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Das Ereignis wird wiedergegeben. Es ist nicht das erstemal. Die Worte mögen auch schon benutzt sein.
»Als die Mitglieder des britischen Parlaments am 1. Dezember 1942 ihre Sitzungssäle betraten, fand jedes auf seinem Tisch den frischen Abzug eines neuen Buches, denselben Tag war es erschienen. Es hatte einen furchterregenden Titel: ›Report of the Inter-Departmental Committee on Social Insurance and Allied Services‹ – Bericht des zwischenamtlichen Ausschusses über Sozialversicherung und damit verbundene Leistungen.
Der Bericht sah nicht gerade interessant aus. Er hatte zwei Bände, 300 000 Worte, so viel wie vier Romane gewöhnlichen Umfangs. Er war voll von Statistiken, Tabellen und langen Zahlenreihen.
Bevor der Tag um war, hatte dies Buch aus den Überschriften der Londoner Presse den Krieg glattweg verdrängt. Denn dies war der lang erwartete Beveridge-Bericht, auf dessen Seiten das britische Volk die Urkunde seiner Zukunft zu finden hoffte: einen Führer auf dem Weg zur wirtschaftlichen Sicherheit für alle. Es war ein großer Tag gewesen.«
Fünfundvierzig Jahre lang hat Britannien ein System sozialer Sicherheiten aufgebaut. Über »Kompensationen« der Arbeit datieren gesetzliche Bestimmungen 1897, erweitert wurden sie 1906. Arbeitslosenversicherung war teilweise eingeführt 1912, allgemein wurde sie 1920. Altersrenten gibt es seit 1908; ein System der Beitragspflicht zugunsten der Alten, der Witwen und Waisen trat 1925 in Kraft.
Zu derselben Zeit stellten die Lebensversicherungsgesellschaften, die Gewerkschaften (Labour Unions) und Friendly Societies eigene, freiwillige Versicherungspläne auf. Heute sind Versicherungen erhältlich gegen jedes Unglück, das dem Menschen zustoßen kann. Die Ansicht besteht, daß Britannien in der ganzen Welt eines der fortgeschrittensten Systeme von Sozialversicherung habe.
Aber es hat seine Schwächen. Da sind Dutzende verschiedener Organisationen, die einen staatlich, die andern privat. Das heißt: sie greifen übereinander. Es heißt auch, daß nicht alle Leute von jedem Versicherungsschema gedeckt sind.
Die großbritannische Regierung – ihr Erster Minister, Mr. Churchill – wurde dieser Fehler gewahr und beschloß, das System zu vereinheitlichen (to streamline). Das Inter-Departmental Committee wurde eingesetzt, Juni 1941, mit Sir William Beveridge als Vorsitzenden. Er war beauftragt, die vorhandenen nationalen Systeme der Sozialversicherung und benachbarter Leistungen (services), einschließlich der Arbeiterlöhne, nachzuprüfen und Vorschläge zu machen.
ist nur diesmal ein Staatsbeamter, sonst ein Gelehrter. Er studierte Jus, ließ aber die Anwaltslaufbahn fallen, um zu leben und zu arbeiten in Toynbee Hall, einem berühmten Settlement der elenden Gegenden von London. Demgemäß hat er gehandelt wie um die gleiche Zeit junge kontinentale Gelehrte. Sie fuhren in Schächte ein, sie erlernten die soziale Frage bei ihr zu Hause. Es hatte niemals Folgen. Kein konservativer Minister hat sie berufen, Vorschläge zu machen.
Der junge Beveridge erhielt Förderung von den Stützen der sozialistischen Wirtschaftslehre, den Gatten Sydney und Beatrice Webb. Die Webb machten Churchill auf ihn aufmerksam.
Unter Lloyd George war er Munitionsminister im Weltkrieg I. Nach dem Krieg wurde er Direktor der London School of Economics. Von dort ging er nach Oxford als Master of University College – (Abteilungsleiter)
Die Berufung durch den Minister, der ihn lange kannte, verstand Sir William als seine große Gelegenheit, eine der »Vier Freiheiten« in Großbritannien zu verwirklichen. Er meinte: frei sein von Not.
»Der Sicherheitsplan in meinem Bericht ist ein Plan, um die Worte ›soziale Sicherheit‹ von Worten in Taten zu verkehren. Versichern bedeutet, daß niemand in Britannien, der arbeiten will, solange er kann, ohne hinreichendes Einkommen sein soll. Es soll jederzeit genügen, ihm und seiner Familie die wesentlichen Bedürfnisse zu sichern.«
Zugrunde legt Sir William den Vorschlag, daß jeder Brite, ob Kanalräumer, Bankier, Hausfrau, Stenographin, ohne Unterschied von Klasse, Geschlecht, Alter oder Einkommen, mit einbezogen werde in ein Versicherungssystem: es soll ihn schützen vor jedem Notfall, gegen den man sich nur sichern kann.
Es würde ihn decken von der Wiege bis zum Grabe. Mutterschaftsversicherung für seine Mutter würde seine Geburt beschützen. Bestattungsversicherung würde alle Sorge wegen eines anständigen Begräbnisses beseitigen. In die Zwischenzeit fielen richtig bemessene Zuwendungen für die Kinder an ihre Eltern, gerechte Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfälle während seiner Arbeitsjahre. Kann er nicht mehr arbeiten, würde er ein Ruhegehalt beziehen.
Das Ruhegehalt, wenn irgend jemand die Arbeit niederlegt, soll keine unzulängliche Hilfe sein. Niemand soll wirtschaftlich – und sozial – mehrere Stufen hinabsteigen, weil seine Kräfte verbraucht sind. Das Alter ist bis jetzt von den Ungewißheiten der Existenz die beängstigendste. Das Ruhegehalt soll berechnet sein im Verhältnis zu dem höchsten Einkommen, das einer erreicht hatte. Es ist kein Geschenk, so wenig die Staatspensionäre von Geschenken leben.
Sir William ist der Meinung, daß Engländer nicht gern Geschenke annehmen, auch von ihrer Regierung nicht. Daher möchte er, daß jeder sein Scherflein beiträgt. Zuwendungen für Kinder sollen direkt vom Schatzamt bezahlt werden. Zu den meisten anderen Wohltaten des Gesetzes sollen Arbeitgeber und Angestellte beisteuern.
Herzog und Lumpensammler würden gleichermaßen mittragen an dem gemeinsamen Einsatz und Vorteile daraus ziehen gemäß ihren Bedürfnissen.
(Die Bedürfnisse eines Herzogs überschreiten wahrscheinlich seinen Anteil am gemeinsamen Einsatz. Er darf nur zahlen. Es ist umgekehrt wie bei dem Gesetz, das verbietet Brot zu stehlen und unter Brücken zu schlafen. Auch das gilt für arm und reich, trifft aber allein die Armen.)
Der britische Entwurf der Versicherung einer Existenz nützt zuerst den Armen: damit will er allen nützen. Die neue Auffassung will der Not keine erträglichen Grenzen setzen: sie soll verschwinden. Die Auffassung heißt wörtlich: »Die Not abzuschaffen ist leicht innerhalb der wirtschaftlichen Hilfsmittel der Gemeinschaft. Die Not war ein unnötiges Ärgernis (scandal) – nur möglich, weil man sich nicht die Mühe gab, ihr vorzubeugen.«
Hier ist das – ausdrücklich gegebene – Versprechen wirtschaftlicher Sicherheit für alle: Abschaffung der Furcht vor Not, und der Not. Hier ist eine Demokratisierung – keine Sozialisierung – des Einkommens, ausdrücklich berechnet, beide, Wirtschaft und Gesellschaft, zu revolutionieren. (Zu revolutionieren.)
