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Achtzehntes Kapitel.
Die menschliche Verwandlung

Das besichtigte Zeitalter hat ergeben: einen sehr großartigen Ausbruch von Wahrheitsliebe: – gleichviel, wo er begonnen, da er einmal in Bewegung, hält nichts ihn auf.

Das intellektuelle Gewissen ist nicht bei den Machtlosen, wohin es sonst verwiesen. Gegen Ende des Zeitalters findet das sittliche Bewußtsein sich zur Regierung berufen. Die größten staatlichen Verbände und ein weltweites Gemeinwohl werden dargestellt von Persönlichkeiten, die nicht zuerst mächtig, sondern gerecht sein wollen (und müssen). Die Freiheit verstehen sie mehr oder weniger auf die gebotene neue Art. Zu übersehen wäre der revidierte Begriff der Freiheit keinesfalls.

Hierselbst endet die Verachtung der Massen. Sie betätigte sich mittelbar schändlich. Vorher geht: sie lief der Wahrheit zuwider. Der Krieg, ohne daß er für dies oder anderes gelobt wird, brachte es heraus. Die Nation mit Führeridee – und ohne unschuldig redliche Selbstachtung – zeigte sich ihm je weniger gewachsen, je länger und vergeblicher sie siegen mußte. Ihre Niederlage ist ihre Entlarvung. Man trägt nicht bis an das Ende der Tage eine angenommene Maske. Sich schlagen lassen – kommt von selbst, gebe auch die deutsche Kriegsmaschine sich den Anschein ihrer alten Gefährlichkeit bis zuletzt. Die Seele gesteht ihre Schwäche. Das Gewissen trägt endlich schlecht: davon die Angst im Lande, grauenhaft wie die verzweifelten letzten Kriegshandlungen. (Die Rote Armee ist auf dem Marsch nach Berlin. Womit wird Berlin bis auf weiteres verteidigt? Mit Pogromen – in Paris.)

Die Länder, die ihre Massen auf die konventionelle Art geachtet hatten, sind veranlaßt, Ernst zu machen. Auch hier befehlen die Tatsachen, die handelnden Personen gehorchen. Ihr Ruhm ist, daß sie zu gehorchen verstehen – als die Realisten, die sie sein dürfen. Ihren Gegnern ist es mitnichten erlaubt, weder auf der feindlichen Seite noch im Innern. Wer aber die menschlichen Tatsachen würdigt, hat sie sittlich betrachtet. Praktische Klugheit allein kommt nicht so bald zu Entschlüssen, wie Churchill und Roosevelt sie fassen. Der versäumte Augenblick gehört der bloßen Gewitztheit.

Die Exekutive der Demokratien übernimmt Verantwortungen, die keine bisherige Demokratie ihr zugebilligt hätte. Die Demokratie wird vor unseren Augen eine andere. Reiche Leute haben eine sehr verringerte Macht über die abhängigen Massen. Der Staat beschäftigt die Massen im Krieg; vieles spricht dafür: auch nach dem Krieg. Würde nur fehlen, daß der Besitz um seinen Besitz kommt; es scheint nicht immer ausbleiben zu sollen. Vorher gehen Gefallene in so bemessener Zahl, daß es den Verlust großer Vermögen schließlich aufwiegen könnte, Ihnen war allerdings das Leben, das sie hingeben, nie verbürgt gewesen, nur die Existenzangst.

Ihrem Dasein, solange es währen soll, ist die Sorge um ihre Erhaltung mitgegeben. Können sie bis an den Schluß und Sieg ihr Land, die Einrichtungen ihres Landes verteidigen, in der Gewißheit, das Land werde unerbittlich bleiben? Kampf um die Ernährung ihres Körpers werde, wie je, ihr einziges Ziel sein? Ihrer Seele bleibt nichts – außer sich ängstigen? Ihr ganzer Lohn, wenn sie das Land gerettet haben, berechnen sie ihn schon? Wäre es, daß der Krieg sie verschont hat, aber der Friede sie tötet? Nennen sie vielleicht schon die Ziffer der Arbeitslosen nachher? Sind die Ziffern, die umgehen, phantastisch, und gibt es Gründe der Erfahrung, seelische Gründe, daß sie einleuchten?

Die Exekutive ist – ein kaum erhörter Fall – gleichzeitig in den größten Reichen bei Intellektuellen. Ihre Natur und Ehre, was dasselbe sagt, hält sie an, den Menschen zu betrachten, bevor sie wagen, ihn zu benutzen. Einzugreifen in möglichst viele Schicksale ist keineswegs ihre Verlockung. Die Macht ist nicht, wofür sie geboren waren. Des Menschenverbrauches, auch nur in den erträglichen Grenzen, würden sie sich gern enthalten.

Das Ende des Zeitalters erblickt eine Verschleuderung menschlichen Kapitals, der Reserven an seelischer Gesundheit, physischer Kraft – das will verantwortet sein. Beispiellos ist es nicht, »einzig in der Geschichte« kommt nirgends vor. Wir erfahren, im Verhältnis aller Zeiten, weder mehr Schrecken als manches vergangene Geschlecht, noch wehren wir uns besser. Gleichwohl ist uns das relative Höchstmaß zugeteilt; die Spur von unseren Erdentagen wird lange nach uns noch nicht verschwunden sein.

