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Zweites Kapitel.
Die Sowjetunion

Anders als die Deutschen ist Rußland niemals versucht gewesen, eine europäische Welteroberung zu unternehmen. Die russischen Heere sind einst, so gut wie die deutschen, in Paris eingezogen. Ihre Fürsten oder Fabrikanten haben daraus nicht den Schluß gezogen, daß sie mehrmals wiederkommen, endlich aber sich für die Dauer festsetzen müßten.

Wenn Berlin den Russen näher liegt, nun wohl, im Verlauf der Auseinandersetzungen Katharinas mit Friedrich dem Großen standen sie zweimal in Berlin. Sie erhoben Lösegelder, die ihre Kosten nicht deckten, und gingen ihrer Wege. Den Besuch zu wiederholen, haben sie in 200 Jahren sich nicht veranlaßt gesehen. Sollte diese Enthaltsamkeit heute nachgelassen haben, muß viel geschehen sein.

Die Fähigkeit, den Krieg in fremde Länder zu tragen, wäre somit gegeben. Die Sitten und Gebräuche des Westens, hat man ihn glücklich erreicht, sind erlernbar, noch eher die Sprachen. In Koblenz, kann ich mich erinnern, stand am Ufer des Rheins ein stattliches Denkmal, der französische Sieger aus den Tagen Napoleons hatte darauf verzeichnet, wie stolz und glücklich er sei, sich dort zu befinden. Der nächste Sieger, ein Russe, setzte darunter: Vu et approuvé.

Die russischen Soldaten scheinen sich in dem Deutschland der letzten napoleonischen Zeiten eher beliebt als verhaßt gemacht zu haben. Allerdings sprachen gegen sie nicht dieselben Vorurteile wie gegen die Franzosen – sondern andere. Große Massen einer fremden Nation, besonders wenn sie bewaffnet sind, können den Einheimischen nie ganz gefallen. Aber General Suwarow wurde bewundert – das »Schatzkästlein« des Volkserzählers Hebel zeigt es an –, weil er ein auffallendes Original und von geringer Herkunft war: beides Eigenschaften, die in der preußischen Armee nichts galten.

Verbündete müssen nicht beliebt sein, sie sind fast immer das Gegenteil. Nicht jeder Verbündete bringt es dahin, daß eine Nation, der er helfen sollte, ihn mehr verabscheut als den amtlichen Feind. Das ist, seit diesem Krieg, der Fall der Deutschen in Italien. Ich sehe noch keinen italienischen Erzähler der Nachkriegszeit einen deutschen Heerführer mit liebenswerten Zügen schmücken.

Die slawischen Völker

Es ist heute so und wird auch früher wahr gewesen sein: die slawischen Völker haben von ihrer ursprünglichen Menschlichkeit vieles bewahrt. Sie sind unmittelbarer als andere, in der Güte, in der Reue, im Zorn. Sie nehmen die Seele, wenn ich recht verstehe, für den besten Teil der Wirklichkeit. Was mit Leidenschaft gefühlt und gedacht ist, findet sie zur Aufmerksamkeit, ja zur Nachfolge bereit.

Die russische Oktoberrevolution läßt neben allen ihren notwendigen Voraussetzungen gewiß eine besondere zu. Die konsequentesten Denker besaßen den Willen ihrer Überzeugung nicht nur selbst; sie begegneten bei einem Hauptteil des Volkes ihrer eigenen Aufrichtigkeit und Unbedingtheit. Das allein ermöglicht die geraden Taten und ihre Dauer.

Es scheint mir erlaubt, vom Geringen auf das Große zu schließen, und meine eigene unbedeutende Erfahrung anzunähern dem öffentlichen Geschehen. Nicht in Moskau, aber in Prag fuhr ich, früher einmal, auf einer voll besetzten Straßenbahn und mußte stehen. Nicht lange, ein Mann mit den Kennzeichen eines Kleinbürgers winkte mir, seinen Sitz einzunehmen. Ich wollte es nicht glauben. Ich war im besten Alter, sah auch nicht krank aus. »Bietet er mir wirklich seinen Platz an? Warum?« fragte ich meine einheimische Begleitung. Antwort: »Weil er dich für einen Intellektuellen hält.«

Denn ihr Präsident – Befreier Masaryk, ein Professor und Schriftsteller – hatte mit tapferen und erfolgreichen Handlungen den nationalen Glauben an die Macht des Denkenden bestärkt, wenn er ihn nicht geschaffen hatte. Das war auch die volkstümliche Wirkung Lenins. Es ist übrigens die einzige, jetzt erlaubte Wirkung auf die Völker. Der Staatsmann Churchill hat seine Wurzel in dem Schriftsteller Churchill. Roosevelt ist der vergeistigtste Typ, den Amerika kennt, und eben dank seinem Wissen um das neue Zeitalter, das er tätig einleitet, wird er im Gedächtnis der Vereinigten Staaten der außerordentliche Präsident bleiben.

Als größter Realist unter den öffentlichen Männern hat Stalin sich der widerstrebenden Mitwelt herausgestellt. Gerade er verzichtet am wenigsten auf den Rang eines Intellektuellen. Eher noch ließe er seinen Marschallstitel fallen. Der einzige jetzt authentische Realismus deckt sich mit dem Ausbruch von Wahrheitsliebe, der dieses Zeitalter bewegt.

Die beiden Revolutionen sind eine

Vorerst hat der Ausbruch von Wahrheitsliebe 200 Millionen Menschen durchaus verändert, er hat sie befähigt für Siege, die nicht zuerst militärisch waren. Die Sowjetunion kann den Krieg gewinnen, weil sie vorher so viel Wahrheit besaß. Nicht ohnmächtige Wahrheit, sondern lebendige – das wirkliche Leben eingerichtet nach bester Erkenntnis, mit dem besten Willen für die Menschen.

Das Phänomen der ausbrechenden Wahrheitsliebe wiederholt sich an jeder größten Zeitwende. Die Französische Revolution war ursprünglich der russischen wesensgleich. Nicht ganz früh erklärte sich, daß nur eine andere Klasse, statt der vorigen, zur Macht kam. Gewiß war es unmöglich, vor allen seither gemachten Erfahrungen zu wissen, was Freiheit heißt, solange es Besitzende und andere gibt. Übrigens besaß noch niemand die nationalen Grundwerte, außer dem Land, und das wurde aufgeteilt.