Dennoch, so wird behauptet, ist der Plan im Wesen konservativ – ein Plan, bestimmt, das System privater Unternehmung und Initiative zu erhalten und zu stützen. Er wird charakteristisch für Britannien genannt.
Dies sagt man. Weiter wird gesagt: »Evolution eher als Revolution.« (Wir müssen das anderswo schon gehört haben. Es wurde nur nicht wahr, oder blieb nicht wahr.) Änderung des Rechtes eher als Gewalt, ist der Schlüssel zur britischen Geschichte. Drastischer wurde kein Wechsel jemals vorgeschlagen, er gibt sich aber als ein gewöhnlicher Bericht eines gewöhnlichen Ausschusses und soll den gewöhnlichen parlamentarischen Geschäftsgang durchlaufen. Er wird in der Hauptsache das vollendete Werk (the achievement) einer konservativen Regierung sein. Wort für Wort richtig.
Trotz allem taucht dieser Name auf – zu vermuten steht: zuerst bei hoffnungsvollen Anhängern des Planes, dann übernahmen ihn die Gegner. »Dieser Plan hat nichts zu tun mit Kapitalismus oder Kommunismus.« Es soll sich zeigen. Massen, denen die Existenz gesetzlich verbürgt ist, hängen von dem Willen der wirtschaftlich Starken, oder von ihrem Bedürfnis nach Macht, nicht in dem Grade ab wie vorher.
Demokratisierung und Sozialisierung scheinen einander wert zu sein. »Eine natürliche Entwicklung aus der Vergangenheit, eine britische Revolution«, wiederholt Sir William. Mr. Churchill stimmt bei. Indessen kennen beide im Unterhaus vierzig Abgeordnete, die Versicherungsgesellschaften vertreten und nicht zulassen können, daß dieselben Leistungen, an denen verdient wurde, als unentgeltliche Pflicht dem Staat anheimfallen.
Daraus folgt ein Widerstand, der sicher erwartet wird. Es folgen innere Kämpfe, die während des Krieges nicht statthaft wären; das Gesetz soll nachher beraten werden. Den großen Interessenten gegen das Gesetz schließen sich mittlere an. Der Verband der Ärzte widerspricht der Sozialisierung ihres Berufes. Das Gesetz sieht ihre öffentliche Besoldung vor. Individuelle Bezahlung würden sie so wenig zu fordern haben wie die Ärzte der Sowjetunion, und nur sie.
Was den wichtigen Kostenpunkt der Gesundheitspflege angeht, beträgt er das gleiche – gar nichts – für den Herzog und den Lumpensammler. Alsbald fällt auf, daß die auch nicht unwichtige Rechtspflege immer noch zu einem Teil den Klienten der Anwälte zur Last liegt. Juristen würden unbegrenzt verdienen können, Mediziner nicht. Ebenso hätten von den großen Finanzgruppen allein die Versicherungsgesellschaften ihre Verstaatlichung nahe zu gewärtigen. Die Produktionsmittel würden nicht so bald verstaatlicht werden. Nur der Weg dorthin ist eröffnet.
Kommunismus ist Verstaatlichung der Produktionsmittel – aller wirtschaftlichen Gebiete, die nicht dem Konsum, sondern der Herstellung bestimmt sind. Kommunismus ist nichts weiter als das; aber das eine verlangt er. Kommunismus hat im geringsten nichts gemein mit Weltanschauung – oder seine ganze Philosophie wäre die Verbesserung der menschlichen Lage. Es handelt sich einzig und allein darum, ob die Rohstoffe – les matières premières, das Erste, um allen die Existenz zu sichern – allen gehören sollen oder wenigen.
Der Kommunismus schließt Reichtum nicht aus. Einer kann mehr verdienen als der andere, die Wirtschaft bleibt kommunistisch. Da er selbst abhängt von Gütern, die er nicht besitzt, werden andere vor seiner Macht nicht zittern. Der Besitz macht nicht mächtig. Die Begabung, Geld zu verdienen, war sonst die einzige, mit der man zur wirklichen Macht gelangte. Sie wurde verwechselt mit dem Wert des Menschen. Unter dem Kommunismus wird der Sinn für den Profit ein entbehrliches Detail; mit Intellektualität kommt man weiter.
Der Gesetzesplan Churchill-Beveridge – und die hohe Spannung der Gemüter, die um seinetwillen in Britannien anhält – werden die Probe auf den Kommunismus machen. Sind seine menschlichen Gewinne zu erreichen – ohne ihn?
Ein Russe urteilte: »Der halbe Weg nach Moskau? Noch nicht halb über den Ärmelkanal!« Gleichwohl wäre eine erste Strecke beschritten. Die Frage ist weniger: wie weit? als mit wie viel Überzeugung? Glaubt die Nation an das Gesetz? Ja. Denn niemals hätte sie ohne Glauben zwei Millionen Exemplare gekauft, von zwei Bänden, stark wie vier Romane, und können nur gelesen werden, wenn der Gegenstand die Seelen brennt.
Wird in der Freude des Sieges, oder in der Müdigkeit nach dem Sieg, das Versprechen des Gesetzes vergessen sein? Man hört die Vergeßlichkeit strikt ausschließen. Auf den Sieg stehe für jeden Briten gerade dieser Preis: Sicherung seiner Existenz durch das Gesetz Churchill-Beveridge.
Wäre es anerkannte Tatsache, daß eine Änderung der Dinge von Grund auf die Gemüter erfaßt und sich in ihnen befestigt hat; daß Unterlassungen des Versprochenen, fest Erwarteten gefährlich wären, entstellende Abschwächungen nicht ungefährlich: dann fehlen nur noch die vernünftigen Entschuldigungen, weil das nicht länger Vermeidbare wirklich geschehen soll.
Einige Industrielle wenden die unerträglichen Kosten des Gesetzes ein. Andere erwidern, es sei eine billige Versicherung gegen die »rote Revolution«. Die Kosten sind auf Grund des jetzt gegebenen Zustandes – des Krieges – berechnet worden. Das Gesetz würde für zwölf Monate dasselbe Geld erfordern wie der Krieg in zwanzig Tagen.
Finanztechnisch geraten wäre zu verhindern, daß nochmals Krieg kommt: Zwanzig Tage des Jahres wären doppelt belastet, einmal mit dem Krieg, das andere Mal mit der Versicherung der Existenz.
Aber vielleicht ließe sich bedenken, ob Versicherungen der Existenz nicht gerade veranlaßt werden vom Widerwillen gegen den Krieg. Ob nicht von der ersten, jemals verfügten Arbeiterversicherung bis zu der integral geschützten Existenz, die nunmehr geplant wird, dasselbe Motiv schweigsam hinter den Dingen stand. Ob am Anfang des Zeitalters Fürst Otto von Bismarck etwas anderes gewollt hat als an seinem Ende Mr. Winston Churchill: den Frieden!
Die deutsche Arbeiterversicherung begann 1883. Ihr folgte der englische Versuch 14 – vierzehn – Jahre später, 1897. Die erste deutsche Probe war ein Krankenversicherungsgesetz, beschlossen am 15. Juni 1883. Die zweite, durch den Erfolg ermutigt, ist das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juni 1884. Fünf Jahre nachher, den 22. Juni 1889, sind auch das Alter und die Invalidität der Arbeiter durch Versicherung geschützt worden.
Inspiration und Wille gehörten einem Mann, dessen Anfänge näher den Befreiungskriegen gegen Napoleon als der »sozialen Frage« lagen. Diese wurde das Schlagwort der Zeit, als sein Werk und Name ihn gesättigt haben konnten. Er war es nicht, kannte übrigens keine Zufriedenheit mit einer gelungenen, endgültig umrissenen Tat. Fertig ist gar nicht, das vorige Vollbringen verlangt vom nächsten bestätigt zu werden, sonst war es verfehlt. Er sagt, daß er sich niemals in Ruhe habe freuen dürfen.
