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Zwischen 1918 und 1925, als mich ein Roman beschäftigte, geschah dies und jenes. Aus Deutschland wurde eine Republik. Die erste Sorge der Republik war ein innerer Krieg; er endete mit dem Sieg der Inflation. Die Inflation war künstlich veranstaltet worden, ohne daß der kaiserliche Reichsbankpräsident Havenstein sie auch nur begriff; er starb am Schrecken.
Wirtschaftliche Vorgänge werden, die beamteten Vollzieher ganz beiseite, meistens nicht einmal von den wirklichen Urhebern begriffen: sie sprechen sich von der Verantwortung frei und tragen in Geduld, daß die gegebene Konjunktur sie reicher macht als je geahnt. Man sagt wohl, die deutsche Inflation, 1916 leise begonnen, Ende 1923 abgebrochen wie durch Zauber, als die Mark gleich einer Billion in Papier war, dieses Märchen von einer Inflation sei absichtsvoll erfunden worden, um die inneren Schulden loszuwerden. Wer hat die Inflation erfunden, wenn der Reichsbankpräsident sie für ein Märchen hielt, obwohl es ihm ans Leben ging?
1916 in einem Berliner Haus, das einer großen Privatbank verwandt war, äußerte ich in aller Unschuld, daß wahrscheinlich jetzt Noten gedruckt würden ohne vorhandene Golddeckung. Jemand antwortete mir, kein deutscher Minister würde sich hierfür bereit finden. Der Sprecher, sein Ton war überzeugt, er war innig, versah nachher selbst das Amt eines Reichsfinanzministers und druckte Markscheine, so deutlich wie nur möglich stand »Eine Billion« darauf.
War dieser Fachmann gutgläubig gewesen, warum sollte der eilfertig angeschwollene Inflationskaufmann Stinnes sich für etwas anderes gehalten haben als redlich. Ja, einer Forderung der Stunde kam er nach, wenn er ohne Geld zusammenkaufte, was für eine Wucht bedruckten Papiers zu haben war. Auch er hat nichts vorausgesehen und bewies es, als er zusammen mit der Inflation noch schneller ab- als anschwoll. Bescheiden nannte er sich »Kaufmann«, ließ drucken, daß seine Mahlzeit aus einem Ei bestehe, und die Frage, wofür er so furchtbar verdiene, beantwortete er schlicht: »Für meine Kinder.«
Denn die Truste und ihre Inhaber haben Nachkommen und rechnen auf Dauer – überzeugter als die Nazis im ersten Siegesrausch ihre tausendjährige Herrschaft eskomptierten. Das Erstaunliche ist, daß eine Schicht von reichen Leuten, die vor fünfzig Jahren noch nicht da waren, jeden Zweifel an ihrer Unverbrüchlichkeit als suspekt behandeln, ihn infamieren lassen. An dem Feudalismus, der wirklich tausend Jahre hatte, durfte gezweifelt werden. An der Kirche sogar. Die Menschheit hat einige alte Mächte überlebt: der Zerfall der Truste wäre angeblich ihr Ende. Der Untergang der Gesittung ist dagegen belanglos.
Der Typ des unangemessen Bereicherten verrät sich auf eine durchschlagende Art. Er läßt einen Leibesschaden, der heilbar gewesen wäre, nicht rechtzeitig operieren und stirbt daran. Der erste Reichspräsident Ebert hat, wie der größte Geschäftemacher vom Anfang der Republik, die verräterische Unterlassung begangen. Sie haben an ihr Geschäft so wenig wie an ihren Körper geglaubt, ihr Körper selbst glaubte an sie nicht, die Stunde, die er lebte, war ihm verdächtig.
Um einiges besser als diese beiden Produkte der Gelegenheit sollten die Hüttenbesitzer vom Rhein Bescheid gewußt haben. Sie waren, außer ein paar preußischen Adeligen, die aber bei weitem nicht dieselbe Entschlossenheit aufbrachten, die ältesten Reichen im Lande. Der Ahne des Kohlenmagnaten vor höchstens achtzig Jahren führte noch eigenhändig seinen Kahn mit Kohlen; die Enkel, geschäftlich untereinander verfilzt wie sie waren, und mit allen Fingern im Weltgeschäft, könnten schließlich einen Weitblick erworben haben wie sonst niemand.
Indessen erinnere ich mich einiger Gespräche mit einer Dame aus der schönsten Mitte der Industrie: eines im Krieg, den sie mißbilligte, als ob er nicht die Sache ihrer Klasse gewesen wäre; eines nach der Niederlage, als das Rheinland, von fremden Truppen besetzt, das Deutsche Reich verlassen zu wollen schien; wohlverstanden war sie dagegen. Beim dritten und letzten Mal redete die Rheinländerin mir ins Gewissen wegen meines Romans »Der Kopf«, worin ihre Verwandtschaft, die Industrie, den Krieg verschuldet. Ihr war es unbekannt, oder sie hatte es vergessen.
Sie war vom abgeschwächten Typ einer Fredegonda, der mittelalterlichen Königin ihrer Heimat, wo es schon damals gewalttätig zuging; ihr männlicher Anhang bestand aus Enaksöhnen mit blonden Vollbärten, und die ganze Familie trug in den großen, kalten Gesichtern das unbedeutende Näschen, das üblich am Rhein ist. Mit ihren ausdruckslosen Nixenaugen – Fredegonda und die Loreley haben nichts auszudrücken – und auch mit der breiten niederdeutschen Stimme wollte sie mich überreden, daß »die Industrie« nicht nur unschuldig, daß sie auch völlig uneinträglich sei.
Während sie sprach, 1925, waren ihre Leute im Zuge, Hitler zu finanzieren. Früher hatten sie die Alldeutschen finanziert, und hauptsächlich die hartnäckigen Forderungen der Industriellen nach eroberten Gebieten hatten den Kaiser und seine Strategen bis in die vollendete Niederlage getrieben. Der Republik haben sie alsdann, wie wenn es eine Wette gälte, sieben Millionen Arbeitslose aufgehalst – hätten aber dieselbe Zahl beschäftigen können für das Geld, das ihr Hitler sie kostete. 1944 verschlingen sie auch ihn. Wenn er fertig ist, hoffen sie zu bleiben und weiterzublühen.