Der Abstand der Französischen Revolution von der russischen ist allein zeitlich bedingt, niemals durch die verschieden bemessene Wahrheitsliebe, durch anders verstandene Menschenpflicht. Menschenpflicht und Wahrheitsliebe sind dasselbe, und es gibt sie nur in einerlei Gestalt.

Die Französische Revolution hatte die Menschenrechte statuiert. Sie wirklich zu besitzen blieb jedem einzelnen überlassen. Der Ruhm des Jahres 1789 ist die Befreiung der menschlichen Persönlichkeit. Sie darf endlich so groß sein wie sie ist, so mächtig wie sie werden kann. Der Auszeichnung – und dem Abstand, sind keine Schranken gesetzt. Es ist erlaubt, unsterblich oder wenigstens reich, bald wird es erlaubt sein, Kaiser zu werden.

Die Gleichheit bleibt unter diesen Umständen eine gedachte Voraussetzung. Beim Absprung ins Leben seien alle gleich. Aber setze dich durch, wenn du in Wirklichkeit benachteiligt, wenn du arm geboren, in Unwissenheit gelassen und womöglich von dunkler Hautfarbe bist! Schon die Verpflichtung auf eine einzige Sprache, die jeder mitbekommen haben muß, um sie in der Art aller zu gebrauchen, macht manche zu Unterlegenen.

Eine neue Revolution wird sich sozialistisch nennen, weil sie vor allem, oberhalb jeder praktischen Einzelheit, auf die menschliche Gleichheit gerichtet ist. Unentschieden bleibt, ob Natur die Gleichheit begünstigt. Die Gesellschaft könnte sie schließlich verwirklichen. Sobald sie ihn braucht, stellt der gute Wille sich ein. Gefühlvoll wird er nicht zuerst sein. Was überwiegt nach langen Zeiten der sozialen Ungerechtigkeiten, ist der entschlossene Überdruß an ihnen insgesamt. Ihre Gesamtheit – ist die Ungleichheit. Oft von Natur bestimmt, noch öfter an den Zufall der Macht gebunden, die Ungleichheit ist nicht mehr erträglich, die Gesellschaft will sie begrenzen.

Als erste hebt der revolutionäre Staat die Ungleichheit der Arten auf. Die Sowjetunion begreift die kaukasische und andere Rassen ein: aber Unterschiede gelten nicht mehr. Die höchstentwickelten Arten – höchstentwickelt nur nach westlichem Maß – sind nicht beispielhaft von Amts wegen, geschweige bevorrechtet. Sechzehn Republiken, jede mit einer homogenen Bevölkerung, bekommen gleiches Gesetz, jede ihre angepaßte Verfassung. Sie behalten ihre Sprachen, die russische wird nur gelehrt, nicht übergeordnet.

Nun ist tatsächlich erwiesen, daß lauter Ungleiche, staatlich bisher durch bloße Gewohnheit verbunden, auch mit eigener Zustimmung ihre Pflichten tragen, wenn jeder die Rechte der anderen besitzt. Das Vaterland selbst wird mehr als eine auferlegte Schuld. Es übertrifft den sentimentalen Gegenstand, der es sonst gewesen war. Es wird deutlich wie der Acker vor dem Haus. Es wird daher verteidigt, überzeugt, unbedingt, als ob es der eigene Acker wäre. Dies ist das Vaterland nach Aufhebung der Ungleichheit. (»Das Leben für den Zaren« – und Stalingrad.)

Als die Französische Revolution die Gleichheit nur voraussetzte – schon der Gedanke der Gleichheit machte die Nation unbesieglich. Wie erst, wenn eine andere Nation ihre Gleichheit – die schwierige Gleichheit der Arten – durchsetzt und verwirklicht! Hier steht Gleichheit nicht im tatsächlichen Widerspruch zur Freiheit: sie ist ihr Anfang, der wirksamste Versuch ihrer Erfüllung. Den Beweis durch das Gegenteil gibt der Feind, der dieses Land überfallen wird. Der deutsche Feind hat aus der Ungleichheit der Arten seine Waffe gemacht.

Der eigentliche menschliche Gegensatz ist hier Deutschland, das Objekt einer Rassenpsychose, die Sowjetunion, das Versuchsfeld für die Gleichheit der Arten. Das ist der Punkt. Die Gleichheit der Arten fordert von selbst die Gleichheit der Klassen und Individuen. Sie verbietet einen übertriebenen Unterschied des Besitzes und der persönlichen Pflege, wie sie den Vorrang einer Rasse leugnet. Kommunismus, so verstanden, existiert auf höherer Ebene als nur wirtschaftlich. Er ist ein technisches Mittel der wahrhaft gemeinten Gleichheit der Menschen.

Der Feind, diese Deutschen, wie sie jetzt sein müssen, erklären den Sozialismus der Sowjetunion für erniedrigend, das Merkmal angeborener Knechtschaft. Gleichwohl liegt er für die Sowjetunion auf dem Weg ihrer – mehr als ökonomischen – Befreiung. Durch Gleichheit zur Freiheit – wird dort erprobt. Der Versuch scheint wenigstens weitherziger als der enge deutsche.

Ein Volk von zusammengesetzten Beständen, altdeutschen, slawischen, keltisch-römischen, jüdischen – mit geringen nordeuropäischen Spuren, will nicht nur Rasse haben. Schon damit sagt es zuviel. Aber überdies Herrenrasse, das Herrenvolk schlechthin, – da hört verschiedenes auf. Die Kraft, wahr mit sich selbst zu sein, hört auf. Der Mut, seiner eigenen Geschichte ins Gesicht zu blicken. Es zeugt nicht gerade von deutscher Herrlichkeit.

Wer die Deutschen achten wollte, Goethe unter vielen anderen, nahm sie einzeln, mit ihren Gaben, die sie bewährt haben, einzeln, nicht als nationale Gesamtheit und allzuoft trotz dem Unvermögen der Nation, gegen ihren Widerstand. Jeder Deutsche von Rang hat unter den Deutschen gelitten. Wenn er Ansehen der Welt eroberte, war es Not; er zwang sein Land, ihn zu achten. Das geht auch nicht mehr, seitdem die Deutschen das Herrenvolk sind. Sie sind es ausdrücklich geworden, um niemand und nichts mehr achten zu müssen.

Was sie ihren Antibolschewismus genannt, womit sie überall die geängstigten Eigentümer betrogen haben, war niemals die Sorge um den Besitz – der anderen.