Ich bin weder befugt, von der menschlichen Größe abzusehen, noch verbiete ich mir, ihre Schwächen zu erraten. Die Anwandlungen von Entmutigung sind häufig, wie ich weiß, bei schöpferischen Gemütern. Wie denn anders, ihr Mut wäre ohne Relief, Fürst Bismarck, Reichskanzler, nach der seither erfolgten Aufklärung einziger Kanzler eines Reiches, das mit ihm kam und ging – war außerordentlich von Feindschaft belastet, je höher seine erarbeitete Geltung, je grandioser die Gestalt. Ich sage dies in dem, noch geheimnisvollen, Zusammenhang der Erscheinungen – von ihm bis Winston Churchill.
Hof und Adel waren von ihrem Instinkt gewarnt vor dem heimlichen Revolutionär. (Heute wäre er auf seiten der Sowjetunion.) Mit offenem Widerwillen verfolgte ihn der Geist der Zeit, der liberal war. Kein großer Gelehrter, niemand von dem geistigen Sternenhimmel, der uns wirklich beschien, hat aus Neigung, aus innerer Gemeinschaft mit ihm verkehrt. Für seine notgedrungenen Mitarbeiter, den »liberalen Geheimrat« als gegebenen Typ, empfand er Verachtung. Die Sozialisten der Zeit, liberaler als sie wußten, haßten den Despoten.
Es begab sich, daß er Ferdinand Lassalle empfing, eine romantische Figur – fiel im Duell für eine Frau –, Privatgelehrter, vermögender Jude: der fremdartige Amateur allein brachte Leben in die deutsche Arbeiterbewegung. Wie kam es? Bismarck hat keinen Forscher oder Darsteller von Weltruf zu sich geladen; aber er bat einen Agitator, der zweifellos Erfolg hatte. Erfolg im geschlossenen Raum, mit seiner feurigen Persönlichkeit, bei einer Klasse, die es erst werden sollte: Deutschland war bei weitem nicht Industriestaat. Noch 1893, Bismarck war längst gegangen, gewann ich mit meiner Behauptung, ich machte sie rein aus jugendlichem Übermut: die Mehrheit der Deutschen sei in der Landwirtschaft.
Der ehemalige Landjunker, sollte man meinen, hat seine alte Ansicht der menschlichen noch mehr als der sozialen Schichtungen wohl konserviert. Er wäre kein Konservativer (oder Tory). Arbeiter? Auf dem Lande sind sie, sogar unter ihm noch, halbwegs leibeigen. In den Städten dienen sie, zufolge angeborener Armut – die weder eine Klasse noch Rechte hervorbringt. Die Masse der Armen ist ein breiter Körper mit aller wünschenswerten Tragkraft. Auf ihm bewegen sich um so freier, um so gehobener die Bildung und der Besitz. (Die Bildung wurde immer zuerst genannt.)
Der Mann, dessen frühester Begriff der Welt von ein paar Äckern bestimmt war, hat jetzt als sein Feld einen Erdteil, nur den einen. Da ruft er den merkwürdigen Gast. Man findet es nachher sonderbar; auch daß er mit diesem Lassalle nicht in seinen Amtsräumen gesprochen hatte. Sie waren das kleine Gartenhaus, das er sein Auswärtiges Amt nannte. Draußen unter den großen Bäumen erging sich das ungleiche Paar. Es genügte wohl der improvisierten Laune, die, wie anzunehmen, dem Besuch zugrunde lag. Sonst sah man keinen Grund.
Oder man erkannte die gewohnte Sorge des großen Mannes, neben sich nichts aufkommen zu lassen, weder die Leuchten des freisinnigen Bürgertums noch überhaupt die Freiheit, kein dreistes Wort, das ihn herabsetzt. (Ich erinnere mich: ein Journalist wurde eingesperrt, weil er unehrerbietig »Fußlappen« geschrieben hatte. Als ob ein Fürst seine Füße bekleidete wie ein Knecht.) Daher der Empfang, der eine Herausforderung an die Besten war. Statt ihrer der eitle Prophet einer Sekte, die noch nicht einmal ihre bevölkerungsmäßigen Schranken erreichte: das Gros der Arbeiter wählte liberal. Eine interessante Angst vor der Sozialdemokratie empfand der Kleinbürger, ohne ganz zu vergessen, die Gefahr sei eingebildet. Unheimlich, aber nicht ernst zu nehmen, so stand es am Anfang. Denselben unklaren Eindruck machte noch unlängst der Kommunismus. Keinen Augenblick hat das Europa westlich der Sowjetunion ihn für sich vorausgesehen – während »der halbe Weg nach Moskau« schon offen lag, schon einlud. Nur bis zum Antikommunismus reichte der Verstand.
Kein Rätsel ist, was der Sozialist dem deutschen, vielmehr europäischen Staatsmann zu sagen hatte. Es war eine große Gelegenheit, er ist intensiv gewesen. Für gespannte, gewagte Naturen besaß ein Bismarck den verwandten Sinn; in seiner Nähe unterhielt er alte Revolutionäre, sie hatten von der bürgerlichen Freiheit mehr verlangt als nur den Einfluß des Besitzes. Lieber arbeiteten sie für einen geistvollen Machthaber als gegen ihn zugunsten einer hinfälligen Konvention, die unter dem Namen der Freiheit ging.
Bismarck hatte sachliche Neuigkeiten von Lassalle erfahren. Die genaue Lebensform der Arbeiter war ihm aus eigener Anschauung nicht bekannt. Ihre Ansprüche, oder wollte man sie angesichts ihrer Ohnmacht nur Wünsche nennen, hatte er weder nahe betrachtet, noch ermessen, wie viel sie eigentlich aussagten. Nicht über die Wünschenden allein, noch mehr über andere, die ihnen das Unentbehrliche gewähren konnten und nicht gewährten. Wo die Privatleute säumen und versäumen, greift der Staat ein. Den Gedanken hatte er vom Hause mitgebracht, umlernen mußte er nicht wie der begabte Kaufmannssohn Lassalle.
Wie sind damals seine Nächte gewesen? Die Tage waren vollbesetzt mit internationaler Politik: sie hieß für ihn nichts anderes als die Befestigung und Dauer seines Reiches, das dafür nicht gemacht war, er allein hat es gewußt. 1879 bekam er einen Bericht, der ihn kaum überraschte. Der russische Staatskanzler, Fürst Gortschakow, glaubte sich unbelauscht, als er in Baden-Baden die Wahrheit sprach: »J'aurais voulu la guerre, mais la France avait d'autres idées.« Die Mächte bereuten, daß sie eine neue Macht, die deutsche, zugelassen hatten. Bismarck hielt es sich immer gegenwärtig.
Als die Französische Republik den Krieg ausschlug, konnte sie ihn offenbar nicht brauchen. Ihre Vorgänger hatten ihr ungetane Arbeiten, einschließlich der Laienschule, hinterlassen. Die Nation war fruchtbarer mit sich beschäftigt als mit Rückerobern, Wiederverlieren, nochmaligem Hereinholen immer derselben territorialen Grenzstreifen. Das zweitgrößte Kolonialreich anzulegen, verdiente den Vorzug, es ergab Reichtum und Ruhm. Der deutsche Staatsmann hat die Ausdehnung Frankreichs neidlos begünstigt. Dankbar mußte er ihm nicht sein: das Interesse der Republik deckte sich mit dem seinen. Es hieß: Befestigung und Dauer. Es hieß zuletzt: Europa.