Aber sie kennen sich nicht; man lasse ihre Frauen reden, da kommt es heraus. Sie glauben die Opfer zu sein; sie handeln in verzweifelter Selbstverteidigung, wenn sie schon den dritten deutschen Staat tothetzen. Die Angst für ihren unerträglich großen Besitz treibt sie, ihn zu vergrößern um alles, was Europa besitzt. Die Nationen mitsamt ihrer Geschichte müssen ausgetilgt werden, sonst käme der Bolschewismus. Die Menschen des einstmals stolzen Erdteils müssen eine gedemütigte Masse von Zwangsarbeitern werden, weil sonst der Bolschewismus käme.
Selbstsichere Weltbeherrscher sehen anders aus als Milliardäre eines verelendeten Deutschlands und der Führer, den sie ihm zugemutet haben. Die Gesellschaft schlottert. Meine Industriedame 1925 hatte auch nur die eine Sorge, und das Gespräch fand eben darum statt: Kommt der Bolschewismus? Er war einigermaßen entfernt, aber dessen wollte sie versichert werden von dem Eingeweihten, für den sie mich hielt. Sie wußte nicht, und nie haben die Ihren gewußt, was sie taten, für wen, wozu, ob notwendig, zweckmäßig und mit welchen Folgen. Diese Reichsten leben von der Hand in den Mund.
Das Wissen jenseits von Interesse und Furcht, das überlegene Wissen ist das Seltenste; mit Vorbehalt glaube ich ihm einmal begegnet zu sein. Es war Anfang 1917, ein Abend bei dem Bankdirektor Witting, Bruder Maximilian Hardens. Unter den Eingeladenen befand sich Fürst Lichnowsky, Vorkriegsbotschafter in London, beim Kaiser in Ungnade, weil er ihn gewarnt hatte. Als der Hausherr diesen Gast in ein ruhiges Zimmer führte, schien es, daß ich der Unterredung beiwohnen sollte. Jedenfalls habe ich sie nicht gestört; das Angehörte war ein ergriffenes Schweigen wert.
Lichnowsky hatte wohl das Bedürfnis zu sprechen, wo konnte er es noch, wenn nicht im Hause eines jüdischen Finanzmannes. Wo die Wahrheit gehört wird, ist das Haus vornehm. Mit einer Ruhe, von der viel auf den Tonfall kam, langsam und näselnd, in der Aussprache österreichischer Aristokraten, sagte er viele, mehr oder weniger verhängnisvolle Wahrheiten: fehlte nur die letzte. Da fragte sein Partner:
»Erinnern Sie sich, Durchlaucht, daß wir vor einem Jahr um die gleiche Frühlingszeit hier am Kanal spazierengingen? Sie sagten damals: Wenn wir Elsaß-Lothringen anböten und der Kaiser abdankte, könnten wir uns leidlich aus der Sache ziehen. Ist das Ihre Meinung noch jetzt?«
Lichnowsky, nach einigem Zögern, während dessen Kopf und Augen völlig still hielten: »Nein.«
Kein Blick nach mir. Vielleicht war es ihm gleich, was ich hörte, ich hatte eher den Eindruck, daß er für mich sein Nein sprach. Nun, das geschieht wohl, wenn eine Wahrheit derart ist, daß es uns selbst davon kalt überläuft, dann war sie uns bestimmt. Der Krieg von damals stand 1916, auch noch anfangs 1917, günstiger als der Krieg Hitlers zur Zeit seines erfolgreichsten Unfugs jemals stehen konnte. Der tote Tragiker, den ich darum noch nach 27 Jahren vor mir sehe, sprach nicht wie einer, der recht behalten will. Er bekannte, still und nicht von Demut, sein Wissen.
Ah! Das möchte nachträglich mancher gehabt haben, etwas von Ergebung in das Unabänderliche, das er wenigstens erkannt hätte. Auf der Ludwigstraße in München hielt ein kleiner Herr mit weißem Schnurrbärtchen mich an, er hieß von Schön, auch er war Botschafter des Kaisers gewesen. Der große Augenblick seines Lebens war, der französischen Republik Krieg zu erklären. Nun der Krieg verlorengegangen, fühlte er ein Bedürfnis, wahrscheinlich ein häufig wiederkehrendes, sein Gewissen zu erleichtern.
Die amtliche Lesart wurde unter der Republik, daß Deutschland an der Katastrophe die geringste Schuld, wenn überhaupt eine, trage. Wenigstens Herr von Schön gab zu, was er getan hatte. Er schämte sich, er war entrüstet, weil man ihn mißbraucht hatte. Er mußte im August 1914 auf das Pariser Außenministerium gehen und die Übergabe der Festungen an Deutschland verlangen, sonst – aus. Möglich, daß die Namen Toul und Verdun nicht ohne Stocken über seine Lippen gekommen sind. Von da bis zu der ehrenvollen Haltung eines Lichnowsky ist ein ganzes Stück Menschentum.
Seine Festungsszene ist vor allem grotesk gewesen, denkt man an das damalige Frankreich: die Macht mit ihrem Kolonialreich, ihrer britischen Entente, ihrem russischen Bündnis; die Republik, von sich überzeugt, hat ihr Heer gegen Deutschland vierzig Jahre lang geschult; das Land besitzt einen Clémenceau – und den kennt man seit der Dreyfus-Affäre, allein ist er stärker als die gesamte Herrenkaste des armen Wilhelm. Aber am Quai d'Orsay, bei dem Lande, der Republik, der Macht, erscheint ein mäßig ansehnlicher Herr und stellt sie vor die Wahl, sich im voraus zu ergeben oder – alles aus.
Die deutschen Welteroberungen geraten mal so, mal anders; zugrunde liegt unwandelbar eine lächerliche Verkennung von Mensch und Ding. Die heutigen Quäler eines überrannten und verratenen Frankreichs machen sich verhaßt, aber lächerlich, und haben sich lächerlich gemacht, als sie der überfallenen Sowjetunion noch sechs Wochen Leben gaben. Die erste deutsche Republik ist von dem Gesetz der schlechten Scherze nicht abgewichen; was ihr je mißlang, setzte sie auf Rechnung des Vertrages von Versailles, ein milder Vertrag, und erfüllt wurde er ohnedies nicht.
