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Die wenigen Jahrhunderte, die noch nahe genug liegen, daß sie mich nicht befremden, haben offenbar das Leben auf ungleiche Art empfunden. Da sind aufbegehrende Zeitalter, und da sind die zurückgefallenen. Einmal wird ein Glaube revidiert, er drückt nicht die Gemüter, er erhellt sie. Renaissance und Reformation haben, bei stark abweichendem Inhalt, beide das Lebensgefühl verstärkt.
Aber Jesuitismus und Barock setzen es nachher nicht herab; mit anderen Mitteln haben sie es nochmals angespannt. Der Pessimismus wird produktiv: die Tragiker und die Moralisten bezeichnen ein großes französisches Jahrhundert. Das vorhergegangene war ebensowohl italienisch wie deutsch gewesen. Mir bedeutet es viel, daß der Vorrang Frankreichs anhebt in demselben Augenblick, da das Lebensgefühl streng – streng bis zur Ausschweifung wird.
Etwas Äußerstes, von den Erfindungen des Gefühls die gewagteste, war die Majestät. Ludwig der Vierzehnte hatte sie dargestellt, mit innerem Vorbehalt, die Herzen waren es, die sie forderten und ihm grenzenlos zutrugen. Er ist einige Male vor sich erschrocken, hat sich bedacht und sich zurückgenommen.
Achtzig Jahre nach ihm erfuhr die Majestät ein gewaltsames Ende, aber genau so vielversprechend wie vormals sie, trat nunmehr der Zauber der Freiheit ein. Wieder einmal will das Leben sich fühlen und wird spektakulär – mit einer Revolution, die, außer in der Schwärmerei ihres Morgenrots, von niemand als endgültig genommen wurde und für integral gehalten nur von einigen Fremden.
Ihr Sinn ist eigentlich vollendet bei Voltaire, der an ihr wirkliches Erscheinen nie geglaubt hätte. Die Freiheit, will sagen die Unabhängigkeit der Person, geht bei ihm weit, sie kommt der Souveränität gleich; die Fürsten empfanden diesen Geist als die absolute Macht, die sie hätten sein wollen. (Sein eigener König ließ sich nicht verblüffen.) Er folgte aber auf den anderen äußersten Typ, Pascal, den Anbeter der Allmacht, der, vor ihr hingekniet, verzückt, gebückt, sobald er spricht, nur immer bezeugen muß, ihr Thron sei leer. Voltaire, ein Erschütterer alles Weltlichen, tastet Gott nicht an.
So haben Menschen die Autorität ausgeübt, wenn sie ihren Mißbrauch denunzierten, und dem Zweifel arbeiten sie zu, gerade mit ihrem Zuviel an Gläubigkeit. Weltanschauung, was auf deutsch diesen Namen trägt, hat einen doppelten Boden. Nicht mißzuverstehn, notgedrungen ehrlich ist das Lebensgefühl.
Wäre es schmerzlich bis nahe der Selbstvernichtung, das Leben stark fühlen ist alles. Es ergibt die Werke und die Taten. Es bannt das menschliche Gefolge. Der junge Werther beendet seine Leiden freiwillig: die Mitlebenden wurden überzeugt. Sie haben der Nachwelt, als Andenken eines nach außen leichten Jahrhunderts, des achtzehnten, gerade Werther und Manon überliefert. Beide beschwert ihre unstillbare Begierde zu leben, nichts stillt sie, nur der frühe Tod.
Unzählig sind die Werke des Lebensgefühls, die nichts als das sind. Seine Taten ergriffen manchen, der kaum vorbereitet schien. Klopstock und Kant, in ihrer Begierde für die Ereignisse in Frankreich, detonieren. Mozart wird seither so tragisch bedeutungsvoll nicht empfunden, wie er es ein einziges Mal sein wollte. Dennoch, in der »Zauberflöte« vernahmen die Zeitgenossen ein noch unerhörtes Gefühl, sie gaben sich hin und erklärten es nicht. Es war 1791 der Schwanengesang ihres Herzens und seines, bald vollendeten. Die strengen, dunklen Klänge hat er, hellhörig, in sanfter Ahnung der heraufziehenden Leidenschaften, aus Frankreich empfangen.
Ein Weltgeschehen, kaum begriffen, die Gesinnung teilt man nicht, unwiderstehlich ist allein das entfesselte Lebensgefühl, – es begleitet jedes Verhängnis.
Es rechnet mit den Kräften nicht, in dreißig Jahren hat es sie noch immer erschöpft, dann bekennt die nächste Zeitgenossenschaft, daß sie von der Maßlosigkeit ihrer Vorgänger verbraucht ist.
Die Generation nach Napoleon hat ihm im Grunde nur vorgeworfen, daß sie müde sei. Ihr Gefühl belasteten die Toten aus seinen Kriegen. Er verantwortete die Überanstrengung der Nation und die interessanten Ängste der Nachgewachsenen. Stendhal hat sich in Julien Sorel um zwanzig Jahre jünger gemacht, damit ein Anhänger des Kaisers in der müden Welt, die jetzt folgt und die empfänglich für starke Naturen ist, ein Heuchler und ein Mörder werden soll. Julien ist die dunkle Kehrseite der glänzenden Jugendjahre mit dem großen Mann, die seinem Autor erlaubt gewesen waren. Beide hätten ein und dasselbe Lebensgefühl, lägen nicht zwischen ihnen die zwanzig Jahre.
Wieder um eine Generation jünger, erhebt Michelet seine Anklage. Hier bejammert kein Geschädigter mehr sich selbst. Die historischen Nachwirkungen eines Eroberers, der nicht für Frankreich gehandelt habe, erbitterten ihn allein. Napoleon hatte Frankreich entvölkert, das Sterben mißbraucht für Siege ohne nächsten Tag. Was anhält: die Entvölkerung.
Noch mehr, die Revolution, als die wahre, moralische Eroberung, ist abgestumpft worden auf den müßigen Schlachtfeldern. Der überdimensionale Dichter der Revolution, Jules Michelet, hatte damals seine Vision vom leuchtenden und erlöschenden Genie eines Zeitalters beendet. Er war jetzt alt, ohne Geduld; für Napoleon, der dennoch die letzte Fackel der Revolution über Europa getragen hat, findet sein Geschichtsschreiber nur noch zerhackte Beschimpfungen.
Ich vergleiche mit dem Menschentum außerhalb jeden Ranges, das Napoleon, seine Epopöe, seine Erscheinung, einer ganzen Welt zu fühlen gegeben hatte, als er auf ihr wandelte. Nationen verachteten auf einmal jede Macht, die nicht seine ist. Noch wenn sie kriegerisch werden und sich befreien von ihm, vermögen sie nur Frankreich und ihn viel kleiner nachzuahmen. Er ist der einzige Herrscher und General, den die geistigen Spitzen Europas für ihresgleichen gehalten haben. Goethe war sein Freund.
