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Drittes Kapitel.
Großbritannien

Wirkungen der Battle of Britain

Einer Nation von klarem Selbstbewußtsein darf man ihre Größe nicht vorhalten, man träte ihr zu nahe. Ein Fremder, der, während dieser Zeiten oder vorher, einer Engländerin britische Eigenschaften rühmte, zog sich die Antwort zu: »Wir wissen es, aber wir wollen es nicht hören.« Wenn er ihr bestätigt hätte, sie selbst sei das Vornehmste auf Erden, sie würde es eingesteckt haben. Auf ihre Nation bezogen, ist die Gewißheit heilig und wird nicht genannt. Bekenntnisse verbietet die Selbstachtung.

Großbritannien hat nicht, wie Frankreich, letzthin Zweifel zugelassen an seiner Festigkeit und Würde. »Unselig« konnte es nie gescholten werden, so nahe ihm zeitweilig der Untergang schien. Nach Dunkerque hat dieses Land allein den Kampf nicht nur fortgesetzt, es war sogar fähig, ihn entblößt und wehrlos dennoch zu bestehen. Seine eigene Rüstung im Verein mit den amerikanischen Waffenfabriken holte eilig auf. (Über dem drangvollen Augenblick vergaß man nicht, solider zu arbeiten als die Deutschen. Wie einen Maßanzug im Frieden.)

Dies aber geschah, während jeden Tag, ein Jahr hindurch, die Existenz des Reiches und der Insel in Frage stand. Bis der Angreifer, weil er mußte, auch noch die Sowjetunion überfiel. Die deutsche Niederlage vor Moskau beendet für Britannien die Gefahr, vor der es jedem Land geschwindelt hätte. Über Sein oder Nichtsein hatte es selbst entschieden.

Die Battle of Britain hat den Krieg gegen Deutschland entschieden. Aber erstens, wer sieht das zur gleichen Stunde. Am 9. September 1914 oder mehrere Tage später, da in Deutschland von einer Schlacht an der Marne nichts bekanntgemacht wurde, habe ich wohl erraten, nicht nachgeprüft, daß virtuell das Ende ausgehandelt sei. Nur daß ich dieser Grundtatsache zeitweilig beinahe vergaß in den folgenden Jahren der langwierig hingeschleppten Schlächtereien.

Mit den gebotenen Abwandlungen vollzieht sich jetzt das gleiche. Deutschland ist eine Landmacht; es mußte in Stalingrad verunglücken, wenn es jemals begreifen soll, daß keine Landmacht die unbedingt stärkste bleibt, es gibt immer noch eine stärkere. Überdies aber soll Deutschland endlich lernen, daß eine Landmacht überhaupt nicht den Stoff hat, die Welt zu besiegen und zu behaupten. Im scheinbaren Besitz des Kontinents unter Ausschluß der verhängnisvollen Insel, hat Deutschland in Wirklichkeit nicht gesiegt, und herrschen wird es nie. Diesen Sinn ergibt die Luftschlacht über England vom Jahre 1940 für den Verlierer, gesetzt, er faßte ihn.

Großbritannien muß damals ebenso ungeschickt gewesen sein, den Vorgang zu begreifen. Wie ging die Insel aus ihm hervor! Verwüstete Küsten, eine Hauptstadt, durchsetzt mit aufgerissenen Lücken, die Bevölkerung straßenweise ohne Obdach, zwischen Trümmern im Schmutz ihrer Bedürfnisse, in der Not ihrer Blöße. Die einzige Arbeit einer unermeßlichen Siedlung anständig gewöhnter Menschen war fortan das Nachgraben, Abräumen, das Suchen und Bergen der Gefallenen – der Kinder unter den Leibern ihrer Mütter. Wer hätte bei voller Arbeit, unterbrochen nur durch Flucht in die Unterstände, an Guernica gedacht.

Guernica, eine spanische Kleinstadt, ist die erste, schwache Anspielung der Zerstörung von London. Dort fielen die Bomben auf eine Schule, nunmehr das Muster für die Schulen des Jahrhunderts: seither sind sie bestimmt, ihre Schüler unter sich zu begraben. Die Vorübung der fliegenden Landsknechte, ein eingefangener Kindermörder hatte sie schlicht und glaubwürdig erklärt. »Der deutsche Soldat denkt nicht. Er gehorcht.« Das war richtig für die spanische Kleinstadt, über die sie herfielen, sie wußten selbst nicht wieso.

Während ihrer Luftschlacht um England, das kann beschworen werden, hat jeder einzelne das Hochgefühl seiner Berufung genossen. Die Erwähltheit seiner Herrenrasse war noch das wenigste. Sogar eine Jahrtausendgestalt, den Liebling der Weltgeschichte, ihren Hitler, konnten die beflügelten Knechte nicht dauernd im Auge behalten. Immer gegenwärtig war England, erkennbar des Nachts an den Bränden, tagsüber in dem Wabern von Haß, den sie gleichfalls hinunterspien. »Umgürte dich mit dem ganzen Stolze deines Englands.« Endlich hilft das nicht mehr. Endlich muß der Brite kriechen. Aus mit dem vornehmen Gönner, für den die Wilden kämpften, und das Geld des Weltalls floß gratis hierher, in dasselbe Land, das jetzt raucht und wo sie kriechen.

Die Knechte sind glückselig erinnert worden an ihre eigene Kriecherei vor dem Übermut jedes Stärkeren. Sie vor ihrem Hitler, ihrem General, ihrem Industriellen, sie vor Versailles, dem Engländer in Köln, dem Franzosen in Düsseldorf, – aber vor ihnen der stolze Brite. Alles kriecht, sie sind endlich auf gleich. Kniend im Geröll, angelt der Brite unter wankenden Steinen nach seinen Sovereigns und verfehlte sie, die Mauer erschlägt ihn. »Rein in den Untergrundbahnhof! Raus aus dem Untergrundbahnhof, immer gleich tausend Briten. Nochmal tausend Briten bitt' ich mir aus, damit sie einander massenhaft erdrücken, flüchten kann nicht jeder im Mercedes. Die armen Leute sind mir die liebsten, weil ich selbst nichts habe, und zeig' ihnen wer ich bin. Ich bin ein Deutscher, so sehen wir aus.«

Stoßgebete aus der Höhe des Gefühls: »Gott strafe England!« (1914.) »Wo ich England treffe, greife ich es an.« (Der Führer.) »Polen existiert nicht mehr. Nur noch das britische Weltreich bleibt zu vernichten.« (Seine Leute.) »Alles vernichten, was nicht deutsch ist, und wenn ich wählen soll, England!« (Der fliegende Landsknecht.) »Ha! Es geht, es klappt, es passiert: Kampfflieger haben sie keine. Was sie haben? Fesselballons. Ich siege, vernichte, ich strafe, die Rache macht selig.« (Das ganze Deutschland, das brünstig mitfliegt.)

Auf zehn deutsche Flugzeuge kam allenfalls ein britisches. Jedes muß überaus besonnen gekämpft haben, wenn es standhielt. Einer gegen zehn war nicht das ärgste. Das Schicksal Londons war nicht das ärgste, obwohl hier zuerst versucht worden ist, ein so weites, vielfältiges Gebilde menschlichen Lebens umzubringen, alle seine Teile gleichzeitig: die Viertel der Armen, die Gebäude, die England darstellen, sein Herkommen, seine Macht.

Bei einem französischen Katholiken las ich aufgezählt die katholischen Kirchen, die über die ganze Stadt verteilt, wie auf Verabredung dennoch alle getroffen sind. Die Docks scheinen weniger empfindlich gewesen zu sein als Westminster, das nicht weniger greifbaren Wert hat als die Schiffswerften: es stellt um einiges mehr vor. Was es bedeutet und auch das Alter des Monumentes mißfiel dem Feind (der seither die Beschädigung von Nürnberg für eine Kulturschande erklärt hat, heute aber dem Untergang Berlins die Tragik abspricht).

Dieser Feind ist der erste und bleibt der einzige, der es wirklich auf die Kultur abgesehen hat, insofern eine Nation ihr Gedächtnis verliert und endlich selbst verlorengeht, wenn ihre Denkmäler fallen. Heute, im fünften Jahre des Krieges und angesichts seines schimpflichen Endes, sind deutsche Gelehrte in den Archiven der besetzten Hauptstädte tätig. Sie versehen das Amt, Dokumente verschwinden zu lassen, uralte Zeugnisse vom Ursprung und der Eigenheit der Nationen. Keine Inkunabeln mehr, keine Vergangenheit. Eine geschlossene Ecole des Chartes ist mehrere Schlachtensiege wert.

Dies ist »Deutsch-Europa«, wie es gemacht wird mit Hilfe der deutschen Kultur, die genau das gehorsame Gesicht der Forscher in den Archiven hat. England aus der Luft herab einzudeutschen, bleibt ein ungelöstes Problem. Der Schwan von Avon, ob sein Geburtshaus dem Erdboden gleichgemacht würde, ist für alle, die jemals einen Vers hörten, ja für alle, die nie einen hören werden, der größte Dichter Europas, und ist ein Brite, kein Deutscher. Goethe sprach ungefähr: »Es ist falsch, mich dem oder jenem (Tieck) zu vergleichen. Ich messe mich nicht mit Shakespeare.«

Die Gefahr, ihre Geschichte, die Geschichte einer meisterhaften Gestaltung, verschwinden zu sehen, war bei weitem nicht die ärgste während der Battle of Britain. Buckingham Palace wurde eine Ruine, die königliche Familie mußte ausziehen. Nun vertritt das Haus Windsor, seit dem Abgang Habsburgs, allein noch die ehrwürdige Überlieferung, deren Europa bedarf, um es selbst zu bleiben – und um seiner künftigen Erinnerung willen, falls mit ihr gerechnet wird.

Man erreicht sie nicht durch Abrasieren, durch wohlberechnete Bombentreffer und die Akribie von diebischen Philologen. Ehrfurcht wird verlangt vor der Gesamtheit unseres Daseins, das ein und dasselbe ist. Die Nationen mit ihrem gemeinsamen Bestand, die Jahrhunderte, die uns alle formten, erwarten guten Willen, und nicht Haß. Zu danken gilt es, nicht zu rächen.

Die deutschen Flieger und Nichtflieger 1940 rächten vielmehr, daß England uns alle bereichert hat. Dies rächten sie wütender, als daß es selbst reich ist. Genug, von allem das Ärgste waren der Haß und die Rache, die über England die Luft verpesteten. Sie schnaubten gräulicher als Bomben zischen und zerspringen. Sie machten trostlos, auf die Dauer konnten sie sogar Abgehärtete des Unglücks niederzwingen, und England war nicht abgehärtet, weit davon. Es hatte in der Welt meistens Erfolge, zu Hause immer Frieden gehabt. Es hatte niemand gehaßt, am wenigstens die Deutschen seit Versailles.