Alles aber, wie es ist, wie es nachher nicht anders gedacht werden kann, wird zufolge allgemeinen Beschlusses verantwortet von wenigen Personen. Sie haben die zwingenden Tatsachen nicht erfunden, den Zusammenhang der Dinge schufen sie nicht, und sind kein Fatum. Sie sind die Exekutive des Geschickes. Sie übernehmen die Verantwortung: für die Beauftragten sonst ein leeres Wort, Sanktionen traten niemals ein. Heute dagegen – ein furchtbarer Mut wäre nötig, sogar für mittlere Köpfe, schlechte Menschenfreunde. Diese sind die besten und denken, was sie tun, zu Ende. Sie hätten jederzeit nein sagen können. Dann geschah dasselbe, aber nicht durch sie.

Der eine gesteht seinen Kompatrioten, die seine Schutzbefohlenen sind, zu einer Frist sei nichts anderes zu erwarten außer Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen. Er könnte auch Gewinne versprechen, die Sicherung des Lebens, die Befreiung von der Existenzangst. Er selbst wird Hand anlegen, noch während der großen Flut von Tränen, Schweiß und Blut: auf ihr besteht er allein.

Der andere warnt seine Nation, den Sieg für leicht, die Opfer für vollbracht zu halten. Das Leben der Soldaten war lange mit Anstand geschont worden. Kann zum Schluß an Toten nicht mehr gespart werden, dann haben sie ihren Preis, das ist die Fürsorge für den Rest. Aber keinen Preis hält er ihnen vor Augen, nur ihr Sterben. Er verschweigt, was er inzwischen schon unternimmt, die Rettung der Überlebenden des Krieges aus den Greueln des Friedens. Beide setzen den schlimmsten Fall. Beide wollen ihn widerlegen. Es handelt ihr Gewissen.

Oft habe ich bedacht – alle Intellektuellen, gesetzt, sie wären über die Herkunft der humanen Verpflichtungen aus der Menschenbetrachtung im reinen, haben bedacht und gezweifelt, ob mehrere ausgesuchte Vertreter ihrer eigenen Gattung so viel überstehen werden. Von ihrem Sinn und Sein das Gegenteil – nicht nur ertragen wie wir: es verantworten. Die Streichung der Menschenrechte; keines bleibt übrig, wo Sterben die erste Bürgerpflicht ist. Selbst aber sitzt man im Zimmer, ist alt, weise und wohl behütet. Mir selbst macht es bange, obwohl, wem schulde ich Rechnung, und wofür? Unsichtbar mir ins Ohr, fordert jemand sie dennoch.

Die beiden öffentlich Verantwortlichen sind letzthin gealtert, schnell und über ihre Jahre. Ihre Art war aber heiter gewesen bis in den Zorn hinein. »II est très combatif«, hörte ich über den einen sagen, noch vorher, in dem unverletzten Frankreich. Streitbar, allzu streitbar, war von ihm die Meinung.

Dann mußte er Frankreich aufgeben, wochenlang ist er gefaßt gewesen auf die Invasion seiner heimischen Insel, wenn nicht auf ihren Verlust. Seither plante er, plante bis er handelte, den Gesamtangriff auf einen kaum noch fragwürdigen Verteidiger des Kontinentes. Aber die Kosten des Angriffs, an Menschenleben, stehen zur Frage. Er sorgt, daß der genaue britische Anteil nicht überschritten werde. Er kündigt den Tag der Tage an, ohne ihn natürlich zu nennen, beiläufig scheint er ihn wieder in Frage zu stellen. Von den überreizten Nationen des westlichen Europas verlangt er die tägliche Bereitschaft, mitsamt der leidenden Geduld.

Er weiß, daß beides zu viel der seelischen Spannung ergibt. Man trägt sie, aber wie. Sieht er es nicht sich selbst an? Streitbar, noch immer; aber physisch anfällig durch langes Ertragen der seelischen Spannung; und mit gedämpftem Vertrauen in die Eigenmächtigkeit der Beschlüsse.

Er hatte geschrieben: »Klopft an, so wird euch aufgetan!« Damals erlaubte er seinem General ein Abenteuer, das heute nicht mehr statthaft wäre. Welch eine Summe von Verantwortung ist inzwischen angewachsen, je weniger einer frei beschließen darf; sondern die Dinge selbst, die Gesamtheit ihrer Zusammenhänge, verordnen, was ein Mensch verantworten muß. Das ist der Zeitpunkt, da ihm Machtvollkommenheit eingeräumt wird.

Das nervöse Fluidum aus den feindlichen Organismen, die ihn belauern, aus den innig ergebenen, aus einer Mehrheit von ungewissen, alle Leitungen gehen unabwendbar durch seine. Sein Plexus und Gehirn halten ihnen stand. Das, und weder weniger noch mehr, ist, wenn es zum Äußersten kommt, die Macht.

Die Garantien, daß sie normal erscheine, bleiben bestehen. Ihre Teilung in Legislatur und Exekutive wird sorgfältig gewahrt. Eine Förmlichkeit, er selbst ist um sie besorgt. Wer möchte wirklich mit ihm teilen? Was gäbe es zu teilen? Diese Macht, die eine unbekannte Summe von Abhängigkeiten, die ein furchtbar waches Abhorchen verworrener Befehle ist? Und die nie bedankt werden kann, denn man darf sie gar nicht kennen.

