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Friedrich der Zweite von Preußen, genannt der Große, rühmte an der französischen Sprache ihre Energie – nichts anderes, weder Geschmeidigkeit noch Wohllaut. Ein König, der Intellekt und Tat gleich hoch hielt, kannte sein Leben lang nur französische Schriftsteller und französische Feldherren. Dem Augenschein entgegen, trotz Weimar und Goethe, behauptete er: la bonne société parle français. Er begehrte einzig den Ruhm, und teilte sich in die Aufmerksamkeit des Jahrhunderts mit Voltaire.
Von jung auf hat er die Freundschaft und das Bündnis des Königs von Frankreich gesucht; jedes andere, noch so nützliche, war wider seinen Sinn. Als Louis XV. ihm das Wohlwollen entzog, hat er fassungslos gelitten. Kein Gedanke an Vergeltung – bei einem König, der seinen Feinden nichts vergaß. Jedes Treffen mit den französischen Armeen überließ er, solange möglich, seinen deutschen und englischen Verbündeten. Als er endlich, bei Roßbach, über Franzosen siegen mußte, weil sein General es nicht anders tat, machte Friedrich sich unsichtbar. Alsbald ehrte er die Unterlegenen, als hätte er abzubitten. Sein unentwegter Vorsatz: an die Seite Frankreichs! Seine ganze Politik: Er – beglänzt von der französischen Zivilisation!
Der Thron von Frankreich war ihm nicht der Sitz der Macht allein: an ihr hätte er seine gemessen. Unvergleichlich fand er die Gesittung auf allen Stufen zum Thron, in dem von ferne miterlebten Versailles, dem nie betretenen Paris. Die erleuchteten Geister des anderen Königreiches saßen um seinen Tisch in Potsdam – nicht gerade freiwillig, aber das störte ihn nicht. Er verehrte an Frankreich die europäische Geltung seiner – wenngleich verbannten – Philosophen. Er bestaunte an Frankreich die so militärische, bürgerliche Leitung des Staates: sie hätte er sich so wenig erlauben dürfen wie den Vorrang der Denker.
Übrigens behandelte er seine Pensionäre, sobald er sie hatte, wie Schmarotzer oder wie Gefangene. Trug in Versailles niemand Uniform, auch die Marschälle nicht, bei ihm herrschte blaues Tuch. Der König starb überaltert, wunderlich, in dem Glauben, daß Europa, moralisch verstanden, Frankreich sei. Daß es »pas si mal« sei, als König von Preußen auf die Welt und Nachwelt zu kommen. Das Höhere wäre gewesen, unter der Glorie des Königs von Frankreich geboren zu werden. Seinen Vasallen im Herzen hatte er sich immer gefühlt.
Das Verhältnis Friedrichs II. zu Frankreich wiederholt sich, mit zeitgemäßen Abwandlungen, bei den meisten Europäern von Rang, durch zwei Jahrhunderte. Herabgesetzt im Bewußtsein der Absichten und Gründe, hatte es die gewöhnlichen Leute erfaßt. Die Spuren des Gefühls für eine französische Überlegenheit, ob sie anerkannt wurde oder nicht, sind in den Sitten der Nationen übrig. Höchstens unter geflissentlicher Nachhilfe verschwinden sie aus den Sprachen. Moralische Neuheiten, die ein Aufstand sind, mußten vorfallen, militärische Ereignisse sie besiegeln, damit im internationalen Verkehr nur wenige der großen Kanzleien zum Gebrauch ihres eigenen Idioms übergingen.
Die tschechoslowakische Republik ernannte das Französische zu ihrer zweiten Staatssprache. Zweifellos zu Ehren eines Verbündeten, an den sie glaubte. Ferner im Sinn einer europäischen Tradition. Wir sind jeder da und dort, aber alle auch in Frankreich geboren. Wir führen lebenslang Vorstellungen und Begriffe mit, die nicht wären, wenn nicht Frankreich wäre, und die uns an unsere Kindheit erinnern. Unmittelbar oder aus zweiter Hand sind wir mit dem Worte Frankreichs genährt. Die Märchen von Perrault, europäischer Volksbesitz für immer, waren das erste Buch, das ich mit fünf Jahren selbst las. Seither las ich tausende, die aus Frankreich kamen.
Die nationale Geschichte Frankreichs ist unter allen Geschichten die anschaulichste. Auch die mustergültige: wenn nur in Betracht gezogen wird, daß die früheste Einheitsmonarchie und die erste der beiden großen Revolutionen dieses Kontinentes soviel Nachahmung herausforderten wie Begeisterung und Haß. Die Menschenarten schieden sich über jeder französischen Affäre. Frankreich ist oft gehaßt, oft geliebt worden. Gleichgültig ließ es nie.
Um zu unterscheiden: dies waren Eindrücke Fremder, die von einer spektakulären Nation gespannt, nicht verpflichtet werden. Was den Begriff der Franzosen von sich selbst angeht, gefällt es ihrem Sprecher Voltaire einmal auch, den schlechtesten anzuzeigen. Von einer seiner Personen berichtet er nicht ohne Zustimmung: »Obwohl die Geschichte Frankreichs mit Greueln angefüllt ist wie alle anderen, schien sie ihm doch so widerwärtig in ihren Anfängen, so trocken in ihrer Mitte, im ganzen so klein, sogar zur Zeit von Henri IV., immer so bar großer Denksteine, so fremd den schönen Entdeckungen, die andere Nationen berühmt gemacht haben, daß er gegen Langweile ankämpfen mußte, um einzeln den obskuren Jammer zu lesen, wie ein Winkel der Welt ihn einschließt.«
Wohlverstanden trifft dieses Maß von Überdruß keine besondere, vielmehr die Menschheitsgeschichte überhaupt: wie die redende Person auch hinzusetzt. Sie sagt der Geschichte noch das Beste nach: »Es scheint, daß die Geschichte nur gefällt wie eine Tragödie, die ermattet, außer es beleben sie Leidenschaften, Untaten und großes Weh.«
Ich betrat Frankreich 1933, da erwarteten es Leidenschaften, Untaten und großes Weh. Die dünne Schicht der Reichen, ermutigt und erbost durch ihrer aller Hitler, sollte beides, Mut und Bosheit, an der Gesamtheit der Demütigen auslassen. Die Schicht der Reichen hat ihrem fremden Vorbild geglaubt, anstatt einem volkstümlichen Frankreich, das nicht mehr ihres war; dem Vorbild hat die dünne Schicht es verraten. Die Dritte Republik ist erlegen: ein sehr großes Weh.