Jählings diese Lawine schlechter Gefühle. Auf so viel war Britannien nicht gefaßt, obwohl schon vorher feststand: diesmal schrecken die Deutschen vor nichts zurück. Diesmal wird gesiegt – auf alle Fälle, den Weltuntergang einbegriffen. Um so weniger werden Bedenken zugelassen, wie noch 1914, hinsichtlich des Völkerrechtes, Menschenrechtes, der letzten Überreste einer ehemaligen Achtung des Nächsten, der Selbstachtung und mitbekommenen Lebenslehren. Fort damit! Nichts gilt fortan, außer der Vernichtung des Lebens, wenn einer durch Widerstand sich strafwürdig macht. Aber wehe dem, der sich ergibt!

So siegt man nicht, die Haltung ist biologisch ungesichert. Ihre moralische Verworfenheit folgt aus der Irreleitung der Nerven und einem unbeherrschten Sonnengeflecht. Aber wer weiß das, solange die Gefahr den Himmel verdunkelt. Welcher Mut und Verstand ist einer Tobsucht gewachsen, wie dieser. Ich kann nicht entscheiden, ob der britische es war. Sie haben vielleicht nur ausgehalten, des Endes im Grunde gewärtig. So stand es wohl, besonders da die deutsche Luftmacht, scheinbar unberührt von Verlusten und verfließender Zeit, übermächtig hereinbrach alle Tage wieder, seit dem ersten bis in die spätesten: von Britannien wurden sie stoisch abgezählt.

Es kam der letzte, wer hätte es gedacht, die deutschen Flieger gaben es auf, sie kehrten nicht mehr wieder. Nachher ist gesagt worden: wenig fehlte. Nur um einiges öfter mußten die Deutschen erscheinen, das Äußerste der britischen Tragfähigkeit war erreicht: ergeben hätte sich England. Was dies Wort enthält! Welch ein Gedanke hier mit Wirklichkeit droht! Gleichviel, so war es nicht bestimmt.

Verheißen und aufgelegt war, daß England seine Verwandlung erfuhr, vergleichbar einzig einer Wiedergeburt. Diese ist verständlicherweise tragisch. Gern und fröhlich läßt niemand sich herbei, noch einmal anzufangen – und nach einem Vorleben wie hier. Das Früheste ist die automatische Umkehr der Begriffe gewesen – nicht einmal ihre bewußte Réconsidération. Eine ganze Nation betrachtet weder, noch revidiert sie.

Vielleicht einzelne, vielleicht in Behausungen, die halbwegs verschont geblieben: nur die Treppe war weggerissen und eine Mauer klaffte. Zum Glück standen die Bücher an der anderen Wand. Der leidlich erhaltene Einwohner, nur sehr geschwärzt durch die Explosion, und Überfluß von Kummer, es läuft kein Badewasser, – dieser Berußte, aber Lebendige nimmt die Zuflucht zu seinem Meditationssessel, der in angepaßtem Zustand auch noch da ist, auf seinem Platz vor dem neuerdings zerbrochenen Kamin. Eigentlich ringt er die Hände, während er doch alle Glieder augenscheinlich von sich streckt.

Er denkt: Wozu? So ist natürlich der Lauf der Welt, es gibt Schlimmeres als kein Bad, kein Essen, keine Fensterscheiben. Ich frage nur: Wozu? Einigermaßen funktionierte das Leben doch, mit Ach und Krach, wie gewöhnlich. Vernachlässigte Menschen, ja, benachteiligte Klassen, man sagt es. Dummköpfe, gar kein Zweifel. Aber proletarische Nationen? Der unüberbrückbare Abstand zwischen den Staaten, die alles haben, und den anderen, die nur recht haben? Mir war das nie aufgefallen. Ich erkannte die alte menschliche Zanksucht wieder und andererseits den Hochmut, der sie belächelt. Schlichten wollen erbittert nur. Dennoch, woher dies?

Woher der grausige Haß – entgegen dem einfachen Instinkt für Selbsterhaltung. Wer überschwenglich haßt, zerstört sich selbst. Die Leidenschaften sind achtbar, sie wohnen hoch. Ce n'est que du cinquième qu'on se jette par la fenêtre. Diese Deutschen aber sind zum Weinen.

Wenn kein Irrtum vorliegt, bekommt der Ruß im Gesicht des Meditierenden tatsächlich feuchte Rinnsale. Er sinnt:

Massenhaft aus den Wolken fallen, begeistert sterben, entschädigt durch das Bewußtsein: England geht unter, – das ist ein schwerer Krankheitsfall. Seine Behandlung darf in Zukunft nur noch streng sein. Wir haben alles verkannt, wir glaubten Deutschland heilbar durch vernünftiges Entgegenkommen, eine demonstrative Gleichberechtigung. Die konnten wir ihm allerdings zugestehen, aber nur für Gegenwart und Zukunft. Wir konnten nicht machen, daß es dieselbe Geschichte hatte wie wir. Da liegt der Fehler.

Die Minderwertigkeit, die nicht wirklich besteht, aber ihre Vergangenheit – und der Vergleich mit der unseren – redet sie ihnen beständig ein: dieses Mißgefühl nimmt mit ihren Erfolgen nur zu. Der Neid wird tausendfach. Als sie uns überflogen, hätte der Himmel von ihnen gelb sein müssen, quittengelber Neid allein setzt die Deutschen instand zu hassen, wie uns wenigstens niemand gehaßt hatte, zu vernichten um des Vernichtens willen, ja, die Existenz des Menschen zu leugnen. Es gibt nur neidische Deutsche.

Dagegen muß etwas geschehen. Viel muß geschehen, bedenkt man die erbärmliche Nichtigkeit des Anlasses, weshalb sie über London kamen. Wir hatten ihnen nichts nehmen, ihr Reich beileibe nicht auflösen wollen. Wir ließen sie nur allzu theoretisch wissen, daß wir ihre Überfälle auf kleinere Nationen für unanständig hielten. Das heißt dann eine Kriegserklärung, indessen ließen wir Krieg noch immer Krieg sein: eines Tages hätte man verhandelt. Ihre Einnistung in Frankreich, die gleichfalls unrühmlich enden wird, und die Battle of Britain haben gezeigt, was sie wirklich wollen. Vernichtung eines jeden, der sie nicht angreift, sie nur warnt.

Sie wollen nicht ihr Gebiet vergrößern auf Kosten schwächerer Nachbarn, was nichts Neues wäre. Sie träumen den Erdteil, wahrscheinlich alle Erdteile, als deutsche Kolonien. Ein Traum, – man ist nicht verantwortlich für seine albernen Träume. Wer aber handelt, wir selbst haben oft nicht streng rechtlich gehandelt, ist dennoch angehalten zu einem Mindestmaß von Voraussicht und Anstand. Sie dagegen führen sich auf, als ob nach ihnen nichts mehr käme. Das geht nicht. Es ist eine unerlaubte Haltung, das menschliche Zusammenleben würde mit ihr unmöglich. Europa besonders hätte abgedankt. Großbritannien wäre eine Erinnerung.

Der scham- und hirnlose Versuch, diese ungehörige Haltung einzuführen, muß erstickt, leider in viel Blut erstickt werden. Wir haben den Deutschen ihren eifrigen Wunsch nach Vernichtung diesmal zu erwidern, mit der überlegenen Milde und dem klugen Wohlwollen ist nun einmal nichts getan. Wir werden sie unschädlich machen, sie haben nicht eher geruht, als bis wir uns entschließen. Das ist nicht leicht, zunächst erscheint es wenig ehrenvoll. Wir geben uns das Ansehen, als sänken wir auf ihre Stufe herab: nur noch hassen, immerfort rächen. Was hilft es. Sie erniedrigen uns, gerade dafür sind sie hassenswert, vor allem dies werden wir rächen.

Aber wer weiß, ob wir nur nachlassen oder nicht vielmehr zunehmen, ja, verjüngt hervortreten aus dem Abenteuer, wenn wir künftig der unerbittliche Erzengel mit dem Schwert sind. Sie mögen sich hüten. Ein Entrinnen gibt es fortan nicht.

Hier endet die Meditation. Der bewußte Brite, vorher sehr human, wird aus seiner luftigen, aber unhaltbaren Höhe herabgeholt in die Mitte anderer Briten, die durchaus denken wie er. Oder hätten sie auch gar nicht erst meditiert, bleibt das Ergebnis der überstandenen Prüfung doch dasselbe: Schluß mit den Deutschen! Die deutsche Drohung abschaffen für immer!

England verwandelt

Seither hat die Insel mit ihrem Reiche den Krieg nicht nur geführt wie jeden vorigen. Er begleitet keineswegs ihre Existenz von außen: sie fühlt ihn zentral; er ist die unausweichliche Bedingung ihres Daseins. Da alles, was uns erhält, zum Genuß wird, nimmt Großbritannien nunmehr Vergeltung und liebt sie. Als in Deutschland zwei lebenswichtige Dämme einstürzten und das Ruhrgebiet ersoff, haben die Deutschen, gemäß ihrer stumpfsinnigen Übung, Juden geschlachtet – diesmal unter dem Vorwand, jüdische Emigranten hätten die Briten auf die Dämme hingewiesen. Da meldete England aber laut und entschieden seinen Anspruch auf die Idee. Es hatte sie ganz allein gefunden und hält auf dieses Verdienst.

Britannien ist nunmehr die große Luftmacht, die über Deutschland gebietet: welche Stadt noch stehen bleibt, welche untergeht. Im gleichen Atemzug, ein mächtiger Atem, wurde aus der Insel eine Landmacht. Der britisch-amerikanische Sieg in Afrika, wahrhaftig ist er kein kolonialer Kleinkrieg mehr. Die Befreiung Ägyptens von dem Feind, der schon Alexandrien bedrohte, hat die äußerste Anstrengung verlangt, sie war eine weitaus echtere Tat als der Einmarsch der sechs deutschen Divisionen in Frankreich. Die Eroberung von Italien bedingte bisher die kühnsten Landungen. Noch härter werden andere sein. Britannien zögert, von seinem Bestand an Menschen mehr, als es erträgt, zu opfern.

Tunis und Bizerta waren Schlachten europäischen Stils, – aber der deutschen Niederlage folgte kein Dunkerque, kein vollendeter Rückzug zur See, nicht einmal ein angedeuteter. Sondern die Deutschen, die nicht gefallen waren, gaben sich gefangen, mit ihnen der ehrenhafte General von Arnim. Schon in Sicherheit, war er zu seinen Truppen zurückgekehrt, in Erwartung der deutschen Schiffe, die nicht kamen. Seinem Gesicht war die Tragödie taghell abzulesen, als er in London das Flugzeug verließ. (Der Rückzugsstratege der Landschlachten, Rommel, blüht glücklicher mit jedem Rückzug; das Bild einer Wiederbegegnung mit Hitler zeigt ihn flott und fühllos wie je.)

Mehrere hunderttausend Achsentruppen verlorengegangen: was sollte einen Mißerfolg in Deutschland hiervon noch unterscheiden. Die Voraussetzung ist, daß Deutschland verteidigt wird, wie Tunis. Die Landmacht Britannien glaubt sehr lange, daß die Vorzeichen der Invasion eine solche selbst hinfällig machen werden. Die Deutschen haben tatsächlich den Krieg im Lande, das ist ein böses Gesicht, das einzige, das sie nicht sehen wollen. Immer noch lieber ihre ganze Ostfront aufgehoben.