1931 war es, daß ein Rechtsanwalt oder Syndikus namens Curtius, ein Auch-Reichskanzler, dem auch-militärischen Verein der Stahlhelmer in Breslau eine Hetzrede gegen »Versailles« hielt. Er machte im deutschen Außenamt den Nachfolger Stresemanns. Was immer an Stresemann zweifelhaft befunden wurde, er allein hat in Paris, von einer Menge, die echt war, den Zuruf »Hoch Deutschland« vernommen. Fraglich, ob heute, in dem Paris der Gestapo, auch nur die offenen Verräter diesen Ruf wagen.
Am 3. Juni 1931 sah ich Briand. Er hatte, als letzter, dem armen Europa für eine nicht verdiente Ruhe gebürgt. Er hatte Stresemann als Partner gewonnen. Sie hielten gemeinsam aus. Niederlage und Tod des einen verurteilte den anderen. Der eine war abgetreten. Das Palais an der Seine schien verödet, als ich es betrat, die Treppe noch majestätischer durch ihre Leere; im Hintergrund von Sälen, die niemals so weitläufig gewesen waren, drückten einzelne Bewerber sich umher und vergaßen, um was sie warben. Der Amtsdiener öffnete mir ein Zimmer; in aller historischen Pracht sah es nach Aufbruch aus – obwohl von dem abgeräumten Schreibtisch die rührendste Gestalt des Zeitalters aufstand.
Er hatte gesagt: »Solange ich da bin, wird kein Krieg sein« – und war nun selbst nur da als ein Schatten. Sogleich beklagte er die Breslauer Rede, in ihr und in der gleichzeitig versuchten Zollunion mit Österreich sah er durchaus die gewissenlose Herausforderung und Vorübung für das Schlimmste. Es war der Wiederbeginn der Feindseligkeiten. Noch kamen sie von einem abgerüsteten oder vorgeblich abgerüsteten Deutschland, aber wie lange bleibt ein Land, was es nicht sein will. Die Meinung ist, das Durchdringen eines Hitler sei von niemand ernstlich in Betracht gezogen worden, besonders ein massigster Antrieb nicht, die deutschen Minderwertigkeitsgefühle. Ich weiß nicht. Briand sprach.
Die ruhige Stimme, die ich hörte, wurde ein einziges Mal dringlicher: »Das – darf doch nicht noch einmal kommen!« – »Das« – war der Krieg und er sah ihn wiederkehren.
Dieser Mann, Minister eines siegreichen Landes, hatte den vergeblichen, sehr merkwürdigen Versuch gemacht, den Unterlegenen aufzurichten, ihn zu überzeugen, auch sein Land könne beides haben, den Frieden und dennoch seine alte Würde. Aber wann hatte es die abgelegt – nicht erst, als es geschlagen war und alles leugnete. Um zuversichtlich vorzugehen auf einem Feld, das hohl ist und nachgibt, der deutschen Geschichte, muß einer sie niemals untersucht haben: Briand wäre erschrocken, bevor er sein Experiment der Milde begann.
Jetzt endlich war er erschrocken, ohne sich darum widerlegt zu fühlen. Er hielt sein Werk für unentbehrlich, noch in den Worten, die es aufgaben. »Solche deutschen Fehler erschweren mir jede Hilfe. Ich müßte von euch zuerst ein Versprechen haben –.« Nicht die Violenstimme, von der man oft geschwärmt hatte. Sein Ton war hart und klar, vom Timbre des Clairon.
Sieben Jahre vorher, 1924, hatte Masaryk, Präsidentbefreier der Tschechoslowakei, zu mir sprechen wollen. Beim Abschied von Briand werde ich nicht anders gekonnt haben, als die beiden Besuche zu vergleichen. Heute sehe ich sie nahe aneinander gerückt, wechselnde Stunden desselben Tages, die eine schmerzlich, die andere streng, aber Absicht und Bedeutung waren gleich.
Kurz gesagt hat Masaryk an den guten Stern Europas – eine vernünftige Haltung Deutschlands – noch weniger geglaubt als Briand nach seiner Belehrung. Perioden der Träume und der Ernüchterungen mußte er nicht durchlaufen. Er war nüchtern, bei seinem Mittagessen stand vor jedem Gedeck ein Glas Wasser. Er wollte klar sein, nachher an seinem Kamin mit mir allein trank er viel Kaffee. Sein zuträglichstes Getränk erhielt ihn arbeitsam, wie den alten Voltaire, milde hat es weder den noch jenen gemacht.
An dem Kamin in Schloß Lana bei Prag hörte ich sowohl Wahrheiten als auch Warnungen. Aber ob ich sie hier empfing oder nicht, ich hatte sie selbst schon erteilt – nicht nur wie ein Staatspräsident. Ein Schriftsteller kann sich mehr, viel mehr herausnehmen; die einzige Waffe, die, bis zu der Wiedereinführung der Folter, gegen ihn gebräuchlich war, das Schweigen, war nicht immer wirksam, wie ich wußte. Hätte Thomas Garrick Masaryk, streng und stattlich, von ungemessener Geltung, wie er dastand, seine Ansichten der europäischen Gegebenheiten und ihres schwersten Falles, Deutschlands, öffentlich verlautbart, er würde zu fühlen bekommen haben, daß er störte.
Der Versuch mit der Milde war schön, aber zweckwidrig, die Schule Briand hat den schweren Fall vollends verdorben. Prag sah in seiner Mitte das Beispiel, einen deutschen Gesandten, der in Kreisen, wo es hingenommen wurde, alles zum besten gab, die Lügen, von denen Deutschland überzeugt sein wollte, die Nichtschuld am Krieg und Unbesiegtheit im Felde, den Dolchstoß von hinten und die Schmach von Versailles, den Landraub an Deutschland. Seine Erdrückung durch Habgier und Gewalt – der anderen; eigenes Unrecht hatte nie stattgefunden.