Aber kaum ist seit dem Tode Goethes ein Menschenalter verstrichen, da wird das Monstrum an Machtwillen verworfen ohne Appell. Das Urteil fällt der nationale Geschichtsschreiber Frankreichs: durch seinen Mund die Nation selbst, sie liest ihn seither hundert Jahre. Sie fährt gewiß fort, den einstigen Herrn Europas zu bewundern, da er es mit französischen Heeren wurde. Gleichwohl erkennt sie seit einigem in allen militärischen Eroberungen den Trug und die Vergeblichkeit. Es könnte sein, daß die einmalige, ausgiebige Erfahrung nie verwunden, aber genutzt wäre. Daher mehr als ein Phänomen, das für französisch gilt, aber sich zögernd herangebildet hat seit 1815.
Der einzelne lebt kurz, vollendete Verwandlung erblickt er selten, eher wird er zuletzt noch Zeuge eines Rückfalles der Nation in längst widerlegte Zustände. Als Michelet alterte, mußte er das zweite Kaiserreich über sich ergehen lassen: gerade daher seine uneingeschränkte Verwerfung des ersten. Die militärischen Eroberer haben nicht genug daran, daß sie das Land entvölkern, die Nation ermüden: sie hinterlassen eine Wurzel, die noch treibt. Sie werden nachgeahmt.
Napoleon III. war ein zaghafter Nachahmer des Ersten. Er begehrte seinen Glanz und nicht erst die Mühen. Er hat die Kriege, zu denen seine Herkunft ihn verpflichtete, mit Vorsicht geführt: der letzte, über den er stürzte, mußte ihm abgenötigt werden, ebensowohl von seiner Umgebung wie von dem Angreifer.
Er hat wie jeder andere gefühlt, auf Grund der Erfahrungen Frankreichs mit seinem großen Kaiser hat der gealterte Nachahmer gefühlt: die militärischen Auseinandersetzungen mächtiger Nationen sind vergeblich, sie entscheiden nichts, da immer dieselben, wenigen Gegner, soweit man zurückdenkt, aufeinanderstoßen. Die Kriege in Europa hatten bisher – nur bis auf uns – einen begrenzten, einmaligen Zweck, – der auch anders zu erreichen war.
Gedanken eines kranken Machthabers, falls der gealterte Nachahmer des großen Napoleon sie hatte. Er konnte sie nur empfangen, als er nicht mehr weit hatte und sich eingestand, die Ordnung Frankreichs, das Gefühl der Nation sei von Grund auf demokratisch; sein Reich hänge haltlos über den wirklichen Menschen; er sei verspätet; sein letzter Krieg falle aus der Zeit.
Sein Gegner Bismarck begegnete damals keinem einzigen der Gedanken, die dem anderen nahe lagen, weil er am Ende, die Nation über ihn hinaus war. Die Revolution hat sich dauerhafter erwiesen als der große Kaiser: sein Nachahmer, 19 Jahre, ihre vorläufig unterbrochene Erfüllung, die Dritte Republik, 70 Jahre, und Erfüllungen darüber hinaus werden erwartet.
Bismarck war zehn Jahre jünger als sein Opfer, war gesund und auf ansteigender Linie. Die deutsche Nation fand seine Kriege rühmlich, sie ließ ihn das Reich, das sie wollte, auf seine Art herbeiführen. Für die Nation bis in ihre geistigen Spitzen ist dies alles gewesen, der Sieg und Triumph, ausgedrückt in einem machtvollen Reich. Nicht für Bismarck. Er kannte, als es nun da war, die Gebrechlichkeit des Reiches. Die Gefahr der Triumphe ist ihm immer gegenwärtig gewesen, ohne daß er sie bereute. Oder man müßte an das Wort denken: »Über meine Kriege habe ich mit Gott abgerechnet.«
Er hat das Reich nicht nur geschaffen: es zu erhalten war schwerer. Die gefürchteten Koalitionen abwenden. Die Rache – nicht Frankreichs, sondern aller – ermüdet. Den Frieden, trotz Bedrohungen und Verlockungen den Frieden durchsetzen. Andere haben genug getan, wenn sie ihn nicht brachen. Von 1875 bis 1890 brütete Europa für seinen Krieg die Anlässe, wenn nicht sogar die begründeten Vorwände aus. Sie erschienen überzeugender als je nachher.
Die Deutschen haben ihrem einzigen Staatsmann seine vornehmsten Verdienste nie gedankt, sie kennen sie gar nicht. Er eroberte seinem Reich – nicht Provinzen, die hat er kaum gewünscht, sondern Dauer für seine eigene Lebenszeit. Nach ihm war es sofort in Frage gestellt. Der Bestand des Reiches Bismarcks bleibt weit zurück hinter der Haltbarkeit der französischen Republik. Ohne ihn hätte es auch die knappe Zeit der festen Grenzen, einer halbwegs beruhigten Staatlichkeit niemals erlebt.
Der tiefe Grund des Hasses, den Bismarck gegen Wilhelm II. empfand: er sah ihm die Zerstörung des Reiches an. Der Unernst des Erben gegen das Vermächtnis hat ihn mehr empört als die Leichtfertigkeit, mit der er selbst behandelt wurde: sie verriet nur den ahnungslosen Komödianten einer Geltung, auf die der Erbe kein Recht hatte. Bismarck nennt seither Friedrich den Großen, das angemaßte Vorbild Wilhelms, einen Schauspieler. Er sah den späten Enkel des berühmten Königs sich ergehen und mißtraute ihm selbst. Gewisse Papiere Friedrichs fand er jetzt gefährlich, er schrieb groß und steif darauf: Dauernd geheimzuhalten.
Das ist, wenn ich will, die Abneigung eines Alten gegen die Fortsetzung seines Werkes in weitaus größeren Unternehmungen, die er nicht mehr kennen soll. Ich glaube lieber, daß er sie durchaus gekannt hat. Was er zuletzt mehr fürchtete als äußere Verschwörungen gegen das Reich, war das innere Komplott Deutschlands gegen den europäischen Frieden. Seine Bündnispolitik, die sein erster Nachfolger »zu kompliziert« nannte, beweist, daß er die militärische Macht Deutschlands für begrenzt hielt. Er hat natürlich gewußt, daß die Herausforderung an alle, mit der er den jungen Wilhelm spielen sah, das Ende wäre. Quieta non movere, das Wort seiner späten Tage, heißt eben dies.
Der Fürst wird seine Kriege bereut haben, wenn er an den nächsten dachte. Dies muß der Inhalt seiner Abrechnung mit Gott gewesen sein. Übrigens meine ich, daß von etwas Geschaffenem wenigstens einer den Sinn in sich trägt und begreift: es ist der Autor. Mir gefällt es zu denken, daß auch Deutschland, wie einst das Frankreich Napoleons, nicht völlig blind das Verhängnis der Welt und sein eigenes heraufbeschworen habe. Wenigstens der eine war da, zu wissen und zu warnen. Er hatte, weise geworden, die Folgen eigener Schuld zu unterdrücken oder aufzuhalten.