Hier steht es von Grund auf anders als mit der deutschen Republik, die keine Geschichte, geschweige eine rühmliche hatte, als sie fiel. Sie war schamhaft geboren, ohne viel Ehre wurde sie beigesetzt. Die französische Dritte Republik ist, kurz und entschieden, ein Abschnitt, glänzender als die Regierung des Sonnenkönigs, erfolgreicher als Napoleon und an innerem Wert von Sittlichkeit und Güte nur vergleichbar dem besten aller Könige, Henri Quatre.
Die Dritte Republik konnte bestehen siebenzig Jahre, länger als der fleißigste Fürst, weil sie richtig angefangen hatte – mit ihrem, ehrenhaften Widerstand gegen einen Feind im Land, mit Gambetta und dem Volksheer, mit der Pariser Kommune. Auch mit der Kommune. Ein Besiegter hat Grund, vorwegzunehmen, was noch nicht an der Zeit ist. Und wer ein Land überfällt, ist mit Recht hinter ihm zurück.
Die Dritte Republik hat ein Kolonialreich geschaffen, an Umfang und Macht folgte es auf das britische. Die Metropole samt ihrem Besitz zählte hundert Millionen Menschen. Frankreich hat niemand bedrückt, es gab bei ihm keine Kolonialskandale, außer den finanziellen, die in Privatgeschäften nicht fehlen können. Seine farbigen Untertanen fühlten sich angezogen von dieser Gesittung und Sprache. Ihr Ehrgeiz, wirklich Franzosen zu sein, ist sichtlich lebendiger als überall sonst der Wunsch der Beschützten, sich dem Beschützer anzugleichen.
Eine Eigenheit Frankreichs fällt auf, seine Begabung für den menschlichen Ausgleich, die Aufnahme und Verarbeitung Ungleicher, bis sie dieselben sind in Gesten, Ton, im Blick. Das afrikanische Algier ist ein französisches Departement wie Seine et Oise: das wäre noch wenig. Aber in der Société des gens de lettres saß mir gegenüber ein dunkler Mann von »den Inseln«. Sein Angesicht, das schon ins Graue erblaßte, zeigte Falten wie eure, meine französischen Freunde; sie verliefen wie eure, wenn ihr ein Leben lang gedacht habt – und werdet überrascht, während ihr ohne Ironie seid.
»Da bahnte durch das umgebende Volk sich seinen Weg ein Greis mit sehr trauriger Miene, schwarzer Kleidung und hohem Hut –.« So erscheint dem gemeinen Mann der große Intellektuelle. So erblickt der Straßenhändler Crainquebille die Leuchte der Wissenschaft, die vergebens herabsteigt, ihn vor der ungerechten Verhaftung zu retten. Die Geschichte von Anatole France ist ein Dokument der Dritten Republik. In der Person des Doktor David Matthieu, Chefarzt, Offizier der Ehrenlegion, leiden alle Wissenden unter dem Unrecht, mehr als seine Opfer; leiden für Crainquebille, für Dreyfus – und kämpfen gegen Leidenschaften, Untaten und großes Weh.
Sie haben niemals ganz gesiegt, es wäre außerhalb der Natur gewesen. Sie hatten dennoch Erfolg, ihren Anstrengungen ist es geschuldet, wenn die Dritte Republik die menschliche Lage verbesserte. Sie hat, innerhalb der gegebenen Grenzen eines Klassenstaates, das Gesetz gemäßigt; nach seiner Herkunft ist es gegen die Armen allein gerichtet. Seine Anwendung wurde bei ihr milder; sogar ein Mann, den man den guten Richter benannte, kam vor. Einer ist viel.
Ein Magnaud, ein Zola, ein Clémenceau wären genug, damit die Dritte Republik ihr kraftvolles Gesicht erhält. Sie war, mit den Vorbehalten, die Voltaire der menschlichen Geschichte und der französischen macht, mit allen Einschränkungen war sie dennoch auf außerordentliche Art beides: wahrhaft und wehrhaft. Das 19. Jahrhundert hat nichts Besseres gesehen. Seine moralische Größe drückt sich zuerst französisch aus.
Haltbar, unverhältnismäßig dauerhaft wird eine Form des Lebens und ein Lebensgefühl, weil ein ganzes Volk, dieses eine, sie bestätigt und trägt. Die Franzosen der Dritten Republik haben, trotz arm und reich, fest geglaubt, sie lebten in einer Republik. Davon wurde es eine. Anmut mit Würde tut Wunder. Ein Besitzloser mit dem Selbstbewußtsein eines Propriétaire gibt ihm nichts nach. Sie haben für ihr Land, auf seinem Boden, einen großen Krieg bestanden und gewonnen, weil jeder die Nation selbst war. Weil jeder sein Land verteidigte, und ob ihm keine fünf Fuß Erde für sein Grab gehörten.