Der Gesandte nannte sich Sozialist: Faschist konnte er sich noch nicht nennen, und später wird seine »Rasse« ihn verhindert haben. Aber so waren sie, durch Anpassung oder Natur, und ließen Berichtigungen nicht zu; nach der ersten, die ich gegen dieses Exemplar versuchte, gab ich es auf: ich hatte nur befremdet. Das amtliche Deutschland der frühen Republik war ein Konventikel von Gesundbetern, sie gaben sich ihren Gebräuchen hin, damals noch hinter Vorhängen, aber die Drohung, in der sie sich übten, drang schon heraus.
Masaryk, dem gerade dieser Gesandte ein umgängliches Gesicht gezeigt haben wird, kannte ihn. Was er mir hauptsächlich zu sagen hatte: Selbsttäuschungen zu unterstützen ist strafbar. Wer seine Schuld am Unglück einfach ableugnen darf, kommt in Versuchung, sich noch viel schuldiger zu machen. Milde gegen ein Deutschland, das winselt, bis es droht, macht die Nachsichtigen zu Mitschuldigen. Sie verlieren selbst die Fähigkeit zu unterscheiden, ob recht und ob verderblich. Sie, die gesiegt haben, lassen sich auf dem Wege der Überredung zu Opfern machen. Sie schmeicheln, anstatt zu erziehen. Was immer ausbleibt, ist der einzige Befehl an Deutschland, der wohltätig wäre: Erziehe dich endlich selbst!
Deutschland müsse leider lernen, sagte mir dieser Intellektuelle. Nur ein Intellektueller an der Macht geht von moralischen Forderungen aus: sie sind härter als wirtschaftliche und politische. Er sagte, das deutsche Schicksal sei selbstgeschaffen und allein durch bessere Einsicht zu wandeln. Er behauptete, daß keine deutsche Regierung die Folgen der Niederlage wirklich anerkannt habe. Ich hielt ihm einen zahlungswilligen Reichskanzler entgegen, den einzigen, und der Widerstand der Interessenten hatte seine Absichten vereitelt.
Darauf Masaryk: »Die Schuld, den Widerstand nicht gleich gebrochen zu haben, ist bei den Sozialdemokraten und ihren ersten Ministern. Unseren eigenen Sozialdemokraten habe ich gesagt: ›Ihr glaubt nicht mehr an Marx, ihr glaubt nur noch an Benzin – das Benzin eurer Automobile‹.« Wobei er Vergnügen ohne Milde zeigte. Wenn seine strengen, schwarzen Augen lächelten, war er belustigt von der Komik des Schlechten, wie ein Karikaturist. Auch der »Candide«, ein bitterer Roman, bestreitet aus denselben Mitteln seine Komik.
Er begleitete mich nach der Treppe, sein Wagen fuhr mich zurück, derselbe Wagen, der auf meinem Herweg, als heller Tag war, die Huldigungen der Leute empfangen hatte. Sie liefen herbei, die Hände ausgestreckt, die Münder schon offen, und waren enttäuscht, als sie nicht ihren Freund sahen. Kein Zweifel, die Herzen liebten ihn, indessen seines nur für die Wahrheit schlug. Briand mit seiner Cellostimme, seinem Traum von Güte, hat keine Liebe eines Volkes empfangen wie dieser harte Intellektuelle. Voltaire, ja: auf der Reise, an der er starb.
Der Staat, den Masaryk gründete, ist zertrümmert; er und nur er wird damit immer gerechnet haben. Als Briand die Arbeit seines Lebens verfallen sah, hat er schwerlich begriffen, welch ein Zusammenbruch sein Land und selbst die Nation erwartete. Lichnowsky hatte gewußt, der andere Botschafter fühlte sich nachträglich mißbraucht, ein Finanzminister wurde Mittäter an Verbrechen, die er nicht hatte glauben wollen, und nur die industrielle Rheintochter suchte das Gespräch mit mir aus bloßer Angst, obwohl entschlossen, nichts zu lernen.
Ein Schriftsteller bringt etwas fertig, er vollzieht notwendige Abschlüsse und zeigt den Weg zu ihnen. Am Ende des Romans sind die Figuren vollendet im Guten und Bösen, gleichwie die wirklichen Menschen, nachdem sie gelebt haben. Sie fangen nicht wieder von vorn an. Wenn sie es könnten, wäre immerhin mancher von der Erfahrung belehrt. Gesetzt, seine Natur sei unveränderlich, wird er doch nicht ganz dieselbe Zwangshandlung zweimal begehen.
Anders eine Nation. Das halbe Jahrhundert, das ich mitmachte, hat die deutsche Nation, entgegen den deutlichen Warnungen der Wirklichkeit, nur tiefer in ihre Täuschungen verstrickt. Nicht ganz zwei Generationen, und schon zwei Kriege, beide von Anfang an verloren, der zweite noch sicherer als der erste. Eine Verschärfung: nicht der vorige, erst dieser zweite Krieg war von einem nennenswerten Teil der Nation längst vorher beschlossen. Gefühl und Denkungsweise, wenn nicht die offene Absicht, zielten auf ihn hin seit den ersten Tagen der Zwischenzeit. Nein, der einzelne Mensch, im Leben und Roman, ist dieser äußersten Fehler unfähig. Raskolnikow tötet die Wucherin nicht zweimal. Seine Zuschauer, allen voran er selbst, fänden es zwecklos und unwahrscheinlich.
Die Deutschen, ihr erfolgreicher Teil, haben »sich nichts dabei gedacht« – was sie ihre Weltanschauung nennen. Die anderen drehten versehentlich dem Erfolg den Rücken; ihre Sinnesart war auch nicht besser beraten. Sie waren Sozialisten; als sie mitregierten, selten allein, aber an der Macht beteiligt – haben einige Privatleute die Wirtschaft verschlungen. Sie waren Pazifisten – mit genau der Auffassung von Europa und Deutschland, wie entschlossene Militaristen sie haben. Beide Gruppen, friedliche und kriegerische Deutsche, haben stramm aufrechterhalten, daß Deutschland, schuldlos an jedem Krieg, ohnedies keinen verliert. Ging einer doch verloren, dann nicht mit rechten Dingen. Es war ein Trick gewesen und galt nicht.