Zusammenhänge gibt es, man entziffert sie wohl, unter der Bedingung, daß man schon dabei war und nachher lange genug lebt. Sie definieren geht nicht. Ich halte dafür, daß die deutschen Abenteuer von Beginn bis Schluß, sei es wenig oder kaum bewußt, Napoleon nachahmen.
Das deutsche Kaiserreich hat pünktlich das zweite französische abgelöst. In Versailles mußte es eröffnet werden. Ohne ein besiegtes Frankreich war das Deutsche Reich politisch vielleicht zu haben, seelisch nicht. Die Deutschen, ob sie es sagten oder nur fühlten, haben von ihrem Reich verlangt, daß es mit dem Prestige von Siegen glänze, wie bis dahin das andere. Der deutsche Kanzler konnte, nachdem dieser Weg einmal beschritten, nur der Schiedsrichter Europas sein, wie vorher Napoleon III. – der Nachahmer eines Größeren.
Was Deutschland sich im 20. Jahrhundert erlaubt hat, ist ein Maximum, viel zu ungeheuer, als daß es eine natürliche Überlieferung fortsetzen könnte. Traditionen enthalten Erfahrung. Sie lehren Vernunft. Die preußische, wenn sie wirklich nur kriegerisch wäre, geht das alte, kleine Land Friedrichs an, und hier zuerst die Kriegerkaste, – sie ist es aber nicht, die diese unwahrscheinliche Überhebung des ganzen Deutschlands gepflegt, sie zum kritischen Ende gebracht hat. Weniger die alten Preußen als die sehr viel neueren Mächte im Reich.
Deutschland ist nicht Preußen, es hat von dem alten Preußen beiläufig den undeutlichen Begriff wie alle übrige Welt. Schon sein zweiter Kaiser, Wilhelm, war und handelte unpreußisch, flüchtig, ohne Nüchternheit und Sinn für das noch Erlaubte. Ausreden auf Friedrich den Großen besagen nichts, Friedrich hat wohl seine Preußen als die neuen Römer erträumt – in einer unabsehbaren Zukunft. Inzwischen ermüdeten sie ihn, er hat sie nicht geachtet. Er ehrte allein die Franzosen seiner Zeit, jeden letzten Untertan des Königs von Frankreich, dem zu dienen sein wirkliches Glück war.
Den Deutschen ist Friedrich ein Name, mehr nicht. Die Schulen außerhalb Preußens unterrichten über seine Geschichte wenig, die preußischen lehren eine Fabel. Das ältere Preußen oder das unbestimmte Bild, das man von ihm hatte, verführte niemand, eher stieß es ab. Gerade an seiner Spitze verfiel seine Tradition. Wilhelm II. hat versucht, den absoluten Herrscher zu spielen, nur keinen preußischen. Seine Mittel waren häufiges Umkleiden, immer reisen, alles wissen und noch mehr reden.
Das sind zivile Mittel, dieser deutsche Kaiser war kein Militär. In dem Krieg, der nicht seiner ist – ganz andere hatten ihn gewollt und gemacht –, brachte jeder, der es konnte, sich zur Geltung. Gekämpft wurde für die Geldinteressen dieser, das Prestige jener, für bunte Kriegsziele. Der Kaiser allein trat zurück, mit jedem Kriegsjahr weiter zurück, bis er sprach: »Ich spiele nicht mehr mit«, und zu Bett ging. Dieser König von Preußen war ein herabgesetzter Preuße, oder ein abgewichener. Sein Nachfolger Hitler ist gar keiner.
Wenn Deutschland ein Großpreußen wäre und die preußische Geschichte fortsetzte, dann haben die Deutschen jedenfalls ihren neuesten Führer von draußen geholt, aus demselben Österreich, das Friedrich haßte, dessen Herrscher er der Kaiserwürde entkleiden und das er zerstückeln wollte. Der neue Auserwählte der Deutschen hat mit Preußen-Deutschland das Geringste nicht gemein, weder Vergangenes, das man im Blut trägt, noch auch nur das Schulwissen. Die Landkarte von Deutschland mußte er erlernen, als ihm erlaubt wurde, zwischen den Städten dieses fremden Landes umherzufliegen, in Ausübung seines Berufes als Tribun. Reden, wie Wilhelm, und auch wieder nach den Reden der Krieg.
Napoleon war vom ersten Tag an französischer Offizier und nie etwas anderes, kein fauler Handwerker oder unwissender Hetzredner. Er mußte seine Heimat Korsika nicht besetzen, sie gehörte freiwillig zu Frankreich, – Frankreich war anziehend schon vor Napoleon. Deutschland ist es am wenigsten durch seinen Hitler geworden.
Besonders fand Napoleon eine Revolution vor, seine Laufbahn vollzog sich nach ihrem Gesetz, in ihrem Zeitmaß. In den achtziger Jahren ein Unterleutnant, der einen Roman schrieb; um 1800 auf Schlachtfeldern herangewachsen zu dem Ersten seiner Zeitgenossenschaft. Man kann es normal nennen. Es geht hervor aus dem damals verbreitetsten Lebensgefühl, – das heute nirgends begriffen werden kann, mit der einzigen Ausnahme der Sowjetunion.
Der arme Wilhelm II., in seinem Bedürfnis zu reden und sich jede Blöße zu geben, hat nicht unterlassen, ihn den korsischen Parvenu zu nennen. Da liegt es gerade. Er selbst war der Emporkömmling, seinem Auftrag, vornehm ein gesichertes Reich zu leiten, hat er nie genügt. Inmitten der liberalen Jahrzehnte brachte er halb faschistische Gesetze ein, der erregten Öffentlichkeit opferte er sie alsbald. Fuhr übereifrig einem fremden Milliardär bis an den Hafen entgegen, aber mit seinem Onkel von England trieb er Scherze, die teuer zu stehen kamen. Übrigens hat er Napoleon nachgeahmt, – in der Herrschergeste, da ihm sonst nichts freistand.
Die schaubare Haltung, das Inbetriebsein, die Ubiquität, das Vornean-Agieren um jeden Preis, auch auf die Gefahr von Kriegen, die man durchaus nicht zu wagen gedenkt: dies alles bedeutet das Hinschwinden der Legitimität. Die ehemals Europa regierende Familie – da die souveränen Häuser verwandt waren – sah gewöhnlich noch auf Würde. Bei allen Treulosigkeiten wahrte doch jeder den gemeinsamen Anstand, das hieß aber: die Mächte blieben mehr oder weniger die gleichen, und über den Kriegen der Nationen erhielt sich ein Frieden der Souveräne.
Der Kaiser eines neuen Reiches fiel aus der Reihe der Legitimen. Zu schweigen von der »Kunst des Möglichen«, wie Bismarck die Politik genannt hatte, – dafür bedarf es eines Künstlers; aber Wilhelm II. machte auch nicht die Politik seines Hauses. Sie wäre vereinbar gewesen mit der Politik der anderen regierenden Häuser. Unvereinbar mit allem Bestehenden waren die Gier und der Neid der kürzlich in Deutschland heraufgekommenen Mächte. Wilhelm, der nur das Geld achtete, verband sich ihnen.
