bekommen ihren vollen Sinn. Die Mächtigen wenden sie an oder die Macht der Dinge verwirklicht sie: was ein und dasselbe ist. Ein Kampf um Gut und Böse entscheidet sich jetzt. Dieser Krieg konnte vermieden werden, wenn etwas Versäumtes nachträglich denkbar wäre. Nötig war, Gut und Böse als Maße zu nehmen für Urteile, für Handlungen sogar. Welche Mächtigen gebrauchen solche Maße?
Der Krieg war zuerst nichts weiter als das Vorhaben, einen Eroberer unschädlich zu machen, wie andere vor ihm. Im Lauf der Ereignisse, ihrer technischen Verschärfungen, sittlichen Ungeheuerlichkeiten, bekam der Krieg ein durchaus neues Gesicht: er wurde ein Vorgang der streitbaren Moral. Es geht seither um Gut und Böse, ob das eine oder das andere künftig den Inhalt des allgemeinen Bewußtseins bildet, wem von beiden die Welt zufällt. Den Staaten und Nationen, die den Krieg gewinnen, das versteht sich. Wollten sie nur als Mächte über andere westliche Mächte entscheiden, wäre es nichts Besonderes.
Etwas ganz Seltenes ist das Vertrauen, die Macht könnte nicht nur anders verteilt, sie könnte erträglicher werden durch den erhofften Sieg über das Böse. Den Krieg gewinne die Menschheit. Ihre Lage solle davon den Vorteil haben, eine hohe Zeit des besser verstandenen Lebens beginne. Dies zu hören von der Exekutive selbst, im Namen der Sieger! Noch dazu auf dem Gipfel – wenn nicht am Wendepunkt – eines Zeitalters, das vom Humanen, o gewiß, auch vom Humanen überzeugt war, aber, gelinde gesagt, weniger als vom Geschäftlichen. Auf einmal scheinen beide dasselbe.
Die Frage entsteht, ob idealistische Staatsmänner aufrichtig sein können. Oder ob sie schwärmen. Indessen erinnern sie sich vom vorigen Friedensschluß, daß keine leeren Hoffnungen genährt werden dürfen. Die ärgere von zwei Katastrophen ist eingetreten, nachdem die erste absichtlich verflacht, ohne Festigkeit abgeschlossen war.
Die Sieger werden diesmal in die Tiefen der Staatskunst, bis zur weisen Menschenbehandlung werden sie gehen, oder sie gewärtigen ein Unglück, das endgültig wäre. Die Intellektuellen an der Spitze der Vereinigten Staaten und Großbritanniens sind zweifellos belehrt, daß, allgemein betrachtet, der Mensch mißbraucht worden ist vom Staat.
Dies ist die Sache selbst. Man ist wohl naiv, wenn man sie nennt. Man ist gerade naiv genug, um eine sittliche Wahrheit zu entdecken, was den nur Weltklugen noch niemals unterlief. Zwei Kriege wie diese, der zweite bedingt vom ersten, beide von einem Umgang mit Menschen, der darauf hinauslief, daß sie einfaches Schlachtvieh wurden: dem Naiven ist es klar, daß da etwas hinkt. Eine bestehende Ordnung ist erhalten, vielmehr sich selbst überlassen worden bis über jede Grenze ihrer natürlichen Dauer, bis sie faulte und skandalös verfiel.
Das 18. Jahrhundert empörte sich – sittlich, lange vor jedem politischen Aufstand –, weil jährlich 40 000 Menschen in Schlachten verlorengingen. Auf die erste, kleinere Hälfte des 20. Jahrhunderts werden kaum weniger entfallen als pro anno eine Million. Da zieht keine Berufung auf die vermehrte Bevölkerungsziffer oder den kleiner gewordenen Planeten mit seinem massigen Verkehr, wovon auch der Massenkrieg ein Teilergebnis sei. Was zuviel ist, richtet sich. Was nicht mehr geht, muß anders werden.
Die Sicherheit des Lebens ist wiederherzustellen. Die Forderung gilt für erlaubt, wenn sie eine Direktion heruntergekommener Bahnen oder Gruben betrifft. Sie leidet noch weniger Widerspruch hinsichtlich veralteter Staaten. Ihr bisheriger Bestand, die innere Machiverteilung, die äußeren Beziehungen haben sich bewährt in einer Weise, daß jedes Unternehmen genötigt wäre, seine Geschäfte einzustellen.