Dieser Zustand der Macht, aus einer folgerechten Reihe der fragwürdigste, ist bei weitem ihr schlechtester nicht – weil lehrreich, wie nur das Extreme. Einer, der diese Machtprobe, die Probe, wieviel Macht der Mensch braucht (bei Tolstoi: wieviel Erde? Fünf Fuß) – endlich doch bestanden haben wird, muß recht wohl beraten gewesen sein, von seinem Plexus und Gehirn. Er ist ein Intellektueller: darum der ganze Mann, der hier auftritt und agiert. Ein neutrales Werkzeug des Wissens um den Menschen, das ist er. Die Waffe einer Gesamtheit in dem Kampf tun das Leben. Wie alles geworden ist und steht, wäre die Gesamtheit ohne ihn verratzt – das gemeine Wort bietet sich an. Voltaire und Friedrich nannten dieselbe Gesamtheit schlicht: la canaille.

Messrs. Churchill und Roosevelt denken es weder von der Menge, noch von dem Durchschnitt ihrer Opponenten; das macht der Abstand der Zeitalter. Die feindlichsten ihrer Gegner sind keineswegs überzeugt, daß Messrs. Roosevelt und Churchill bedingungslos an der Macht hängen. Tun, was bei Todesstrafe sein soll, erlaubt keine Selbstherrlichkeit. Etwas, wofür man früh alt wird, am Ziel sehen wollen, es von anderen nicht verderben lassen, lieber ein Fourth Term, auch wenn er tödlich wäre: – diese Selbstsucht wünsche ich mir. Können viele sich ihrer rühmen?

Ein Versuch geht vor, und wir werden dabei gewesen sein: mit der Autorität als sittlicher Funktion, mit der Autorität als einer Erscheinung der Tiefe. Nur die Versenkung in den Menschen ist tief. Die Sorge um ihn, humanistisch bestimmt vor allen fachlichen Anwendungen, ist eine Lust der Tiefe. Man weiß. Um humane Dinge weiß man allzusehr. Unmöglich, mit ihnen jemals fertig zu sein wie mit einem entdeckten Stern oder Serum. Man hilft, zu leben. Wenn beiseite Tränen fallen, sind es lacrimae rerum. Mitten im Handeln zahlt man den Zoll der Vergeblichkeit.

Ich kannte den König Henri von Frankreich: er hatte mit den »dominations chrétiennes«, Republiken, Königreichen, geistlichen Herrschaften, durchaus das gleiche im Sinn, wie zu dieser Zeit Messrs. Churchill und Roosevelt. An seinen »Großen Plan« erinnern mich Sätze wie die gestern gelesenen. Der Präsident sagt den Abgeordneten der »Internationalen Arbeitsorganisation«, daß auch er glaube: »Armut, die irgendwo noch herrscht, bedroht den Wohlstand überall.«

Das glaubt er. (Der Dean of Canterbury bezieht denselben Glauben nicht mehr auf die Kontinente, schon auf die Klassen desselben Landes. Der Präsident desgleichen.) Auch dem Folgenden behauptet er zu vertrauen. »I trust that this marks the beginning of a new and better day, eine Periode« (Zeitspannen dauern nicht) »der Hoffnung« (nur der Hoffnung) »auf materielles Wohl, auf Sicherheit und auf Entwicklung der geistigen Persönlichkeit« (die Hauptsache, die zuletzt kommt) »for all those groups now suffering so sorely under the heel of the oppressor.« Die Ferse des Bedrückers, gegen sie ist wieder einmal die Autorität aufgebrochen, die höhere Autorität des Intellektuellen an der Macht, gegen den irrationalen, boshaften Typ des Machthabers.

Sollte ich mißverstehen? Die Autorität – wird revolutionär. Eine Seltenheit; man hält sie fälschlich für unerhört, obwohl von den Königen Frankreichs gerade der eine fortlebt. (Empfand selbst aber seine Autorität, je revolutionärer sie wurde, als gewagt. Mit weniger Skepsis, hätte er sich nicht ermorden lassen.) Soviel ist richtig: Figuren, nach der Art unserer ausdrucksvollsten heute, waren dem neunzehnten Jahrhundert fremd. Sollte es ihresgleichen eine besessen haben, mißverstand es sie; weshalb es die Autorität hassen lernte.

Intellektuelle, die heute auf seiten der Autorität bei ihresgleichen wären, nannten sie von Grund auf hassenswert – haissable essentiellement – und sich selbst revolutionär bis ins Mark. Flaubert würde es nicht mehr sagen. Wenn ich mich erinnern will: als 1938 ein Beamter mir seine Erfahrung eröffnete! – »Tous les écrivains sont anarchistes« –, ich schwieg erstaunt. Wie lange her! dachte ich. Vorzeiten nahmen wir unsere Sicherheit, des Lebens und der Existenz, für halbwegs echt; die Autorität schien ohne Beruf, sie machte sich lästig. Wenn nunmehr der Kampf um das Leben ginge? Und für das Leben kämpften Autoritäten vom geistigen Schlage?