Der genaue Ursprung des Antibolschewismus ist so wenig in der Wirtschaft zu suchen wie die Herkunft des Kommunismus. Sondern die Widersacher eines Ausgleichs zwischen arm und reich widersetzen sich zuerst der menschlichen Gleichheit: Ein Aufstand gegen Natur und Gesellschaft. Wenigstens für Unterschiede, wie Menschen sie machen, hat die Natur ihre souveräne Nichtachtung. Die Gesellschaft aber, wenn sie nicht ausgleicht, wofür bestände sie. Besser offene Anarchie.

Niemandem muß gesagt werden, daß die vollendete menschliche Gleichheit nicht vorkommt. Frei geboren zu sein, ist auch nur der Begriff, den die Sterblichen von sich haben. Es ist ihr unsterblicher Begriff. Wenn das Leben ihn jemals wirklich erfüllte, hätten sie zu leben vielleicht keinen Grund mehr?

Es ist lebensfördernd, frei und gleich sein zu wollen – das eine um des anderen willen. Feindseligkeit gegen das Leben verrät sich, wo die Gleichheit der Arten, Klassen, Individuen schlechtweg verboten ist. Mit ihr fiele auch die Freiheit, soviel davon wirklich errungen ist, soviel noch aussteht.

Um die Gleichheit unmöglich zu machen, widerruft man tatsächlich die ganze Freiheit. Der Antibolschewismus erklärt sich gegen die Französische Revolution, als hätte sie die Sowjets erfunden. Der Konvent ist kein geringerer Schrecken für die Schicht von Bürgern, die sich inzwischen bereichert haben; er ist kein schlechterer Vorwand für den antibolschewistischen Betrüger. Der Betrüger kennt ihren Point névralgique – kein Kunststück, der schmerzhafte Punkt ist nicht von heute.

Die Furcht vor dem Volk hat die besitzende Schicht in Frankreich selbst bis zum Haß ihrer eigenen Revolution getrieben, – ohne die Revolution bestände sie gar nicht. Um ihren Besitz zu retten, hat sie ihre Herkunft, endlich sogar ihr Land verraten, wie man sah. Wie man nicht zum erstenmal sah. Schon der bürgerliche Haß gegen die Pariser Kommune von 1871 ging bis zur Zusammenarbeit mit den bewaffneten Fremden im Land. Die Kollaboranten der Jahre 1940 bis 1944 haben Vorläufer und rühmen sich einer Tradition.

Damit nichts versäumt werde und der Zustand keinen Zweifel lasse, hat die alte Revolution ihre volle Gegenwart wiedererlangt – bei der neuen, die sie fortsetzt. Die Sowjetunion ist es, wo sie in ihrer währenden Revolution die längst abgelaufene Frankreichs verfolgt haben. (Dies am Anfang, als die Ereignisse nur zu entwirren waren, wenn man verglich.) Sie haben dringend aufgemerkt, bei jedem Auftreten handelnder Personen, in welcher Bedeutung sie einst schon dagewesen wären.

Sie haben die Vorgänge auf ihre Richtigkeit geprüft, an den alten Parallelen. Sie haben die Französische Revolution nicht nachgeahmt; in ihrer selbstgewachsenen, ihnen auferlegten, haben sie versucht, die Fehler der Vorgängerin zu ertappen und ihnen zuvorzukommen.

Es ist wirklich ergreifend – als ein menschlicher Vorgang, auch wenn es kein politischer wäre: dieser Anschluß, den über ein Jahrhundert hinweg eine große Nation mit der anderen vollzieht, mit den höchsten Augenblicken der andern. Es zeigt eine hingebende Seele mit einem harten Mut. Es tröstet wahrhaft – über die häßlichsten Gebärden dieses Zeitalters.

Die Mühen der Toten waren dennoch nicht vergebens. Unter Umständen, die den ihren einigermaßen gleichen, wird, räumlich weit davon, nochmals gehandelt wie einst bei ihnen; und wenn das zeitlich bedingte Ergebnis abweicht und weiter geht, die Begeisterung erinnert wieder an die Morgenröte, ein harter Wille schlägt und schmiedet auch hier. Die slawische Seele ist nicht immer weich, wie man erfährt.

Das Ergebnis betreffend, was weiß ich? Obenhin scheint es zu wechseln, wie alles Menschliche, mit den auftretenden Menschen. Die Revolution selbst ist wesentlich unbeirrbar. Sie hat die Produktionsmittel ergriffen und behält sie; für das Gegenteil spricht kein Anzeichen. Man sucht Vorbedeutungen in diesem Kriege selbst: Katastrophen der Nation sollen ihre Wirtschaft um-, man meint zurückwälzen. Es werde, wie vormals, Arm und Reich geben.

Die gibt es schon jetzt. Ich möchte mir auch ausbitten, daß ein Mann, der für seine Verdienste um die seelische Erhebung der Massen den Titel Volksschauspieler verdient, höher bezahlt wird als ein anderer Techniker mit Kenntnissen, nicht der Menschen, sondern der Maschinen. Natürlich muß jeder seinen gerechten Lohn haben, und um so eher die Masse der Ausführenden, die in ihren Händen, auf ihren gebeugten Schultern die ganze Wohlfahrt tragen. Reich – und ganz arm, das widerspricht offenbar dem Sinn einer sozialen Revolution, will sagen jeder echten. Die Sowjets wissen es am besten.

Es ist abstellbar. Es ist schwieriger, langwieriger zu beseitigen, wenn ein ganz erstaunlicher Aufbau des Landes, die vorher unternommene Sicherung der gesamten Arbeit mutwillig unterbrochen werden durch einen Angreifer. Ein dreijähriger Krieg wie dieser, von der Sowjetunion nicht gewünschte, aber vorausgesehene und großartig bestandene, zerstört von den Ergebnissen zwanzigjähriger, planvoller Mühen viel.

Er zerstört dort an Menschenleben mehr, als jedes andere Land erträglich fände, (Deutschland, das dieselben oder noch höhere Verluste hinnimmt, wird zu spät erkennen, daß sie auf seiner Seite unersetzlich sind). Vom nationalen Gut zerstört der Krieg so viel, würde man sagen, wie in hundert Jahren nicht herzustellen ist. Aber die Sowjetunion hat bewiesen, was sie in zwanzig Jahren kann. Wenn's vorüber ist, ihren Völkern darf zugetraut werden, daß sie unentwegt an die Arbeit zurückkehren. Das bedingt, dort und anderswo, bei allen abgerüsteten Soldaten, die vollkommene moralische Gesundheit. Die bloße Notwendigkeit tut es nicht.