Der Abstand von arm und reich ist übertrieben worden bis zum Widersinn, offenen Unfug und automatisch aufgeopferten Leben. Dazu eine internationale Politik desselben Stils, und nichts fehlt mehr, damit die Million Schlachtopfer jedes Jahr voll wird. Der sogenannte Friede mit seinem abgeschmackten, trostlosen Existenzkampf besorgt sich seine Legionen Gefallener ohnedies. Dies sind nicht ohne weiteres die Feststellungen des gegenwärtigen Biographen seiner selbst, eines X.
Er würde sie nicht der Mühe werthalten – gesetzt sie wären ihm auch nur zugänglich –, wenn nicht bis an die Spitzen der Staaten genau so, oder dem ähnlich, gedacht würde. Unweigerlich gewinnt X den Eindruck. Er ist nur ein Gestalter, will sagen, daß er Gesicht und Geste seiner Personen erfaßt und nachübt, bevor er sie deutet. Dabei erfährt er, daß die Handelnden nachgerade auf dem Punkt sind, naiv zu denken wie Betrachtende. Naiv heißt: ohne Voraussetzung, außer der sittlichen. Das Böse muß gebändigt werden – es abzuschaffen steht nicht in Frage. Das Gute drängt nach Zulassung – Alleinherrschaft wagt es nie.
Der heutige hohe Kurs der Moral wäre erstaunlich. So treffliche Prognosen, und gestellt von Personen, die imstande sein sollten, sie wahrzunehmen! Dennoch ist X nicht gerade verblüfft, da er als Zuschauer seine Erfahrung hat – und nicht nur den 4. August 1789. Eine viel schlimmere Enttäuschung war, nur beispielshalber, der Völkerbund von 1919, dessen mit Recht noch weniger gedacht wird als eines um hundertvierzig Jahre älteren Versuches, sittlich zu handeln.
Es gerät, im Dasein der Allgemeinheit wie im einzelnen Leben, meistens mißlich, sittliche Vorsätze zu fassen – sie indiskret zu verlautbaren, wie beim vorigen Friedensschluß und leider wieder jetzt. Sie haben die erwiesene Neigung, als Heringsschwanz, en queue de poisson, auszugeben. X hätte eher die Stille gewünscht, eine wortkarge Entschlossenheit. Die Sowjetunion hat ihre Angelegenheiten, die auf der gleichen Ebene lagen, wenn es möglich war, ohne erschwerendes Geräusch versehen.
Das scheint nicht statthaft, wo die Ausführenden zahlreich sind und die Zustimmung von Mehrheiten eingeholt werden muß. Die Unfreundlichkeit wird weiter, mit verhältnismäßigem Erfolg, mitwirken wollen bei der Behandlung der Menschen, rechnen wir damit. Dies sogar nach den äußersten Proben auf die menschliche Geduld. Es fragt sich immer noch, wer diesen Krieg schon für das Äußerste hält. Genug, die vordersten Individualitäten sind der Meinung – heute, den 10. Januar 1944.
X denkt – viele X, wenn sie einmal der Masse entrückt ihr Zimmer hüten mögen, denken: Genug, ich bin dankbar. Wofür, darf nicht untersucht werden – oder doch. Für Ermutigungen, die erfahrungsgemäß zu 50 Prozent versagen werden. Aber gibt es vom guten Willen die Hälfte? »Betet Gott an, seid gerecht und tut wohl: das ist der ganze Mensch«, sprach, früher einmal, ein anglikanischer Geistlicher zu einem spanischen Bakkalaureus. Er hätte nicht verstanden, wie man sich, anstatt des ganzen Menschen, auf den halben einigen kann.
Lassen wir diesen Mr. Friend. X gleicht ihm nicht zum Verwechseln. Denn Friend, ein glücklicher Freund des Menschen, kann aus ihm und seiner Geschichte das Böse fortdenken: man konnte es einst. Der arme X, mit seinem Zeitalter auf der Brust, würde sich kein Wort klauben von dieser Art der Menschenfreundschaft. Er ist des Bösen allzu gewöhnt. Scharf befragt, würde er am Ende gestehen müssen, daß er es braucht. Beweis sind seine Gespräche über den Lauf der Welt, die ihn nicht immer niederdrücken, weit davon. Dieselben Gespräche fanden längst statt, zwischen anderen X, die tot, aber um so namhafter sind.