Dort brennen fremde Städte, und in den Häusern verkohlen die Bewohner, die man einschließt, bevor man flüchtet. Hier und jetzt wird aus der wohlbehüteten Heimat Reißaus genommen, um nicht – o unvorhergesehene Wendung! – selbst durch Feuer umzukommen. Außerdem ist sie eher unbehütet, der britische Wüstling der Lüfte verliert fünf Prozent seines Bestandes. So hatten wir nicht gewettet. Das ist nicht der »totale Krieg«, den Deutschland erdacht und ins Werk gesetzt hat.

Er umfaßt allerdings die Vernichtung nationaler Gesamtheiten mit ihren Städten, ihren Kindern. Aber gemeint waren gefälligst andere, keine deutschen Nichtkämpfer, deutschen Wohnstätten. Sie sollten dem humanitären Gegner heilig bleiben. Das Ganze muß ein Irrtum sein, sein Ausgang wäre verhängnisvoll.

Gerade dieses Mißverständnis, das in den Vorgängen nunmehr waltet, beunruhigt die Deutschen. Gerade mit ihrer Verstörtheit infolge fehlgegangener Berechnungen machen die Briten ihre Rechnung. Ihr Kriegsministerium unterhält wohl kein »psychologisches Laboratorium« wie die Wehrmacht. Die deutsche Seelenkunde indessen bietet in einem Punkt kaum Schwierigkeiten: geht ihnen etwas schief, dann winseln sie. Nach Versailles hat ihre Wehleidigkeit alle gerührt, die sie nicht anwiderte.

Aus der Luft herab gehemmt, schließlich vielleicht außer Aktion gesetzt zu werden, ist wirklich ein besonders peinliches Erlebnis – schon wegen seiner Neuheit, seiner Unheimlichkeit. Diese erklärt auch, daß man nur dulden, nur hinnehmen und sich ducken kann. Gegenwehr auf gleichem Fuß gibt es bis jetzt nicht. Um so weniger für eine Luftmacht, die sich in vier Jahren verbraucht hat und den britisch-amerikanischen Vorsprung nie mehr einholen wird. Welches Volk hält, ohne an seiner Seele Schaden zu nehmen, den Verwüstungen von oben stand? Den Ängsten aus dem Gewölk?

Mr. Churchill hat schon früher prophezeit, den Deutschen wäre es eintretenden Falles nicht gegeben. Britisch allein sei die Ausdauer im Widerstand, der nichts ist als Erleiden. So war es auch, es war allzulange wahr; die Befürchtung regte sich, der passive Mut werde der einzige bleiben, den ein dergestalt mitgenommenes Volk hinüberrette. Sie würden nichts mehr tun, nach ihrer furchtbaren Schulung im Aushalten.

Heute: die klare, überzeugte Forderung an den – keineswegs erledigten – Gegner, sich bedingungslos zu ergeben. Einst – wie stand es einst, das faßt man nicht mehr. Keine drei Jahre, aber die Verwandlung Britanniens ist das ausgesprochen phantastische Ereignis des Zeitalters. Schritt für Schritt hat man ihr beigewohnt, betrachtet aber das Ergebnis, als wäre es gehext.

Die Energie, nach der einstigen Wohlerzogenheit. Das Wagnis, anstatt des Sichergehens. Der Zufall und das Imponderable als zugelassene Faktoren. Mißerfolge sind kein Hindernis, sie versprechen nur das künftige Gelingen. Das Reich trägt Verluste, die immer unerlaubt erschienen wären. Es wird getroffen an seinen Points névralgiques, und schreit nicht auf. Es bleibt still während einer indischen Revolution, der gefährlichsten, die verzeichnet wird. Jeder andere hätte die Nerven verloren. Das Reich läßt kommen und gehen, beharrt auf seinem Posten, so zähe, still – und wird Indien erhalten.

Wavell, ein großer General des Reiches, macht von Ägypten durch die halbe Länge Nordafrikas einen Gewaltmarsch, für den es damals durchaus nicht an der Zeit ist. Er hat weder Nachschub noch Stützpunkte. Eingetroffen, wird er, es kann nicht anders sein, den Weg zurück antreten. Als ob er dies nicht gewußt hätte, sagt er von sich: »Ich muß ein Stück Abenteurer sein«. Sein Briefwechsel mit dem Premierminister lautet anders. »Klopfet an, so wird euch aufgetan!« sagen die beiden Briten mit Worten der Schrift.

Denn ihr Vorsatz ist nicht, in diesem Augenblick ein sieghaftes Ziel zu erreichen, vielmehr es anzumelden, noch eher, sichtbar zu machen, was sie wollen, bis die Stunde schlägt, da sie es auch können. Das Jahr, als Britannien allein, völlig allein stand gegen den glücklichen Hitler und sein unbesiegtes Heer, das Jahr, bevor die Sowjetunion antrat und die Erlösung Europas mächtig begann, dieses großartige britische Jahr ist rein angefüllt mit Donquichotterien, die Sinn und Nachdruck haben.

Das oftmals angeführte »perfide Albion« läßt sich glatt hereinlegen von der »nordischen List«, ihre authentischen Inhaber sind der Schlawiner Hitler und der Rheindampfer-Admiral Darlan: dieser seither dahingerafft, nil nisi bene. Die Kumpane verlocken die britische Mittelmeerflotte, sich auf einige italienische Schlachtschiffe zu stürzen, sie to the bottom zu senden – für einen einzigen Zweck, der dem unschuldigen Albion später aufgeht.

Während die Briten sich heldenhaft abarbeiten und die armen Italiener tapfer bezahlen, schmuggelt Darlan, von niemand beaufsichtigt, ein deutsches Korps nach Afrika hinein. Dies ist die besonders ehrenhafte Geburt des »Afrikakorps«. Eine verbündete Flotte ist dafür aufgeopfert worden, bis endlich das Afrikakorps selbst, ohne den kleinsten Ansatz eines Rettungsversuches, ad acta gelegt wird.

Die Insel Kreta kommt vor, wie die britische selbst. England verteidigt sie gegen die deutsche Übermacht in der Luft und kann sie nicht halten. Die Anspielung hierin begreift sich. Die Ausdauer einer Insel, auch unserer, ist unverbürgt. Wir haben uns durchgebracht, aber wenn nicht? Wir wären in Kanada. Wir wären zur See. Auch hier sind wir! Immer bleiben wir von dieser Welt – mehr als ihr, die ihr nicht wißt, wo die Entscheidung liegt. Auf dem Atlantik.

Versucht es noch einmal mit der Einnahme unseres Landes! Wir werden mehr tun, als uns nicht ergeben. Wir sind nicht länger die Dulder. Eher ihr. Zu erdulden steht euch, so oder so, bevor. Greift Länder an, je mehr, je besser für uns. Wir werden euch überall – noch nicht das Ende bereiten, aber im Weg sein. Euer Blitz wird nächstens nicht mehr blitzen. Man muß kühn werden durch bestandene Lebensgefahr, aber nicht jeder wird es, – dann folgt der Gewaltmarsch von Wavell, folgen Salerno, Anzio, noch Kühneres.

Zu jener Zeit, und das ganze kritische Jahr blieb Britannien von der Invasion bedroht. Sie konnte kommen, man hat es nie gewußt. Die Insel und ihr Reich lebten von Tag zu Tag. Die Invasion wurde nicht mehr unternommen, denn die deutsche Strategie und die deutsche Politik, beide waren unbegabt. Sie waren kenntnislos, waren so albern wie roh. Kein alter Preuße hat leichtsinnig Krieg geführt, außer Friedrich dem Großen, aber ihn bewahrte sein verdientes Glück. Dies Umspringen von Front zu Front, – nachdem am Anfang der Zweifrontenkrieg abgeschworen war; dieser falsche Stil 18. Jahrhundert, ohne alle Rechtfertigung durch die Gegebenheiten des Zeitalters: warum, was ist darin zu suchen? Gar nichts.

Europa ist von diesen Deutschen im Umherspringen zusammenerobert worden, l'incohérence complète, eine Oberflächlichkeit wie in Ägypten, von wo sie noch etwas schneller wieder herausflogen. Der alte Preuße Ludendorff, ein Wahnsinniger, nur als Stratege noch immer nüchtern, hatte vorausgesagt: in Afrika wird es hapern. Er hätte ergänzen können: zuerst in Afrika, dann überall.

Ein Verein boshafter Dilettanten, haben sie »sich das Gericht gegessen«, als sie daran gingen, die Sowjetunion in sechs Wochen niederzuwerfen. Auf dem Boden des überrannten, nicht wirklich besiegten Frankreich hätten sie höchstens sechs Wochen bleiben dürfen.

Die gesunde Wahrheit ist ihnen lange vorenthalten worden, die »unbesiegbaren deutschen Heere« wurden von allen Nichtbeteiligten, oder die sich dafür ansahen, mit aufgerissenen Mäulern bestaunt. Das erste Wort fand ein Brite: der General der berühmten 8. Armee, – die Landmacht Großbritannien hat berühmte Armeen. Die militärischen Gegner pflegen einander hochzuachten, wenigstens tun sie so. Das Verdienst des Siegers mißt sich an den Talenten des Unterlegenen.

Sir Montgomery nannte mit britischer Einfalt seinen geschlagenen Rommel eine krasse Mittelmäßigkeit. Das hätte man ihnen längst versetzen sollen – nicht dem einen Bürschchen, sondern dem Quark insgesamt. Sie würden es gehört, ihre Sicherheit würde gelitten haben. Im Grunde wissen sie: Hochmut kommt vor den Fall. Der Satz sagt mehr als eine ganze Rassenlehre.

Kapitän Langsdorf

Großbritannien und Deutschland waren nicht in jedem Fall unvergleichbar. Ich bin weit entfernt, die falsche Meinung zu unterstützen, als gäbe es nur unehrenhafte Deutsche. Es wäre gegen die Selbstachtung. Es wäre gegen die Wahrheit, die man unter anderen dem Kapitän Langsdorf schuldet.

Sein Tod ist lange her, Dezember 1939, ein überholtes Vorkommnis, schon vergessen. Ich habe es mir gemerkt, hier soll es stehen.

Der deutsche »Taschenkreuzer« »Admiral Graf Spee«, ein Korsar, wie diese Vereinzelten, Verzweifelten genannt werden, hat das Unglück gehabt, britischen Kriegsschiffen zu begegnen. Es geschah ihm nahe von Uruguay und wahrhaftig nicht mit Absicht. Schlachten zu liefern, den Auftrag hatte er nicht. Er sollte, entgegen dem Seerecht, die Handelsschiffe, feindliche wie neutrale, versenken. Wenn es sich machen ließ, nahm er wohl die Besatzungen auf. Wenn nicht, ertranken sie.

Der »Admiral Graf Spee« versah kein lobenswertes Geschäft, obwohl er seine Pflicht tat. Der erste der begegnenden Briten war kleiner als er selbst, der Deutsche wäre mit ihm fertiggeworden.

Indessen kamen zwei andere Einheiten der britischen Flotte rechtzeitig hinzu. Schwer beschädigt, mit sechsunddreißig Toten und achtzig Verwundeten, flüchtete der »Graf Spee« in den Hafen von Montevideo.