Der Neid allein bestimmte Deutschland, will sagen seine neue herrschende Schicht, im südafrikanischen Kriege gegen England Partei zu nehmen. Wilhelm, mit den illegitimen Gefühlen des Emporkömmlings, der noch immer benachteiligt sein will, gab sich geräuschvoll als der Beschützer der Buren, aber nun ihr Präsident nach Berlin kam, empfing er ihn nicht. Provozieren, zurückzucken, Spielerei mit tödlichen Feindschaften und Furcht vor ihnen. Da er sich und seine Gesten nicht ernst nahm, verlangte er von anderen dasselbe. Bis an den Rand des Krieges und darüber hinaus erwartete er von Großbritannien, daß es sich enthalte.
Noch naiver hat Hitler an die britische Friedfertigkeit geglaubt. Er rechnete nicht nur auf den Betrug, einen dauernd unbeanstandeten Betrug, – indessen schon der unfähige Chamberlain gesagt hatte: »Man versucht es mit ihm noch einmal, auch wenn man nicht mehr glaubt.« Hitler muß überdies in dem merkwürdigen Traum dahingelebt haben, das europäische Gleichgewicht, seit zweihundert Jahren die Sorge Britanniens und Bedingung seiner Existenz, habe plötzlich aufgehört die Briten zu interessieren. (Das Gleichgewicht ist seit 1943 wirklich aufgegeben, um das besiegte Deutschland dauernd machtlos zu erhalten.)
Nicht genug, daß dieser Hitler aus seinen Träumen das britische Vorurteil versehentlich wegließ. Wahrscheinlich ist, daß er von dem europäischen Gleichgewicht niemals gehört hatte. Alle folgenden Zeugnisse seiner Unwissenheit sprechen dafür. Siehe seine einfach blödsinnige Meinung über den Zustand der Sowjetunion, derentwegen er sie angriff. Siehe seinen frevelhaften, aber auch hirnverbrannten Vorsatz, die europäischen Nationen aufzuheben.
Sie sind die ganze Lebenskraft Europas, alles, was den Erdteil des Bestehens wert macht. Wer verfällt darauf, sie abzuschaffen? Napoleon nicht, er hat nicht gerührt an die Nationen. Sein entferntester, unberufenster Nachahmer unternimmt den mörderischen, vergeblichen Unfug. Noch angesichts seines eigenen Zusammenbruches betreibt er das Ende aller.
Ich mag es kaum hinschreiben, so selbstverständlich ist es, daß der Politiker Hitler dieselbe Stufe hält wie der Stratege Hitler: die unterste, eher gar keine mehr, sondern den nachgiebigen Boden des frechsten Dilettantismus. Das soll eine Idee sein: niemand will den Krieg, daher kann ich ihn machen? Als sie mußten, haben sie ihn allerdings gewollt. Die einzige Idee des Politikers führte ihn nach Stalingrad und geleitet den Strategen treulich – bis zurück in das zertrümmerte Deutschland.
Das Problem ist nicht dieser Pinsel, auf Zimmerwänden wird er sich auch nur talentlos betätigt haben. Die schwere Frage betrifft Deutschland – und dies Zeitalter. Deutschland, das sich einem durchaus niedrigen Individuum in die Hände gab. Die gesamte Mitwelt der Mächte und Völker, die es ihm erlauben mußte. Das eine wie das andere geschieht, wenn man es verstehen will, folgerichtig. Das Schicksal werde nicht bemüht. Was wirklich ist, ist berechenbar.
Bis zu diesen Kriegen machte auf die Deutschen den nachhaltigsten Eindruck das Ereignis, das genau hundert Jahre hinter ihnen lag. 1914 – die Marne, 1815 – Waterloo. Das erste der Beginn der Niederlage; das zweite die letzte von Entscheidungen, die meistens im Innern Deutschlands ausgemacht worden waren. Schwere Niederlagen und eine lange Fremdherrschaft mußten hingenommen werden, bis Deutschland einen Freiheitskrieg haben konnte – auch dann nicht aus eigener Kraft allein. Bei Leipzig 1813 waren die Armeen der Militärstaaten gegen Napoleon aufgeboten. Ohne die russische wäre nicht über ihn gesiegt worden.
Der Freiheitskrieg der Deutschen hat sich bei ihnen, in ihnen, für ihr Gemüt und ihre Geschichte nachhaltig ausgewirkt: Seine Folgen halten bis zur Stunde an. Weder der dreißigjährige des 17. Jahrhunderts noch die zwanzigjährigen Kriege Friedrichs des Großen hinterließen vergleichbare Spuren.
Es blieb, beiläufig achtzig Jahre, der Respekt vor Rußland. Es wurde übernommen der Begriff Napoleon, als die sieghafte Macht schlechthin. Besiegt, gestürzt, wuchs er insgeheim und beständig, nistete sich ungenannt, kaum mehr bewußt, in Deutschland dennoch ein – bis zur Nachahmung, bis den Deutschen ihn zu wiederholen möglich schien. Ungeheuerlicherweise schien es ihnen auch erlaubt. Sie hatten inzwischen vergessen, moralische Werte mitzuzählen. Sie kannten nur technische, damit kann man siegen, aber nicht für lange. Man kann, eine bemessene Weile, Herr über geraubten Raum sein, niemals über seinen Bewohner.
Die Völker fallen dem sittlich befugten Eroberer zu, solange seine Legende stark ist. Enttäuscht sie, schüttelt man ihn ab. Napoleon kam über Europa als Exekutor einer tief menschenfreundlichen Revolution. Hitler hat es befallen als eine Seuche. Die Freiheit zog unter den Fahnen des Kaisers in die besiegten Länder ein. Er befahl ihnen keinen inneren Umsturz, so wenig er die größeren der staatlichen Gefüge zerstörte. Die Regierungen selbst begannen Reformen – unzulängliche, wenn es nicht bei Versprechungen blieb. Aber die Gegenwart des Befreiers klärte die Völker über ihre Knechtschaft auf, bedenklich wurden sogar die Inhaber der Vorrechte.
Die Sache ist, daß erst die körperliche Anwesenheit der Französischen Revolution in Gestalt der kaiserlichen Heere und ihres großen Mannes auch den Deutschen ihre überholte Lage zum Ekel machte. Ihr Abstand von Frankreich beschämte jede Nation. Vorher war die Revolution wechselvoll und spannend gewesen: da erregte sie draußen viele geistige Hoffnung – die Teilnahme der Massen kaum. Als die Revolution um Frankreich kämpfte, hatte sie alle Zustände durchlaufen von ihrem hochsinnigen Aufgang bis zur tragischen Dämmerung, der nichts mehr gefolgt wäre als bittere Nacht. Napoleon allein setzt sie fort. Wenn er mit seiner einzigen Person die ganze große Revolution ablöste, hat er sie auch erhalten: er trug sie durch die Lande. Er senkte sie in die Herzen.