Dies empfindet ein Schriftsteller als seine größte Unmöglichkeit: Tatsachen nicht anerkennen, Ergebnisse fälschen. Sein Roman wäre von Grund auf schlecht, mit einer Millionenauflage bliebe er schlecht. Eine Nation scheint anders zu fühlen, oder wenigstens diese. Dieselbe verfehlte Handlung zweimal, wir sehen wohl, daß es geht, es fiele aber von selbst fort, wenn man inzwischen gelernt, sein nationales Dasein besser motiviert hätte. Gar nichts lernen ist das Unverzeihliche.
Jede noch so sehr kompromittierte Vergangenheit läßt sich leidlich tragen, wenn nachher bemerkt wird, daß eine Katastrophe sein mußte, damit ein Übergang käme. Entscheidend ist der Übergang – nach neuen besseren Zuständen der Menschen und Dinge. Ein Zeitalter bräche an, während jetzt ein abgenutztes, endlich nur noch bösartig, nur verwahrloste Technik des Bösen, von nichts zu nichts rennt. Bei der »Vernichtung« der Welt als einem eingestandenen Ideal angelangt zu sein! Das und nichts anderes ist in diesem Augenblick deutsch, was muß da ausgerutscht, wie viel versäumt sein!
Versäumt hat die Republik. Beim Zeitalter der zwei Kriege gedenke ich ihrer, die keinen geführt hat.
Der Übergang, das ist es. Jedes vorige Geschlecht hatte für seine Unzulänglichkeiten doch immer die Entschuldigung, es »lebe in einer Übergangszeit«. Wer kann das behaupten seit der deutschen Republik und ihrer Todsünde, der Trägheit? Mehrere andere Länder sind auch zu nichts übergegangen, nur daß sie es in Deutschland am nötigsten gehabt hatten. Die Folgen ihrer Trägheit sind die schrecklichsten. Wieder im Krieg, bleiben sie 1943 bemüht, Europa deutsch zu machen und es auszubeuten, wie 1913. Sie folgen unverwandt ihrem falschen Interesse. Sie bestätigen dieselben hohlen Meinungen über Geschichte, Nationen, Bestimmung der Menschen wie 1913. Die »Alldeutschen« hatten damals schon lange Jahre auch keine andere Doktrin durchzusetzen versucht. Es ging schwerer bei dem Kaiser und seinen Leuten, obwohl es schließlich gelang. Die Republik war sogleich einverstanden. Die Rachegefühle nach der Niederlage im vorigen Krieg machten sie willfährig.
Die Republik hat sich selbst den Frieden, sogar die Friedfertigkeit hat sie sich einigermaßen vorbehalten. Abweichungen waren die tägliche Übung. Heimlich wurde wieder aufgerüstet, offen baute man Panzerkreuzer. Die Hetzrede eines Ministers, unfaßlich dem redlichen Briand, schallte laut dahin. Leis und trügerisch wurde die Annektion Österreichs, vermittels Zollunion, vorgeprobt. Sie fiel durch und blieb um nichts weniger auf dem Programm. Die Republik war nur selbst nicht gewillt, es gegen Europa in Szene zu setzen. Gewalt war ihrer Verfassung ungemäß, mehr der äußerlich bedingten, als einem inneren Gesetz.
Aber »Versalch«, die »Tribute« und der übrige Schwefel hat keinen Hitler wütender aufgebracht als die meisten Insassen der Republik, darunter ihre Machthaber, je ohnmächtiger sie waren. Gift und Galle, die sie spien, könnten sogar echter gewesen sein als seine. Er wollte an die Macht, etwas verhältnismäßig einfaches. Sie aber mußten erklären, warum sie ihre Macht nicht gebraucht hatten. Weil sie nie vom Fleck kamen und nichts wagten, aber das sagt man nicht. »Entwicklung«, einst ein Leitwort der deutschen Wissenschaft, war den Politikern der Republik grundsätzlich fremd; sie haben keinen Übergang betreten, falls die Nation es ihnen erlaubt hätte.
Die Nation hätte gewisse Neuheiten gern zugelassen, ja die wenigen, die dafür bezahlt hätten, bereiteten sich vor. Als plakatiert wurde – 1919 –, daß die Sozialisierung »marschiere«, nahmen die preußischen Großgrundbesitzer es ernst, sie boten den »Volksbeauftragten« ein Drittel ihres Besitzes an. Die Volksbeauftragten, eigens so benannt, damit sie nicht mit gewöhnlichen bürgerlichen Ministern verwechselt würden, lehnten die Zumutung ab; sie fürchteten, sich einen unvergänglich schlechten Ruf zu machen bei der bürgerlichen Welt.
Sie wußten wohl selbst nicht, daß Bauern ansiedeln auf übergroßen, schlecht bewirtschafteten Gütern noch niemals sozialistisch war. Allerdings war es die Übung und das Beispiel der Französischen Revolution – nachgerade ehrwürdig, die bürgerliche Welt, auch die deutsche, hätte es am Ende verziehen.
Da nun im inneren Lande nichts, gar nichts geschah, sahen die Deutschen keinen Grund, ihre fremden Beziehungen anders zu behandeln als vorher. Wozu mit Frankreich besser stehen?
Dieser Versuch des – es sei wie immer – einzigen Gustav Stresemann liegt etwa sieben Jahre später als das erfolglose Angebot der Großgrundbesitzer. Es ist wohl eine Überraschung, daß alle Vorgänge eines Zeitalters, auch die beiden, zusammenhängen.
Nach sieben Jahren untätiger Republik, einer unveränderten Machtverteilung, einer unterbliebenen politischen Erziehung duldet die Nation nur mit Unlust einen Minister, der die französische Freundschaft – nicht einmal aufsuchte, sie nur mit Anstand entgegennahm. Ob Stresemann immer ehrlich war oder nicht, die internationale Ordnung schien ihm reif, nach der Seite des Anstandes hin untersucht zu werden. Kein Zufall, daß er Frankreich wählte. Er hatte gelesen – Goethe – und war nicht derselbe geblieben.
Wer weder liest noch lernt, ist bestimmt, auf dem Punkt zu scheitern, wie die vor ihm. Den nächsten Krieg allerdings hat die Republik ihrem Nachfolger überlassen. Der Irrtum wird noch lange vorwiegen, in Deutschland, aber auch bei anderen Zeitgenossen, daß Hitler, ein durchaus fremdartiger Gegenspieler der Republik, mit ihr nichts anderes zu tun gehabt habe als einzig und allein ihren Sturz. Ach, wenn es so wäre!