Vielleicht hätte er vor der Schlacht, ohne Kampf, das Weite suchen können. Er war der Schnellere. Er hatte Grund sich dafür zu halten. Er mußte darauf gefaßt sein, daß in diesen belebten Gewässern sein Gegner alsbald Beistand fände. Aber er hat das Feuer des »Exeter« erwidert. Unter anderen Umständen wäre er für tapfer, sehr tapfer gerühmt worden. Deutschland ist verrufen, sein Kreuzer ein Korsar, und noch so viele bewiesene Seemannsehre rechtfertigt seine vorigen Verrichtungen nicht. Die Augenzeugen aus der Gegend hatten denn auch kein Wort für ihn, sie bewunderten einzig die Taktik der Engländer. In Berlin empfing man zu derselben Stunde auf drahtlosem Wege die Photographie des Kreuzers nach seiner Beschießung. Trotz dem Augenschein beeilte man sich, ihn als Sieger auszuschreien. Dabei wußte man: das kranke Schiff in der feindlichen Ferne hat vierundzwanzig Stunden, keine mehr, um seine Verletzungen zu heilen. Es fährt aus, in welchem Zustand immer, oder wird für die Dauer des Krieges interniert. Draußen erwarten den »Graf Spee« zwei der Engländer, mit denen er schon im Gefecht gewesen ist, und statt des dritten, das gelitten hatte, ein neues.

Aber der Befehl ergeht, er muß ausfahren. Hitler selbst verbietet sowohl die Internierung als auch eine Niederlage. Kapitän Langsdorf trägt die Verantwortung für seine Beschlüsse.

Das Telephongespräch am siebzehnten, zwischen Berchtesgaden und Montevideo, betraf die Ehre des Führers. Seine Ehre, ein Ableger der Propaganda, verträgt keine Internierung seiner Kreuzer, die übrigens gezählt sind. Die britische Flotte hätte an dreien nicht so viel verloren, wie die deutsche an dem einen. Der »Graf Spee« ist von Hitler aufgegeben, unter dem Vorbehalt, daß Menschenverluste zu vermeiden sind. Sie würden der Menschlichkeit des Führers nichts ausmachen, um so mehr der persönlichen Geltung, die er sich beimißt.

Kapitän Langsdorf hat das Schicksal seines Schiffes vor Augen gehabt. Er hat seine Toten begraben, nicht auf dem englischen Friedhof, wie der großbritannische Gesandte ihm angeboten hatte. Der deutsche Kapitän hat sich und sein Schiff für outlaw erachtet – schlimmer, er kannte keine zivilisierte Gemeinschaft mehr. War gegen sie nicht nur empört, sondern verachtete sie, mitsamt dem ritterlichen Anerbieten des Feindes, den Besiegten die Gräber zu gewähren. Grüße aus englischen Gewehren über die Särge von Piraten – »da lach ick öwer«, hat dieser deutsche Seemann gedacht. Er hat bei sich entschieden: »Die sollen nicht auch noch die Gerechten spielen, weil sie die Stärkeren sind. Mein Handwerk war gemein – weiß ich, und will um so weniger ihre ehrbaren Salven hören. Sie fahren zur See nach Recht und Gesetz, sind aber in anderen Zeiten Räuber gewesen, Jacke wie Hose, jetzt bin ich's. War es, – aber wenn das Ende kommt, fällt der Schein weg und gilt kein Name.«

Kapitän Langsdorf hat weiter erkannt, daß alles zwecklos gewesen war von Anfang her, sein Amt und Dienst, das feindselige, heimliche Schweifen in Weiten und Gebreiten, wo er nur den Wehrlosen begegnen durfte, um sie zu vernichten. »Wofür? für wen? Mein Land kann mir nichts danken, jeder meiner Dienste hat nur seine Lage verschlechtert. Dies Deutschland kommt zu spät, mit allem was jetzt los ist, um Hunderte von Jahren zu spät, und handelt daher falsch, und nicht ehrbar, sondern verhaßt. Seekrieg – wir, und jetzt, und auf unsere Art! Wer war ich? Nicht einmal ein Korsar. Es ist an dem, ich fahre aus, aber Tote will ich nicht mehr, außer einem vielleicht. Der Mensch in Berlin hat nicht nötig gehabt, mir groß zu befehlen, wer der sein soll. Mich internieren sie hier nicht. Die draußen auf mich warten, die Ritterlichen, die von meinesgleichen die Meere säubern und den Dank der Welt haben, weil sie die Angenehmen sind, und nicht sind wie ich, – die kriegen mich auch nicht. Die sollen diesmal nichts zu tun bekommen. Was übrig ist, kann ich allein.«

Auch die verlängerte Frist lief ab, sie wurde nicht nochmals erneuert. Neun einheimische Arbeiter flickten an dem großen Schiff, das weder fahren noch kämpfen konnte. Langsdorf setzt der Behörde auseinander, die Küche sei nicht fertig, – ein ironisches Schriftstück, so breit wie möglich, damit sie lesen sollten und die Zeit verginge. Zur Not wäre er über die Bucht bis Buenos Aires gelangt. Ein Aufschub; aber an diesem 17. Dezember war ihm danach nicht zumute. Ihn verlangte es, abzuschließen.

Um 11 Uhr abends verließ der Kreuzer »Admiral Graf Spee« den Hafen von Montevideo. Fünf Seemeilen entfernt, versenkte er sich selbst, vor den Augen des überlegenen Feindes, der zusehen mußte, und von zweihundertfünfzigtausend Gaffern, die auf eine große Seeschlacht gehofft hatten. Da war es vier Uhr früh, die Sonne ging auf. Die Verwundeten waren vorher ausgeschifft. Tausend von der deutschen Mannschaft gingen an Bord eines deutschen Frachtdampfers, sind dann interniert worden, wie auch das Handelsschiff. An der Sprengung des Kreuzers beteiligten sich Freiwillige. Auf Deck waren alle Offiziere und der Kommandant. Als die Lunte schwelte, haben sie das letzte Boot bestiegen. Niemand ist umgekommen, bei der Versenkung niemand. Argentinier haben sie abgeholt. Die Matrosen sagten: »Für uns ist der Krieg aus«. Der Kommandant erklärte sich befriedigt.

Die Sache scheint unblutig verlaufen, wenn das genug ist, um sich befriedigt zu finden. Das Ende war dann doch die Internierung samt und sonders, für die Dauer des Krieges, – ganz entgegen der Propagandaehre. Die Propagandaehre verbot indessen noch dringender einen großartigen Sieg der Gegner, eine zum Voraus verlorene Seeschlacht und das Schaustück, wie so viele deutsche Seeleute sterben. Wofür denn auch, und für wen! Der Kommandant hatte vor der Versenkung einen Auftritt mit den Offizieren, die kämpfen und fallen wollten. Dagegen hat er die Mannschaft befragt. Ein Glück, daß sie nein sagte. Sie war seit Monaten auf der Fahrt ins Ungewisse. Täglicher Alarm, kaum noch Nahrung, aber mit drei britischen Schiffen hatten sie und ihr Kommandant es aufgenommen. Sie hatten genug getan, oder ihre Nerven genug gelitten.

Die erste Meldung war, Kapitän Langsdorf habe Selbstmord verübt. Vorgehabt hat er mehr oder weniger die Schlacht, die Explosion, den Selbstmord und das Entkommen mit heiler Haut. Er hat es darauf ankommen lassen. Ein Deutscher, dem Hitler die Entscheidung und Verantwortung zuschiebt, was er tun will, schuldet seinem Hitler alles andere, nur nicht den festen, inneren Befehl, nur das Gewissen nicht. Die sind von Hitler verdorben, da gähnt die Lücke in diesen Deutschen. Das Ende des »Graf Spee« wird unrühmlich genannt. Man erinnert daran, der Admiral, dessen Namen der Kreuzer trug, habe zu seiner Zeit wirklich gekämpft und den Untergang nicht überlebt. Damals aber scheinen die handelnden Personen sich mühelos selbst bewertet zu haben, wofür sie lebten und wann sie besser starben. Ihre sittliche Welt stand sicher.

Jetzt zeigen sich merkwürdige Zweifel hinsichtlich des Lebens und Sterbens. Dieser Krieg enthüllt. Er enthüllt allerseits, – wenn auch die deutsche Tragödie der Gewissen die anschaulichste ist. Halte doch einer auf verlorenem Posten, wie der Kreuzer »Admiral Graf Spee«. Ich habe mit ihm gefühlt und sein Abenteuer, eine Einzelheit schließlich, dennoch der Hervorhebung höchst würdig befunden. Besonders aber den Nachtrag drei Tage darauf. Kapitän Langsdorf hat sich erschossen. Er hinterläßt die Mitteilung, daß es schon an Bord seine Absicht gewesen ist. Der Tote spricht die Wahrheit. An Bord, während der fünf Stunden vor der Sprengung und wohl noch als die Lunte schwelte, hat er vieles vorgehabt. Zuletzt wurde es der Selbstmord, die Kugel in die rechte Schläfe, des Nachts in dem trostlosen Zimmer des »Einwandererhotels«, Buenos Aires.

Am Abend hatte er dort selbst noch einmal seine Leute gesehen, erteilte ihnen Weisungen, die schon posthum waren. Dann Gott befohlen, da von allen Menschen nichts zu hoffen bleibt. Deutschland hat ihn aufgegeben, der Führer horcht. In seinem Schloß auf dem Obersalzberg allein mit seiner geliebten Person, horcht der Führer auf den Schuß. Daß er nur trifft und ihm die Ehre erweist! »Dem Manne kann geholfen werden.« Die Flagge, es ist die alte schwarzweißrote, liegt über den Boden gebreitet, damit sie dieses Blut trinkt.

Am 17. machte Langsdorf sich über Hitler und sein Deutschland die Gedanken, die hier aufgezeichnet stehen. Je einfacher der Seemann war, um so eher ist ihm der Sinn geöffnet worden. Er hat begriffen: Was ihm zum Abschluß seiner Wirrnisse auch immer zu tun blieb, den hochgeehrten Seemannstod erreichte er nie mehr. Hochgeehrt ist ein Admiral Graf von Spee, der kämpfte und in die See versank. Der Kerl dort drüben hätte auch ihn zum Selbstmord verurteilt – dachte der Verurteilte bei einbrechender Nacht.

Er hatte die letzten Menschen gesehen, das »Einwandererhotel« wurde still. Er nahm die Waffe, er bat Weib und Kind um Verzeihung für ein solches Ende. »Glaubt meinetwegen, daß ich die Ehre der Flotte rette, weil einer darauf lauert! Die Zeitungen heute abend konnten es auch nicht erwarten. Geduld! Selbstmörder wird es bei uns billig geben. Vivant sequentes!« Und den Revolver angesetzt: »Folgt mir nicht nach! Bleibt leben!«

England, wunderbar und einfach

Das heißt scheinbar eine taktische Maßnahme wie jede andere: das europäische Gleichgewicht fallenzulassen. Indessen war es die Existenz Großbritanniens als einer Friedensmacht: der einzigen Friedensmacht. Der europäische Friede, insofern er bestanden hat, war eine Pax britannica. Die britische Macht war herangewachsen, bis eine Welt sie als Wohltat empfand: zum wenigsten das Viertel der Erde, das dem Commonwealth angehört. Man sei vorerst selbst überzeugt, daß man der Welt eine Wohltat ist, eher als ein Abscheu. Umgekehrt käme man nicht weit.