Zwischen dem Sieg 1918, einem Sieg der Überzeugung, und dem Zusammenbruch 1940 liegt nichts anderes als die Abnahme der nationalen und demokratischen Überzeugung. Nach der Höhe des Erfolges ihre Entkräftung, ihre Ohnmacht. Keine zehn Jahre nach dem Krieg hörte ich über Clémenceau: »Der große, alte Mann, von dem niemand mehr spricht.« Wer ihn noch kannte, waren die dankbaren Armen. Ihn und seine Art zu vergessen, war die Sache der Reichen und ihre Bedienten. Sie übten einen krankhaften Eifer gegen das eigene Volk, anstatt für die Nation, für ihre erwiesene Berufung. Einer französischen Klasse ist es endlich gelungen, an die Berufung Hitlerdeutschlands zu glauben.
Sie waren von ihm angesteckt, lange bevor die Klasse ihm das Land überließ. Ingenieure einer Automobilfabrik, die auswärts gelegen ist, suchten Paris heim, mit dem Zweck geheimnisvoller unterirdischer Anlagen: es waren Folterkeller, die sie für prominente Republikaner bauten. So ist das. Die Folter, einstmals juristisch überwunden vom Marchese di Beccaria, praktisch aufgelöst dank dem rastlosen Voltaire, ist in das Land der Menschenrechte wieder eingeführt worden aus Deutschland.
Auch ich kam aus Deutschland, mit der sehr merkwürdigen Aufgabe, Franzosen zu gemahnen, wer sie seien. Ich tat es von 1933 bis 1940, an die acht Jahre, in einer Zeitung, deren Leser bis in die Regierung reichten. Ich konnte mein aufgegebenes Land zeigen, wie es nun war, mit seinen Folterkellern und den Märtyrern der Freiheit, ihre Enthauptung durch das Beil. Mir war erlaubt zu warnen: in Deutschland beginnt es nur. Gebt wohl acht, wie es fortgeht I
Von Zeit zu Zeit erschien am Quai d'Orsay der Botschafter Hitlers und verlangte, daß meine Artikel verboten würden. Er nahm den Bescheid mit, die Regierung habe keinerlei Einfluß auf das Blatt (Mitinhaber M. Albert Särraut, Innenminister). Mir wurde hiermit persönlich bewiesen, daß die Regierung der Republik die faschistische Mitschuld des Landes nicht unterstützte. Sie hat sie groß werden lassen nach dem Mißlingen der Volksfront, eines eher zaghaften Versuches, einigen sozialen Selbstverständlichkeiten nachgerade gerecht zu werden. Revolutionäre Halbheiten werden immer bestraft. Ihnen folgt unfehlbar vom Gegenteil das Äußerste.
Das Jahr 1937 ist das eigentlich kritische Europas. Als die Regierung der Volksfront das republikanische Spanien den faschistischen Mächten auslieferte, hat sie über sich das Gericht gesprochen, aber was wäre das viel. Sie sprach es über Frankreich, über die Welt, über die Unzahl der Menschen, die seither sterben und verderben. Mildernde Umstände? Ein britischer Verbündeter oder Vorgesetzter – sein überlebter Begriff vom Gleichgewicht der Kräfte schloß ihn von der wirklichen Teilnahme an dem Schicksal Europas damals noch aus.
Der eigentlich verzeihliche Umstand ist, daß man 1937 schrieb, bei weitem nicht das übernächste Jahr: es verhielt sich still in seiner unerforschlichen Ferne. Wäre sie sogar erkennbar gewesen, das Erste, Dringlichste bleibt immer, daß eine Regierung den Tag dauert. Hilfe für Spanien, wenn es keine ganz verstohlene, abgeleugnete Hilfe war, hätte an demselben Tag die Volksfront zerstückelt. Ohne parlamentarische Mehrheit, eine Armee nach Spanien? Das Land hätte Energie gesehen. Wer als Feind seiner Nation einschlief, wäre als Patriot wieder aufgewacht. Die faschistische Rache an Frankreich wäre um drei Jahre früher ausgebrochen. Vielleicht aber hätte Frankreich den Krieg gegen Deutschland gut bestanden, die unfertigen Heere Hitlers den Angriff auf Frankreich schlecht?
Das Geschehene, das Unterlassene, beides entbehrt der menschlichen Voraussicht und entzieht sich verantworteten Beschlüssen. Es ist auf allen Seiten ein – nicht nur leichtsinniges – In-den-Tag-leben und Kommen-lassen was mag. Der italienische Führer ist von seinem Schwiegersohn Ciano gewarnt worden, mit Deutschland in den Krieg zu gehen. Die Antwort war: »Du Esel!« Der Schluß der Antwort vier Jahre später, nach verlorenem Krieg, war die Erschießung des Schwiegersohnes und die Feststellung des Schwiegervaters, er handele nach dem Ehrbegriff japanischer Krieger. Das scheint der richtige zu sein.
Der deutsche Duce ist, wenn sonst niemals, von dem achtzigjährig herangereiften Wilhelm II. gewarnt worden. Der persönliche Adjutant des Kaisers, von Möller, wurde sogar vorgelassen. Unbekannt ist, ob ihn in der Audienz der übliche Schlag gerührt hat: er traf die meisten Besucher. Warum hätten Aufklärungen und Beschwörungen gerade nur Frankreich zur Vernunft bringen sollen? Soviel an mir lag, erreichte ich alles Wünschenswerte bei Personen, die ohnedies meiner Meinung waren. Selten überzeugen wir andere. Auch Wissende haben nicht beständig, mit allen Sinnen, im nahen Unheil gewühlt. Näher war der gegenwärtige Tag mit seinen Sorgen. Noch näher die Freude, zu leben.
Mir ist, als hätte ich nirgends vorher alle die wohlgelaunten Menschen gesehen, wie in den Jahren vor dem Krieg. Es waren Franzosen; ich verließ das Land nicht, meines Bleibens war nur hier. Die Heiterkeit, wie sie auch mir gegeben ist, war hier das Landläufige: eine nicht gerade unbefangene Heiterkeit, auf dunklem Grund, wenn man will; aber sie läßt sich von Vorahnungen nicht stören. Dem Gefühl bleibt das geistig schon Vollendete unfertig, fremd – vielleicht geschieht es in Wirklichkeit nie? Wir kennen dieses Zeitalter: es pflegt seine unheilvollen Antriebe nicht aufzugeben, bis alles erreicht und gebüßt ist. Gleichviel. Wir sind in Frankreich. Das gute Glück scheint einzuladen.