Dies ist der Fall, wo ein Feldherr mehr vermag als Schlachten zu schlagen. Er kann eroberten Völkern ein Segen sein. Im Verlauf der menschlichen Dinge, durch den Druck des Alltags und die Gefühle, die wechseln wollen, kam es dennoch dahin, daß der Sieger lästig wurde. Die Deutschen haben sich gegen eine Last erhoben.
Die unbestreitbare Last sind immer unsere Gefühle, und keineswegs die Tatsachen, mit denen wir sie begründen. Die berühmte »Franzosenzeit« hat den Deutschen, Generationen von ihnen, die sittliche Rechtfertigung abgeben müssen für ihre eigenen Gastspiele in Frankreich und anderswo. Aber jede Fremdherrschaft bietet Einzelziele, die einander nicht gleichen, wie auch diese Fremdherrschaft nicht jener gleicht. In deutschen Häusern sind die einquartierten Sieger ebensooft wohlwollend empfangen als widerwillig geduldet worden. Man erkannte Gesinnungsfreunde, verständigte sich, man lebte am Rhein und im Süden mit ihnen intimer, als wären sie Preußen gewesen. Indessen waren sie, nach der heutigen Auffassung, die »Welteroberer«. Auch »Herrenrasse« hätte der Name sein können. Er war nicht erfunden.
Die Nationen müssen nicht unbedingt als totes Objekt behandelt werden, nur weil man einmal auf ihrem Boden steht. Das ist eine neuere Erfahrung, sie galt noch nicht. Keine Absicht bestand, Deutschland französisch zu besiedeln, niemals sind Massen von Einheimischen nach der Fremde verfrachtet worden wie jetzt. Es sind weder Geiseln getötet worden, noch Juden und Kommunisten, noch die bekannten 200 Zivilisten für einen überfallenen Mann der Besatzung. Den einzelnen Buchhändler Palm haben die Franzosen erschossen, dafür wußte bis zu meiner Zeit jeder ihn auswendig, die deutschen Schulen lehrten unermüdlich diesen Buchhändler – haben wohl wenig Auswahl gehabt.
Exaktionen betreffend hat der kaiserliche Heeresintendant Henry Beyle, M. de Stendhal als Autor, aus Braunschweig an Abgaben einiges über den verordneten Betrag herausgeholt. Für seinen Eifer lobte ihn der Kaiser. Nächste Folgerung: der Funktionär handelte ungewöhnlich. Warum überführten sie nicht die gesamte deutsche Wirtschaft in französische Hände. Wie? Sie hatten doch die Macht!
Die Deutschen erhoben sich gegen eine Last, – womit sie auch schon begeistert sein wollten für ihre Freiheit; aber es war keine. Nach beendetem Freiheitskrieg, der Deutschland räumte – von fremden Armeen, nicht von seinen überfälligen Machthabern –, trat in Deutschland die gründlichste Erschlaffung ein.
Wenn nicht das Auftreten des Völkerbefreiers, sondern seine Vertreibung das Ereignis unter allen gewesen wäre, hätte nach seinem Abgang das Lebensgefühl nicht dermaßen herabgesetzt sein dürfen. Das aber war es. Das deutsche Lebensgefühl ist damals nicht, wie das französische, angegriffen gewesen durch die Überanstrengung der Nation während eines Vierteljahrhunderts, durch Menschenverluste, proportionell unersetzlich. Der deutsche Freiheitskrieg war umsonst. Er hat nichts gekostet, außer der besseren Zukunft, die ohne ihn bestimmt schien. Der deutsche Sieg über Napoleon, insoweit er deutsch war, trug in sich seine Strafe. »Der Mann ist ihnen zu groß«, hatte Goethe gesagt, und er hat recht behalten.
Deutsche Zeitgenossen, die keine Freude an der vergeblichen Befreiung fanden, sind kaiserlich gesinnt gewesen. Sie taten sich weniger Zwang an als die anderen. Der Anschluß des kontinentalen Westens an Frankreich war als Gedanke vernünftig, als Unternehmen erträglich, um nicht beglückend zu sagen. Man hatte vor Augen, daß die Gegenwart der verkörperten Revolution, ihr Anblick, ihr Beispiel die Nationen nicht ausstrich, nicht schwächte. Im Gegenteil, erst der Kaiser hat sie verwirklicht. Das 19. Jahrhundert, wie es dann geworden ist, seinen mächtigsten Antrieb, die nationale Idee, hat es immer noch von ihm.
Ein Jahrhundert umdenken wollen ist müßig, vergebens vermißt man sich gegen das wirklich Geschehene. Wahr bleibt, daß die Vereinigten Staaten des Westens greifbar nahe, daß sie damals in freundlicherer Gestalt angeboten waren als sie es morgen sein werden nach dem Sieg über Hitlerdeutschland. Wenn die einen entmachtet sind, die Potenz der anderen gelitten hat und als Vermächtnis dieses Zeitalters nur Elend und Mißgefühle bleiben, dann soll ein friedlicheres, geeintes Europa nunmehr in Aussicht stehen. Leichter und schöner, um einen längst unmöglichen Gedanken dennoch zu fassen, war das Reich des Okzidents, da jemand von sich sagen konnte: »Ich setze nicht die Könige von Frankreich fort. Ich bin der Nachfolger Karls des Großen.«
Als für ihn alles schon vorbei war, hat derselbe, durchaus unvergleichliche Europäer vielmehr hingesprochen, was er nicht glauben konnte: »Einmal nach Indien gelangt, wäre ich Kaiser des Orients gewesen.« Man hält seine Bestimmung nicht jederzeit gegenwärtig, auch dieser nicht. Genau zu wissen, wer ich bin, ist schon mir das Unzugänglichste, und was wüßte ich damit viel. Der andere – l'autre, wie die Seinen ihn nach dem Ende geheimnisvoll nannten – hätte ein Universum, das er war, unbeirrt ermessen müssen.
Er beging Fehler. Er war, wie ein Mensch, der Furcht unterworfen. Seine schädlichen Kriege, Spanien, Rußland, haben als Ursache die Furcht. Wäre es der Übermut gewesen! Aber er zweifelte, um so sehr zu irren, an seinen eigenen Folgen überhaupt. Dies gerade haben die Völker gefühlt, und verließen ihn. Sie taten es nicht mit freiem Gewissen. Die deutschen Freiheitskämpfer versuchten sich, nicht ganz glaubwürdig, in Begeisterung. Den schwereren Fällen gelang allenfalls eine künstliche Rauschsucht. Sie wollten sich fanatisch, das entbindet vom Denken.
Mit voller innerer Aufrichtigkeit, aber wo ist sie in Kriegszeiten, hätten alle voraussehen können, was die Räumung des nationalen Bodens wirklich bringen werde anstatt der Freiheit der Nation. Als er den Herrn los war, brach der König von Preußen sein Versprechen, eine Verfassung zu geben. Erstaunlich wäre gewesen, wenn er es gehalten hätte. Der Betrug an einem Volk, das gekämpft hatte, ist der preußischen Monarchie vorbehalten worden, solange sie noch bestand, hundert Jahre. Das waren mithin hundert enttäuschende Jahre, ihre Erfolge und Mißerfolge beiseite.