England hat, um das Gleichgewicht zu wahren, Ungerechtigkeiten begangen, die letzte zwischen den beiden Kriegen, zum Schaden Frankreichs, aber Deutschland sollte die Vorteile des britischen Friedens erkennen. Umsonst, Deutschland bleibt unzugänglich. In dem Maße, wie es ihm nachsichtig erlaubt wird, drängt es in die Stellung Englands – nicht, um der Welt eine Wohltat, sondern um ihr Abscheu zu sein, dies starr und dünkelhaft, als ob es das Höhere entdeckt hätte.

Hier läßt England das Gleichgewicht fallen; oh! nicht unvermittelt, es ist schwer, aus einer schon ausgereiften Friedensmacht noch einmal das kriegerische Land zu werden. Gleichwohl ist seither beschlossen, daß der Friede, wenn er eintritt, nicht mehr durch Überredung erhalten werden soll. Er wird auf Macht beruhen. Keine gleichberechtigten Gruppen verhandeln. Nur die eine hat das Recht gerüstet zu sein, sie allein verfügt über einen Willen und über die Mittel, ihn durchzusetzen. Sie diktiert, aber wehe dem, der diesmal über Diktate weint.

(Was alles dazwischenkommen kann, bleibt hier beiseite. Auf die Dauer verlangt der Friede das Einverständnis aller Teile, aber es ist auf keinem der jetzt gangbaren – oder denkbaren – Wege zu erreichen. Der Vorwand, Krieg zu führen, war diesmal der Faschismus. Es sieht nicht aus, als sollte er verschwinden. Seine Niederlage angenommen, übt er vielleicht auf einen Teil der Sieger die Anziehung, vor der ein Unterlegener sich hüten würde. »Kriege wird es immer geben«, sagt Stalin. Traurig genug. Noch trauriger, daß die Vorwände so schlecht und mehrmals dieselben sein dürfen.)

In Rede steht das Britannien, das für die Dauer des Krieges, wie Gott es nachher auch füge, sein Schicksal selbst verantwortet, bis an die Grenze, wo die Bestimmung über unsere Kraft geht. Britannien läßt das Gleichgewicht fallen. Es wählt seine Verbündeten für seinen künftigen Frieden der – gerechten – Übermacht: darunter die Sowjetunion. Ein unbelehrbares England hätte sie als einen notgedrungenen Mitkämpfer hingenommen – mit dem Vorbehalt: nachher sind wir ihn glücklich los, ni vu ni connu, würde Mr. Churchill in seinen französischen Ansprachen sagen. Er sagt überall das gerade Gegenteil. Für ihn und für ganz England ist die Sowjetunion der anerkannte Staat des Zeitalters, ja, der einzige, der es überschreitet, es weiterführt.

Sie sprechen: »Das Bündnis Großbritanniens mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Sie verkünden: »Nach dem Krieg wird es in diesem Land keine Drohnen mehr geben.« Der Premierminister selbst hat die verurteilten Drohnen nach ihren Schichten aufgeführt: die ganz alten (seine eigene, adelige Klasse), die bürgerlichen Reichen, die frischen Profitmacher. Sie alle sind unstatthaft in einem Volk, das Unermeßliches getragen und unwahrscheinlich neu gehandelt hat. Ein Volk wie dieses kann nicht länger mit den alten Tricks der sozialen Ungleichheit übervorteilt werden.

Das wäre erstens praktisch untunlich. Ein Volk, das sich für den Krieg mitnichten gebrauchen ließ, sondern seinen selbstgefaßten, nüchternen Beschluß vollzog, wird nach allem Ermessen nicht mehr unbestraft benachteiligt.

(»Nach allem Ermessen« ist leider ungenau. Völker so gut wie Individuen haben Anwandlungen von Willensschwäche. Gewöhnliche Kriege hinterließen endlich die entwaffneten Kämpfer mit Verdiensten bedeckt wie ein General mit Orden, aber dennoch gehorsamer oder gleichgültiger als vordem. Wie wird das erst mit dem »totalen« Krieg kommen. Er hat nicht den bewaffneten Teil des Volkes, das ganze Volk hat er erfaßt, mitgenommen, ermüdet. Gerade hierfür hatten die deutschen Erfinder des totalen Krieges ihn bestimmt. Ihre Intelligenz ist übrigens unzulänglich. Nur wo es darauf ankommt, das Volk zu verringern, reicht sie.)

Praktisch verfehlt bliebe es darum doch, ein Volk, das gekämpft hat wie das britische, um den Preis zu prellen. Die Bestrafung der Unredlichen wäre nur vertagt: Eine Demokratie mit der alten Erfahrung der britischen weiß es. Sie mogelt wie die anderen Demokratien. Sie hat, bis zu diesem Krieg, ihre faschistischen Bestandteile groß werden lassen. Die deutschen Schlauköpfe zählten sogar nach ausgebrochener Katastrophe auf ihre Zuhälter in England: sie schickten ihren Heß hin. Er hätte, stände es noch immer wie einst, Großbritannien gegen das deutsche Verbrechen abstumpfen, wenn nicht dafür gewinnen sollen.

Er hat gar nichts gewonnen und durfte höchstens klagen, daß er noch immer nicht fein genug speiste, – als der mittlere Engländer schon die Reste seiner Mahlzeit in Papier wickelte und aus dem Restaurant nach Haus trug. Die ehemalige Nummer 2 der Nazielite ist von ihren britischen Freunden peinlich verleugnet worden: niemand will ihn gekannt haben. Was er beichten möchte, ist erlogen oder ist zufällig echt, auf keinen Fall interessiert es.

Seinen Auftrag, zu intrigieren, hat er inzwischen selbst als kindisch erkannt: dies sind die Jahre, die alles verwandeln. Als dieser Heß vorgab, er wäre geflüchtet, log er. Jetzt fände der geborene Ägypter ein längeres Verweilen in Deutschland tatsächlich unerwünscht.

Faschistische Sympathien können in England schlechterdings nicht einbekannt werden. Bei der Fügsamkeit des menschlichen Gemütes und solcher Gemüter, heißt dies auch schon: sie sind abgelegt. Geduldet wird der Antikommunismus. Aber jemand muß der Mann sein, sich vor die Brust zu schlagen und den Ton des herausfordernden Bekenntnisses zu gebrauchen. Auch darf er nicht vergessen, die Sowjetunion zu schonen.

Man redet dann: »Einem russischen Kommunisten würde ich ausweichen. Neben einem britischen Kommunisten möchte ich nicht einmal begraben sein.« (Engländer werden anrüchig durch Meinungen, die den Russen eben noch hingehen.) Die mannhafte Stimme gehört einer Dame, von britischer Herkunft ist sie wohl nicht. Damit wäre erklärt, daß sie den Verdacht der Unmoral nicht scheut. Britisch ist es, unter allen Umständen seinen Frieden mit der Moral zu machen. Neue Zugeständnisse, die für vernünftig und unausweichlich erkannt werden – so die Anerkennung eines mehr oder weniger kommunistischen Staates und seiner universalen Auswirkung –, werden in England moralisch gewertet. Wenigstens bekommen auch die sonst Unkundigen den überzeugenden Eindruck.

Es bleibe dahingestellt, ob vielmehr ein neu geoffenbartes Sittengesetz das Früheste ist. Vielleicht lag es zugrunde und wartete nur, bis die Schule des praktischen Lebens es tauglich erwies und ans Licht zog. Nehmen wir für alle Fälle an, daß zuerst die russischen Erfolge kamen, dann die Einsicht: ein Staat und Volk wie diese können nicht länger bemakelt bleiben. Es ist keine Schande, Kommunist zu sein, da Einrichtungen und eine Auffassung vom Leben, die kommunistisch heißen, in zwanzig Jahren ein Land groß und siegreich machen. Dem Siege vorbestimmt ist die proletarische Revolution – ist immer die echte Revolution. Stalingrad gleicht Valmy.

Hinzugerechnet die Schicksalsgemeinschaft. Denn die große britische Verwandlung vollzog sich unmittelbar, bevor auch die Sowjetunion um ihr Leben kämpfen mußte – um die Nation selbst, wie Großbritannien. Aus einem Mittler und Gönner von vornehmer Statur wird der nackte Mensch, verkrümmt von lange ungewohnten Anstrengungen: nicht wahr, da erkennt man den Proletarier, errät seine Seele.

Einer schien für immer gesichert, die edle Langsamkeit der Entschlüsse, eine praktische Vernunft ohnegleichen saßen ihm wie angeboren. Schneller als es sich sagen läßt, wird er ein großer Dulder, spannt sich an, kehrt um, bis er der erstaunlichste Abenteurer, ein Don Quichotte gar ist. Nicht wahr, das eröffnet Einblicke in das Wesen der Sowjetunion.

»Unser Bündnis mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Nicht nur, weil beide auf der gleichen Seite kämpfen. Erst recht, weil sie mit verwandter Seele gekämpft haben und, ob sie wollten oder nicht, einander die Nächsten wurden. Wo ist das Jahr 1940, als England, zu spät, der französischen Republik die Vereinigung der beiden Reiche anbot! Großbritannien und die Sowjetunion, nur sie enthalten alle Kräfte, deren Europa bedarf, gesetzt, es sollte nochmals leben. Verantwortet wird das neue Europa von ihnen allein.

Großbritannien und die Sowjetunion haben niemals daran gedacht, einander nachzuahmen. Wollten sie es, wäre viel zu überwinden, ein konventioneller Abstand, noch größer als der praktische. Das Bewundernswerte ist, wie sie ohne Absicht, ohne Vorbild, dennoch zu gleichen Vollendungen gelangen. Nicht allein ist die britische Auffassung der Freiheit nunmehr abgewandelt in Richtung der Gleichheit – (ohne daß sie erreicht wird; wörtlich besitzt auch die Sowjetunion sie nicht). Sondern die andere Parallele, unerwartet, aber tief vorbereitet, tritt zutage. Die Sowjetunion errichtet wahrhaftig ein zweites Commonwealth.

Das sieht unmöglich, es sieht wie eine im voraus verlorene Wette aus. Jede der sechzehn Republiken soll ihre eigene auswärtige Politik haben; Polen würde mit der Ukraine zu tun bekommen, anstatt mit Moskau. Übrigens ist es dahin so weit wie zum britischen Kommunismus. Man begnüge sich mit der Neigung und dem Bekenntnis. Die Logik der Dinge wird begriffen, lange vor ihrer Verwirklichung. Offenbar verwandelt keine zentralisierte Autokratie sich über Nacht in eine Föderation. Das britische Reich hat mehr als hundert Jahre gebraucht.