Hiermit ist eingestanden, daß ich an nichts so wenig geglaubt habe, wie an eine Niederlage Frankreichs, zu schweigen von dem Rekord des Geschlagenseins: sechs deutsche Divisionen, sechs Wochen haben genügt. Jeden erinnerten doch die zwanzig Jahre alten Schlachten an das wirkliche Verhältnis von Macht, Ausdauer, Berufung zu siegen. Es entschied für kein Deutschland, das im Verlauf von vier Jahren zehn Millionen hatte aufbieten müssen.
Auffallen sollte, mehr als es wirklich bemerkt wird, daß im Grunde alles damals verlief wie heute. Niemand, nur Deutschland, war völlig vorbereitet. »Man ist nie fertig, und Krieg führt man doch«, sprach Clémenceau. Die Russen schwiegen darüber, sie eröffneten 1914 eine Offensive gegen Ostpreußen noch vor beendeter Mobilisierung. Den Mißerfolg werden sie mitberechnet haben. Der vorgesehene Erfolg: ihre westlichen Verbündeten konnten die Schlacht an der Marne gewinnen.
Die Schlacht von Verdun konnte gleichfalls gewonnen werden, weil die Ostfront von der Armee Brussilow durchbrochen war. Sechzig bis achtzig deutsche Divisionen sind die ganzen Jahre im Osten benötigt worden – hinzu genommen die starken Heere der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der größere Teil der zehn Millionen deutscher Macht entfällt dennoch auf den Westen – wo sie endlich niederbrach. Sie brach, wohl verstanden, früher zusammen als sogar General Foch geglaubt hatte. Er meinte noch 1919 kämpfen zu müssen. Sein Gegenangriff Juli 1918 enthüllte unerwartet, daß die soeben mißlungene deutsche Offensive die letzte gewesen war.
1940: 90 000 Mann, fünfundvierzig Tage, und eine Rutschbahn von Erfolgen? (Blitz, sagt man.)
Das wäre nicht redlich zugegangen. Nun, auf beiden Seiten sollten in der Tat Fälschungen bis zum Märchenhaften geschehen. Frankreich ist nicht besiegt worden. Es wurde betrogen, überrannt, verraten, ausgeliefert: dies alles flüchtig, kein fester Boden weder für den Triumphator noch für die Auch-Jubilanten, die ihm geholfen hatten. Den hippokratischen Zug im Gesicht, sind beide da, vier Jahre bald – man staunt. Mut wird der ganzen Gesellschaft nicht angesehen, auch kein trauriger Mut. Schamlos genießen sie die Trägheit der Dinge und ein Fatum, das sich Zeit läßt.
Heute ist heute. Nie gewesen, undenkbar, wie es nächstens wieder sein soll, war es 1933 bis 1938. Alle Vorzeichen beiseite. Nicht zu reden von unserem geringen Wissen. Sogar was man sah und nicht leugnen konnte, die immer schlechteren öffentlichen Gesichter, die während jener Jahre in Frankreich zum Vorschein kamen: den entscheidenden Eindruck, den es uns hätte machen müssen, verfehlte es dennoch. Wir rechtfertigten unser Dasein keineswegs mit den Ausbrüchen von Verzweiflung, die nicht immer ohnmächtig sind. Geschickt gehandhabt können sie, besser als besonnene Analysen, die Leute erschrecken und aufwecken.
1938 zeigte sich an meinem Wohnort Nice, Alpes maritimes, ein deutscher Aufzug hoher Herrschaften, gewiß hatten sie keiner Paßförmlichkeiten bedurft, ein Wink mit dem Finger wird es getan haben. Es war der bekannte Reichsmarschall mit großem Gefolge, in Wagen, deren Karosserie allein schon Frankreich schlagen sollte. Die Sturmwagen erschienen zwei Jahre später: mehr oder weniger hat der Reichsmarschall es gewußt. Indessen nahm er an, daß seine Sturmwagen ihn bei einigen Franzosen noch beliebter machen würden als bis jetzt seine Luxus-Automobile. Sie und sich in voller Leiblichkeit führte er vor. Keine zwölf Monate mehr und es war Krieg.
Zweck der Reise: Prestige und Dreistigkeit. Aufzusuchen hatte er hier niemand, oder allenfalls einen geflüchteten deutschen Juden, Besitzer eines Warenhauses. Solange der ansehnliche Landsmann im Prix uni weilte, geduldete sich draußen die Menge. Auch sein Wiederauftreten und die Abreise der glanzvollen Auslese einer befreundeten Nachbarrepublik ertrugen sie in leidlicher Fassung. Nicht gerade; daß man lauten Beifall bemerkt hätte. Der Applaus bewohnte andere Brüste, anderswo, und verhielt sich darin still, mag sein mit einigem Bangen über die verfrühte Munterkeit des Dicken. Aber alles sollte gut gehen, im zweiten Jahr danach war sein Hauptquartier eine Bar der rue Royale: die Bardamen aus Hannover.
Unheimlich ist mir seither, daß weder meine französischen Freunde noch ich selbst aus diesen Symptomen oder Tatbeständen viel machten – wenigstens am Anfang nicht. Wir wußten doch: Hitler-Deutschland ging auf den Krieg zu. Es wäre ihm ausgewichen, wenn auch andere ihn gewollt hätten. Aber das Deutschland Hitlers war allein fertig mit seinen Anstalten, seinem Beschluß. Woher, um Gottes willen, unsere gezählten Jahre einer, wenn auch überprüften, Heiterkeit?