Nun haben die Verwaltungen der Union dafür Sorge getragen, daß ihre Menschen nicht nur mehr leisten, sondern auch mehr denken. (In Deutschland wird seit zehn Jahren wenig gedacht, zufolge amtlicher Strenge soll gar nicht gedacht werden.) Nach dem Kriege wird klar werden, daß am schnellsten hochkommt, wer denken gelernt hat, – gesetzt, die Einsicht hätte man nicht jetzt schon. Ein englischer Priester, der unlängst, mitten im Krieg, über die Sowjetunion schrieb, hat Aufsehen erregt mit manchen seiner Worte und mit diesem: »Ein Land, das Arme und Reiche hat, ist nicht frei.«

Dieser Begriff der Freiheit war sonst nicht im Gebrauch. Der Geistliche mag ihn schon mitgebracht haben, aus dem Christentum, dessen innerer Sinn auch nur selten verstanden wird. Aber die neue Auffassung der Freiheit, eine christliche Auffassung, erzielt nunmehr Erfolge, die noch unabsehbar sind. Sollten sie mit dem Auftreten und Wirken der Sowjetunion anders nicht zusammenhängen, die Gleichzeitigkeit wenigstens besteht.

Es liegt doch wohl derart, daß die Sowjetunion das alte! Vorurteil gegen die Gleichmacherei praktisch widerlegt hat. Unabhängig davon, was einer kann, hätte sie ohne Ansehen der Unterschiede jeden Arbeiter auf ein Existenzminimum beschränken dürfen. Sie bezahlt im Gegenteil die Leistungen ungleich, und Leute, die sich auf ihren Vorteil verstehen, läßt sie Geld verdienen. Von dem Erworbenen bleibt ihnen nichts, sie müssen es ausgeben; zu kaufen was Bestand hätte, Land, Kohlengruben, Petroleumlager, ist ihnen verboten. Somit sind sie nicht wirklich reich. Der Reichtum ist wirklich, wenn er in Macht über Menschen umgesetzt wird. Gerade das verhindert die Sowjetunion.

Die Revolution wirkt in die Weite

Ohne Entstellung, nur mit Weglassung der Hauptsache wird jetzt meistens geurteilt, von Geschäftsleuten und anderem Durchschnitt, sofern er sich vorgeschritten gibt: aus einer ursprünglich verrufenen Wirtschaftstheorie habe die Union das Bestmögliche gemacht. Noch weltklüger könnten Idealisten nicht vorgehn. Sie lassen verdienen, sie zahlen ungleich, aber das Ganze bleibt, um dem harten Wort nicht auszuweichen, Kommunismus. Andere meinen im Gegenteil, Kommunismus sei das nicht mehr.

Die weggelassene Hauptsache betrifft das Moralische. Den neueren Begriff der Freiheit im Volk zu verbreiten, war kein Luxus, kein geistiger Überbau. Sondern gewisse wirtschaftliche Maßnahmen konnten wirksam werden und dauern, unter der Bedingung, daß ein Volk seine Freiheit begriff. Solange ein anderes Volk dabei beharrt, der einzige Wertmesser des Lebens sei das Geld; es könne nie genug verdient werden von wem immer; dem Reichen etwas zu nehmen, schädige auch den Armen, denn er wolle reich werden: solange fehlt für wirtschaftliche Neuerungen der Raum, der seelische Raum.

Wo noch geglaubt wird, daß der geglückte Erwerb eine genügende Rechtfertigung der Macht über Menschen sei, da ist die leichtgläubige Menge ihrer Mächtigen wert. Reformen würden fehlschlagen, bevor nicht die Moral erleuchtet ist. Die Macht ist durch eine erleuchtete Moral manchmal wohltätig geworden. Der Wille zur Macht als Ausgang und als Ende war von jeher das Übel selbst. Die alte Weisheit der christlichen Kirche hat an die Spitze der sieben Todsünden (der Sünden, die den Geist töten) den Stolz gesetzt. Der Stolz ist die Macht, der Wille zur Macht.

Das eigentlich Lebenswichtige war schon längst, die Macht unschädlich zu machen. Die Demokratien haben es versucht, sie teilten die Macht auf, sie wollten die zahllosen Mitbeteiligten der Macht abhängig von all und jedem. Sie übersehen nur, auf welche, vorgeblich unpolitische Art man Macht über Menschen erlangt. Durch den Besitz der Produktionsmittel. »Ein Land, das Arme und Reiche hat, ist nicht frei.« Dieser Satz allein, die Erkenntnis, die er ausdrückt, die Hoffnung, die er anspornt, begründet alle Sympathien, die heute der Sowjetunion gelten.

Denn er sei frei geboren, ist die einzige bleibende Vorstellung, die der Mensch von sich hat. Der erste Satz des Contrat Social: »L'homme est né libre et partout il est dans les fers«, drückt keine soziale Wirklichkeit aus, wohl aber die psychologische Wahrheit über den Menschen. Die Freiheit tatsächlich zu besitzen, bleibt seine Forderung – an sich, an die Welt und das Schicksal. Sie haben unendliche Auskunftsmittel erfunden, Parlamente, Gewerkschaften und Freiheitslieder, um nur diese drei zu nennen, damit sie sagen könnten, sie seien frei. Sogar die unverbindliche Erlaubnis, viel Geld zu verdienen, soviel wie die wenigen, die es wirklich verdienen, nennen sie Freiheit.

Der menschliche Durchschnitt müßte allerdings bedenklich werden, erführe er, daß die Sowjetunion keine allgemeine Versklavung vornimmt, wie man meistens hörte. Er könnte hier und da zu überlegen anfangen, wie es um seine eigene Freiheit steht, da er arm ist und dem Dutzend künftiger Reicher desselben Lebensalters näher besehen wohl schwerlich angehören wird. Das berührt sogar den geistig knapp gehaltenen Durchschnitt. Hinzugerechnet sei, daß die militärischen Erfolge der Sowjetunion auch ihre staatlich-wirtschaftlichen Einrichtungen etwas weniger verdächtig machen werden. Viel abergläubische Vorurteile beseitigt der Sieg.