Die Selbständigkeit der Sowjetrepubliken ist in ihrer Verfassung vorgesehen – nicht nur für ihre auswärtigen Angelegenheiten, sogar für ihre militärischen. Wenn beides schon heute durchgeführt wäre, könnte die Union diesen Krieg nicht bestehen. Damit wäre nicht bewiesen, daß der Vorsatz unernst ist. Aus der anerkannten Gleichheit der Menschenarten ergeben sich Rechte – auch Rechte, die in der Zukunft liegen, worauf es ankommt: den Punkt eins zu erreichen, wo die Selbstbestimmung der Republiken die Union nicht unsicherer macht, sondern sie befestigt. Das britische Commonwealth ist freiwillig und verbürgt einem Viertel der Erde seinen inneren Frieden.

Die Briten haben niemals befürchtet, Hitler werde mit der Sowjetunion fertig werden, weder in sechs Wochen noch überhaupt. Wer sowohl Antifaschist als auch Antikommunist war – aber Demokratie ist das noch nicht, sie setzt sich nicht aus Antis zusammen –, hat allenfalls gewünscht, Nazis und Rote möchten einander aufreiben und unschädlich machen. Das war alles, was man tun konnte, um die innere Annäherung an Rußland zu durchkreuzen. Es ist wenig. Unvergleichlich kühner handelte zu derselben Zeit die Moral.

Das Buch des Dean of Canterbury über die Sowjetunion, so bedeutend es ist, fällt doch nur unter die Symptome. Die wiedergeborene Moral schreit dermaßen zum Himmel, daß einer der höchsten Priester des Landes, wo sie das meiste gelten, nicht anders kann, als einstimmen. Es war aber sein Traum von je, so sprechen zu dürfen, von dem Heiland als seinem Zeitgenossen, von den Verheißungen des Heilands an die Armen, nur an sie, und von dem Ende des verhängnisvollen Unterschiedes, den die christliche Welt bisher krampfhaft festhält, zwischen Wirklichkeit und Lehre.

Der Abstand vom Wissen zum Handeln ist verringert, wenn nicht aufgehoben, in der Sowjetunion. Dies allein geht den Dean an, – nicht Worte wie Kommunismus. Die meisten machen sich mit Worten bezahlt. Wenn sie Entrüstung in die Aussprache des Wortes Kommunismus legen, fühlen sie sich mannhaft oder doch erleichtert. Es ist ihr fragwürdiges Gewissen, das sich hiermit beruhigt.

In Rußland ist mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel der Kommunismus durchgeführt. Was die Gerechtigkeit schlechthin betrifft, werden Kommunisten wie andere Sterbliche sich ihr allenfalls annähern: ihr gleichkommen nie. Schon die Wirtschaft des einzelnen kann nach seinem Belieben außerhalb der Gemeinwirtschaften bleiben. Nur ist dafür gesorgt, daß wirtschaftliche Übermacht weder erlangt noch mißbraucht wird. So einfach ist das.

Den Antikommunisten außerhalb der Sowjetunion, den handgreiflichen wie den sprachlichen, fehlt die technische Kennerschaft dieses Geistlichen. Sie werden niemals richtig wie er angeben, was vorgeht bei den Sowjetvölkern, in dem kollektiven Ackerbau oder der Ölgewinnung, der Technik und Wissenschaft, die beide, von Rücksicht auf den Handel befreit, der menschlichen – und internationalen – Wohlfahrt helfen dürfen. Es wird ihnen keinen Eindruck machen, wenn sie hören, daß die Höchstgeehrten im Lande die Lehrer sind.

Die Abschaffung, das tatsächliche Ende aller Verfolgungen von Rassen, Religionen, Gedanken, dürfen sie nicht sehen – liberal, wie die Antikommunisten zu sein pflegen, und auch Juden sind sie oft. Aber sie sind ungläubig, daher würde sogar eine bessere Informiertheit sie nicht weiterbringen. Sie wollen nicht, und können nicht wollen.

Eine ganz ungewöhnliche Begabung muß sich, unter Schwierigkeiten wie den jetzt zeitgemäßen, finden und hervorarbeiten, damit jemand Moralist wird – vielleicht, ohne es zu wissen. Da ist Chaplin, ein Schauspieler, kein sittenstrenger Geistlicher. Sicherlich hat er, ganz von selbst, den Antrieb gehabt, sich in Szene zu setzen. Absichtsvoll die Existenz der Mühseligen nachzuleben, wie mancher Intellektuelle es zeitweilig tut, ist ihm nicht eingefallen.

Aber obwohl er von Anfang an besser als die Lohnarbeiter bezahlt wurde, teilte er dennoch ihr Lebensgefühl, und teilte es beständig. Es kostete ihn Aufrichtigkeit, aber keine Überwindung, damit er aus seinen, scheinbar glücklichen, Umständen eine arme, umgetriebene Gestalt ans Licht zog: sie war nun der wirkliche Mensch. Nicht seine bürgerliche Existenz, nur die lächerliche, reizende, bedauerns- und liebenswerte, die er fortan spielte, war wirklich. Die Gestalt verkörperte, bewahre, daß er es gewollt hätte, sittliche Forderungen. Das Publikum, höchst zweifelhaft gesonnen, nahm der Gestalt zuliebe Mahnungen hin, – jedem anderen hätte es sie verboten.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Bedeutung der Gestalt, die zuerst als wehmütiger Spaß gedacht war, ihrem Urheber aufging; daß sie über ihn Macht gewann, ihn selbst zu einem Geisteskind und Empörer machte: das letzte was er jemals von sich erwartet hätte. Da zeigt er, in einem seiner späten Filme, die Arbeit am laufenden Band – ein schauerlicher Wettlauf des Menschen mit der Maschine, eine groteske Atemlosigkeit, nur erträglich, weil grotesk. Offen, kaum noch statthaft, erklärt sich die Drohung: so geht das nicht lange. So wird mit Menschen nicht verfahren.

Chaplin, in Amerika verhaßt bei allen, die für das laufende Band sind, ist Engländer geblieben. Kommunist, nein. Seine Begabung ist die Moral.

Auch der Dean of Canterbury ist nicht Kommunist. Westeuropäer werden es in der östlichen Bedeutung selten sein; der ganze Antikommunismus ist gegenstandslos. Der Priester, ein normaler Einverstandener, durchaus kein abseitiger Kritiker, erfreut sich einer christlichen Erfüllung: das ist die »neue Demokratie der Arbeiterschaft, als eines Bollwerkes der Sowjetfreiheit«. Das meint, anders gesagt: »Die Armut muß man kennen, um sie zu verstehn.« The very reverend Hewlett Johnson hat, wie manche Intellektuellen beim Beginn dieses Zeitalters, selbst die Probe gemacht, er hat körperlich gearbeitet mit den Mühseligen und ihre rauhe Art der Existenz auf sich genommen.

Seither kennt er das »gefährliche Leben«: es ist allein bei den Kämpfern um das tägliche Brot. Die Feinde der Arbeiter und Enteigner fremder Nationen haben das Wort nur geschändet. Für nichts und wieder nichts fallen, noch lieber andere in den Tod schicken, ist kein gefährliches Leben. Man drückt sich vielmehr von dem harten, aber normalen Leben.

Seither weiß er um Ziele, – die natürlich noch fern sind, aber es kommt darauf an, sie zu sehen. »Den Unterschied zwischen Hirn- und Handarbeit aufheben, dadurch daß Arbeiter so viel lernen wie Ingenieure«, ist real und erreichbar. – »Das junge Volk kontrolliert die Faktoreien, Werkstätten und wissenschaftlichen Arbeiten« wird geistig vorausgesetzt, nicht deutlich angeschaut. Seinesgleichen, gesättigt mit Wirklichkeit, hängt doch immer an Träumen. Ein weiser Skeptiker, der er zum Glück nicht ist, hätte aber niemals den endgültigen Satz gefunden, – aus Traum und Erfahrung formt sich die lautere Wahrheit:

»Ein Land, wo es arme Leute gibt, ist nicht frei.«

Der very reverend betet die Freiheit an, wie seinen Gott selbst. Er gibt wahrhaftig keinem Liberalen nach, sein Dafürhalten wird eher sein, daß sie von Freiheit nur dahinreden und getünchte Gräber sind. Er läßt nichts ab und die sozialen Bürgschaften sind ihm heilig, um so mehr, da sein Land unter den Ländern mit kapitalistischer Klassenherrschaft das letzte ist, wo sie noch eingehalten werden. »Den Arbeitern steht es frei, die Arbeit niederzulegen, obwohl der Hunger sie meistens zwingt, doch wieder zu arbeiten.«

Stolz trotz allem. Engländer geblieben, ungeachtet des glänzendsten Vorbildes dort draußen. Will auch die Pressefreiheit. Unter den gewohnten Umständen ist sie die schroffe Umkehrung der Freiheit: das wird nicht hindern, sie eines Tages richtig zu wenden.

Ein Volk, das lernt und liest, wird keine betrügerische Publizistik der überreichen Interessen mehr haben. Die Interessenten sind weg, und was sie zu sagen hatten, verfiele dem Gelächter. Die Sowjetunion mit ihrer Unzahl von Büchern und den Konsumenten der Bücher nimmt die europäische Zukunft voraus, sie ist schon unsere Nachwelt. Unter den meistgelesenen der heutigen Autoren nennt der britische Priester auch mich: ich bin ihm innig dankbar. Es ist Tatsache: ob ich wollte oder nicht, solange Europa – »Deutsch-Europa« – mir verschlossen bleibt, habe ich ein einziges Feld: Sowjetrußland.

Ich habe es mit Romanen, in denen das Wort Kommunismus weder vorkommt noch dem damals bekannten Sprachgebrauch angehörte. Der Kommunismus, wie seine Heimat ihn versteht, ist mehr als nur ein politisches Bekenntnis. Die Bücher, die ihm Genüge tun, zeugen von einer Anschauung des Menschen, seiner Lage, seiner Bestimmung, die erstens wahr ist, zweitens unsere Würde hebt. Das ist alles. Mehr muß man nicht haben oder tun, um – gegenwärtig allein in Sowjetrußland – populär zu sein.

Die Kommunisten regieren das Reich nur so lange, bis, nach der Definition Lenins, jede Köchin das Regieren erlernt hat. Was Lenin definiert und der englische Priester sich zu eigen macht, ist die moralische Reife: das Erwachen eines Volkes bis zur sittlichen Männlichkeit, die innere – und praktisch experimentierte Zuversicht, daß sie erreichbar sei.

Statt Kommunismus sage man Moralität. Der Kommunismus als Technik der Einrichtungen wäre kein Gegenstand der erregten Neugier. Seine sittlichen Hintergründe sind es. Umgekehrt ist jeder Antikommunist an der Moral durchaus unbeteiligt. Dasselbe gilt für den Antichristen, Antiintellektuellen, es trifft viele Antifaschisten, die nichts weiter sind. Gegen dies und jenes gerichtet – wird man nichts wesentlich anderes als die Widersacher. Was man gerade ablehnen soll, bedingen die Umstände, es ist auswechselbar. Standhaft erhält die Moral. Nur sie macht fruchtbar.