In Gegenwirkung auf den kaiserlichen Revolutionär ist von dem Deutschland nach dem Freiheitskrieg die Trennung der gesellschaftlichen Stände streng eingehalten wie lange nicht. Die Bevorrechteten ergingen sich mit ihren märchenhaft überlebten Befugnissen in einer Atmosphäre, die selbst unlebendig war. Daher war sie ihnen günstiger als, vor allen Ereignissen, die geistig bewegte Zeit der Aufklärung. Keine Fortführung der Reformen natürlich, angenommen, sie hätten ernstlich begonnen. Ob das richtige Wort im Gebrauch war, deutsche Bauern waren Leibeigene.
Die geistige Atmosphäre nach dem Freiheitskrieg wird beschönigt, wenn sie »Romantik« heißt. Romantisch denken und dichten bedeutet nicht jedesmal, nicht überall die Abkehr vom Gegenwärtigen und ein ermüdetes Lebensgefühl. Mit langer, maßloser Überanstrengung konnten damals allein die Franzosen das Nachlassen ihrer Geister entschuldigen. Dennoch sind in ihrer Literatur der Zeit die dunklen Erscheinungen die selteneren – auch die nur vorläufigen, wie sich versteht. Victor Hugo tritt auf, alsbald verbreitet sich Helligkeit, Jugendfreude, eine sieghafte Energie. In dem einen hat sie angehalten bis an sein spätes Ende: da hatte er alle, die er haßte, begraben, auch den letzten Despoten seines Landes.
Hier ist romantisch ein besonders hohes Herz und sein unfehlbarer Ausdruck. Romantisch die abgekürzte Psychologie in Figuren, die um sich schlagen wie auf Gemälden, oder aus einem Stück dastehen, Bildwerke, kaum dem Stein erst abgewonnen. Genau so hat Rodin den Dichter selbst wiedergegeben. Das ist er, dieser moderne Mensch. Romantischer Stil, die großen Gefühle, mitsamt Erfindungen, die nach dem Rechenbuch zu weit gehen, das alles hat ihn nicht gehindert, klar und scharf zu sehen.
Wenn seinesgleichen ins Exil wandert, ist es, weil er zu viel gesehen hat, dafür muß er noch mehr sehen. Die drei Bände, vor, während, nach dem Exil, zeigen Hugo im Straßenrock, Hugo auf der Ebene der Passanten; – und einem anderen halben Jahrhundert wäre diese Darstellung zu wünschen: Exakt, aber bestrahlt die Wirklichkeit selbst, unmittelbar und ewig, wie der Genius. Nicht im Wissen, nicht in der universalen Persönlichkeit, aber kraft seines standhaften Lebensgefühls finde ich den alten Sänger, den Kämpfer, der immer strebend sich bemühte, herangewachsen bis zu Goetheschen Maßen. Von keinem der deutschen Romantiker ist das gleiche zu sagen.
Die deutsche Nachkriegsliteratur ist sichtlich der Befreiung von Napoleon zu danken; daher wird an der Romantik nichts derart wahrgenommen, als folgte sie zeitlich auf die große Dichtung des 18. Jahrhunderts. Die Klassiker haben befestigt und erhalten, was den Deutschen je zu eigen war an Form und Vernunft. Sie fassen Deutschland zusammen, will meinen: aus seiner Geschichte, dem Leben der Nation in allen Zeiten erwecken sie die guten Momente, bei ihnen sieht Deutschland normal, edel sogar sieht es aus; man erfährt, so könnte es sein. Wäre nicht jeder dieser Autoren eine erlesene, einmalige Blüte des Bodens, und nicht dieses Bodens allein, alle zusammen würden verführen, das Beste zu erwarten von Deutschland.
Die Romantiker haben den Tatbestand richtiggestellt. Ungestalt und das Unterbewußte herrschen vor – nicht aus innerem Zwang allein, auch gewollt, in Flucht aus äußerer Not. Man hält es ja nicht aus, unter staatlichen, gesellschaftlichen Umständen, die von den Schlägen der Französischen Revolution schon niedergebrochen, nachher zurechtgekramt und einer schwachen Nation doch wieder aufgehalst sind. Um die Ehre der besser unterrichteten Intelligenz zu retten, spielt man verrückt oder ist es wirklich. Man tut mystisch, mit dem Tod auf du und du, – um vor dem Sterben aufzuschreien: nur leben!
Man erzählt Märchen, lustig leichtflüssig, aber die Laune ist erheuchelt, die Verlegenheit wäre schrecklich, müßte man ein einziges Mal die unverblümte Wirklichkeit hinschreiben – noch schlimmer: ein wahres Wort über Dinge, die da kommen. Die deutschen Romantiker sind keine Analytiker (bis auf einen) und werden niemals Propheten. Die Atmosphäre der Zeit ist ihnen zu dick, um hindurchzublicken. Sie wissen sich nicht zu helfen gegen all die Heuchelei, sind selbst auch eingefangen.
Ein Zeugnis der Selbsthilfe, ganz fern der deutschen Romantik, ist Le Rouge et le Noir. Da empört sich einer gegen die übermächtigen Lügen des Zeitalters, er überbietet sie in feindlicher Absicht, macht angestrengt seinen ehrgeizigen Weg, und der endet am Richtplatz. Aber Julien Sorel hatte als innere Stütze den General Bonaparte, – er war da gewesen, nicht nur für seinen Augenblick der hochgespannten Wahrheiten: sie müssen immer wieder siegen. Als Stendhal, vordem kaiserlicher Offizier, das Buch schrieb, entblößte er, höchst nüchtern, den Zustand seiner jüngeren Zeitgenossen, sofern sie Geist und Herz besaßen. Für seinen Teil hatte er gehabt, was sie unbekannt beklagten. Bis zuletzt fühlte er sich als den Gefährten des Siegers der Freiheit. Ihn sollte nichts anfechten.
Er trug den Kopf hoch, legte ein ungedrucktes Werk nach dem anderen fort und sagte auf das Jahr genau voraus, wann man sie lesen werde. Er war nicht mehr dabei. Seine Berechnungen beruhen zweifellos auf der Kenntnis Frankreichs, seiner Zukunft, sie gehen nur dieses Land an. Unerforschlich blieb ihm, daß ein anderes, entferntes Reich den Sinn und Gehalt seiner revolutionären Jugendtage erneuern werde, und daß ihm dort, erst dort die unbemessene Zahl von Lesern bestimmt sei.