»Am folgenden Tage speisten die drei Denker zusammen; und da sie nun gegen Ende der Mahlzeit lustiger wurden, wie es den Philosophen bei Tisch zu ergehen pflegt, unterhielt man sich trefflich mit der Aufzählung aller Jämmerlichkeiten, Albernheiten und Greuel, die unsere Gattung Säugetiere heimsuchen vom südlichsten Fleck der Erde bis über den Nordpol. Diese abwechslungsreichen Scheußlichkeiten machen ihnen immer viel Vergnügen.«
So Voltaire, der das Böse schätzte, da er es bekämpfte. Alle seine Lorbeeren holte er aus seinen vorläufigen Siegen über Albernheiten und Greuel. Die Siege sind vergangen, der Lorbeer blieb frisch: er will immer wieder errungen, werden. Dieser praktische Denker – den Namen eines Philosophen sprachen deutsche Systemmacher ihm ab, als ob das Wissen schwächer würde, wenn das Leben es ernährt – ist der besterhaltene. Er ist, mit seinen zweihundert Jahren, der modernste, uns nächste. Er weiß, wie kein späterer, um alle Schändlichkeiten der Unvernunft.
Mehr, sie quälen ihn, wie nunmehr uns, und auf dieselbe Weise, unter fortwährendem Anreiz unseres Lebensgefühls. Das Vergnügen, die Schändlichkeiten tief zu ermessen, gleicht jede Erbitterung aus, und die Pflicht, sie zu überwinden, ist eine süße Pflicht. Wahrhaftig, das Böse hassen, indes es uns erheitert, gewährt eine Haltung, die Zukunft hat – hinaus über die vergangenen zweihundert Jahre des einen Voltaire. Was läßt sich dagegen noch anfangen mit der Apologie des Bösen? Was mit Nietzsche, einem gutherzigen Wesen, schwach, auf Schonung angewiesen, und forderte den Menschen bedenkenlos
Der Einfluß Nietzsches korrespondiert mit der Wirkung, die Richard Wagner, geistig-emotionell auf die Deutschen geübt hat. Sie haben verwirrt; sie waren zweigesichtig, zweideutig. Ihre Meinungen waren ihre Meinungen: Sagten sie das Gegenteil, war es ihre Wahrheit auch.
In ihrem Fall ist die Musik stärker als das Wort, was der Meister des Wortes durchaus empfand. Eine Öffentlichkeit erregen, sie überzeugen allein vermittels der Diktion der Leidenschaft: Die Musik und das Theater werden hierbei immer im Vorteil sein.
Am Anfang unterwarf Nietzsche sich dem anderen: Eher von ihm als von sich verlangte er die totale Umwälzung der Werte. Durch Wagner nicht befriedigt, wandelte er seine bedingungslose Liebe in Haß um. Ach! der Haß rechtfertigte sich gerade mit der Liebe, seiner unzerstörbaren Wurzel. Der reife Denker liebte aber in dem alten Zauberer seine eigene Natur und eine Bestimmung, vergleichbar nur der seinen.
Richard Wagner ist von jeher der Künstler ohne Umschweife, der Diener an seinem Werk und an sonst nichts. Die Kunst, seine Kunst, eine Macht außer den Mächten, jenseits der Vaterländer, wäre sein Bekenntnis gewesen, wenn er sich eröffnet hätte. Wenigstens gab er sich noch nicht für die deutsche Kunst in Person aus, als er seine Laufbahn in Paris begann – um dort, alles in allem, die besondersten Erinnerungen bis heute zu hinterlassen.
Warum ist der Theatermann Sascha Guitry ein Kooperationist der deutschen Bedrücker geworden? Aus Schwäche. Aber längst vorher hatte er in seinem Film der »Champs Elysées« den deutschen Kapellmeister Wagner zu einem Helden der historischen Avenue gemacht: die Gestalt gab er selbst. Er folgte der Geschichte.
Die ersten, Sinn und Nerven für Wagner zu haben, sind wirklich die sensitivsten der Franzosen gewesen – womit sich versteht, daß es weder der Kaiserliche Hof noch das breite Publikum war. Ein Name: Baudelaire. Wer einen Geistesfreund dieses Namens hat, sollte über sich Bescheid wissen. Aber hier ist ein Nurkünstler von unbegrenztem Wirkungsdrang.