Ihre beständigen Erfolge, gesetzt es gäbe Erfolge, die nicht schwanken, verzeichnet die Revolution dieses Jahrhunderts bei den Intellektuellen. Es müßte verwundern, wenn es anders wäre. Die französische Parallele versagt auch hier nicht. Die Revolution von 1789 hat, solange sie eine innere Angelegenheit Frankreichs schien, in den anderen Ländern nur die erregbaren Geister berührt. Schiller, der nationale Dramatiker der Deutschen, und Klopstock, Dichter des Messias und unvergeßlicher Oden, wurden für ihre intellektuelle Mittäterschaft ausgezeichnet mit dem Namen französischer Bürger. Der Konvent hat die Abwesenden zu Mitgliedern erhoben.

Die Völker lernten die Revolution erst kennen, als die Heere Napoleons sie ihnen in leiblicher Gegenwart vorführten. So viel an Teilerfolgen der menschlichen und öffentlichen Freiheit im Verlauf eines Jahrhunderts auf dem Kontinent eingebürgert wurde, ohne die Episode Napoleon hätte man weder den Antrieb noch den Vollzug gesehen.

Wenn die Parallele nicht versagen soll, wären die Sowjetarmeen gehalten, sich über Europa zu ergießen. Es wird geschehen oder nicht. Weder Berlin noch Paris sahen russische Sieger das erste Mal. Nachher kämen außerhalb des Ursprungslandes ihre bekannten Teilerfolge. Vollständigkeit würden sie nirgends erreichen. Bestritten wären sie immer. Die sich Kommunisten nennen – und noch lange im abfälligen Sinn so heißen würden – wären nicht mehr und nicht weniger als Progressisten. Sie hätten den neueren Begriff der Freiheit anerkannt. Ein Land ohne tiefste Armut und unbeschränkten Reichtum wäre frei.

Bis der neuere Begriff der Freiheit sich überall durchgesetzt hätte, wären diesmal nicht hundert Jahre, vielleicht wären nur die übrigen fünfzig dieses Säkulums hingegangen – man ist schnellfüßiger. Dann bestände noch immer keine zweite Sowjetunion. Völker, die innerhalb einer plausiblen Frist ihren Sowjetstaat nicht erworben haben, brauchen ihn nicht, oder wagen ihn nicht: das gilt gleichviel. Der Satz Bismarcks: »Die Politik ist die Kunst des Möglichen« behält recht, und zuerst muß es möglich sein, eine Nation zu überzeugen.

Dagegen ist nicht wahrscheinlich, daß dort, wo nahezu die Gesamtheit von der Freiheit im heutigen Verstande schon überzeugt ist, eine Zurückführung in vorige Zustände irgend Erfolg verspricht. Für einige Augenblicke hat im Frankreich des 19. Jahrhunderts die Reaktion triumphiert. Die bürgerliche Freiheit hatte für sich den Glauben und die Gewohnheit, sie ist jedesmal wiedergekehrt.

Die Sowjetunion darf sich kein Zurück erlauben. Es wäre nicht, wie einst in Frankreich, die vorläufige Unterbrechung der Revolution, sondern ihr Ende. Die reprivatisierte Wirtschaft verstaatlicht man nicht noch einmal. Das kostet mehr, als wenn eine bürgerliche Presse bald geknebelt, bald freigegeben wird. Es wäre für das Land der sozialistischen Revolution der innere Krieg, ein höchst mörderischer Krieg, der nicht nur diesen, sondern jeden Staat zerstören müßte. Die Wirtschaft wäre inzwischen reprivatisiert, aber nicht zugunsten Einheimischer. Das Ende wäre eine Fremdherrschaft.

Es ist lächerlich, an dergleichen unsinnige Kombinationen auch nur einen Gedanken und wenige Schriftzüge zu wenden – in dieser Zeit der leidenschaftlichen Verteidigung der Sowjetunion. Sie verteidigt sich gut, weil sie ihre Völker überzeugt hatte von der Güte der sozialistischen Freiheit. Ihre Völker verteidigen sie mit völliger Hingabe, weil sie ihr Land frei wollen und die Sowjets gleichsetzen dem Land und seiner Freiheit. Hier kämpfen die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts.

(Die Deutschen verteidigen – oder verteidigten bis gegen das schlimme Ende hin – gar nichts. Niemand hatte sie und ihr Land bedroht. Sie selbst waren die Angreifer jedes anderen Landes, und waren es einzig und allein, weil ihr Führer »immer recht hat«. Die Niederlage gibt ihm sichtbar Unrecht, da bleibt nur übrig, in heller Verzweiflung weiterzukämpfen.)

Die Völker der Sowjetunion sind überzeugt, nicht daß ein Mann »immer recht hat«, sondern ihr Land, ihre Idee, seine Einrichtungen haben heilig recht: daher die unwahrscheinlichen Arbeiten, die Opfer von schauriger Phantastik, aber so einfach dargebracht. Auf hoher Ebene verteidigt sich nur das Volk, das seine Revolution verteidigt. Ein innerer Krieg muß gewonnen und überstanden sein, damit die Nation es mit ganzer Seele verdient, einen verhaßten Eindringling aus dem Land zu jagen. Auch der noch? Auf ihn!

Vor diesem neuen Einbruch eines Schädlings haben sie es, gleich zu Anfang ihrer Revolution, mit ihren ersten Feinden zu tun gehabt, aufständischen Generälen des alten Regimes, verbündet mit fremden Expeditionsarmeen. Alle Mächte Europas waren, wie einst die Heilige Allianz, willens, den Herd der Revolution auszuräumen, bevor es zu spät wäre. Das sind haltbare Erinnerungen, weniger für die Mächte, die das Unliebsame schnell vergessen, als für die Leute der Sowjetunion. Sie sprechen: »Alle Schrecken des heutigen Krieges beiseite, in der größeren Gefahr waren wir damals, an unserem noch ungefestigten Beginn.«

Sie sind fertiggeworden mit den frühesten Feinden, die aus Furcht vor einer Weltrevolution die Oktoberrevolution ungeschehen zu machen dachten. Hiernach allein war in jedem Augenblick vorauszusehen, daß der Staat der Arbeiter und Bauern von einem späteren, zu späten Angreifer nicht mehr zu fassen sein werde. Er konnte schon längst nicht mehr sie, sie mußten ihn überkommen – wie furchtbar er übrigens wäre an Gewalt und List.