Den Italiener Crispi, der Frankreich zwischen sich und ihm aufteilen wollte, hat er ungewöhnlich dumm gefunden. Sollte es ein Rückschritt nach den Zeiten der dynastischen Kriege sein? Die Dynastie Savoyen war Frankreich einigermaßen verpflichtet. Nationale Kriege hatten die dynastischen abgelöst.
Ihr Sinn war gewesen, mehrere noch unfertige Nationen zu vollenden. Die Aufnahme fremder Teile hätten sie fragwürdig gemacht wie zuvor. Bismarck hatte die Frage seines eigenen Weiterlebens gestellt, als er die Annexion Böhmens verhinderte. Er hatte die Einverleibung des Elsaß ungern zugelassen, ganz zu schweigen von Metz. Der Kenner Frankreichs sah die illustren Gestalten des Landes, Könige, Feldherren, Revolutionäre, gerade diese Stadt betreten in jedem höchst bewegten Augenblick einer Geschichte, die er achtete. Straßburg? Im Hause des Bürgermeisters war die Marseillaise gesungen worden, das erstemal, frisch geboren Melodie und Text.
Der Marschtritt preußischer Regimenter in diesen Städten (die er nicht besuchte) kann seinem Patriotismus gefallen haben: seinem feinen Gehör klang er unecht. Er selbst hatte seinem Geschöpf, dem Deutschen Reich, genug Gefahren mitgegeben; die eigenen Zugeständnisse – waren sie wirklich vermeidbar? – und das fremde Übelwollen, mit beiden muß man auskommen. Fehlte nur, daß eine neue Art von Krieg ihm angeboten wurde: der weder dynastische, noch nationale. Eine Ausgeburt – wovon?
Der Minister Crispi war, was Italiener oft gewesen sind, eine geniale, noch eher unbesorgte Vorwegnahme. Ein Präfaschist ohne die fertige Grundlage des Faschismus. Bismarck sah etwas wie einen anarchistischen Abenteurer: die Zerschlagung einer alten und unentbehrlichen Nation, der französischen, gibt ihm nichts zu bedenken, ein aufgelöstes, verwildertes Europa nichts. Denn, so viel ist sicher, er verantwortet weder Tradition noch hohen Zusammenhang, wie der deutsche Staatsmann.
Diese Erinnerung will nicht abschweifen. (Auch zu Mr. Winston Churchill wird sie noch führen.) Ich bin verpflichtet, darauf zu bestehen, daß Deutschland in seiner Gestaltung durch Otto v. Bismarck eine konservative Wohltat dieses Erdteiles gewesen ist – von seiner Bedrohung endlos entfernt. Nicht die Furcht entfernt von schädlichen Wagnissen endgültig: leicht kann sie aufhören, wenn am wenigsten die Zeit wäre. Was einen Mann gegen Versuchungen befestigt, ist die Erkenntnis und ist das Gewissen.
Der Angreifer, der vollendete oder virtuelle, war, als Bismarck wachte, sein Deutschland nicht: die mitgeborene Sendung seines Deutschlands ist nicht zu stören, zu zerstören. Angreifer aus Konfusion, mit falschem Zungenschlag, wie gewöhnlich, waren andere, und wurden nur technisch verhindert, hauptsächlich weil Bismarck wachte, über Deutschland, über den Kontinent. Um dereinst der Angreifer zu werden, mußte sein Reich – nicht heranreifen, sondern entarten. Ihn hatte es dann wohl vergessen oder nie verstanden. Das letzte Wort, das er ihnen mitgab, »Quieta non movere«, wurde für Stille des Alters gehalten.
Die »Gedanken und Erinnerungen« des Vollendeten handeln von Haupt- und Staatsaktionen – Metternich, Talleyrand, jeder Minister, der ohne Volk regiert, konnte dasselbe machen, um seine Schritte ausnahmslos zu rechtfertigen, seine Feinde unfehlbar zu beschämen. Alle hatten ihre wichtigsten Feinde am Hof ihres Monarchen. Ein Drittel ihrer Kraft haben sie aufgewendet, um Intrigen zu begegnen: auch der letzte, der noch Hofkanzler, obwohl auf halbem Weg zum Volkstribunen war. Des Nachts, wenn niemand seinen Sturz betrieb und die gefürchteten Angreifer ihre Rache nur träumten, fand er die Muße, an Intimitäten zu denken.
Einiges behält der öffentliche Mann für sich allein. Sie beobachteten ihn, aber erraten ihn nicht. Dieser Lassalle, denkt der Schlaflose, mag als Figur verspätet, als Intellekt verfrüht sein. Unmöglich, weil fremd geartet? Ich war ein armer kleiner Edelmann und nicht einmal das, sondern bürgerlich von der Mutter her und nur zur Hälfte geeignet für eine große Laufbahn in Preußen. Ich war ein Raufbold und Wagehals, was die zeitgenössische Romantik von der gemeinverständlichen Seite zeigte. Ihre vornehme ist sprachliche Gepflegtheit, womit man weit kommt. La littérature mène à tout, à condition d'en sortir.
Lassalle ist ungebührlich steckengeblieben, noch immer Literat und Streithengst. Beides verriet sein Gespräch wider Willen. Er wußte, daß er sich höflich geben sollte, war auch darauf bedacht, mit seiner guten Erziehung nicht aufzufallen. Es geht nicht, ich kenne das. Mir hat noch keiner meine Höflichkeit geglaubt, und einen Vers von Shakespeare, wenn er in meine Rede einfließt, nehmen sie für ein falsches Alibi. Was er mit seiner persönlichen Haltung wegwischen möchte, sah ich gerade. Wie wenn ich dabei wäre, bemächtigt er sich einer Tribüne, hat sie der rückständigen Gewalt, mir selbst hat er sie abgerungen und behauptet sie drohend, ein Robespierre ohne Fallbeil.
Der Mann irrt natürlich. Wie wenig ich von unseren Arbeitern weiß, ruhige Leute sind sie bestimmt, da alle Deutschen für ihr Temperament einen Zuschuß nötig hätten von einer halben Flasche französischen Weines. Der Mann wird sie nicht aufputschen. Revolutionen werden in Deutschland von oben gemacht.
Was kann ich von ihm brauchen – und wofür? Das bedeutet vor allem: gegen wen? Es scheint, daß wir zu einem Teil dieselben Sorgen haben, noch eher: denselben Haß. Warum kam der Mann zu mir? Zu klug, als daß er mir rundweg gesagt hätte: das liberale Bürgertum wünscht Sie zum Teufel. Halten Sie sich an die Arbeiter, ihr Herz ist arm und rein. So liegt es ja nicht, sondern alle zusammen zählen als meine Aktivposten drei glückliche Kriege. Sonst macht jeder seine Abzüge.
Wenn es so weitergeht, werde ich meine Kriege verwünschen lernen. Bereuen will ich sie nicht, habe mit Gott und meinem Gewissen abgerechnet. Aber überliefert werden als der Militarist? Die Nachwelt, schlecht berichtet wie sie ist, wird vergessen haben, daß ich zu meiner Zeit den Verdacht erregt habe, als sei ich ein Gegner des Heeres. Der Italiener scheint davon nicht gehört zu haben. Wer ist er eigentlich, mit seiner dummdreisten Zumutung, die mir, schwer zu sagen warum, nach einer Neuheit aussieht? Gortschakow beneidet mich. Neid ist ein Mißverständnis. »J'aurais voulu la guerre« – da verrät sich die veraltete Mittelmäßigkeit.