Die armen deutschen Romantiker, die Gabe voraus zu wissen haben sie sich nicht beigelegt; sie zogen ein Halbdunkel vor, sogar über ihre Lage bei Lebzeiten. Die Weltflucht ist bedingt durch ein fragwürdiges Gewissen. Preußische Offiziere sind unter diesen Schriftstellern. Sie und ihre Generation hätten gegen Napoleon, wenn sie ihn schon zum Teufel wünschten, nicht ein Wesen veranstalten dürfen, als erfüllten sie die höchsten sittlichen Gebote. Die waren wohl eher auf seiner Seite, und als praktischer Vorwand, ihn zu bekämpfen, konnte nur dienen, daß er ein Fremder war. Der Erfolg seiner Feinde hatte sie enttäuscht: jeder öffentlich Denkende muß es empfunden haben – in höherem Grad als die sich still verhalten.
Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann. Das kommt nur vor, wo, mit oder ohne Nötigung, falsch gehandelt wurde. Eine Mannschaft von Romanciers, die soziale Tatsachen darstellt, kann meinen, die nächste équipe werde für ihre Zeit dasselbe tun. Hundert Jahre ist dies wahr gewesen, in Frankreich wie in Rußland. Aber Zaubermärchen, altdeutsche Maskierung, künstliche Verzückung, ein grundloser Tiefsinn, wer soll das fortsetzen. Diese Dichter schreiben wie die letzten Menschen.
Goethe, der große Liebhaber des Lebens, mochte die ganze Gesellschaft nicht. Er nannte sie krank. Sie standen aber für ein Land, das nicht gesund war, es auch nie wieder ganz geworden ist. Ihrerseits haben sie Goethe wenig verkannt; die Hauptsache, sein hohes und einfaches Lebensgefühl, überzeugte die meisten. Es ergriff ohne Zweifel den Lebensfähigsten, E. T. A. Hoffmann: verstreut in seinen Werken sind Liebeserklärungen an Goethe, – der keine Kenntnis davon nahm. Nach den ersten von Hoffmanns Erzählungen hat er zu Eckermann gesprochen: In den gewöhnlichen Alltag das Wunderbare einzuführen überrasche, und für einmal möge es hingehen, aber nicht oft. Der arme Hoffmann starb zu früh, um hiervon noch zu erfahren.
Der wirkliche Zustand Deutschlands erklärt sich offen, wenn ich von den Schöngeistern übergehe zu den Philosophen und Gymnasten. Politik kommt nicht in Betracht; in eine Sackgasse verrannt, ist man mit der Frage, wie es unmittelbar weitergehen soll, fertig. Als Ersatz hat man Geschichte. Zur Tröstung züchtet man einen verhängnisvollen Fanatismus nationaler Geltung. Je gedrückter die Nation bei sich zu Haus ist, um so gewisser muß ihr Beruf in der Welt ohne Grenzen sein.
Weltherrschaft – der deutsche Traum hat angefangen mit Leuten, die den großen Kaiser, als es seine Bestimmung war, denn auch besiegt hatten, sie selbst aber konnte jeder Profos durchprügeln. Die Anfänger der deutschen Weltherrschaft verkleideten sich altdeutsch, schlugen die Bauchwelle und kamen oft auf Festung. Den überkommenen Mächten im Staat waren Umwälzungen verdächtig, auch wenn sie auf erweiterte Grenzen Deutschlands abzielten und nur in großen Worten vollzogen wurden. Die Herrscher witterten richtig. Weltherrschaft – war ihre Konkurrenz. Wer von ihr schwärmte, die Turner, die Denker, meinte auch, meinte vor allem die versäumte deutsche Freiheit. Ehrenhalber und um der Wahrheit willen sei es vermerkt.
Der königliche Rat am Kammergericht Berlin, Hoffmann, auf seinem anderen Gebiet als der »Gespensterhoffmann« namhaft, rettete einen der »Demagogen« – so hießen sie –, den sein König, der König der nicht gegebenen Verfassung, durchaus fangen wollte. Desgleichen stand es um Arndt, Jahn, Fichte, deren ausgelassenes Deutschtum heute überall beweisen muß, daß die Deutschen von jeher wie Hitler waren. Ihre übelsten Sätze werden jetzt den feindlichen Völkern zu lesen gegeben; sie haben gegen das Deutschland aller Zeiten eine gewagte Propaganda gemacht.
Auch das Bekenntnis zur Freiheit wäre zu finden bei diesen Patrioten, die national ausschweiften und um so eher als Demagogen büßen mußten. Aber wenn von vergessenen menschlichen Zeugnissen eines wieder auftaucht, noch dazu weit draußen, wo man es nie gekannt hatte, dann ist es das übelste, und die Völker sind im Krieg. Sätze von Ernst Moritz Arndt, die jetzt englisch zu lesen sind, würden allerdings »Mein Kampf« zieren. Gewiß, die Anfänger der deutschen Weltherrschaft nehmen das Buch und seinen Verfasser vorweg, schon 1815. Wer weiß indessen, wenn sie zu wählen gehabt hätten? Laßt die Welt sich selbst, macht vielmehr aus eurem Land das Bestmögliche! Die Wahl war nicht gegeben.
Die natürlichen Rachegefühle der Deutschen hätten seit dem Sturz ihres Feindes befriedigt sein können. Indessen, das befreite Vaterland bekam als wesentlichen Inhalt eine Knechtschaft, hoffnungslos, unvergleichlich zäher, als wäre die Eroberung des Bodens nie gerächt worden. Unlogisch, aber menschlich, wuchs, anstatt des vergeblichen Bestrebens frei zu sein, eine unbemessene Rache sinnlos weiter. Zum »Erbfeind« wurde Frankreich ernannt. (Napoleon hatte nicht nur für Frankreich gehandelt, um das Reich Karls des Großen ging es ihm.) Der Rhein war nie so deutsch gewesen wie nunmehr ohne Straßburg. »Nous l'avons eu votre Rhin allemand«, antwortete Musset.
Eine Rache, die nicht gekühlt ist, erhält sich aus eigener Kraft, das Andenken des Beleidigers wurde endlich unentbehrlich. Man vertauscht es mit den eigenen frommen Wünschen. Wäre das Frankreich des Kaisers das Deutschland – wessen? – gewesen! Gleich wird aus dem verhaßten Abenteuer ein hoher Beruf. So geht es, wenn Rache sich in Nachahmung umsetzt.
Die Rache war nicht auf einmal zu stillen. Hundertdreißig Jahre einer immer mehr ausschweifenden Nachahmung des Eroberers haben zum Schluß auch niemandem wohlgetan. Die deutschen Heere stehen seither das vierte Mal in Frankreich, das dritte Mal in Paris. Nach dem zertrümmerten Deutschland werden sie heimkehren. Wenn dies ein Trost wäre: Europa ist vorläufig aufgelöst, anstatt geordnet und verbündet.
Der Veranstalter eines universalen Debakel ist Deutschland, mit seinen mißverstandenen napoleonischen Kriegen – ohne Napoleon, ohne Revolution, ohne das Gewissen einer echten Revolution. Mit nichts als Menschenhaß angreifen, siegen, sich schlagen lassen, sich anklammern und inmitten des eigenen Zusammenbruchs zäh und krampfhaft schaden, noch immer schaden, aber gegen sich selbst den Haß bis über die Wolken häufen, als genügte es nicht, daß er schon hoch wie die Alpen war: das ist der letzte Zustand des letzten deutschen Krieges. Der Führer der Deutschen entrüstet sich nun, daß man wage Deutschland »einzukreisen«, – Deutschland, das die Hoffnung Europas »war«. Eine Hoffnung, die nie bestand, ist gestrichen.