Von ihrer Entschlossenheit hatten die Sowjets vor aller Augen das Maß gegeben, – als sie den Verräter Tuchatschewski hinrichteten. Es gehört für jeden Staat etwas dazu, einen militärischen Befehlshaber mit tatsächlicher Macht nach dem Gesetz über Spionage öffentlich zu exekutieren. Eine moralische Autorität oberhalb der materiellen muß ihrer selbst außerordentlich sicher sein. (Hitler hat Generäle, die er haßte, heimlich beseitigt. Einer erlag während des Massenmordes vom 30. Juni 1934 einem Unbekannten. Der Gefürchtetste fiel an der Front, als der Feind nicht schoß.)

Ein Sowjetmarschall, der verrät, kann nichts anderes sein als Handlanger der Fremden, die wie er die Sowjets stürzen wollen. Über die böse Lust des Verräters hinaus und jenseits der Absichten von 1920 will dieser Feind das Land nehmen, ja, die Nation von ihrem Boden verdrängen. An die Stelle der Sowjets würde er keinen anderen setzen als sich selbst. Jeden Angreifer, nur diesen nicht, hätte der Tod des Marschalls gewarnt.

Intellektualität

Die Sympathien, deren die Sowjetunion sich außerhalb ihres Gebietes erfreut, gelten, so gut wie ohne Rest, einer Idee, der Idee der neu verstandenen Freiheit. Nur die noch immer Unbelehrten denken sich die Revolution des 20. Jahrhunderts schlechthin stofflich. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bleibt ihnen Selbstzweck, sie steht im sozialistischen Programm, hiermit ist es erfüllt.

Wenn das alles wäre, und hätte eine wirtschaftliche Maßnahme weder geistige Voraussetzungen noch sittliche Folgen, dann – bliebe sie noch immer belangreich. Aber nicht notwendig von günstigem Belang. Ein Staat kann seine wirtschaftliche Macht über die Menschen so sehr und mehr mißbrauchen, als die privaten Monopolinhaber. Warum nicht die wirtschaftliche, da die soziale, politische, militärische Macht der Staaten so vielfach schlecht verwendet worden ist!

Die Auswirkung von Reformen – eine Revolution sei nicht immer vorausgesetzt – hängt ganz und gar davon ab, in welcher Geistesverfassung sie vorgenommen werden, welche Geschichte eine Nation hat, unter was für Taten und Lehren sie bis zu diesem Augenblick lebte. Lasse man die Deutschen nach zwölf, vierzehn Jahren Hitler – mit den Denkgewohnheiten der Hitlerzeit, mit ihrer Art des Empfindens, des längst nicht mehr humanen Empfindens – urplötzlich durch einen Zauberschlag oder coup de théâtre den Kommunismus bekommen. Er hat ihnen, wie sie sind, nichts zu geben. Er kann von dem, was sie sind, nichts fortnehmen.

Der Wahn vom einzigen Herrenvolk ist ihnen, vielen Zeugnissen und der Wahrscheinlichkeit zufolge, gründlich genug beigebracht worden. Er hat die Führung in einer Reihe anderer böser Träume. Eine veränderte Wirtschaftsregelung bewirkt nicht von selbst die geistige Gesundung. Wenigstens wäre die Annahme noch willkürlicher, als die entgegengesetzte Vermutung, daß die deutschen Welteroberer, wirtschaftlich reformiert (und sich selbst überlassen) alsbald zu frischen Taten schreiten. Sie müssen es nicht – obwohl erst der Kommunismus ihrem Staat die völlig zentralisierte Gewalt gegeben hätte. Die Gelegenheit oder der Mut, eine neue Katastrophe auszubrüten, könnten dem kommunistischen Deutschland fehlen: Nicht die inneren Voraussetzungen.

Die Entscheidung, ob eine Nation im heutigen Zusammenhang der Welt sich einen, und geht er verloren, den zweiten Angriffskrieg erlaubt – beide irrational, beide verworfen und aussichtslos: die Entscheidung ist beschlossen in dem Maß ihrer Weisheit, und nirgends sonst.

Die Deutschen waren seit wenigstens fünfzig Jahren stufenweise verdummt. Sie verachteten, was man nicht sieht, was nicht technisch gehandhabt wird und Lärm macht. Sie waren ohne Stille, das ist es. Ihre ursprünglichen Gaben werden nunmehr allem anderen gewidmet, nur nicht der Meditation. Nur der uninteressierten Erkenntnis nicht. Um sich in Morallosigkeit tief hineinzuknien (»Moralinfrei« ist leider eine Wortbildung Nietzsches), haben sie keinen Hitler abgewartet.

Eine sozialistische Revolution konnte gelingen, ihr Ergebnis, die Sowjetunion, kann bestehen, weil beide geistig erkämpft worden sind. Aber geistige Kämpfe geschehen in der Stille, so viel gnadenloses Geräusch sie endlich aufrühren müssen. Hundert Jahre großer Literatur sind die russische Revolution, vor der Revolution.

Das alte Rußland konnte geistig bearbeitet werden zufolge seiner sozialen Schichtung, seiner altväterischen Gesittung – und ihrer grausamen Kehrseite: Das Dasein der Erniedrigten war mit der Hand zu greifen, und zu schildern. Günstig war auch die geistige Duldsamkeit eines Staates, der – wenn auch nur literarisch – mit sich reden ließ. Die »Gesellschaft« rang sie den Machthabern ab, sie kleidete ein erschlafftes System, Anfälle von Strenge unterbrachen das Geschehenlassen. Mit all dem war das alte Rußland genau der Boden, dessen eine große Literatur bedarf.

Die angespannte Teilnahme des ganzen Reiches galt nur ihr. Ohne sie wäre das hingefristete Leben ohne Interesse gewesen, um so mehr ohne Aussicht. Man hatte die Literatur und hatte die Musik, beide erfüllt von demselben Lebensgefühl: ein ansteigendes Gefühl für ein Leben voller Forderungen. Ihrer erste war die Wahrheit, eine intransigente Wahrheit über die menschliche Lage, nie verklärt, außer durch die Gnade des Glaubens und der Barmherzigkeit.

Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist ein Vorgang ungeheuer, und von einer Erbaulichkeit, daß wir, gewöhnt an Niedergang und Abbruch, kaum glauben wollen, wir wären dabeigewesen. Manches begreifen wir nachträglich – oder legen es, angesichts des Nachher, hinein. Ich höre ein Marsch-Scherzo von Tschaikowski und meine die offene Verhöhnung des verjährten Militarismus zu hören, einer großtuerischen Maskerade, die ausarten soll in das Blutbad und doch lächerlich bleibt wie ein altmodisches Duell. Wie aber ist Dostojewski, wie Tolstoi gelesen worden?