Sie selbst haben vorher verkannt, worauf sie sich einließen. Ganz gewiß gingen sie ohne Absicht daran; sie sind das Gegenteil von Machtergreifern. Ein merkwürdiges Wort des Präsidenten ist bald vergessen worden, was mir weniger auffällt als das Wort. Er sprach es um die Zeit seiner dritten Wahl, als er der Diktatur schon verdächtigt wurde. Ungefähr sagte er: »Ja doch. Ich werde mich mitten in Pennsylvanien auf den Kopf stellen.« Ein Land, das immer frei war, mit Autorität dirigieren wollen? Der Widersinn selbst, zuerst müßte er aus sich einen Akrobaten oder Derwisch machen. Das war einst.

Seither hat er reiche Leute, die in Verkennung des Augenblicks von ihren Rechten nicht abweichen wollten, unter die Arme nehmen und forttragen lassen. Ein anschaulicher Angriff auf die Freiheit »unter dem Gesetz«. So heißt sie. »Unter dem Besitz« wäre fehlerhaft.

Im Grunde wird dieselbe, konventionell geheiligte Freiheit noch gröber verletzt durch einen Akt, den nur sein Diensteifer für die Nation beschönigt. Eine Gesetzesvorlage, die beim besten Willen nicht abgelehnt werden kann, kommt einem Befehl gleich. Der Präsident allein hat ersonnen und hat befohlen: die Soldaten, die vom Krieg übrigbleiben, werden Vorrechte haben. Ihnen vorbehalten fünf Jahre lang sind alle offenen Stellen – im Staat, daher voraussichtlich im Lande.

Die Fürsorge schließt die Bevorzugung von Verdiensten und redlichen Bemühungen nicht aus. Sie beeinträchtigt die Alleinherrschaft von Ellenbogen und die Auslese durch den Zufall – womit der Lauf der Natur gestört wird. Das freie Spiel der Kräfte erleidet Beschränkungen, sie müssen nicht immer auf bloße Fürsorge gerichtet bleiben. Wer damit angefangen hat, darf sich später über nichts wundern.

Eines Tages mag er seine wohlgemeinte Diktatur nicht wiedererkennen. Er könnte vorbringen, daß sie bei ihm der notwendige Kampf um das Leben aller war. Die Davongekommenen des Krieges, ihr Nachwuchs, ganze Generationen, ihre Existenz und ihre Moral, waren nicht anders zu erhalten, als wenn er sie dem Ungefähr entriß. Die Zivilisation selbst drang, um sich zu retten, auf seine angewendete Macht.

So steht es hier geschrieben wahrhaftig nicht aus angemaßter Kenntnis eines mir fremden Landes und Erdteiles. Nur das Gesicht des Intellektuellen an der Macht ist vertraut wo immer: dieses gebietet Ehrfurcht. Um wen die Furcht? Für wen die Ehre? Ein Mann ist gefährdet, weil über sein Amt hinaus gestiegen, und hatte es nicht gewollt. Einige, still Eingeweihte fühlen sich in ihm geehrt. Die größere Ehre empfängt das Zeitalter: auch mit ergreifenden Zügen darf es enden.

Die Mächtigen lassen sich photographieren, ohne daß sie photogen sein müssen wie andere Sterne der Öffentlichkeit. Aber keine Bilder, verriete Abseitigkeit und Starrsinn. Nur das nicht! So sitzt er denn, und ein Kind heftet irgend etwas an seinen Rock. Die Kinder lieben, gehört auch dazu. Hitler liebt sie – auf Bildern. Reichsmarschall Göring betätschelt sie mit der Gutmütigkeit eines schweren Jungen. Heinrich Himmler erinnert sich, daß aus Kindern Menschen werden: er beschränkt sein Gemüt auf die Hühner.

Der Präsident hat vergessen, daß man einem unschuldigen Wesen den Scheitel streicheln muß; dieses kleine, vom Photographen in Höhe seiner Augen angebrachte Menschengesicht kann er nicht von oben begönnern; aber aus seinen umschatteten Lidern sieht er es auch nicht eigentlich an. Sein Blick ist zu gedankenvoll. Sein Lächeln war ein Versuch und ist steckengeblieben in den irreparablen Verdunkelungen der Haut. Nur den Mund verzieht er; die Absicht wäre Freundlichkeit, sie leidet allerdings unter stummen Zweifeln. »Wie kann ich dir, zukünftiges Menschlein, zu leben helfen?« Gerade dies vollendet den Ausdruck des Gesichtes. Es ist schüchterne Liebe.

»Ihr«, sinnt er. Über die Fünf- bis Elfjährigen sinnt er; das wären nach der Annahme die Jahrgänge, auf die zu hoffen bleibt; mindestens sind sie unbekannt. »Ihr Unbekannten, die ihr mich niemals hassen werdet. Mein Name, sonst von mir nichts, wie es wirklich war, wird bei euch übrig sein. Fürchte dich nicht! Ich küsse dich nicht!«

Die Fünfjährige, sehr viel mehr bei der Sache (des Anheftens von irgendwas) als der ältere Herr – nun, ihre ernste Beflissenheit ist für das Bild bestimmt: sie hält sich an ihren Auftrag. Eher er, als sie, entfernt sich von der Konvention. Wenn dennoch dem Kinde, ganz unversehens, der Verstand käme? Eine Mutter überrascht zur guten Stunde das Gesicht ihres jungen Sohnes – erblickt es das erstemal wirklich, mit seiner ganzen Bestimmung, die schwer ist. Schwer jedenfalls, insofern es dahin käme auch groß, und möge eine innere Heiterkeit es gut, es spät noch mit verfärbten Zügen rein erhalten.