Erstens verführte uns die Atmosphäre des Landes, bevor sie ihre ganze Leichtigkeit verlor und die Verfolgungen einsetzten. Unter dem Vorwand, den Kommunismus auszurotten, begann das Vorspiel des Verrates, den das nächste Personal besorgte. Besonders aber ist anzuerkennen, daß nichts leichter täuscht als handeln, – und wir handelten. Noch naiver wird der Selbstbetrug, wenn beträchtliche Gruppen, getragen von wirklichen Volksmassen, eine Handlung inszenieren, und sie hat Erfolg, sie schafft Bewegung, scheinbar verändert sie Tatsachen.
Die Manifestationen der entschiedenen Intellektuellen sind eingeführt worden von Barbusse. Die Volksfront war noch nicht; nur, daß alle wußten, sie stehe bevor. Ein Herr vom deuxième bureau, der mich wohl beobachten sollte, aber, er befreundete sich mit mir, sagte mir die Linkswahlen sicher voraus. In Frankreich geschieht, was aktive Intellektuelle gewollt haben. Politiker rechneten damit; erst der Faschismus konnte sie gegen den Typ, der statt der meisten ein Gewissen hat, erdreisten.
Bei einer der Versammlungen, die Barbusse leitete, erschien Léon Blum, der ausersehene Volksfrontminister. Die viertausend Anwesenden nahmen nicht besonders Kenntnis von ihm. Schriftsteller im Präsidium versprechen einem Pariser Publikum mehr als die Politiker von Beruf, ob Köpfe oder nicht. Léon Blum gab uns die Hand, auch mir – mit einem Nicken des Wiedererkennens, obwohl wir uns noch niemals begegnet waren. Ich blickte in ein vorzüglich durchgebildetes Gesicht, indes ich den liebenswürdigen Takt des Mannes erfuhr.
Wenn ich am Tisch mich vorneigte, konnte ich sehen, wie er die Arme kreuzte oder seine hohe Stirn in die Hand faßte. Alle Bewegungen hatten etwas Nobles und Verwöhntes; er war der Bevorzugte, den wohl eher der gute Geschmack als das Herz nach der Seite der Bedrängten, Erwartungsvollen zieht. Er enttäuscht nicht gern – und muß enttäuschen, wie jeder Intellekt ohne Leidenschaft. Damals besaß er die Voraussicht des nächsten Tages. Auch die Ironie seiner Überlegenheit. Einem parlamentarischen Gegner, der Zukunftspläne machte, antwortete Leon Blum: »M. Laval scheint nicht zu wissen, daß er gar keine Zukunft hat.«
Der andere hieß Laval, er sollte wirklich in den Wahlen unterliegen. Zur Macht kam Léon Blum und behielt sie lange genug, um weder der spanischen Republik noch dem eignen Volk zu helfen; um aber die Rache aller, die ihn gefürchtet hatten, pünktlich zu bestellen. Für seinen Teil ist er in die deutsche Gefangenschaft verschleppt. Ein anderer Häftling des Eroberers ist Laval in seiner Puppet- oder Quisling-Herrlichkeit. Er hatte dennoch eine Zukunft, als Léon Blum schon meinte, er sei fertig.
Wenn alle anderen fertig sind, fängt ein Laval erst an: Der einzige von vierzig Millionen verhafteter Franzosen, der sich fühlen darf. Er hat doch Blum besiegt, einen reichen Mann und halben Sozialisten. Das Geld hat jetzt Laval, und verteidigt es gegen seinen eigenen Aberglauben, den er Bolschewismus nennt. Eingestandenermaßen seines Goldes wegen, bleibt er treu seinem Hitler, ein Gezeichneter dem anderen. Nicht gezeichnet ist Léon Blum: die Halben sind es nicht. Er ist ohne Leidenschaft, kein Geiz wie Laval, keine Herrschsucht wie viele. Möchten die Deutschen ihn vergessen, bis sie ihre letzten Geiseln umgebracht und die Waffen versteckt haben!
Es ist kaum weniger als geisterhaft, all der keuchenden Läufer zu gedenken, aus Zeiten vor ihrem Absprung ins Schicksal. Ein deutscher Autor verbrachte die Nacht in demselben Lokal wie Laval. Da er getrunken hatte, rief er hinüber: »Ich bin ein guter Schriftsteller, dort sitzt ein schlechter Minister!« Der Herausgeforderte lächelte nachsichtig über sein ganzes schwärzliches Betrügergesicht. Kein so schlechter, wird er gedacht haben. Ein Jahr Innenminister, schon zweihundert Millionen verdient! Außer Betracht blieb, daß er dereinst diesen Emigranten, hätte er noch gelebt, seinem Hitler würde ausliefern können.
Das Zusammensein einer Volksmasse mit zwei Dutzend Intellektuellen wurde von Leon Blum weder bereichert noch gestört. Er war gekommen, sich zu zeigen und Achtung zu spenden. Ein Kandidat saß vor den Wählern. Noch ein anderer hielt sich zurück, Barbusse, dem diese Kundgebungen und ihr bedeutendes Wachstum zu verdanken waren. Als er sprach, war es die tiefe, allen fühlbare Innerlichkeit, mit der er siegte. Des äußeren Nachdrucks entbehrte der Schwerkranke.
Aber jeder hielt gegenwärtig, wer er war, der Verfasser des nachhaltigsten Volksbuches, das der vorige Krieg hinterlassen hatte. Reine Dichtung, die menschliche Stimme – aus dem Schützengraben, seinem Schmutz, Todesqualm, seinem Lebensgefühl, das nichts mehr hergab, außer Angst vor dem Ende, oder Schlauheit, um ihn zu entgehen, oder ungeduldiges Verlangen nach ihm. »Das darf doch nicht wiederkommen«, sprach Briand und wurde der schöne, vertrauenswürdige Illusionist. Das darf doch nicht wiederkommen: dafür ging Barbusse nach Moskau.