Er hat, mitten im schönsten Bestand der deutschen Republik, über ihrem Gebiet 30 000 Kilometer Luftreisen zurückgelegt. Er, der Ausländer, durfte niedergehen, wo er wollte, sooft es ihm beliebte, an demselben Tage zweimal, Ost und West sahen ihn gleichzeitig. Der Allgegenwärtige ist von jedem Deutschen gehört worden, Tausende seiner Reden über die Schmach und Schande von Versailles, den schimpflichen Ursprung der Republik, für den sie selbst sich verachtete. Mehr war es nicht, die Deutschen erfuhren, was sie schon wußten; sonst hätten sie ihn auch nicht angehört. Es war seine glücklichste Zeit.
Nur unter der Republik besonnte ihn der uneingeschränkte Beifall von Massen, die noch nicht auf ihn verpflichtet waren und die, wie er, die republikanische Freiheit genossen. Niemals wieder haben er und sie sich ausgelebt wie damals. Seine Laufbahn beginnt mit Lärm, den niemand übel nahm. Als er nachher handeln muß, nicht mehr unverbindlich, vielmehr als Führer der Nation, angefangen beim Reichstagsbrand, da vermeidet er die persönliche Verantwortung seiner Greuel. In seinem Krieg beruft er sich auf eine »Vorsehung«, die in seiner Weltanschauung nicht vorkommen dürfte. Seit seinem Verfall wird er still und stiller.
Die Republik verbot ihm gelegentlich die Uniformen seiner Privatarmee; am Reden, dem Sport, den er für sein Wohlsein brauchte, hat sie ihn niemals ernstlich gehindert. Sie wollte den Fremden in Deutschland nicht einbürgern, überzeugte sich aber von der Unwichtigkeit der Prozedur und ließ sie geschehen wie den Rest. Man könnte meinen, sie fürchtete die unwiderstehlich anschwellende Partei. Indessen, die Partei eines Zugereisten, die national, eines Arbeiterfeindes, die sozialistisch hieß, schwoll an und ab, die Mehrheit der Stimmen hat sie nie gehabt, und bekam zuletzt von ihren Geldgebern nicht mehr die Mittel, um die Macht zu erobern. Die Macht mußte ihr von selbst zufallen. Es traf sich, daß ein Reichspräsident verriet. Es traf sich noch besser, daß die Republik von Anfang an verraten war, nicht erst an Hitler.
Hätte aber kein Papen, Hindenburg oder Severing ihn geschoben oder durchgelassen, er selbst war niemals der Mann, der sich aufdrängt. Er hatte gelernt, daß Gewalt nichts abkürzt, es sei denn, der Gegner wäre wehrlos oder er willigte selbst ein.
Sein früher Fehlschlag mit einem ganz albernen Putsch hatte ihm diese Erfahrung für lange mitgegeben. Das erste Mal, daß er von ihr abwich, spät genug, kam er gleich an den Unrechten, die Sowjetunion. 1932 wurde sein Anspruch, »wie Mussolini« zu regieren, noch einmal abgelehnt. Der Kandidat beruhigte sich dabei, er sprach: »Zehn Jahre warte ich schon, werd' ich halt noch zehn Jahre warten.«
Das sollte genügen, ihn zu kennzeichnen. Luftreisen, Reden, Krawall, auch Morde wären mit seiner innersten Zustimmung weitergegangen; sie verlangten von ihm den billigsten Einsatz und zahlten mit persönlichen Erfolgen. Sein Bedürfnis ist natürlich, selbst applaudiert zu werden. Welteroberungen, auch verkrachte, bringen notwendig zweite Besetzungen nach vorn, Leute, die an Stelle der Hauptattraktion »seine Soldaten« in Sieg und Untergang führen. Er bemüht sich, die Mißerfolge jedesmal den Unterführern aufzuhalsen und nur die Siege für sich zu behalten. Wenig wahrscheinlich, daß es ihn befriedigt.
Dazu die ewige Angst. Sicherheit verbürgte ihm allein die Republik. Alles in allem gehörte er ihr doch an, sie hätte ihn erfinden können, hat ihn im Grunde erfunden. Sie und er hätten einander behalten sollen. Eines Tages wäre er ausgedient gewesen, nicht mehr Mode, und sie hätte ihn pensioniert. Leicht denkt man sich den harmlos gealterten Hitler in einem Zimmer mit bronzierten Sesseln und Lorbeerkränzen. Es hat nicht sein sollen. Jetzt macht eine ganze Welt auf ihn Jagd, nicht ausgenommen seine Nächsten. Das ist traurig. Es ist nicht das Ende, auf das »sein Kampf« gegen die Republik ihm ein Anrecht gab.
Was tat er ihr, bei ihren Lebzeiten? Er hat tagein, tagaus, ganz wie sie, sein Mütchen an Versailles gekühlt. Im Geist seiner Rolle gab er die Schuld ihr selbst. Die Republik hatte sie längst übernommen. »Im Felde unbesiegt« nannte Reichspräsident Ebert die zurückgekehrten Truppen, die sich nicht mehr schlagen konnten oder wollten; daher denn ihre Reste unbesiegt waren und eingelassen wurden durch das Brandenburger Tor, einen Triumphbogen. Hitler, wenn er damals keine dunkle Existenz gewesen wäre, hätte es nicht besser besorgt als das Haupt der Republik.
Er sprach in einem fort von der Schande und Schmach – nicht des verbrecherischen Krieges, auch nicht der Niederlage, denn sie hatte nie stattgefunden. Schmachvoll und schändlich war die Republik, eine notgedrungene Folge des militärischen Zusammenbruchs, den alle leugneten. Noch heute, da sein Europa ihm womöglich mehr am Herzen liegen muß als sein Deutschland, versäumt er selten, die »vierzehn Jahre Schmach« der kleindeutschen Republik zu erwähnen. Sie sind die Erinnerung, an der er hängt. Damals befand er sich in glücklicher Übereinstimmung mit der üblichen »Weltanschauung« – üblich, weil noch kostenfrei. Er schrie das Wort »Dolchstoß« in die Menge, die selbsttätig ergänzte: »Von hinten«; denn ihre Meinung war auch ohne diesen Redner, sie selbst habe das siegreiche Heer in den Rücken gestochen. Jeder hält von sich das beste, so auch die Deutschen der Republik.