Sie sind mit Beben gelesen worden. Sie sind gelesen worden von Augen, die weit wurden, um so viel Gestalt, um all das Wissen zu empfangen, und als Gegengabe tropften Tränen. Von Puschkin bis Gorki haben diese Romane, Glied an Glied in lückenloser Reihe, eine tiefe Kenntnis des Menschen, seiner Schwäche, seiner Furchtbarkeit, seiner unerfüllten Berufung, gelehrt – und sind aufgenommen worden als Lehre.

Ein Volk, eine »Gesellschaft«, mit allen ihren Abständen, lernte hier, nicht ganz vergebens. Hätte der Ungerechte nur diesmal, beim Lesen dieser Seite, sein Gewissen schlagen lassen, hätte das nächste Mal, vielleicht sogar an der gleichen Stelle, ein Unterdrückter im Zorn aufgeschluchzt, nichts ist zu Boden gefallen, vergebens war nichts. Und die Bücher vereinten alle.

Für den guten Willen einer nationalen Gesamtheit hinsichtlich der menschlichen Sorgen spricht ihr Verhältnis zur Literatur. Die menschliche Natur und Lage wird den Leuten um so mehr Teilnahme abgewinnen, je ernster sie die Literatur nehmen. Es kommt vor, daß die Literatur den weniger geachteten oder national verdächtigen Teilen der Gesamtheit allein überlassen wird. Es kann geschehen, daß die eigene große Literatur bei der Nation nur noch konventionelles Ansehen genießt. (Beides traf in Deutschland zu, während derselben Jahrzehnte, als die russische Literatur die höchste Angelegenheit der Gesamtheit wurde.) Dann ist zu wetten, daß es schlecht steht um die Aussichten für das Menschenglück – und um die Nation.

Die Revolution, eine wahre und tiefe Revolution, ist zuletzt kein Aufstand der einen gegen die anderen. Im Grunde verlangt und empfängt sie die Übereinkunft aller. Nach ihr hingestrebt haben die Bevorrechteten, die ihre widernatürlichen Vorteile opfern sollen, und die Benachteiligten, die noch ganz andere Leiden werden durchstehen müssen, bevor sie die Freiheit, oder ihren Widerschein, erblicken. Die französischen Feudalen des 18. Jahrhunderts waren die ersten und eifrigsten Adepten des Humanismus in Enzyklopädien und Romanen, dem sie endlich erliegen sollten: hatten ihm aber vorher ihren Geist geöffnet.

Die russischen Aristokraten schrieben die Romane sogar selbst. Ein unverhältnismäßig großer Teil der revolutionären Literatur – der Literatur der schamlosen Wahrheit – ist das Werk von Unersättlichen, – nach aller Macht, dem schrankenlosen Genuß forderten sie für sich auch noch das Wissen, das sie aufhob. Als der unermeßliche Tolstoi seine »Anna Karenina« schrieb, war ihm allenfalls noch unbekannt, daß eine dermaßen durchschaute Gesellschaft keinen langen Bestand mehr hat. Bei seinem letzten Roman, der »Auferstehung«, angelangt, hat er danach gelechzt, die Folgen zu erleben. Das Martyrium, nicht mehr, nicht weniger wollte er für sich. Für alle anderen – seine nackte Wahrheit.

Die russische Literatur – als die Revolution selbst, wie sie im Buch steht – hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts unsterblich eingeschlagen in die Welt bei den Intellektuellen des Westens. Ich gedenke der völlig vereinzelten Wirkung der »Kreutzersonate« – das Gebot der Keuschheit nach tausend Jahren wieder wörtlich, heilig genommen. Wir waren fremd angesprochen, der Ungläubigste erschrak, indes er zu lächeln meinte. Eine dynamische Moral (soeben hatte Nietzsche uns sogar ihre ohnmächtigen Reste ausgeredet) brach jäh herein. Sie machte Sensation, bis hinein in stumpfe Mengen, die nichts lasen. Die »Kreutzersonate« ist eines der Wunder des Zeitalters.

Geistig Bewanderte haben ihr bald angesehen, daß die geforderte Keuschheit nur ein Teil des Ganzen war. Um die integrale Reinheit ging es, um das sittlich bestimmte Leben, die Wahrheit, die Wahrheit! – es komme nach, was mag, es komme gar nichts mehr. Um dieselbe Zeit) geschah ein anderes Zeichen von gleichem Anspruch und nicht geringerer Kraft, die Affäre Dreyfus. Der Abstand der beiden ist nicht geistig, er ist soziologisch bestimmt.

Die französischen Intellektuellen in ihrem Entscheidungskampf um die Wahrheit blieben allein, trotz zahllosen aufgerührten Gewissen, mit so viel Haß, der sie traf, und bei aller Ergriffenheit der westlichen Welt. Die sozialen Tatsachen ließen in dem klassischen Fall, der ausgetragen wurde, keine unverbrüchliche Entscheidung zu. Die Wahrheit war »auf dem Marsch« – und erstickte unter Kränzen, als sie ankam.

Die Russen, ihre herrlichen Romanschreiber, waren in besserer Lage, – wenn ein Leiden ohnegleichen, das Leiden am »Totenhaus«, an der Verkehrtheit aller und an der eigenen, wenn sogar das Leiden unter der Wahrheit, die durchgesetzt werden will, irgendwen je gut gebettet hat. Dafür sind sie nunmehr wohl aufgehoben in der anonymen Verehrung unendlicher Leserschaften, die das eine Mal – nur dieses Mal in Generationen – bestätigt fanden, daß auch die Erkenntnis, auch der sittliche Wille siegen kann; nicht unfehlbar gehört der Erfolg der niedrigen Schlauheit und Bosheit.

Die Oktoberrevolution ist, wie jede echte, tiefe Revolution, die Verwirklichung einer hundertjährigen Literatur. Dies ist hauptsächlich darum die Tatsache, weil alle Intellektuellen unseres Kulturkreises, in dessen Mitte die Sowjetunion liegt, es so wissen wollen. Wenn – par impossible – die Sowjetunion eine Selbstverleugnung vornähme –.