Man hört von keinem noch heutigen deutschen Komponisten, der, wie Claude Debussy, aus seiner originalen Begabung diese Nachklänge des »Tristan« hervorgebracht hätte. »Tristan« ist, nicht anders als so viel später »Parsifal«, eine Schöpfung ohne Nation und ein katholisches Werk. Was nicht hindert, daß die politische Erhebung Deutschlands, als sie evident war, Richard Wagner so gut wie andere erfaßte. Seine universale Musik, die immer gesteigert, immer nur ihn und seine emotiven Probleme abspielt – nun, er hat gewollt, daß sie alles und auch die Sache Deutschlands umschließe.
Sein Ehrgeiz wollte es. Noch dringender forderte sein Bedürfnis, im Bereich seiner Erregungen nicht eine auszulassen. Daher »Siegfried«, der mit »Tristan«, mit »Parsifal« wahrhaftig nichts gemein hätte, wäre es nicht dieselbe Musik, dasselbe unersättliche Herz.
Nietzsche ist, nicht als der einzige, abgestoßen worden von der Atmosphäre Bayreuths. Der Ort und das Festspielhaus waren allerdings kein Tummelplatz derber Vaterlandsfreunde. Eine verfeinerte Auslese der europäischen Gesellschaft übervölkerte sie zu ihrer besten Zeit. Nietzsche aber war doch der gute Europäer, der Hasser des »Reiches« (bei ihm immer in Anführungsstrichen) und Zögling der französischen Moralisten? Gerade er hätte wohl den uneingestandenen Katholizismus Wagners herausfühlen müssen, bevor er offen an den Tag trat. Da aber verwarf er ihn als undeutsch. Und warum hätte Wagner deutsch sein sollen? Weil die »Meistersinger« es sind? Oder zu Ehren der »blonden Bestie« des anderen Nurkünstlers?
Es ist dasselbe mit ihnen. Nietzsche hat, wie Wagner seinen Siegfried, er nennt ihn »blonde Bestie«, auch »Herrenmensch«: es ist seine Glanznummer. Nietzsche, ohne diesen Akt am freischwebenden Trapez, wäre niemals populär geworden. Seine »Genealogie der Moral« hätte meinesgleichen ihm gedankt. Der Ruf seiner »blonden Bestie« hat den Anschluß an Begehrlichkeit erreicht: sie wollen nicht wissen; sie wollen auf irrationalem Wege zu Hochgefühlen gelangen. Die »blonde Bestie«, der »Herrenmensch« zu sein, darf jeder sich einbilden: das Exemplar, das Nietzsche darbietet, sein Cesare Borgia, war ein rötlicher Spanier.
Den Deutschen, die seither das Ungetüm, die freie Erfindung eines hohen Intellektuellen, über die Welt gebracht haben, kann Nietzsche erwidern, woher sie das spezielle Recht nehmen? Von Germanen, die sie übrigens nicht seien, habe er nie gesprochen. Wagner, der jetzt den Deutschen ebenso unlustig zusähe, findet das Alibi seines ruchlosen Jungsiegfried in seiner Musik, die den Knaben widerlegt und unmöglich macht.
Gleichviel, beide Künstler haben in ihrer Neigung, sich mißverstehen zu lassen, zweigesichtig, zweideutig haben sie den Deutschen die Wahl freigegeben, aus ihrem Werk zu nehmen, was ihnen anstände: den festen Sinn, die Fragwürdigkeit, das Echte allein, oder vor allem das Verführerische. Die Deutschen haben gewählt.
Das ist vorbei. Wir haben es gehabt. Der »moralinfreie« – »Herrenmensch«, nicht seinem Erfinder, aber uns war er beschieden, jenseits von Gut und Böse, ja, jenseits seiner Legende, in anschaulichster Leiblichkeit. Er sieht nicht aus wie der Traum des armen Nietzsche von einem Borgia – der in seinen wirklichen Tagen auch nur ein Jammerprinz war. Unser Borgia mit vielen Köpfen, aber alle krank, die Körper sämtlich mißgestaltet, ist grausam, weil er Komplexe verdrängen muß. Er ermordet seine Ärzte, so viel hat er zu verbergen. Er haßt die Gesunden, er entwöhnt sie der Moral, die sie gesund erhält. Das Phänomen schwelgt in den Greueln, die ein menschlicher Durchschnitt für ihn verübt. Unfähig der einfachen Vernunft, weidet er sich an dem entfesselten Irrsinn der Dutzendware. Impotent, mißgönnt er ihnen zu lieben und errichtet Gestüte. Dies sind einige der psychologischen Nötigungen, die den Herrenmenschen machen: Nietzsche hat ihn nicht gekannt, aber Voltaire – und nach ihm wir.