Entgegen aller Erwartung von mütterlichen Ahnungen befallen, schlüge die Fünfjährige ihre dünnen Ärmchen um den Hals des älteren Herrn. Aber vielleicht hat sie es getan.

Wir können anders sein

Als ich in Frankreich wohnte, besuchte mich ein brasilianischer Diplomat mit seiner Frau, die aus Toscana gebürtig. Wir saßen schon eine Weile im Gespräch, da erwähnte ich, daß meine Mutter von Brasilien nach Deutschland gekommen sei, einst um 1860. Ihre Mutter, damals verstorben, sei von durchaus einheimischer Abstammung gewesen. »Jetzt weiß ich, warum wir uns gleich verstanden haben«, sagte der Mann. Ich sah ihn an und dachte: »Mama hätte auch dort bleiben können, ich wäre vielleicht, was er ist!«

Der Mann, hoher Wuchs und feiner Kopf; die Dame, das Gesicht des unvergänglichen Italiens, klassisch modelliert, die Abwandlungen modern. Ich sah auf ihren Mund, aus dem die Laute Toscanas klangen. Sie überließ es ihrem Mann, französisch zu sprechen. Sobald sie merkte, daß ich sie verstand, blieb sie in ihrer Natur – die bei allen untrennbar von ihrer ersten Sprache ist. Ich dachte: »Zehn Jahre meines Lebens habe ich mich im Bereich dieser Musik bewegt!«

Plötzlich fühlte ich, so nahe habe ich es nur diesmal gefühlt: »Kein Unterschied, ob zehn Jahre oder die Ewigkeit.« Ich hätte noch vor meiner Geburt bestimmt sein können für diesen Wohllaut, klar und sanft, die äußerste menschliche Distinktion, wenn Lippen wie diese sich öffnen und schließen. Warum sagte, schon war der erste Krieg vorüber, eine Italienerin über mich aus: »Parla come se non avesse mai fatto altro?« Aber er hat vieles andere getan, adesso non parla più. Von allem, was hätte sein können, wurde das meiste vergessen, verloren, nie erfüllt.

Die wunderbaren Gäste entließ ich in der Gewißheit, ihresgleichen nie wiederzusehen. Sie gingen mit ihrer jungen Wirklichkeit dahin: Geister, nicht einmal Gedanken zu nennen, blieben bei mir zurück. Das ist das eine: als ein anderer anfangen, – nicht besser hätte es sein müssen, versäumt ist es jedenfalls. Das zweite wäre: als ein anderer gestorben sein. Die Zeit gilt ohnehin für angenommen; in einer höheren Ordnung, die ich nicht verstehe, fänden die Jahrhunderte mit- und durcheinander statt.

Gut. Ich will 1750 zur Welt gekommen sein, 1820 den letzten Seufzer getan haben. Er war recht traurig. Mein Lebensgefühl, früher hoch geschwellt, gelangte vor dem Tode zur Hohlheit. Als ein Europäer ging ich durch mein Säkulum, das sich europäisch wollte. Ich war damals in zahlreicherer Gesellschaft als jetzt, und in der besten. (»La bonne société parle français.« Friedrich der Große.) In meine guten Zeiten fielen: die Enzyklopädie, der Triumph der Vernunft, den wir wahrhaftig für endgültig hielten. (Als ob wir nicht selbst die Fallen gelegt hätten. Verwechslung des Reichwerdens mit der Freiheit. Die Armen – »la canaille«.)

Zweifeln ausgesetzt, dennoch vom Rausch des Miterlebens begleitet, waren die Revolution und Napoleon. Die Befreiungskriege (Entlastung vom Befreier) erlaubten mir keine Hochgefühle. Das Schlimmste war, daß ich die begeisterten Jünger der nationalen Ideen begriff, ihnen sogar recht gegeben hätte: sie brachten es nur zu nichts. 1821, als der Kaiser die Augen schloß, Weltenaugen hießen sie vordem, hinterließ er noch mehr Müdigkeit, Unlust, Enttäuschung, Trauer, als seine eigenen Irrtümer allein erklärt hätten. Begreiflich, daß ich mich schon das Jahr vorher zurückzog.

Heute habe ich vielmehr zu danken, denn ich darf das Letzte des Zeitalters für sein Bestes ansehen. Der Krieg gegen einen Unterdrücker ist ein echter Befreiungskrieg. Da es nicht nur um die Wiederherstellung von Nationen, sondern um die Lage des Menschen geht, hat die Freiheit ihre Armeen überall. Ein Querschnitt durch die Länder zeigt – nicht die gleiche Verfassung ihrer Völker, aber daß die gleiche Verfassung sich anmelden würde, sobald sie es wagen kann. Die freien Völker, die unter dem schönen Namen der Vereinigten Nationen kämpfen und siegen, haben viel gewagt.