Aber es geht nicht: mit dem ersten Zugeständnis höbe sie sich schon ganz und gar auf. Sie würde, ohne daß ein Wort fiele, den ungeheuren Ruhm der Nation ausstreichen: er ist literarisch.

Sie verlöre – aber wer weiß es so gut wie sie – alle intellektuellen Sympathien, die in nackter Wirklichkeit nichts anderes sind als die vollendete Weltrevolution. Sie ist nicht mehr zu unternehmen, sie bedarf weder der militärischen Eroberungen noch kommunistischer Propaganda, der künstlichen Ernährung mehr oder weniger verwandter Parteien (die es niemals ganz sind). Die Weltrevolution hat als Nährboden die Geister – ausnahmslos alle menschlichen Organismen, die jetzt denken, die jetzt sich selbst achten.

Die Teilerfolge der Revolution! Hier wurde vermutet und eingesehen, daß jenseits ihres Mutterlandes die Revolution eher zugelassen als umarmt, lieber anständig begrüßt als leidenschaftlich heimgeführt werden könnte. Aber auch die erwarteten Teilerfolge sind geistig-sittlich zuvor, erst nachher wird daraus, so viel von Umständen und Menschen erreichbar ist. Praktisch wäre dies ein Vorgang in vielen Etappen, kein Oktober tut es, viele Monate Oktober werden vorausgesetzt – und daß eine Menschenart nach der anderen ihren Geist öffnet.

Der Begriff des geistigen Menschen, des Intellektuellen oder Geisteskindes umfaßt das Menschengeschlecht. Die Unzugänglichen beweisen die Macht des Gedankens durch ihre Falschheit – auch sie ist nicht leicht durchzuhalten. Intellektuell kann ein Bauer sein. Ihren Arbeitern, die mit Maschinen umgehen, will die Sowjetunion nach ihrem ausgesprochenen Programm die Schulung von Studierten geben. Nur, damit die Maschine den Vorteil habe? Der Mensch soll gedeihen, und kann es, wenn er denkt.

Der Sozialismus ist kein Einfall von Technikern oder Ökonomisten. Fourier, Saint-Simon und le Pére Enfantin waren alles andere. Marx ist ein Philosoph der Tatsachen. Ihr Denker und Vollzieher zugleich ist Lenin. Zu der währenden Zeit des Realisten Stalin war die betonte, anschaulichste aller Kundgebungen (bis der Krieg kam) ein Schriftstellerkongreß.

Das Volk von Moskau, samt den eingeströmten Völkern, hat mit brennendem Eifer dem Auftritt seines Maxim Gorki beigewohnt, als dem Abschluß eines fruchtbaren Jahrhunderts, als dem Versprechen eines neuen fruchtbaren. Das Volk hat mit Recht die Reden der Schriftsteller für sein öffentliches Bekenntnis (am Kreuzweg wollte es die alte Sitte) – für sein eigenes, laut gewordenes Herz hat das Volk die Reden gehalten.

Des Kongresses erinnerte ich mich, als einen dieser Tage ein Geschäftsmann, früher im Vorstand einer Londoner Bank, auch seinerseits etwas bekannte. (Der Dritte im Gespräch hörte starr zu.) Die Worte hießen ungefähr: »Wenn die Revolution nicht das Beste vom Denkbaren verwirklicht hätte, ja, angenommen, sie hätte auf lange Sicht überhaupt nichts verwirklicht, es stäke nichts dahinter.« Pause. Sinnende Augen. Leiser: »Es scheint doch, etwas steckt dahinter.«

Ein Mann des praktischen Verkehrs, der dies äußert, glaubt mehr als er sagt, er hält auf, was über die Lippen möchte. (Noch sitzt ein Dritter starr dabei.) Der Mann ist ein Intellektueller, er hat seinen Geist geöffnet. Wer aber kam früher? Eindringlich bedacht, wer kam zuerst?

In russischen Hütten, an Winterabenden, beim Talglicht, es ist wohl sechzig Jahre her, hat ein Bauer den anderen Bauern vorgelesen – dies an tausend Abenden in tausend Hütten; und war zumeist nur einer, der die Kunst des Lesens selbst entdeckt hatte, gelehrt wurde sie damals nicht jedem. Er las zum Beispiel die Volkserzählungen des Grafen Leo Tolstoi; eines hohen Herrn, der aber schrieb, was Bauern zu lesen not tat.

Der Bauer las »Wieviel Erde braucht der Mensch?« Da läuft einer im weitesten Bogen um das Land, das er besitzen will. Die Regierung hat ihnen Land versprochen, soviel ihre Füße an einem Tag nehmen können im Lauf. Seine Gier läßt den Mann kein Maß finden, er läuft, sein Antlitz rötet sich feurig, es erblaßt schneeweiß, er läuft. Mit keuchender Lunge, dem Herzen, das stocken will, läuft er, bis er umfällt. Ist tot, wird auf der Stelle begraben. Sechs Fuß war er lang. Sechs Fuß Erde braucht der Mensch.

Das ist der Ursprung.

Ein Gleichnis von einer Schlagkraft, einer Unerbittlichkeit, wie Jesus Christus es erfunden hätte, über die Vergeblichkeit des Besitzes und das Menschenleben, das nicht seinetwegen dahingehen soll. Dergleichen mehr, gesetzt, ein Volk wäre begabt und lauschte darauf, ergibt zuletzt die Revolution. Sie war vor ihrem Ausbruch zugegen.

Das ist der Ursprung. Westliche Intellektuelle, die seiner gewahr werden, verneigen sich. Sie hatten manchmal die Revolution sogleich begrüßt, unbesehen und mit einiger Anmaßung, als geschehe sie ihretwegen. Indessen waren sie dem Ursprung fremd.

Andere, vielleicht die Bescheideneren, haben abgelehnt und nicht begriffen. Ich wüßte zu melden, was diese Schritt für Schritt überzeugt hat: es ist die tiefe, ursprüngliche Intellektualität der Revolution. Züge von ihr, die manche frühen, sogar parteimäßigen Anhänger enttäuscht haben bis zum Abfall – von der Partei, wenn nicht von der Revolution – die Moskauer Prozesse insbesondere, haben andere, zögernde Zuschauer erst vollends aufgeklärt, vermöge ihrer in aller Welt einzigen Intellektualität.

So weit wir sind, so weit wie der Dean of Canterbury, der Londoner Bankier, waren vor sechzig Jahren die Bauern in der Hütte beim Talglicht, wenn sie lauschten.


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