Wäre noch die Zeit für Kriege um des Prestige willen, Prestige der Dynasten oder Minister, er müßte nicht seine Ohnmacht eingestehen. »Ich möchte, aber ich kann nicht«: traurig, erinnert an Louis Napoléon. Dem einen persönlichen Antrieb folgte ich allerdings, als ich sein Ende beschloß. Ich enthüllte ihm und den Mächten, die ihm den Vorrang beimaßen, wer er wirklich war: une médiocrité méconnue. Dieser Crispi ist auch das nicht. Bisher unbekannte Figuren ziehen an ihm von hinten. Wer sind sie?
Wer, um des Himmels willen, kann den Krieg wollen, seine auffallend zukünftige Art, die nationale Vernichtung? Während die Nationen und die regierenden Häuser nicht einmal mehr die partiellen Erschütterungen vertrügen: andere habe ich ihnen nicht zugemutet. Das nächste Mal ginge es um unseren Bestand – vielleicht um Europa, sicher um uns, soviel wir haben und sind. Bildung und Besitz! Ein weniger höflicher Mann schlüge auf den Tisch, wenn er es hört. Die sind es, ihnen sehe ich an, daß sie mich für Eroberungen stark machen würden, wenn ich mit ihnen Umgang hätte.
Italien ist ein armes Land – weil es zu viele arme Leute hat. Ist es an mir, ihnen zu sagen, daß der übermäßige Großgrundbesitz nicht mehr lange haltbar ist? Mehr Bauern, und sie werden dort aufhören, von französischen Reichtümern zu träumen. Frankreich ist wohlhabend, weil es genug kleine und mittlere propriétaires hat. Andernfalls wäre es genau so kriegerisch wie meine Patrioten der besseren Stände. Die Deutschtümelei begleitet jetzt immer das große Verdienen.
Bei uns haben sie eigene Parteien, die ebenso national wie liberal sind und die lieber den Krieg wählen würden, als daß Bildung und Besitz etwas abließen. Sie fühlen sich stolz als meine Getreuen, unter der Voraussetzung, daß ich ihretwegen auch Krieg machen würde, da ich drei nationale Kriege gemacht habe. National heißt jetzt, fängt an, im Unterton zu bedeuten: die reichen Leute reicher machen auf Kosten besiegter Nationen und ihren Besitz garantieren gegen die Armen, die ihnen gefährlich werden könnten. Denn die Armen vermehren sich, grenzen sich ab und sind im Begriff, sich zu zählen.
Lassalle hat davon nichts erwähnt. Ich stoße auf seine Gedanken, während ich in meinen Zusammenhängen bleibe: die sind ihm fremd. Internationale Politik nimmt leider ein ganzes Leben ein. Sie ist die Sorge um Sein und Nichtsein einer Nation, die ich in den Sattel gehoben habe, mit der gewagten Behauptung, reiten werde sie schon können. Internationale Politik ist mithin die Verpflichtung, einen Kontinent auszugleichen, damit er nicht in Tobsucht verfällt. »Ehrlicher Makler« nannte ich mich, und es war anstößig, warum? Weil die Bescheidenheit bis zur Indezenz gehen kann?
Der Agitator ist ausgefüllt von der Angst einiger zehntausend Arbeiter um ihre Existenz. Er hat recht, die Leute müssen wirklich fürchten – was alles, die Krankheit, das Alter, den Mißbrauch ihrer Kraft. Er nannte mir Berufe, in denen man mit fünfzig Jahren stirbt. Mir wäre kein Krieg, der nur meinem Vorteil diente, die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert. Die Arbeitgeber erlauben sich mehr als ich, es wird Zeit, sie zurückzupfeifen. Nachtarbeit! Kinderarbeit! Man sieht dem zu, als wäre es von Gott gewollt. (Verzeih mir!) On ne saurait penser ä tout, und woran man nicht gedacht hat, daran ging viel zugrunde.
Seine sozialen Gesetze sind allerdings aufgefaßt worden, als hätte er zeitweilig sein Hauptgebiet verlassen, sei von der hohen Politik zu unverbindlichen Einzelheiten herabgestiegen und habe eingewilligt, statt »eisern« (seine Marke), für diesmal mild und väterlich zu scheinen. Es liegt anders. Seine hier erwogenen Nachtgedanken sind gedacht worden – im vollen Zusammenhang seines gesamten Denkens, das Deutschland und das Europa umfaßte. Sein Haß war beteiligt, sein Gewissen bestimmte ihn, seine Fürsorge ging über die versicherten Arbeiter hinaus.
Er versicherte sein Reich, und das Gefüge, der Reiche, gesetzt, sie erkannten das Beispiel. Er baute vor, der Krankheit, dem Unfall, die auf seinem internationalen Gebiet nur den einen Namen – Krieg – haben. Der märkische Junker und große Europäer legte Bresche in die Alleinherrschaft des Liberalismus – der ihm widerwärtig war durch seine Selbstzufriedenheit, seinen Hochmut, als wäre er endgültig.
Der Liberalismus, wirtschaftlich verstanden, ist der Absolutismus des Besitzes: eines ungeregelten, ungesicherten, abenteuerlichen Besitzes, der im Notfall – noch vor dem Notfall, wie es seither geschehen – zur Gewalt greifen wird. Nun behält ein Bismarck das Äußerste, die Gewalt, sich selbst vor. Das Trachten Bismarcks ist, sie überflüssig zu machen.
Den Absolutismus, in dem er aufgewachsen war, will er auch nicht hinter sich gelassen haben, damit eine Klasse ohne Tradition ihn übernimmt. Ein beständiger Zuwachs von Abhängigen, den Geschäften ganz weniger unterordnet, endlich aber auf Schlachtfelder geschickt um ihres Geschäftes willen, das fehlte noch. Seine eigene Macht war die bessere, und seine soziale Voraussicht wurde bestimmt durch den öffentlichen Anstand: er liegt hinter dem Horizont von Erwerbsbürgern.
Was er aus geistiger Keuschheit für sich behielt. »Das Moralische versteht sich immer von selbst« ist für solche Fälle sein Wort. Das Moralische ergibt sich aber aus begriffenen Zusammenhängen: nur eine hohe Intelligenz erfährt es wirklich.
Auch Wilhelm II. hat an der Arbeitergesetzgebung teilgenommen. Jeder hätte es getan, einmal angelassen lief sie weiter; man konnte Pausen einlegen, wenn man meinte, mit der Gerechtigkeit sei es für das erste genug. »Die Kompottschüssel ist voll«, sprach der kaiserliche Wohltäter: ein Wort voll Torheit, voll sittlicher Ahnungslosigkeit, von demselben Ursprung wie das spätere, bei Ausbruch des Krieges: »Das habe ich nicht gewollt.«
Nein, er war weder ausdrücklich gerecht, noch brach er das Recht mit Vorbedacht. Den Arbeitern glaubte er mit sozialen Gesetzen – Gnaden zu erweisen. Respekt glaubte er allein dem Besitz zu schulden. Dieser Kaiser mit der Seele eines Parvenu hofierte unentwegt die reichen Leute, Deutschlands und der Welt. Die Existenzfurcht der meisten, die Besitzgier der geringen Zahl und Krieg: das hat für ihn kein Ganzes ergeben.
Warum denn, für eine mittlere, wenn auch anspruchsvolle Natur. Die übrigen Deutschen dachten nicht weiter, nicht richtiger als ihr Kaiser – und als die Partei der Arbeiter selbst. Sozialdemokraten sind unter Wilhelm militaristisch – alldeutsch gewesen. Unfreiwillig wechseln sie von den Ausgenutzten und künftigen Kriegsopfern hinüber zu den Ausbeutern, die zuletzt den Abhängigen ihr Leben abfordern werden.