Früher in Berlin, auf einer Rückreise von Moskau, hatte er mich zu sehen gewünscht; ich besuchte ihn im Hotel Central, eine Stätte altertümlicher Pracht, die achtziger Jahre kannten nichts Feineres. Der lange, hagere Mann, lungenkrank, von unbestimmbarem Alter, empfing mich als Kameraden – nicht wie den ersten besten. Die Russen hatten ihm von mir gesprochen, auch von mir, wenn er im Westen Freunde anwerben wollte. Vielmehr nur aufklären, die es eigentlich von selbst waren, aber nicht Bescheid wußten, über sich nicht recht, und gar nicht über Rußland.
In der zweiten Hälfte des Lebens, vorher weniger, habe ich es wie ein Geschenk empfunden, wenn ich belehrt werden sollte. Außer der Selbstbehauptung des Katecheten und seinem Pflichteifer ist doch auch meine besondere Würdigkeit gemeint, ja Teilnahme für meine Existenz besteht. Ich war meinem Kameraden Barbusse dankbar, während er sprach, und bin es geblieben. Wie es mich ergriff, als er seine nachlässige Kleidung berührte und dabei sprach: »So gehen die in Moskau nicht.« Ich sollte mich nicht fürchten!
Aber ich sah keinen Grund, weder Moskau zu fürchten noch bei ihm Schutz zu suchen. So weit waren die Zeiten nicht. Unsere Erfahrung allein befähigt uns, zu begreifen, was sie übertrifft. Seine war der Krieg gewesen. Frontkämpfer, ja – nur daß tausend andere davon nichts zurückbehalten haben, weder seine ausgehöhlten Wangen noch die Leidenschaft, die sie rötete. Dieser Todgeweihte stand auf festem Grund. Keiner trägt so sicher wie das wirkliche Wissen um den Krieg. Ich hatte es nicht und klage mich der Lauheit an.
Ein anderer Gläubiger, André Gide, besaß die Verheißung Jesu Christi: man sollte glauben, die hält einen Mann. »Zum Kommunismus bin ich nicht durch Marx gekommen, das Evangelium hat mich hingeführt.« Dies galt, solange er die Sowjets von Paris aus betrachtete. Durch das wirkliche Moskau geleitet, ohne viel Gelegenheit für eigene Schritte, entdeckte er keine Evangelisten, nur Weltkinder wie überall sonst. Sogar die Bank der Spötter fand er besetzt. Er schrieb dann beiläufig in der Art, wie ein Höherer sich über sein Abenteuer mit den Händlern im Tempel geäußert haben würde.
Der Dean of Canterbury, ein nicht weniger anspruchsvoller Christ, läßt dennoch Gnade – oder einfach Nachsicht ergehen, wenn sein Umgang mit den Menschen ihm wieder einmal ihre Fehlbarkeit, ihr geringes Vermögen für das Vollkommene bestätigt. Gewiß ist er überzeugt, daß nach weiteren tausend Jahren diese sittliche Welt etwas fertiger als heute sein wird. Da er sie dann aber aus der Ewigkeit sähe, wäre sie unfertig wie je. Unser Dasein hier ist nicht lang genug, daß wir geduldig sein dürften. Immer drohen Rückschläge; das weniger Schlechte, von dem wir zu viel erwarteten, schickt sich an, auch noch unterzugehen.
Henri Barbusse hat wahrhaft verdient, den wiederaufgenommenen Krieg nicht nochmals zu erleiden. Der Widerruf all dessen, was er gewesen, ging über seine Kraft und lag außerhalb seiner Bestimmung. Er hat edel gelebt, weil er – wohl auch in Irrtümern lebte, aber vorweg in seiner Zukunft, die sie aufklären soll. Ich bewahre seinen Brief vom 9. Januar 1935: er bemüht sich, Rolland, Margueritte und einige andere über ein geplantes Manifest zu einigen. So schwer machten alle, und auch ich, ihm die Arbeit, bei dem Nichts an Zeit, das wir – und er – noch hatten.
Die Zusammenkunft in seiner Villa, zwei Bahnstunden von mir, hat nicht stattgefunden. Dazwischen lag Moskau, die winterliche Reise des Kranken und sein Tod. Dort, wo er liebte, zu sterben, dies Glück war sein. Mir hat er die Auszeichnung erwiesen, mich einzustellen in die Mannschaft seiner Volksaufklärer, nur Schriftsteller des Landes.
Seine Nachfolger übernahmen mich als den nachgerade Zugehörigen. Zuerst Gide, dann Louis Aragon und Paul Langevin. Ihr Publikum begrüßte mein Auftreten, als wäre es normal gewesen. Dennoch wußte man ungefähr, daß in Berlin, wenn sie mich gehabt hätten, alles andere mir zugedacht war, nur nicht diese öffentliche Geltung. Des Abstandes von Berlin blieb ich mir selbst wohl bewußt: seiner Unnatürlichkeit, und daß unmöglich sehr lange in einer Hauptstadt des Kontinentes frei sprechen wird, wer in der nächsten auf das gründlichste zum Schweigen gebracht wäre.
Inzwischen wuchs unser Zulauf auf sechstausend, nicht gerechnet, wie viele umkehren mußten. Ich erinnere mich eines Abends im Théatre de la Renaissance, ein zu kleines Haus, der Platz davor war, als ich ankam, bedeckt von Ausgeschlossenen. Drängte es alle diese Massen, auf einer Tribüne einige Schriftsteller zu sehen? Beifall zu äußern für Reden, denen sie im voraus zugestimmt hätten? Jetzt weiß ich, daß ihnen bange war. Deutlicher als wir, die uns mit Handeln über die Zeichen hinwegsetzten, haben die Massen sie empfunden.