Der Dean of Canterbury hat über den Diktator Stalin das Gute und Rechte gesagt: er ist kein Diktator. Er wäre es, wenn er, gleich den faschistischen Machthabern, die Diktatur für ein Ende, ja, für das Immerwährende hielte. »Sein persönliches Verdienst ist die nationale Freiheit, sie ist seiner größten Werke eines.« Der Brite meint: Freiheit einer Nation ohne arme Leute. Er meint: Freiheit einer Nation mit hohem sittlichen Anspruch.

Der Herr von 1895

Ich bin ihm einmal begegnet, oder weiß nur von dem einen Mal, da unsere frühesten Erlebnisse die späteren überschatten: damals gingen wir in so viel Sonne – und bedauern sie nicht weiter. »J'ai vu tant de soleil«, sagte Stendhal, als er des schönen Italien müde war.

Mein Bruder zählte erst zwanzig Lenze, ich ein paar mehr, man schrieb 1895; da sahen wir über Piazza di Spagna in Rom einen Herrn kommen. Es war ein Herr, neben ihm wurde jeder Beliebige weniger als das. Hierüber verständigten wir uns sogleich; wir hatten den wahrhaft herrschaftlichen Typ erblickt. Unverkennbar war er ein Brite.

Im heimischen Deutschland war uns seinesgleichen nicht vorgekommen, existierte übrigens nicht. Um dieselbe Zeit, dies habe ich nie vergessen, trugen ein deutscher Gelehrter und meine Wenigkeit unsere Namen in das Fremdenbuch des Gasthauses von Tivoli ein. Unseren Beruf gaben wir mit »Globe trotters« an. Tags darauf fanden wir gleich darunter geschrieben: »Graf und Gräfin Sowieso, globe riders.« Sie betonen ihren Vorrang, weil sie nicht immer auf ihren Füßen tippelten, sondern zu Hause ihre Ackergäule ritten. Trotzdem hatte der Mann einen Bauch, die Frau keine Figur.

Unnütz, den Herrn zu beschreiben. Hakennasen, aufgeschossene Gestalten ohne Fett kann man haben. Niemand, außer unserem Lord, der auch ein Kaufmann aus Birmingham sein durfte, besaß in Haltung, Gang und Mienen diese einfache Selbstgewißheit. Ungewollt ist sie da; ein Eigenlob wie »globe riders« widerspräche ihr. So frei von Neugier war nur das eine Gesicht: es verglich nicht. Es ließ das andere – das andere sein. Sich an Menschen und Dingen messen, lag keineswegs im Sinn des Herrn.

Das alte römische Weltreich, über dessen Mittelpunkt er zur selben Stunde schritt, war aus seinen Gedanken abwesend. Nicht, daß er es verachtet hätte; Verachtung ist eine Abart von Interesse. Ihn ging es nichts an. Die selbstverständliche Tatsache des britischen Imperiums deckte alles Gewesene zu. (In Wahrheit ist es kleiner als das römische, die ganze bekannte Welt nimmt es nicht ein. Die Pax Romana hat zweihundert Jahre nach dem praktischen Ende Roms noch immer vorgehalten. Die Pax Britannica ist schon jetzt in hohem Grade der Revision bedürftig.)

Das alte Weltreich, wenn er es dem seinen angenähert hätte, führte allerdings, einmal etabliert, dieselben Kriege mit kleinem Aufgebot: Kolonialkriege, die seinen Mittelpunkt nie berührten. Sein Prestige behauptete es weniger mit angewendeter Gewalt, als durch die kluge Suggestion, sie sei zum Gebrauch bereit.

Der Herr, kann ich mich entsinnen, lächelte. Es war Ironie, oder weniger als das: eine Viertelsironie, die keinen bewußten Hochmut wiedergab. Nur ein Zustand und ein Sachverhalt verzog den Mund. So bewegte sich, ohne Aufsehen zu suchen, unter dem Gewühl der mittleren Zeitgenossen, an einer mehr oder weniger schätzbaren Örtlichkeit – der Herr.

Es ist schon lange her, das freut uns um so mehr, wurde in einer vergessenen Oper gesungen. Zuletzt frommt es nicht, von den Taten seiner Ahnen die ewig stabilen Einnahmen zu haben. Das viktorianische Antlitz über Gebühr festzuhalten ist für niemand gut. Mächtig und nahezu unbestritten, da hinkt etwas. Ein Herr, aber leidenschaftslos, aber korrekt, setzt die Natur ins Unrecht.

Die Briten dieses Krieges und Zeitalters sind unermeßlich größer als ihre nächsten Vorgänger, – die nicht übermütig geworden waren. Gearbeitet haben sie wie jeder, die viel berufenen Rohstoffe bekamen auch sie nicht umsonst. Ihr Ruhm, soviel ist richtig, war ein Nachleuchten.

Die letzte wirkliche Gefahr Britanniens war Napoleon gewesen. Seit seinem Scheitern bei Trafalgar und Waterloo hat England immer zugenommen an Glanz, ohne daß seine Mühen wuchsen. Die anderen waren verhindert, durch eigene Schuld gewiß. England kassierte Erfolge für ganz Europa, zweifellos verdiente Erfolge.

Sein Glanz erlaubte der Insel zeitweilig eine »glanzvolle Scheidung« vom Kontinent. Splendid isolation – kommt fortan nicht wieder. Sondern Abhängigkeit ist verordnet. Sondern Verantwortung ist auferlegt. Aus Europa etwas machen, heißt der Auftrag. Auf alle Fälle etwas aus ihm machen, – besser wird es schon werden, als was der gegenwärtige Inhaber des Kontinentes mit ihm beginnt und vorhat.

Der Unglückliche siegt, wo immer es ihm glückt, ins Leere hinein: früher in Rußland seine Sommerschläge, denen der winterliche Rückschlag zu folgen pflegte. Jetzt klammert er sich, ohne Überzeugung, an das letzte Stück russischen Bodens. Wenn er trotzdem recht behielte? Wenn die Sowjetunion, sehr begreiflicherweise, es satt bekäme, sogar außerhalb der eigenen Grenzen ihre Menschen hinzuopfern? Gesetzt, die Invasion des Kontinents durch ihre westlichen Verbündeten wäre von ihr chimärisch befunden – oder nur zu langsam! Aber das ist vorbei.

Die britische Zähigkeit muß auf der Höhe der russischen Geduld sein, – was sonst gewonnen würde, ist kein Friede; nur die Verzweiflung einer versklavten Welt, ihr chronischer Sklavenaufstand, ein Krieg ohne Ende, der nicht mehr den Namen verdient, eine Abdankung Europas, die keine ist, sondern mit Unheil schwanger geht.

Dem Weltteil die Freiheit retten, heißt das Gesetz Britanniens, ein höheres war ihr nie gegeben. Sich selbst behaupten mit dem Zusatz, daß es auch Europa behauptet, das würde viel Stolz rechtfertigen, mehr Stolz als der Herr von 1895 besaß. Es bedingt ebensoviel Bescheidenheit.

Bescheiden wird man durch Erkenntnisse, – die Vorgänger besaßen sie noch nicht. Eine tiefe Bekanntschaft ist nötig, mit unserer Fragwürdigkeit, unserer Gebrechlichkeit. Dieser Krieg hatte kürzlich eingesetzt, als das Schlachtschiff »Hood« versenkt wurde. Der Untergang des »Hood« fiel, der eindringlichen Mahnung wegen, auf den hundertzwanzigsten Jahrestag der Königin Viktoria.

Ihr Zeitalter, das viktorianische, bleibt das berühmte, seit 2000 Jahren einmalige Beispiel, wie ein Weltreich, kaum bestritten, wächst, gedeiht, friedlich gedeiht, dies trotz Kriegen. Für einen Teil des Weltreiches, der es gerade erst werden sollte, war Krieg, ein anderer hatte ihn hinter sich, – niemals Großbritannien selbst. Von seinen fernen Feldzügen unberührt, ihrer meistens kaum anders bewußt als eines sportlichen Ereignisses, das sich anderswo begibt, aber Lloyd nimmt Wetten an: so herrschte das England der Königin. Das war das Gesicht seiner herrschenden Klasse.

Der Herr von 1944

Seit er der Regierung Seiner Majestät vorsteht, veröffentlichte der Schriftsteller Winston Churchill ein Buch, das von Blut, Schweiß und Tränen handelt. Was er tut, ist ebenso schmerzensreich. Der Minister hat dem Parlament, während es alle seine Rechte wahrnimmt, ganz offen erklärt, zu erwarten habe es nur Blut, Schweiß und Tränen. Auch Disraeli-Beaconsfield sprach seinerzeit zu dem Unterhaus im Stil seiner Romane, er selbst ihre Hauptfigur.

Der Landoffizier und Seemann Churchill hat dem Frieden nie getraut. Als andere davon absahen, war ihm bekannt, daß England der Neuheiten viele werde erleben müssen, sich neu bedenken, kämpfen auf unerhörte Arten und für gründlich andere Ziele als je vorher. Der Abenteurer Churchill wurde allgemein zu kriegerisch befunden. Im vorigen Krieg hatte er ein Amt versehen. Zwischen den Kriegen, als der zweite noch vermeidbar war, aber einzig mit der brutalen Bereitschaft ihn zu wagen, – kam kein Churchill daran.

Er wurde gerufen, als die Not ausbrach. Die hohe Tragödie gab endlich dem Edelmann Churchill seine vornehme Rolle. Sie bleibt die seine bis in Untergang oder Sieg, für ihren tragischen Stil ist jedenfalls gesorgt. Ob er über die Bösewichte der Welt (ihre billigen Bösewichte) triumphiert, oder in den verschiedenen Zonen der Erde seinen Hobby pflegt und Hüte kauft (mehr wert als die schlechten Gesellen), er bleibt, unter der Maske des Zeitalters, ein Held von Corneille.

Er hat den Glauben, er hat auch die Geste, und tritt er auf wo immer, »il est un peu là«. Das macht: unterhalb seiner Berufung, die das Fatum selbst ist, liegt in seiner Brust eine Gleichgültigkeit ohne Namen. Ich bin, was ich bin; solange ich da bin, wird gehandelt bis zur Vernichtung der Feinde. Träfen sie mich früher als ich sie, es hilft ihnen nicht. Sie sind gerichtet, nicht erst von mir. Ich bin entbehrlich.

Das ist aber die vollendete Form des Tragöden: »Sogar ich bin entbehrlich.« Daher fliegt er kreuz und quer über die Erdteile. Gibt bekannt wo er ist, gesetzt, es wäre nicht sowieso ausgespäht. Auf sein Flugzeug wird eine organisierte Jagd gemacht. Sein Weg von Afrika zurück nach London hat eigens abgeschossene Apparate gekostet, nur seinen nicht. Ein Schauspieler, Jude, aus Polen gebürtig, von Aussehen der perfekte Engländer, ist für Churchill gefallen. Wäre es nicht geschehen, bleibt es als ein Gleichnis wahr.