Mangelhafter Sinn für Zusammenhänge. Hochmut einer Scheinmacht: mehr ist die Sozialdemokratie nie gewesen. Jeder Hitler konnte die Partei und ihre Einrichtungen zerschlagen: sie wurden geistig falsch oder gar nicht verteidigt, da sie ohnehin selbsttätig und unangreifbar sein sollten.
Sie sind daher heller Auflösung verfallen, noch vor jeder Anwendung von Gewalt. Im letzten Abschnitt der Republik ernährte eine »Wohlfahrt« ohne Ziel und Überblick nicht nur viele Millionen Arbeitsloser, sondern alle geschickten Schmarotzer. Hergereiste Fremde haben von den Almosen deutscher Ämter im Überfluß gelebt.
Es kam dahin, daß ein Herr von Papen, der auch einmal Reichskanzler gewesen ist, den »Wohlfahrtsstaat« verhöhnen durfte. Nicht lange, dann ist ihm oder anderen eingefallen, daß Wohlfahrt, wenigstens in der Absicht, etwas Freundliches ist. Seitdem versagte er sich den Hinweis, daß er und sein Hitler keine Freunde der Deutschen seien.
Unerwartete Frage desselben Papen, als er die »Machtergreifung« seines Schützlings betrieb: »Müssen denn alle Polizeipräsidenten Sozialdemokraten sein?« Worauf er sie sämtlich absetzte. Hitler brauchte nur noch die Gewerkschaften auseinanderzutreiben. Fünf Jahre später war auch die Kinderarbeit wieder da – mehr: reglementiert, in System gebracht.
So endet das Werk des einzigen Staatsmannes, den die Deutschen gehabt haben. In demselben Augenblick wie seine soziale Gesetzgebung hört sein Reich zu bestehen auf: der normalisierte Staat mit gesicherten Grenzen, verbürgtem Recht, einbegriffen den Schutz gegen den immanenten Anarchismus des liberalen Besitzes.
Zu groß, zu viel auf einmal: die Deutschen haben es zu ihrer Zeit mißverstanden. Sie waren unvorbereitet durch Erziehung und Erleben. Die ablaufenden Dezennien lehrten sie erst recht nichts, im Gegenteil. Aus einem Glück, das wir uns nicht verdienen, wird Unheil.
Das Vereinigte Königreich begann mit dem Aufbau eines Systems der sozialen Sicherheiten 1879, vierzehn Jahre nach Bismarck. Warum der zeitliche Abstand? Großbritannien war industrialisiert, unvergleichlich weiter als Deutschland. Aber die sozialen Sicherungen eilten ihm nicht, es war national gesichert, keine fremde Macht hat im Ernst daran gedacht, die Ausnahme unter den Mächten anzugreifen.
Das Imperium fürchtete auch nicht, wie das schwierige Reich Bismarcks, die imperialistischen Verschwörungen einer besitzenden Schicht. Europäische Eroberungen sind von einer Klasse, die noch reicher, oder von Untertanen Seiner Majestät, die britischer als sie sein wollte, niemals betrieben oder nur begehrt worden. Die kolonialen Unternehmen waren, nicht immer in militärischer, aber in sozialer Hinsicht gefahrlos. Sie blieben ausschließlich vorteilhaft, sogar für die Gesamtheit. Übrigens herrschte über noch so viele Kriege die pax britannica. In sie ging früher oder später jede Erwerbung ein. Dank der Weisheit Englands vergaßen die eroberten Länder, daß sie erobert waren.
Die soziale Erfindung des Weltreiches ist das Commonwealth aller seiner Teile: eine so große Neuheit, daß die revolutionäre Sowjetunion von ihr lernen konnte. Die Arbeiterversicherungen auf der alten Insel bekommen im Zusammenhang eines lebensversicherten Viertels der Welt das Ansehen von Details, die mühelos mit hingehen. In Wirklichkeit ist um sie gekämpft worden, entschlossen wie um ein Dominion: das sind sie. Die Arbeiterklasse, bald streitbar, bald fügsam, begreift sich schwerlich anders, als daß sie das Reich trägt, gleich einem Lord. (Ihre Männer stimmen im House of Lords.)
Dagegen deutsche Arbeiter? Die Deutschen haben in diesem Krieg, solange sie siegten, mit Überzeugung, nachher verzweifelt gekämpft, in beiden Fällen, weil sie nichts zu verlieren hatten. Noch immer, aus Rußland ausgetrieben, wehren sich die geschlagenen Knaben und Greise, mit Anfällen eines retour agressif. In voller Flucht durch Italien streben sie nach dem vorletzten Halt sich anzuklammern.
Sie müssen doch sehen wie alle Welt, daß Frankreich für sie verloren ist. Die Alliierten sind nicht nur gelandet, sie landeten in der Normandie, bemächtigten sich vor allem des Cotentin mit dem Hafen von Cherbourg und nehmen nicht zuerst den Weg nach Osten. Ihr Ziel ist die Bretagne, die Halbinsel und Seefestung. Genau dort wollte 1940 General de Gaulle ansetzen, um Frankreich zurückzuerobern. Damals von den Verrätern überstimmt, entzog er sich ihnen und ging nach England. Vier Jahre später, der erste Plan wird wörtlich ausgeführt. Die Tatsachen bestimmen und bleiben sich gleich.
Die deutschen Soldaten haben gegen sich die Natur der Dinge, das geschichtliche Gesetz und den Menschengeist: diese alle verbieten ihnen in Frankreich zu bleiben; sie fordern ohne den Schatten eines Widerspruches, daß Frankreich befreit, das Land der großen Vergangenheit sich selbst zurückgegeben werde. Den lebendigen Befehl vernehmen alle, nicht ausgeschlossen die deutschen Soldaten. Wild oder mutlos beharren sie dennoch auf verlorenem Posten – im eigenen Land ist nichts mehr zu verlieren. Da liegt der Grund.
Die Aufgabe ihrer sozialen Rechte – nur die Greise erinnern sich des Verlustes, nicht die Knaben – diese erste Niederlage der Deutschen hat alle folgenden nach sich gezogen. Von Stufe zu Stufe: die praktische Wiedereinführung der Folter, und die gesetzliche der Kinderarbeit, 1938, noch vor dem Krieg, gerade für den Krieg. Denn er war beschlossen, und die deutschen Arbeiter reichten nicht. Krieg machen, und nicht einmal Arbeiter haben! Aber sie hatten die Kinder, sie setzten ihr brauchbares Alter jedesmal niedriger, Januar 1944 waren sie so weit, die Arbeit der Sechsjährigen in Regeln zu bringen.
Von Stufe zu Stufe: der Krieg. Die Auflösung des Reiches, das grenzenlos, daher inexistent wird. Völkerwanderung. Überfremdung Deutschlands, es ist nunmehr seiner Männer entblößt wie nur ein Besiegter. Volle Anarchie der Gewalt: der Gewalt weniger Überreicher, einer Partei und Polizei, die sie bedienen. Das Leben der Hingerichteten so billig wie das Sterben der im Feld Erlegten, wie das Dasein und der Tod der brennenden Städte. (Zweitausend und einige hundert politische Hinrichtungen in einem Monat des Jahres 1944.)
Die Rache der Sieger, mit der man die deutschen Soldaten zur Ausdauer anhält, ist von den Drohungen die schwächere, eine schwach vorgestellte Bestrafung. Aber sie kennen sehr wohl die schon jetzt erlittenen Strafen, den Zustand ihres Landes, den Empfang, der sie erwartet, das Kriegsglück des nackten Lebens, das ihres sein und bleiben wird. »Jetzt kämpfen wir um das nackte Leben«, wird ihnen von Berlin bis in die Schlachten nachgebrüllt. Es ist nackt, sie wissen, und haben nur vergessen oder nie bemerkt, wovon es zuerst entkleidet wurde: von den sozialen Rechten. Von der Arbeiterversicherung.