Die Sache der Republik bekam Antriebe wie selten einen – so schien es –, als die Volksfront nahezu alles umfaßte; auch M. Daladier, der für sich allein ein Symptom des Erfolges, der Unwiderstehlichkeit des Erfolges war. Wer wollte eine Bewegung von so massiger Kraft – wie sie sich darstellte – kurz befristen. Gegen die Nahezu-Gesamtheit standen einige Faschisten. Für wieviel wollte man sie zählen? Wenn niemand sonst, wir Deutsche mußten sie hoch berechnen. Wir hatten im Reichstag der Republik die nationalsozialistische Partei mit ihren erst drei Vertretern auftauchen gesehen.
Einige emigrierte Deutsche hielten nach dem glänzenden Vorgang des front populaire eine deutsche Volksfront für geboten und erreichbar. Paris war eine Zentrale aller Emigrationen, die deutsche bestand, rund ausgedrückt, aus Professoren und Fabrikarbeitern. Der erste falsche Schritt: die 50 000 geflüchteten Proletarier blieben aus der Rechnung – praktisch und persönlich. Kein Arbeiter saß in dem Komitee, dessen Vorsitzender ich war. Die Professoren oder die Parteileiter – kein Amt ist gemeint, nur die höhere Informiertheit und der gute Wille – ließen es bei den gewohnten mittelbaren Beziehungen der deutschen Klassen. Paris war zum Gebrauch der deutschen antifaschistischen Sammlung in Sektionen geordnet. Die Mannschaften traten fleißig zusammen, was hatten sie sonst auch zu tun.
Die Arbeiter waren ohne Arbeit; auch ohne Essen wären sie gewesen, wenn nicht die Findigen geteilt hätten mit den Ungewandten. Sie teilten alles, ihre Kleidung, ihre Schlafräume – die sie nur mit Vorsicht verließen, da sie ohne Papiere waren. Die »Papiere« sind der Stempel des Zeitalters, sie prägen jeden nach Maß und Wert. Seinem Ausweis zufolge »german born«, behält einer, der längst von anderer Nationalität, vielleicht auch namhaft ist, dennoch das Abzeichen, das als Makel gilt, wie die dunkleren Fingernägel des Negerabkömmlings. Aber unsere proletarischen Kameraden konnten kein Papier, das unansehnlichste nicht, beibringen. Sie waren über die »grüne Grenze« gekommen.
Wer sich selbst für wenig beneidenswert hält, kann immer noch andere um seinetwillen in Eifersucht versetzen. Sozialdemokraten und Kommunisten, beide von der bürgerlich gekleideten Seite, veruneinigten sich über ihren Einfluß bei den Ärmsten – gesetzt, sie wären vorher eines Sinnes gewesen. Die Sozialdemokraten hielten viel auf ihren Rang als ehemals Regierungsfähige – die Kommunisten waren es nie gewesen. Ein hoher Beamter der Republik händigte mir seine Denkwürdigkeiten ein. »Dies ist nun vom Standpunkt der Behörde«, sagte stolz der arme Verfolgte, Geduldete.
Als Gegenstück erinnere ich mich einer Mahlzeit mit einem Jungen von der anderen Seite – der Mühe hatte, für ungewöhnliche Gelegenheiten den passenden Anzug aufzutreiben. Seinen besten hatte er schon verloren, an noch Ärmere offenbar; entrüstet war er deshalb nicht. Er bewies eine wundervolle Eßlust, sie bestritt zu der Stunde seine ganze Politik, und war doch ein tapferer Junge. Als noch Republik war, stürmte er mit seinen Genossen ein Nazilokal. Wie bei ihnen üblich, hüteten sie sich, Blut zu vergießen. Die Nazis, deren Glaubensbekenntnis das Töten verlangte, erschossen von hinten einen ihrer eigenen. Das hatten nachher die anderen getan. Alle aus dem Kampf in der Maikowskistraße kamen auf eine Todesliste. Als ihre Feinde die Macht hatten, flüchtete, wer noch konnte.
Die Arbeiter, zu Hause absichtsvoll gegeneinander gehetzt, haben in der Fremde – wie fremd für ihresgleichen! – keine günstigen Umstände erfahren, aber den Wert der Freundschaft erkannten sie. Die Volksfront der Herzen bestand bei ihnen. Etwas weniger bei den Professoren im Komitee. Die katholischen Herren, einst die Mächtigsten, erschienen unverbindlich, als Beobachter: sie sagten, um ihren Bischöfen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die Bischöfe haben keineswegs die Schwierigkeiten gescheut: sie bereiteten sie sich selbst. Ihre – individuellen oder einmütigen – Proteste gegen ein christenfeindliches, menschenunwürdiges Regime könnten dereinst bezweifelt werden, so wagehalsig sind sie. »Es ist aber der Glaube ein inneres Wissen.« Die haben gewußt, wie es ausgeht.
Ich auch – da ich es ohne Eigenruhm sagen darf; die Zeugnisse erreichten mich ohne mein Dazutun. Dem Komitee der Volksfront schulde ich die Anerkennung, daß es mir meine vermittelnde Haltung zwischen den Parteien eher dankte als übelnahm. Ein Sozialdemokrat ging so weit, mir zu sagen, ich wüßte wohl nicht, daß ich das Ganze zusammenhalte? Vor allem lernte ich den politischen Verkehr – mehr oder weniger begabt dafür. Er ist ein Fach, wie Musik oder Algebra. Ich hatte viel Streit zu schlichten, hätte Abtrünnige retten wollen, was indessen wider den Willen der Dinge ist.