Er selbst überstand noch mehr als eine Reise, deren Verlauf nicht verbürgt war, auch noch zwei Lungenentzündungen. Die hohe Luft hatte auf sein altes Herz gedrückt, wer sagt, daß er durchkommen mußte. Er kommt durch, dank Fatum und Gleichgültigkeit. Tritt wie ein Unsterblicher vor die Kammer hin und verkündet das endgültige feste Ziel: Bedingungslose Unterwerfung – der anderen. Für seinen Teil wird er davon nicht abgehen – er und sein Gewissen, nie.

Käme es anders und er wäre noch da, er dächte wohl: »Auf meinen Krieg mußte ich zwanzig und mehr Jahre warten. Das Folgende mit anzusehen aus der Ewigkeit, verlangt weder Geduld noch Verzicht.« Es ist sicher, daß er an ein Fortleben glaubt, in der Art und aus dem Grund wie Bismarck: »Sonst wäre das Leben nicht das An- und Ausziehen wert.«

Sie sind so, in diesem Zeitalter, und in jedem. Aber dann haben sie sein umwölktes Gesicht, das ich einzig finde. Klasse? Andere seiner Klasse sehen wahrscheinlich noch immer glatt aus, wie ihresgleichen, unter Viktoria. Der tragische Mensch läßt hinter sich seinen Stand, die geistigen Gewohnheiten, nebenbei auch die äußeren, seines Standes.

Sein leidvoller, furchtbar tiefer Blick: »Und wenn die Welt voll Teufel wär«, spricht der Blick. Diese gespannten Lippen: »Ich – oder das Ende«, spricht der verschlossene Mund. Alles, die Zusammenziehung des Wangenmuskels, das dreifach gefaltete Fleisch an der Nasenwurzel, jeder Zug und das ganze Gesicht sprechen aus einer Nähe, als fühlte ich den Atem: »Klopf an, so wird dir aufgetan. Habe Mut! Habe den Mut auf Trümmern, und die Kraft, die dem hartnäckigen Dulder zuwächst!«

Die armen Leute, die er während der Battle of Britain aufsuchte bei ihren rauchenden Trümmern, fühlten und verstanden den Mann. Ihnen mußte er keine Rede halten. Ein Wink mit der Zigarre, sie riefen ihn an. »Winnie!« riefen die Obdachlosen, voll Freundschaft für den breiten, umwölkten Gast. Er saß im Wagen allein, keine Leibgarde, was siegreichen Diktatoren empfohlen sei. Er – war damals nur der Vorderste der Geprüften, inmitten eines Kampfes ohne Zukunft, außer man glaubte und wollte.

»Halten Sie Mr. Churchill für keinen fortschrittlichen Idealisten! Er lebt in den herkömmlichen Anschauungen der englischen Aristokratie«, sagte bald nach Dunkerque ein hochgebildeter, sehr wohlmeinender Amerikaner, damals in Frankreich mein hilfreicher Freund. Aber eine aristokratische Herkunft verpflichtet niemand, stehenzubleiben. Der menschliche Adel kommt, woher er kann. Man muß erfahren haben und muß wissen.

Am 4. August 1789 legte der französische Adel freiwillig (was man so nennt) seine Vorrechte nieder. Dem reichen Bürgertum fiel damals nichts dergleichen ein, und kommt ihm heute, nach Überschreitung jeder anständigen Frist, noch weniger bei. Nie und nirgend hat der Adel sein Unrecht verteidigt mit einer Entschlossenheit wie die Truste. Ihren zweiten Krieg, den Krieg der Welt um die Truste, haben sie nächstens hinter sich gebracht, aber bis zur völligen Ausrottung der Menschheit ist noch weit: sie geben sich nicht verloren.

Deutschland, das, aller Redensarten ungeachtet, nur für die Truste kämpft, zieht ihre Niederlage gar nicht erst in Betracht. Sie sind universal verschachtelt, die europäischen sind nunmehr in Berlin zentralisiert: das Ende der deutschen Bourgeoisie wäre nicht ihres allein. Alles wird für ihre Rettung zusammenwirken, gleichviel, wie der Krieg verläuft. Aber, höchst paradox, wird auch die Niederlage Großbritanniens von seinem Gegner nicht mehr ernstlich eskomptiert. Sie ist versäumt und nicht nachzuholen. Übrigens hätte sie Ergebnisse, die zu weit führen. Die Deutschen fürchten eine heillose Verwirrung, als ob sie nicht mitten darin wären.

Widerspruch über Widerspruch, hassen sie dennoch den einzigen Churchill. Ihn wollen sie töten, nur ihn, dann wäre, ihrem Wahn zufolge, in England niemand übrig, um sie zu enthüllen. Das ist aber ihr Schmerz: erkannt zu sein als viel zu gering für all das Wesen, das ihnen erlaubt wird. Daher ihre Friedensoffensiven, dreister als jede militärische. Der Witz mit Heß unterstellte, daß England nur den einen harten Nacken hat. Nach seiner glücklichen Beseitigung wären sie selbst nicht länger die verdächtigen Nebenfiguren, die sich vordrängen. Ihr historischer Auftrag könnte für beglaubigt gelten.

Sie wären Europa. Sonst keiner. Nun hat dieser Churchill sich wortwörtlich einen »guten Europäer« genannt. Das hat er von Nietzsche, und Nietzsche sprach – für ihn. Er meinte den wahren und starken Mann: kein geistiges Wagnis umgeht er, zu schweigen von den derben Abenteuern. Er darf hintreten und einbekennen: ich bin geschlagen, – wie in der Stunde von Dunkerque. Er, ein konservativer Brite, verspricht seinem Volk das Ende der Drohnen – im guten Glauben, wie völlig feststeht. Neuestens läßt er ein Gesetz vorbereiten: jeder Untertan Seiner Majestät ist künftig seiner Existenz gewiß, derart, daß er das Recht auf Erhaltung gewinnt, sobald er sich einreiht unter die Arbeiter, die Rechenschaft schulden. Wer es ablehnt, darf allein bleiben – nicht anders als in der Sowjetunion.

Konservativ ist nicht das Beharren auf dem Unhaltbaren. »Die Kunst des Möglichen« nannte Bismarck die Politik, seine lebenerhaltende Politik. Das ist auch Churchill. Zu der lebenbejahenden Sowjetunion zieht es ihn ehrlich. Das mörderisch entartete Deutschland widerstrebt ihm: es lügt aus Ohnmacht. Die Lüge ist seine Amme, die keine Milch gibt. Die britischen Kriegsgefangenen anketten und behaupten, England habe es mit den deutschen zuerst getan, – es ist schlechthin unbegreiflich, wie man dermaßen die Verachtung eines Churchill herausfordern mag. Man haßt ihn doch. Von einem, den man haßt, will man doch geachtet sein.

Die deutschen Militärs, immer noch meistens Adlige, haben leider verlernt, daß die Lüge unvornehm ist, und daß sie endgültig Schande bringt, anstatt Vorteil. Ihre bessere Natur (als sie für den König und den Ruhm kämpften) ist nicht nur den Erfolgen Hitlers erlegen. Viel schlimmer, das Wesen der Truste, das über Deutschland waltet, hat auch den Militäradel erfaßt. Er ist zugelassen bei den Monsterspießern der Truste.

Man sagt, damit die Welt Frieden habe, müsse die deutsche Kriegerkaste zerstört werden. Das wäre wenig. Die Kriegerkaste sitzt verschwägert, angestellt und beteiligt in den Präsidialbüros, wo ein Kontinent betrogen wird. Krieg zu führen ist ihr Nebenberuf. Um wenigstens dies zu ihren Gunsten anzuführen: die Militärs sind es nicht gewesen, sie haben kaum jemals gedrängt, daß wieder ein Land überfallen werde. Sie sind nicht, wie gesagt wird, Verbündete der Truste. Verschluckt ist nicht verbündet.

Die Vornehmheit, die nicht lügen mag, erscheint noch jetzt in der Adelskaste Britanniens: nicht zu oft; es wäre schade, wenn Vornehmheit die Regel würde. Aber daher das reine Antlitz ihres Königs, der sich in jeder seiner Ansprachen König seiner Völker nennt, in Britain, North Ireland and the Dominions beyond the seas. Daher das umwölkte Gesicht seines Premierministers – einem Denker und einem Schwerarbeiter würde es anstehen. Er ist beides.

Um England wird nicht gebangt. Zur Zeit ist England dieser Mann, um den niemand bangt. Wenn er krank ist, beten sie, und er steht auf. Indessen liegen nicht weit zurück die Tage, als er und alle Grund zur Furcht hatten. Da erließ er Anweisungen, wie die Nation sich verhalten müsse im Fall der Invasion. Er weiß: der Schrecken eines Einbruchs läßt nach, je näher man sich ihm fühlt, je genauer der Vorgang erwogen wird.

Der mittlere Brite soll ohne Phantasie sein. Dann lehrt jedenfalls ein Churchill ihn, wie es zugehen könnte und wie es ausgehen soll. In vierzehn Millionen von Abdrucken hat er damals der Nation seine Anweisungen erteilt. Er bereitete sie vor: »Leicht mag es einige Wochen währen, bis der Eingedrungene völlig vernichtet ist«. Nur Monate sind es, da wurde der wirkliche Beginn der Invasion verkündet, nur daß es nicht die deutsche in England ist. Die Verbündeten landeten endlich auf Sizilien.

Mr. Churchill und seine amerikanischen Alliierten werden wissen, wie es weiter geht. Er hat vor ihnen sonst allenfalls nichts, nur das eine hat er voraus: sein Land war einstens in Gefahr. Es ist noch gut gegangen für das Leben des Landes. Es hat sich zum Besten gewendet mit seiner Moral. Die heimgesuchte Bevölkerung Englands hatte Tote, sie waren um einiges zahlreicher als die übrigen Opfer der Verkehrsunfälle. Man vervielfache sie, nachgerade steht fest, daß ein Volk vom Sterben der Mütter und Kinder nur härter wird. Nicht jedes, aber dieses Volk.

Dem Herrn von 1944 – Cäsar nannte ihn, in dieser oder jener Absicht, eine politische Dame – würde der »Blitz« liegen. Die deutschen Propagandisten des Blitzes waren ihm, als der Ernst anbrach, mitnichten gewachsen. Das Tempo eines Churchill, wenn nicht alles täuscht, ist presto allegro – und, darf man vermuten, mit langsamen Tränen beiseite. Hiermit will ich aufhören, ich würde zu viel sagen. Für alle die Verachtung, die zu fühlen mir peinlich ist, kann mich nur entschädigen, daß ich auch bewundern darf.

Man gibt soviel man kann, oder hat es schon gegeben. Was ist vornehm, volkstümlich, liebenswert? Am Schluß meiner Lebensbeschreibung des Königs von Frankreich, Henri Quatre, lasse ich ihn zu uns allen sprechen – französisch, da dies seine »langue d'inclination« war. Außerdem hält er seine Allokution lange nach dem Tode und von einer Wolke hernieder.

Er spricht: »J'ai eu mes heures de grandeur. Mais qu'est-ce qu'être grand? Avoir la modestie de servir ses semblables tout en les dépassant. J'ai été prince du sang et peuple. Ventre saint gris, il faut être l'un et l'autre, sous peine de rester un médiocre amasseur d'inutiles deniers.«

Das ist es. Excusez du peu.


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