Kein Grund besteht, von den noch unfreien Völkern weniger zu erwarten. Mehr, wenn es möglich wäre. Sie haben gekannt, was die freien zu beendigen denken, die Knechtschaft. Sie sind belehrt. Erfahrungen bestärken auch einen schwachen Glauben. Sie erwecken den Glauben, wo er ganz vergessen schien, bei dem mißbrauchten, sehr schuldigen Volk, das verzweifelt weiterkämpft für die Knechtschaft aller und seine eigene. Woraus ist seine Verzweiflung gemacht?

Erblicke ich (in Wirefotos, die sie entstellen) die hohlen Gesichter der siebzehnjährigen Deutschen, wie sie gefangen nach England gebracht werden, – ich meine diese Typen vorher nie bemerkt zu haben: sie sind nicht deutsch, nicht fremd. Sie denken nichts; noch auf der tiefsten Stufe ihres Wandels überlassen sie die Verantwortung »dem Führer«, und das sogar wäre für sie zu viel. Ihre armen Köpfe begreifen keine Verantwortung. Ihre Art von Verzweiflung ist die Indifferenz: seelenlos scheitern. Dahingehen, ohne daß nachgerade jemand aufmerkt, ihre Mutter nicht mehr, sie selbst nicht.

In den besser erhaltenen Zügen anderer Gefangener steht deutlich der Trotz. Weil Mißerfolge ihnen nur zufällig Unrecht gegeben hätten? Auch das. In den Gefangenenlagern machen viele weiter die Wüteriche ihrer Weltanschauung, – deren Endstation und Terminus-Bahnhof gerade das Lager ist. Nach Deutschland werden sie mit Nazimoral nicht heimkehren. Schon ist es nicht mehr ihr Land, und sie wissen es. Nachts erhängen sie still und leise einen antifaschistischen Kameraden. Den ganzen Tag würgt ihren eigenen Hals die Verzweiflung.

Den intelligentesten der deutschen Gestalten ist anzusehen, daß sie eher als das Heer die Untergrundbewegung gewählt hätten. Im Lande reiht man sich ihr ein; übermäßige Entschlossenheit wird nicht verlangt. Wie beim Heer nimmt den X die Masse mit. Er trägt als Mitglied eine Nummer. Die Gestapo fängt eine Nummer und kann sie hinrichten, mehr nicht. Geheimnisse sind von ihr weder mit der Folter, noch durch das Versprechen der Straflosigkeit zu erlangen. Des Zusammenhanges der Verschwörung wird kein einzelner sich bewußt.

Warum dieses Gedränge – von Deutschen aller Klassen und Richtungen – nach einer Aktion, die offenbar nichts entscheiden kann, eh' daß im Feld die letzte Schlacht entscheidet. Sind erst die Befreier einmal im Land, möge der Untergrund auch kämpfen. Es wird erwartet, – ohne daß seine späten Verdienste an dem Schicksal des falsch angetretenen Volkes viel ändern könnten. Immer bringt dies Volk entbehrliche Opfer: vorher seinem Wahn, endlich einem Anflug von Erleuchtung. Jetzt verschwören sie sich und tauchen unter. Sabotieren. Töten auch. Alles, zum Unterschied von jeder anderen nationalen Revolte, damit das eigene Land unterliege. Es ist in schlechten Händen und hat sich unmöglich gemacht. Opfern sie denn ohne Nutzen? Sei der deutsche Untergrund belanglos, die Verzweiflung als emotive Kraft ist es nie.

Der deutsche Untergrund will nicht die Folgen der Niederlage verhüten. Er weiß: das kann er nicht. Er wird nicht als Nation, inmitten der Vereinigten Nationen, gekämpft und gesiegt haben wie die französischen Patrioten. Auf seine Taten wird er sich mit Nutzen nie berufen. Was war es viel? Immer gewärtig sein, daß der Henker in die Tür tritt. Aber Bomben schlagen durch die Häuser sowieso. Natürlich sagt der deutsche Untergrund, daß er Hitler stürzen will. Wäre nicht dies Wort, wo bliebe sein sittlicher Anschluß an die Welt, den er doch sucht.

Er will über alles: gutmachen. Die Schuld abtragen, soviel an ihm ist. Der deutsche Untergrund bringt seine Buße dar, noch vor den verhängten Strafen, und sie bleiben verhängt. Ich kann die Haltung einfach gut nennen: großartigere Ausdrücke verbieten sich, da allgemein auf das Leben ein Preis, der Tod, gesetzt ist. Sonst achtete man weniger darauf. Seit aber die Inschrift »sterblich« jedem aufdringlich an der Brust schaukelt?

Aus der Quelle kann ich es nicht wissen, bin indessen überzeugt, daß der deutsche Untergrund die Vorgänge in London verfolgt hat, kennte auch niemand sonst die Gesetzesvorlage über die Sicherung der menschlichen Existenz. Das ist es, wofür im Grunde – sogar im Untergrunde – gekämpft wird! Auch glücklose Kämpfer können Freude fühlen, die Freude, auf Seiten der besseren menschlichen Lage zu sein. Die Menschheit, die sie beleidigt hätten, wird sie noch lange von sich weisen, sie zulassen nur mit Vorbehalt. Gleichviel.