Hier wird zusammengefaßt und ohne Schwanken behauptet: Von den Lehren des Phänomens Napoleon war nur die kriegerische für Unfreie brauchbar. Konnte er so viele Armeen schlagen, alle die Länder unterwerfen, dann auch wir, dann wir erst recht! Aber mehr. Nöppel (der Name des preußischen Hofes für seinen Gast, die Lippen der zarten Königin Luise sprachen ihn hinter seinem Rücken so aus; ihm ins Gesicht hieß er Sire und mon cousin) – Nöppel hat es fertiggebracht, zwanzig Jahre sich überall herumzuschlagen, und allein sein Frankreich blieb bis kurz vor dem Ende vom Krieg unberührt.
Das hat er gut gemacht, das wird festgehalten. Kein Patriot, der nicht wenigstens diese einzige Erfahrung aufbewahrt und überliefert hätte: Die Entscheidungsschlachten des Weltbeherrschers haben deutschen Boden zerstampft und gerötet. Seine Laufbahn war Deutschland, seine Siege und zuletzt noch seine Niederlage sind bezahlt mit deutschen Städten, Feldern, Menschen. Nie wieder! Dieses Niewieder ist unbedingt, ohne den Schatten eines Zweifels ist es die Hinterlassenschaft der »Franzosenzeit« in Deutschland.
Daraus ergibt sich, daß man angreifen muß, im Recht oder Unrecht. Noch zu besonnenen Zwecken wie Bismarck, oder schon getrieben von uneingestandener Verzweiflung wie Hitler – muß man angreifen. Der Angreifer trägt den Krieg auf fremden Boden, seine Sache, seine einzige Sache, ihn dort zu erhalten. Der Krieg wäre verloren, wenn er das eigene Land ergriffe: Glaubenssatz, gilt nur für Deutschland. Napoleon hat sich nicht verlorengegeben 1814, beim Feldzug in Frankreich, er soll sein kunstreichster gewesen sein. Die Battle of Britain 1940 hat aus Großbritannien gemacht, was es nunmehr ist und sonst nicht war, die kriegerische Größe. Die Russen bekämpfen mit Leidenschaft, unweigerlich bis zum Sieg den eingedrungenen Feind, – Karl XII., Napoleon, Hitler.
Die Deutschen allein erfaßt Grausen und Abscheu, wenn der Krieg sich ihren Grenzen nähert. Für das einzig Unerträgliche halten sie den Krieg im Lande – noch zu einem Zeitpunkt, da elf ihrer Städte in Trümmern liegen und Berlin gezeichnet ist. Aber das waren Bomben aus der Luft, ein Unglücksfall. Man begegnet ihm mit dem Verzicht auf Schlaf, mit Evakuationen, einem ruhelosen Hin und Her der Bevölkerung. Es ist allerdings ein Leben des beständigen Grausens, welches andere könnte schlimmer sein? Doch. Die Deutschen sind überzeugt, das Äußerste träte ein mit Schlachten auf deutschem Boden.
Der fanatische Widerstand der letzten deutschen Armeen, in der Sowjetunion, in Italien wird damit erklärt, daß sie nicht mehr für Deutschland fechten, nur für sich. (Sie haben auch früher nicht für Deutschland gefochten, wie konnten sie, ihr Führer hat an Deutschland nie gedacht.) Die Truppen wollen vermeiden, so wird erklärt, daß sie als Besiegte betroffen werden in denselben fremden Ländern, wo sie Massen überflüssigen Unheils angerichtet haben.
Sie hoffen der Rache der gequälten Völker zu entgehen. Ihre Rückzugsgefechte nach Deutschland dienen ihrer eigenen Rettung. Überdies wäre eine Wendung des Kriegsglücks immer denkbar, solange sie Reste fremden Bodens halten. Es wird bezweifelt, daß sie Deutschland mit derselben Ausdauer verteidigen werden wie ihre Eroberungen. Dies sind psychologische Spekulationen. Ich weiß nur eins.
Ich sehe und weiß, daß die Zusammenhänge weit zurückführen. Die Nachahmung Napoleons, hervorgegangen aus dem deutschen Bedürfnis nach Rache für erlittene Nachteile, die übrigens bestreitbar sind, hatte Selbstzweck erlangt, sie erlangte die Kraft der Besessenheit. Preußische Tradition? Sie erforderte von dem Geschehenen nichts – ungeachtet gewisser Worte Friedrichs des Großen, als hätte er seine Preußen, die er aber herzlich verachtete, wie Römer der Zukunft geträumt.
Der Anzettler und Führer des letzten Rückfalles der Deutschen in ihre Angriffskriege ist kein Preuße und ist undeutsch – weniger durch den Ort der Geburt als in Anbetracht seiner Instinktlosigkeit für Deutschland. Er hat begriffen, daß Deutschland nach neuerem Herkommen Angriffskriege führt, sonst nichts. Was ein Deutscher wahrscheinlich doch unterlassen hätte, er hat den vorigen Angriffskrieg überboten mit einem zweiten, der nichts mehr zu beweisen hatte. Bewiesen war, daß Deutschland nicht siegen kann. Wer Ohren hatte, hörte die Warnung der ewigen Gerechtigkeit, es dürfe nicht siegen!
In dem trostlosen Bewußtsein, daß er, um es mit Europa aufzunehmen, weder der Stärkere noch der Berufene sei, hat Hitler oder das Kollektiv von Militärs und Doktrinären, das so heißt, zu der Auskunft der Verzweiflung gegriffen. Blitzkrieg – ist das Eingeständnis, man könnte nur mit einem Tag Vorsprung an das Ziel kommen, dann nie wieder. Totaler Krieg – heißt deutlich, daß die lebenden Nationen niemals wirklich besiegt sind: man muß sie umbringen.
Verzweifelte Betrüger allein gehen sogar in einen Krieg, der eine äußerste Erprobung ihres Volkes sein soll, mit lauter Lügen. Aber Herrenvolk, Lebensraum, Geopolitik und jeder andere Schwindel sind verspätete Antworten auf das eine machtvolle Wort, das Europa einst wirklich erobert hat: Freiheit. Alles ist, wie je, die Nachahmung Napoleons, eine Nachahmung tiefer von Stufe zu Stufe, nunmehr angelangt bei der Hefe.
Welch ein Unglück, in die neuere Geschichte falsch eingetreten zu sein! Welch ein Unglück – und welch eine Schuld!
Das Lebensgefühl hatte in Deutschland seinen niedrigsten Stand gehabt sogleich nach dem Sturz des Kaisers Napoleon. Es steht niedriger als damals seit diesem Krieg, seit seinem Anfang, seit den Siegen. Mit Recht. Solange Hitler siegte, unterlag Deutschland.