Ein Tribun ist an die maßvollen Töne der Staatsmänner nicht gebunden. Erst der Staatsmann Hitler behauptet, als seine Auszeichnung vor jedem Ranggleichen, die Sprache des Bierkellers. Nur mit Gebrüll und falschem Deutsch glaubt er an sich. Wer in der Republik der Besiegten die Macht andeutete, war nie von ihr überzeugt. Man arbeitete sich darauf ein, die Sieger ins Unrecht zu setzen, aber auf weinerliche Art. Nur aus gekränkter Unschuld gab man sich widerspenstig, bis allerdings Frankreich das Rheinland besetzte. Der deutsche Haß, der damals zuerst sein Gesicht entblößte, hätte warnen können. Er warnte niemand.
Der Redner im Bräuhaus und Zirkus verriet gleich das Ganze: Frankreich vernichten. Es schlagen, daß es nie wieder aufkommt. Es dauernd in deutsche Zucht nehmen, es klein machen, arm machen und es entvölkern, bis es nicht mehr zählt. Das alles ist unter der Republik gesprochen worden. Es wurde den Deutschen verheißen von dem wütendsten Redner der Republik, den sie als den ihren auch anerkannte, da sie ihn schäumen und schnappen ließ. Zähne besaß die Republik nicht, zeitlebens ist ihr von allem, was sie sich wünschte, nichts gewachsen. Dafür ihm.
Hitler, der Republik in mehreren Hinsichten peinlich, zuletzt ihre Geisel, ist dennoch ihre ausübende Gewalt geworden – endlich Gewalt! Er wurde nicht nur ihr Napoleon: auch ihr Robespierre; und beide Gestalten, der Unbestechliche wie der Kaiser, sind diesmal winzig und sind verwachsen, wie die deutsche Republik, von der sie den Auftrag hatten. Der Auftrag war heimlich, wie bei ihr anderes mehr; aber er war unverkennbar. Republik und Hitler – die eine sabotiert nach bestem Vermögen die »Tribute«, der andere will dem Eintreiber der »Tribute« ans Leben: Ich möchte wissen, wo jemals die Arbeit zweckmäßiger verteilt war. Gestört hat der Held der zahlungsunwilligen Republik mit seinem illoyalen Anspruch, als verweigerte er allein, den Vertrag zu erfüllen, als dürstete nur er nach Rache.
Er verhielt sich untreu und undankbar – später noch gegen ganz andere Partner, damals erst gegen die arme kleindeutsche Republik. Alle seine Anlässe schuldete er ihr. Für ihn als das meist gehörte Organ der Deutschen war niemand verantwortlich als nur sie. Trotz klaren Tatbestandes machte er in Antisemitismus! Gesetzt und zugegeben, daß er nicht anders konnte; seine Herkunft war nun einmal der »dumme Kerl von Wien«; das sitzt fest, von seiner »Weltanschauung« ist er bis heute das einzige echte Stück.
Indessen, nichts als nur das Bedürfnis nach einem billigen Gegner nötigte ihn, seine Judenfeindschaft gerade an dieser Republik auszulassen. Auch in republikanischer Verpackung hätte er sie bei den Deutschen angebracht. Die Republik hat sich selbst als stark verjudet empfunden – sie hatte ihre Antisemiten, wie denn anders! Bis auf weiteres kroch alles bei ihr unter, die Klassen und Menschenarten, mitgerechnet die Antisemiten sämtlicher Klassen, denn jede hatte die ihren. Nur einzelne Menschenarten waren ausgenommen. Aber man mußte einer Sondergattung angehören, um nicht willkürlich die Juden herauszugreifen, wenn man das Land gequält sah.
Das Land quälte sich nur selbst. Im Hintergrund arbeiteten die Gehirne an ihrem düsteren Traum von Weltherrschaft: höchst merkwürdig bei einer Nation, die sich selbst weder beherrscht noch auch nur regieren will. Die Republik wäre das Mittel gewesen – ein geschenktes Mittel, sie wollten es nicht. Anstatt jedes Versuches, ihr Schicksal zu begreifen, um es zu bestimmen, suchten sie lieber nach seinem boshaften Urheber. Die Lebensäußerungen des Universums wurden belauscht, ob sie »deutschfreundlich«, ob »deutschfeindlich« wären. Man dachte sich die Menschheit mit dieser einzigen Sorge, um so mehr die Juden.
Die Juden sind überall, gerade durch ihre Verstreutheit waren in der Einbildung mancher Deutschen die Juden, was sie selbst hätten sein wollen, allmächtig. Heute führt das Deutschland Hitlers eine grausige Groteske vor, wie man allgegenwärtig, allmächtig und gerade darum gar nichts mehr ist – nichtiger als alle, die man vernichtet. Ihnen bleibt wenigstens der Aufstand, die Deutschen allein lernen noch immer keine Empörung gegen ihr eigenes herrschsüchtiges Elend. Der Zeitpunkt schiene für sie gekommen, die Juden zu vergessen. Sie selbst haben alles, was sie als jüdisch je zusammenfabulierten, weit hinter ihrer eigenen Wirklichkeit gelassen.
Nein. Sie setzen ihren jüdischen Krieg fort wie je. Heimlich schlachten sie die ärmsten Juden in Polen ab. Ein Herrenvolk, dem diese Arbeit nicht zu schlecht ist, obwohl es ihre Anrüchigkeit kennt und sich ungern dabei erwischen läßt! Aus allen ihren besetzten Ländern schleppen sie lange Transporte von Juden »nach Osten«. Der »Osten« ist durch sie ein Begriff geworden wie früher ein »dunkler Erdteil«, wo Kannibalen vermutet wurden, von wo es keine Rückkehr gab. Eines Tages kommt doch alles an den Tag.