Mr. Churchill hat, wie anzunehmen, mit den andern Phänomenen des Zeitalters auch das Schicksal dieser Deutschen überlegt. Er unterscheidet zweifellos die Herkunft ihrer Fehlerhaftigkeit und furchtbaren Irrtümer. Nenne man sie verbrecherisch oder verzweifelt – auch ein Amokläufer, ein zeitweilig Unzurechnungsfähiger, kommt schließlich vor das Gericht. Die deutschen Soldaten sind nur Landsknechte – ohne Land, und um so schlimmer für sie, wenn sie ihr volles Bewußtsein hätten.
Ein Mann von Tiefe und psychologischem Radikalismus läßt sich warnen von einem alleräußersten Fall – der bei ihm zu Hause nicht eintreten kann, aber weiß man? Die Zeit ist dem Extremen zugewendet. Die Menschen und die Völker kennen selbst nicht die Zügellosigkeit, deren sie eines Tages fähig sein sollen. Ihre ungesicherte Existenz bedarf vielleicht nur einer geringen Überschreitung des Zulässigen. Wann das Maß überlaufen wird, bestimmt niemand im voraus. Immerhin ist erwiesen, daß die Existenzangst ihre jeweilig höchste Aktualität nach Kriegen erlangt.
Das Gesetz Churchill-Beveridge betrifft zuerst die Korrektur der Vergangenheit, es zieht die dringliche innere Folgerung aus einer überwundenen Lebensgefahr – der Sieg wird sie beseitigt haben.
Das ist viel, es verlangt Kühnheit. Dem Inspirator des Gesetzes wäre es zu wenig, es bliebe hinter seinem Mut zurück. Kein Zweifel besteht, daß er große Politik macht und auf die Zukunft der Welt abzielt. Das Aussehen trügt, als wäre sein Versicherungsgesetz eine innere Angelegenheit, das Schicksal der Nationen bliebe ihnen überlassen. Nein, sondern die Wahl ist ihnen abgenommen. Dem britischen Beispiel widersteht man nicht. Man konnte – ohne wahre Überzeugung – sich absperren gegen die lebendige Mahnung der Sowjetunion, unter dem Vorgeben, sie sei eine Welt für sich, ihr Experiment nicht übertragbar.
England – ist keine Welt für sich, es ist die altvertraute Heimat der Realisierungen. Ihnen folgt Europa nunmehr zweihundert Jahre – mit oft gestörter Mäßigung und Ausdauer. Aber wie die Französische Revolution zuletzt doch das britische Staatssystem auf dem Kontinent angesiedelt hat, desgleichen ist schon im sechzehnten Jahrhundert die Gewissensfreiheit, relativ wie sie war und blieb, im nördlichen Europa durchgedrungen dank England. Seine große Königin wachte über die Niederlande. Elisabeth war die einzig getreue Freundin des Königs von Frankreich, Henri.
Die Freiheit im neuen Verstande – frei zu sein von einem Existenzkampf, der entartet war bis zur Aufhebung der Menschenwürde – zielt auf das ganze Europa und hat es ausersehen seit dem Augenblick, da ihr Plan vor den Sitzen der britischen Abgeordneten lag. Dem armen Europa fehlt nur Zeit, es muß sich eines tristen Unterdrückers entledigen: dies sogar geht nur mit England und seinen Verbündeten. Der eine hat bis Moskau nicht weit, er ist Moskau. Der zweite, die Vereinigten Staaten, besitzt schon jetzt ein National Resources Planning Board – frei nach Churchill-Beveridge; hinzugefügt ist die Arbeitsbeschaffung.
Die anderen, Freund oder Feind, sind in Erwartung. Niemand kann glauben, daß ein Land – ein Land dieses Europa, über das Krieg, einer, zwei, ein Zeitalter von Kriegen dahingeschritten ist – nachher seine vorige Lebensform wieder aufnehmen wird. Es hat das alte Lebensgefühl nicht mehr. Die Völker sind nicht willig, kein einziges, dem bekannten Existenzkampf sich nochmals auszuliefern. Die Zumutung wäre nach allen Leiden der Hohn. Die Unsicherheit und Angst der Existenz wären von dem sonst Geübten die verzerrte Übertreibung. Das soziale Gesicht trüge die offenkundigen Züge des Wahnsinns.
Die Abhängigkeit der Massen von privaten Machthabern hat sie gefügig für den Krieg gemacht. Der Krieg wird dauern, bis sie befreit sind. Die Territorien, wird nur vorausgesetzt. Die Menschen! Solange sie nicht frei von einem schändlichen Kampf um die Existenz, sind, wird Krieg sein. Er wird nicht in zwanzig Jahren neu ausbrechen; er wird niemals aufgehört haben. Die Feststellung ist nicht verdienstvoll, weil sie gewagt wäre: ihre Einfachheit hindert.
Mr. Churchill weiß, was er weiß. Sein Beruf ist, ohne viel Worte ein Ende zu machen und neu anzufangen, da es notwendig ist. Wer den handelnden Männern zusieht – aber es gibt kein bloßes Zusehen –, bedenkt immer noch zu wenig, daß sie frei zu handeln sind, wie sie wollen; nur was sie wollen müssen, ist über ihren Kopf beschlossen: Vor sechzig Jahren vermittelte die erste Arbeiterversicherung des Fürsten Bismarck den Eindruck der Freiwilligkeit, beinahe der Laune. Sie war der Entschluß von Nächten, in denen er abrechnete und Vorgriff, in denen er hohe Politik machte.
Auch der Premierminister leitet mit seiner Gesetzesvorlage, so logisch der Zug der Dinge sie mitführt, national begrenzt, wie sie sich gibt, eine weltweit gemeinte Aktion ein. Sein Versicherungsgesetz ist in Wahrheit nicht die innere Angelegenheit, für die es öffentlich noch gilt. Es soll nicht allein müde Kämpfer belohnen: die frischen Lebensschüler, deren blanke Augen eine Zukunft anmelden, sollen ihre Kräfte frei haben für würdigere Objekte als die bloße Existenz. Wenn man das Beispiel Britanniens überall befolgt, wird Europa nicht so bald wieder der Schauplatz von Kriegen um Sein und Nichtsein werden. Denn es ist nicht länger die Szene des Krieges im Frieden, der Abhängigkeiten, der Gefügigkeit, der Angst, der Existenzangst.
Der britische Gesetzgeber hat mehr Abneigung, aber auch Erfolg und Dank hat er bei weitem reicher zu erhoffen, als vor sechzig Jahren der deutsche, den man kaum verstand. Übrigens ist es dasselbe. Die Unterschiede damals und jetzt sind zeitlich, sie hängen an frühen und späten Zuständen derselben Erscheinung, des Existenzkampfes – seine internationalen Krisen heißen Krieg.
Bismarck fand sich gehalten, die Spuren dreier Kriege zu löschen – noch mehr in den menschlichen Zusammenhängen als in den politischen. Den nächsten aufhalten war die Arbeit seiner letzten fünfzehn Jahre. Dies nennt er: abrechnen mit Gott (mit seinem Gewissen). Mr. Churchill, »sehr kriegerisch«, wie seine Landsleute ihm im voraus nachsagten, auch er will den gefräßigsten aller Kriege rechtfertigen vor Gott (vor seinem Gewissen).