Die menschliche Verwandlung, das sicherste Zeichen für den Übergang eines Zeitalters in ein nächstes, vollzieht sich offen oder heimlich, in Sieg oder Demut, oft sogleich quittiert, manchmal lange nicht anerkannt. Es muß ja den Feind gegeben haben: Über wen sonst die sittlichen Eroberungen? Wie sieht nun der Feind wirklich aus? Wirklich bedeutet: in seinem Verhältnis zur menschlichen Lage. Ich würde die Probe machen. Einen Augenblick finde ich mich in Deutschland wieder, angesichts einer Masse unbekannten Daseins: dreizehn Jahre versäume ich es schon.

Den Leuten unter und über der Rednertribüne stelle ich eine einfache Frage. Damit sie, was gemeint ist, nicht nur hören, sondern schauen, erzähle ich:

»In einem Land, unnahbar euern Schritten, aber nicht sagenhaft, steht die Gralsburg. Sie ist aus blutrotem Marmor und hat alle Eigenschaften eines Mausoleums, wie die Großen der Erde ihre Prunkgräber nennen. Ein Milliardär wird es nach seinem Tode beziehen. Bis dahin denkt er: schön ist es auch anderswo, und wohnt außer Landes. Den Ruhm soll sein Land dereinst haben, daß der erfolgreichste Verdiener bei ihm begraben liegt.

Er hat, wie alle Großen, klein angefangen. Ein fauler Kunde vermachte ihm ein schlechtes Grundstück. Er, – es billig abzustoßen, war alles, was ihm einfiel. Indessen, seine Frau, weil sie seine Frau war, verbot es ihm. So kam es, daß er noch immer Eigentümer des Grundstücks war, als Zinn darin entdeckt wurde.

Zuerst hatte er selbst mit zugegriffen. Nachgerade gruben sie ihm Zinn in peinlichen Unmengen aus, er mußte sich wie ein Herr benehmen. Außerdem überlief man ihn mit Geschenken. Leute, die schon vorher Zinn besessen hatten, aber nicht seinen Überfluß, drängten es ihm auf: sie fürchteten ihn. Als er dies ungefähr begriffen hatte, es währte einige Zeit, war er auch schon im Besitz des Zinnmonopols für die ganze Welt.

Hier legte er sich Rechenschaft ab. Seine Laufbahn und Verdienste machten ihn schlechthin zu einem der Großen, nicht nur seines Landes, nicht nur dieses Erdteils, sondern des Universums. Das Seltenste sind die Existenzkämpfer seines Formates. Sie zählen sich an ihren Fingern. Von jedem Finger, der einen Matador bedeutet, fallen ohnmächtige zwanzig Millionen ab. Das sind, sagt der Zinnmann, die Dreckfresser, die es geblieben sind.

Ich war selbst einer, aber ich war eine Kraft. Dieselben Chancen haben alle. Ich bin unter zwanzig, was sag ich, unter hundert Millionen bin ich der eine Erwählte. – Diese Meinung hält der Zinnmann durch bis nahe an den Augenblick, wo er in seine Gralsburg aus blutrotem Marmor übersiedeln soll. Da könnte es sein, daß er mit Demut bekennt, er habe schließlich nur in der Lotterie gewonnen. Zufällig hatte er das richtige Los. Die anderen? Nicht einmal Nieten. Die meisten bilden sich reinweg ein, daß sie mitspielen.«

»Jetzt meine Frage an euch deutsche Arbeiter!« Nein, ich gelange nicht bis zu der Frage: die versammelten Zeitgenossen antworten schon – mit Gelächter. Was sie von dem Zinnmann halten? Ob sie es darauf ankommen lassen wollen, daß einer von ihnen der Zinnmann sein könnte, und um so sicherer wären alle anderen lebenslange Dreckfresser? Ich war nur kurz dorthin versetzt, ich höre den Anfang ihres Gelächters. Als es nachläßt, bin ich nicht mehr dabei, und hat es überhaupt geendet?

Es scheint nicht durchaus freundlich gewesen zu sein. Das Kriegsglück des Existenzkampfes ist in Europa unbeliebt geworden, man hat von jedem Kriegsglück zu viel genossen. Der mittlere Europäer weigert sich, mit fünfhundert Millionen seinesgleichen in einem dunklen Sack zu liegen, ein liebliches Kindchen mit bunten Flügeln greift mal hinein und zieht einen Glückspilz an das Licht. Aus.

Ich habe zu begreifen, daß es hiermit aus ist – für Europa. Grundstücke, worin Riesenwerte versteckt sind, ein Kunde gibt sie für nichts in Zahlung, der Betrogene des Zufalls ist sie los, der unbewußte Betrüger darf sie ehrlich behalten: dies alles kommt hier ohnedies nicht vor. Auch daher die besondere seelische Lage Europas.