»Die Juden« der ganzen Welt, die Schnorrer, Milliardäre, Intellektuellen, Homosexuellen, Landarbeiter, Taxichauffeure, Flickschuster, Zeitungskönige und Radfahrer, alle miteinander bilden einen revolutionären Verein, seine Satzungen betreffen ein und denselben Vereinszweck: »Kein Deutschtum mehr! Kein Brauchtum, Heldentum, Herren-, Henker- und Heiltum, wenn es deutsch ist. Sondern jüdisch soll es sein, in direkter Konkurrenz.« Das will begriffen werden. Man begreift es nicht, das setzt eine mehr oder weniger zurechnungsfähige Welt in Nachteil gegen den überzeugten Verfolgungssüchtigen.
Er – weiß Bescheid. Ihm wird niemand etwas vormachen. Zu unbestimmter Zeit sind an nie ermitteltem Ort die Satzungen des Vereins niedergelegt worden, nunmehr werden sie ausgeführt Punkt für Punkt, wie es im Buch steht. Wie andererseits, was nunmehr die Deutschen ausführen, Punkt für Punkt in »Mein Kampf« stand. Da hat man es klar bewiesen: »Mein Kampf« entspricht den »Weisen von Zion« und zeugt für ihre Existenz, wenn es nötig wäre. Man sehe, der Erdkreis unterwirft sich anstandslos »den Juden«. Den Deutschen will er nicht gehorchen, obwohl an mehreren Tagen des Krieges die Deutschen die meisten Tanks und Sturmtruppen einsetzen konnten, zu schweigen von der Übermacht in den Lüften, die auch einstmals ihr war.
Sie haben gesiegt, es ist schon etwas lange her, in ihrer Weltanschauung bleibt es richtig. Recht hat der Stärkere. Wer aber nicht mehr schlechthin der Stärkere ist, hat um so mehr recht. Die Besiegten, die ihn los sein wollen, verraten ihn. Der historische, schon zu sehr historische Tag, an dem er die meisten Tanks einsetzen konnte, verpflichtet alle damals schlechter Versehenen – nicht zur widerwilligen Unterwerfung, nein, zur freudigen Mitarbeit, zur unverbrüchlichen Treue. Eine Nation, die sich von dem Eindringling befreien möchte, bricht ihm die Treue, wofür sie bestraft wird, nicht als Kriegführender, sondern als Verräter. Sie verrät das siegreiche Deutschtum an die Juden.
In der Weltanschauung des dummen Kerls von Europa, der sich austobt, zählt für nichts, was eine Nation durch Jahrhunderte geworden ist, welcher menschliche Gewinn ihr Dasein rechtfertigt: sondern den Ausschlag gibt ein Fußballmatch – oder Sturmangriff. Als ob der eine ernster zu nehmen wäre als der andere, einmal abgesehen von den höheren Kosten des Sturmangriffes. Als ob man sich bewährte, wenn man von der Sache abweicht – und der Krieg ist eine unsachliche Abweichung. Der Angreifer käme ohne den Krieg in die Verlegenheit, seine Einrichtungen und sich selbst zu revidieren. Das hielte er für eine Strafe. Er weiß sich vielmehr berufen, andere zu bestrafen.
Die Weltanschauung der Deutschen macht ihre Kriege, mehr oder weniger jeden, gewiß diesen letzten, zu Strafexpeditionen. Von den Überfallenen hatte keiner den europäischen Krieg für zulässig gehalten, weshalb sie es fühlen müssen, daß ihre Zeit, nicht die Zeit der Kriege, vorbei ist. »Die Juden« haben sie heruntergebracht, bis sie unfähig, Krieg zu führen, und allesamt »deutschfeindlich« geworden sind. Sie büßen zu dieser Frist für die Juden, und die Juden für sie: das zweite auffallender, weil die Opfer allein und wehrlos sind. Kriegführende kann man nicht alle im »Osten« verschwinden lassen. Wenn Britannien, Sowjetunion und Vereinigte Staaten nicht so mächtig wären!
Mächtig, aber jüdisch: das rechtfertigt, was immer man gegen sie vorhat und wie man es versucht. Wer wird denn eingestehen, daß er sie beneidet. Ihre Stellen besetzen wäre zu wenig für einen so alteingefressenen Neid: Vernichten drängt mehr als Besitzen, bestraft sollen sie werden, beerben versteht sich ohnedies. Den Vorwand aber liefern »die Juden«. Die Judenverfolgung dieser späten, zu späten Deutschen darf keineswegs wörtlich genommen werden, sie ist nicht eigentlich gemeint, so viele Galgen, Erschießungs- und Vergasungskommandos, Brandstätten mit den Resten lebender Menschen darin vorkommen. Das alles ist ein Gleichnis, plump konzipiert, wüst vorgeführt, aber ein Gleichnis, etwas – weh' ihnen! Etwas Geistiges.
Es drückt den deutschen Welthaß aus. Es ist Wirklichkeit geworden auf Grund einer uralten, jetzt akuten, virulenten und aggressiven Mißbilligung der gesamten Geschichte, der Kultur – des Christentums und Mittelmeeres. Daher dann auch die Erfolge, zu denen andere es mit dieser Geschichte, dieser Kultur, gebracht haben. Ihre eigenen Glücksfälle mußten die Deutschen, wie man sie nachgerade geformt hat, schlechtweg vergessen. Nürnberg – Albrecht Dürer ist dort niemals groß gewesen, den ganzen Ruhm der Stadt stahl eine den Musen unbekannte Partei, bis Explosivstoffe aus der Luft ihre Gebräuche störten. Goethe – ihn besonders gibt es nicht. Wären auf sein Haus in Frankfurt gleichfalls Bomben gefallen, die Deutschen Hitlers hätten kein Recht, es zu bemerken. Erstens gibt es für sie keinen Goethe. Überdies, allein in Rußland haben die siegreichen deutschen Heere mehr als nur eines von den Denkstätten der Schöpfer zerstört, und taten es nicht aus einer undeutlichen Höhe, sondern nach getroffener Wahl. Tolstoi und Tschaikowsky mußten brennen in den Häusern, die von ihnen zeugten.
Ebenso gut hätten sie das Goethehaus eigenhändig angezündet; denn Goethe war menschheitlich gewillt, daher eine Hauptnummer der Weltverjudung: zu seiner Zeit entschied er für Napoleon.