Das geschieht erstens durch die Preisgabe der eigenen Person. Er ist bereit gewesen und fühlte sich gedrängt, bei der Eroberung des normannischen Strandkopfes selbst seinen Mann zu stehen: am D-day da zu sein und sich zu zeigen – besonders für den Fall eines Unglücks. Mich erinnert es an Bismarck im Böhmischen Feldzug – andere Motive, und ganz im Grunde dieselben.
Der Strandkopf war erobert, aber unter Feuer: da ließ er sich nicht länger abweisen, kam wirklich. Dies ist, noch besser als sonst, in Moskau gewürdigt worden. Vielleicht aber zielte er auf Moskau ab? Die radikale Persönlichkeit, dort haben sie Erfahrung mit ihr. Ein Mann hat seine große Stunde; mit seinen zwei Augen, seinem kühlen Kopf, nicht immer beherrschten Herzen verkörpert er einen Augenblick des Reiches. Das Reich wagt sein Leben – oh! in guter Zuversicht. Er läßt es darauf ankommen, in welchem Winkel eine Kugel ihren Weg nimmt. Sie fliegt vorbei.
Das andere ist sein Gesetz. Leichter hätte er den physischen Mut sich schenken dürfen als den moralischen. Was Bismarck »Zivilcourage« nannte. Den »Drohnen« ihr Ende ankündigen. Dem Viertel der Erde, das auf ihn hört, nichts weiter darbieten als Blut und Tränen, Mühen und Schweiß; handeln aber, als könnten die Sekretionen des Menschenleids aufhören in widerwärtiges Lachen zu gerinnen.
Sentimental, nein. Eher vermuteten Kenner es bei dem ersten, am Anfang des Zeitalters, daß dieser abschließen soll. Die populäre Marke beider wäre »eisern«, gesetzt, die großen Männer des Zeitalters würden noch immer getrübt und überhitzt betrachtet, wie wilde Ausnahmen: man bricht in die Knie oder ballt die Faust. So steht es diesmal nicht. Die mittleren Menschen, es sieht so aus, sind den großen Männern ein Stück nachgerückt, sie vernachlässigen sogar, den richtigen Abstand zu halten. In der Art, als wären die großen Männer nicht durchaus benötigt und wären ohne eigenen Titel – während so viele mittlere Menschen amtlich den Titel »Held« führen.
Kamerad Stalin, Roosevelt und Churchill, dieselben Kameraden, haben bei ihren Zeitgenossen keine Legende, ihr bloßer Name fasziniert nicht wie einstmals die Namen Napoleon und Bismarck, als ihr Glück und Ende unentschieden waren. Dafür tappt der mittlere Mensch über die vorderen Figuren nicht gerade im Dunkeln, er liebt und haßt sie ohne viel Mißverstand, wenn man will, aus der Nähe. Denn dies Zeitalter kommt zum Schluß und Übergang. Wenn es mit Ehren abtritt, was wir erwarten, aber nicht leugnen dürfen, dann wird die Ehre den namhaften Gestalten, aber auch den anonymen, mittleren verdankt.
Ihre Massen, die zeitweilig tief verachteten Massen, erleben in den spätesten Tagen des Zeitalters dennoch die Geschichte, die sie verantworten, die sie selbst hätten machen wollen: endlich ist es so weit. Vorher eine Sintflut von Unheil, es ist wahr, der lange Krieg in immer gesteigerten Abschnitten, ein Existenzkampf, nachgerade ohne Gegenstand und Zukunft. (»Mit Arbeit werden Sie nie so viel verdienen, daß Sie nach Haus reisen können«, sprach eine mexikanische Arbeiterin zu einer deutschen.) Endlich ist es so weit – oder scheint ernstlich zu hoffen, daß heimgereist wird.
Heim – bedeutet allen das gleiche –, ob die inszenierte Völkerwanderung sie verschlagen hat, ob sie in ihrem Städtchen, ihrem Geburtshaus leben und sterben. Das echte Heim wird der Friede sein. Die lohnende Arbeit und das Recht auf die Existenz werden das verlorene, wiedergefundene Heim sein. Nunmehr wird es begehrt mit unbändiger Macht. Nichts zwingt die Dinge wie der Druck der Seelen. Daher steht wahrscheinlich in der Welt mehr Güte bevor. Sogar Dauer könnte der Gewinn an Vernunft und Güte haben, gesetzt, wir Menschen vertrügen Dauer. »Kriege wird es immer geben.« Gerade Kamerad Stalin spricht es.
Gleichviel, die Ehre des Zeitalters ist – beinahe gerettet. Sie wollte, daß inmitten alles niedrigen Hasses, den die Intellektualität seitens Unzuständiger erfahren hatte, diese drei Intellektuellen, und keine anderen, die Spitze der Reiche einnahmen. Sentimental, nein. Sie wollen den Menschen wohl, aus geistiger Redlichkeit: sie ist das Sicherste. Dennoch hielten zwei von ihnen letzthin die denkwürdigsten Ansprachen – der sechste Juni ist, in Frankreich war soeben gelandet, die Befreiung des Kontinentes bricht an.
Da hält der Präsident für hundert Millionen Hörer eine Rede; indessen richtet er sie, im Wortlaut, an keine irdische Stelle. Sie ist von Anfang bis Ende ein Gebet, das gehaltenste, innigste, ein einziger Ruf nach der Gerechtigkeit des Herrn, nach seiner Gnade, die allein das Recht verbürgt: nur muß man tragen, was es kostet! Die Mühen werden angenommen, die Opfer dargebracht. Die Rede ist schlechthin der feierlichste Akt. Alle Herzen knien, alle Gedanken beten mit, zu dem Besten im Menschen, Gott genannt.
Am Abend spricht der Premierminister. Seine Stimme ist nicht gleich zu erkennen. Er weiß, daß er etwas Einmaliges vorhat; außerdem verlangt es eine ungewöhnliche Technik. Er detachiert die Worte, wie die ersten Noten der Mondscheinsonate einzeln an- und hinanklingen. (»Kann er ein Andante spielen?« fragte Beethoven, weil es das schwerste ist.) Dieser Sprecher will keine verzauberte Nacht beschwören. Er berichtet einen überaus harten Tag, die nüchternen Tatsachen der Landung in Frankreich. Damit Stimmung zu erreichen, daß die Herzen stocken!
Bemerkt er ganz deutlich, was er tut? Zum Schluß soll ihm etwas begegnen, das er nicht voraussieht. Seine aktuellen Aufzählungen verlaufen zuletzt dennoch in ein Gebet: soweit gut. Die Ergriffenheit eines Viertels der Erde darf verlangen, daß er endlich »My Lord!« sagt, und er sagt es. Flüssig kommt es nicht heraus. Seine Rede ist immer langsamer geworden, hier fürchtet man die unfreiwillige Pause. Die Stimme scheint ihm abgeschnürt, sein Lord weiß, wovon. Wenn es Tränen wären?
Wie schon öfter bei diesen letzten Männern des Zeitalters dachte ich an meinen Bismarck: seine Tränenkrisen, die weder hysterisch noch sentimental waren, und er verbarg sie, in seine Legende passen sie nicht. Als vierter neben den Lebenden darf er nicht zitiert werden: er ist ein Feind, sogar der folgenschwerste aller Feinde, wie man meinen will. Was macht es ihm aus, und was mir? Die menschliche Größe zeigt sich, wenn sie verewigt ist. Wenn sie kein Land mehr hat und in allen Sprachen schweigt.
Am Ende eines Zeitalters haben die großen Männer es leichter als an seinem Anfang, sich verständlich zu machen. Jetzt sind sie, mitsamt ihren Nationen, die Befreier – von einem Feind, der selbst am meisten der Befreiung bedarf, und es weiß.