Klarstellung. »Aber als Beispiel nehmen sie die Deutschen?«

»Die Deutschen oder jede andere Nation des einmütigen Europas.«

»Seine Einmütigkeit beweist es mit Selbstzerfleischung.«

»Vielmehr ordnet es endlich seine Angelegenheiten.«

»Fremde ordnen sie. Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Rußland sind keine europäischen Mächte.«

»Wenn die Vereinigten Staaten nicht ihr europäisches Erbe hätten, der andere Erdteil ließe sie kalt; eroberungssüchtig haben sie ihn immer gekannt. Die Sowjetunion hält die bis jetzt höchste Stufe der europäischen Moral (deren innigster Bestand aus Asien kam). Ihr Kronzeuge und fester Grund ist Großbritannien.«

»Aber Ihr deutsches Beispiel! Welche Deutschen meinen Sie? Es gibt kein anderes Deutschland.«

»Nein. Die Deutschen wie sie sind.«

»Die hörten Sie ein böses Gelächter anschlagen über einen jäh bereicherten Zinnmann. Für den Eisen-Öl-Elektrizitätsmann Göring machen sie schon fünf Jahre die todernsten Landsknechte. Diese Deutschen meinen Sie?«

»Eben die.«

»Dann meinen Sie auch die Deutschen der Zeitbomben (wenn sie fliehen müssen); der vergasten Juden (als Rache für Niederlagen); der Massengräber von Frauen und Kindern (aus Wut, daß eine Nation trotz allem weiterlebt).«

»Dieselben. Die Deutschen haben sich als den moralischen Widerpart hergegeben. Einer mußte es sein, und sie hatten, was von der Schurkenrolle verlangt wurde. Einen berühmten alten Schauspieler sah ich über Stühle springen, wegen der Gelenkigkeit, die er für seinen jugendlichen Schurken benötigte. ›Es ist gar nicht so leicht, einen jüngeren Sohn zu spielen‹, sagte der Greis. Auch die Deutschen begegnen, um eine bedenkenlose Jugend vorzutäuschen, turnerischen Schwierigkeiten. Moralisch ergibt sich alles von selbst, wenn man muß.«

»Sonderbare Moralisten schlagen Sie vor. Der Schurke bekehrt sich zu spät, niemand wird es ihm anrechnen.«

»Niemand? Denken Sie an die Parabel vom Weinberg! Angenommen, dort wäre es ein gewöhnlicher Faulpelz, der in der letzten Stunde antritt und den früh aufgestandenen Arbeitern seinen ganzen Anteil von ihrem Lohn abzieht. Der Böse ist auch nur unzulänglich, wie der Träge.«

»Das geht nicht. Sie bringen alle auf dieselbe Ebene. Zuletzt gäbe es bei Ihnen weder Abstand noch Schuld.«

»Fürchten Sie nichts! Ich besichtige ein Zeitalter und habe ihm zu danken. Es hat mehr getaugt als ich, oder als die einzelnen, die es darstellten. Der Ursprung seines Ungemachs keimte in unser aller gleichgültigen Herzen. Die Vernachlässigung der menschlichen Lage über jede noch erlaubte Frist hinaus hat endlich Katastrophen entladen. Da sie nicht ohne Folgen bleiben können, werden es nach allem Ermessen sittliche sein. Was vorher das Zeitalter bestimmte, die Indifferenz, kehrt nicht bald wieder.«

»Sie erwarten eine Regeneration des Lebensgefühls sogar bei den Deutschen, die aus Ehrgeiz die Unsittlichsten sein wollten. Möchten Sie nicht enttäuscht werden!«

 

Ich wäre nicht einmal enttäuscht. Sie werden, in ihrer öffentlichen Unbegabtheit, irgendeinen neuen Unfug anstellen. (Faschismus und Welteroberung machen künftig andere.) Eine Sorge für Europa müssen sie nicht mehr sein – keine so schwere, wie man noch denken kann, bevor sie vollends besiegt sind. Sofern ihr Nachkriegszustand es erlaubt, weder schnell noch glatt, werden auch sie etwas zusammenbringen wie eine Lex Churehill-Beveridge. Die immer ungelöste deutsche Frage, ob Westen oder Osten. Nachahmung der Sowjetunion oder Englands, könnte verwirren und aufhalten.

Abseitig, obwohl nicht ohne Zusammenhang, ergeben sich Erscheinungen auf dem Gebiet der sexuellen Psychopathie und verwandter Wissenschaften. Sie treten diesmal schon vor Abschluß der Feindseligkeiten geschlossen hervor. Die nachgiebigen Ausnahmen verraten, wie vielen es gerade noch gelingt, ihre Versuchungen geheimzuhalten. Sie beschränken sich weder auf erfolgreiche Länder, noch auf das am gründlichsten fehlgegangene.

Zu der gleichen Zeit, da am Neubau der menschlichen Existenz gearbeitet wird, da alle die triumphale Gewißheit einer endlich erreichten Vernunft haben sollten, wie einst ihre Vorgänger von 1750 – wird dennoch eine beträchtliche Anzahl von Individuen ihre Braut oder Tante schlachten. Die einen neigen zum Anzünden eines vollbesetzten Hauses. Den andern liegt es mehr, auf einem Spaziergang, der in einen Sturmangriff übergeht, alle Begegnenden niederzumachen. (Kann bis ins völlig Indezente verlängert werden.)

Unverkennbar begleiten diese und andere wilde Zeichen die hoffnungsvollsten Augenblicke der Zivilisation. Übrigens steht dahin, inwiefern ihre Hoffnungen erfüllt werden sollen: die Verwilderung jedenfalls mußte eintreten. Wäre es nicht in jedem wichtigen Betracht – hier die geistige Stabilität aller – die höchste Zeit gewesen, wir hätten nie daran gedacht, unsere Existenz zu versichern.


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