Nicht zu vergessen, es waren die Jahre, als der sogenannte Antibolschewismus den zeitweiligen Triumph Hitlers im voraus begründete. Kein Bruchteil der europäischen Gesamtheit, in den er nicht eindrang. Wie wäre die deutsche Emigration ihm unzugänglich geblieben. Sie umfaßte nicht nur Personen, die großartig widerstanden hatten, solange Deutschland es ihnen erlaubte. Ich will keinem zutrauen, daß er, trotz Vergangenheit und »Rasse«, in die Arme seines Führers, vielmehr in ein Umschulungslager heimgekehrt wäre. Die gegebene Lage erlaubte übrigens nur, einander zu hassen, was denn redlich geschah. Ein schlechter Hasser wie ich, will Feinde zueinander führen? Er streift sie nicht einmal.
Der Vorfall, der mich mehr als alles hätte entmutigen können, war unsere nahe, furchtbar frühe Berührung mit der spanischen Katastrophe. An dem Tage versammelten sich mehr als hundert Vertreter der deutschen Parteien, gespannt erwarteten wir eine Abordnung der spanischen Republik mitsamt ihrem Außenminister. Die erste amtliche Kenntnisnahme vom Dasein einer deutschen Volksfront stand bevor; wenn irgendeiner, war der Augenblick feierlich.
Die Delegation hatte in Paris noch andere Wege. Sie wird gewußt haben, wie folgenschwere. Wir erfuhren es nach den Ereignissen, aber sie eilten. Endlich trafen die Spanier bei uns ein, ich begrüßte sie, dann sprach mein alter Berliner Bekannter, Alvarez del Vayo. Er gemahnte uns an den Sinn unserer freiheitlichen Aktion: ein Staat des ganzen Volkes, für das Volk insgesamt, befestigt durch seine Einigkeit, unsere Voraussicht. Den Zeitpunkt erkennen und gewappnet sein.
Wir hörten von den Erfahrungen einer Republik, die wir für gesichert halten sollten. Hat del Vayo selbst ihr Festigkeit und sich Voraussicht zugetraut? Unter vier Augen, nachher im Café, sprachen wir Literatur, uns beiden das Altvertraute. Kaum daß er zurückkehrte, brach die Generalsrevolte aus. Abgekartet in Berlin und Rom, bis an den Rand übersehen von der Republik, die mit einem Dutzend Verhaftungen sie und ihre Folgen abschneiden konnte. Was dann übrigblieb, ist vergeblicher Ruhm, der ungeheure Kampf um seine Freiheit, den ein bewundernswertes Volk gegen alle Wahrscheinlichkeit gewagt und fortgesetzt hat bis an das sinistre Ende.
Der General der Republik (dem Frankreich nach dem Ende still zu verschwinden erlaubte, wie zu meiner Zeit auch mir und sehr vielen) – der General sprach das unvergessene Wort: »Ein Volk, das nicht besiegt werden will, kann nicht unterliegen.« Es kann, wie erwiesen. Nur daß der Gegner mitstürzt in den Trümmerhaufen, den er angerichtet hat unter dem übermächtigen Beistand der Völkerfeinde aus aller Welt.
1940 sah ich Barcelona, vormals ein Handelshafen der Klasse Marseille und Hamburg. Die Stadt war verödet und sie hungerte. Noch immer kein Stück gutes Brot, aber gegen zwei Dutzend schwacher, unterernährter Soldaten, ein gemästeter Falangist: der Klassenstaat, höchst anschaulich. Auf der Rampa, Hauptstraße und Korso, dieselben bombardierten Häuser, kein Faschismus wird sie wegräumen, er habe gewonnen oder ausgespielt. Sein Beruf sind gerade die Trümmer.
Die deutsche Volksfront hat Spanien nach dem Maß ihrer Kräfte unterstützt, mit Material, das wagenweise abging, von der Regierung des front populaire auch durchgelassen wurde. Die Regierung bestritt die Avions, auf deren Entsendung ihre Faschisten sie ertappten. Die französischen Freiwilligen leugnete sie nicht, noch weniger den Strom von Freiheitskämpfern aller Emigrationen. Die deutsche stellte ihren reichlichen Anteil. Die jungen Intellektuellen unserer Volksfront waren zum ersten Mal glücklich: sie durften kämpfen und kämpften zu Seiten ihrer proletarischen Jahrgänge. Beide waren ihren Nöten enthoben und vor Zweifeln endlich sicher. Diese Spanienkämpfer sind die einzigen Deutschen, die ein Zeitalter von mehr als dreißig Kriegsjahren bei der Partei der Freiheit erblickt hat.
Arbeiter und Gelehrte schickten die gleichen Briefe voll der handgreiflichen Zuversicht: wie denn nicht, der Feind war fortgelaufen, er lief noch. Es ist viel, ist für die innere Haltung unschätzbar, den Erfolg vom eroberten Hügel selbst mit anzusehen: den Erfolg deines unverbrüchlichen Sinnes und deiner abgehärteten Hand. Wer damals fiel, nahm mit, was sein war, den Glauben und das Glück. Die Zurückgekehrten, denen nach der Niederlage die Flucht gelang, bekamen es schwer wie nie zuvor, die Sache der deutschen Freiheit noch zu glauben. War sie besser als die spanische? Konnte sie hochherziger im Glück verteidigt werden, hartnäckiger im Unglück?
Die deutschen Methoden sind anders. Übrigens ist kein Volk, seit der spanischen Katastrophe, noch einmal offen, aus dem Stegreif, gegen den Faschismus aufgestanden. Die Erniedriger der Massen bedienen sich der Massen, das ist ihre Erfindung. Verläßt sie allmählich die Übermacht, haben sie noch immer ihren Polizeiverstand: damit hält man eine Herrschaft der Willkür lange hin, obwohl sie jetzt auch materiell unbegründet ist: sittlich war sie es immer. Es handelt sich darum, der List mit List zu begegnen.
Die deutsche Untergrundbewegung hat bis zu dem neuen Ausbruch des Krieges keine Pläne der unmittelbaren Gewalt verfolgt. Unterirdische Waffenlager wird sie kaum gehabt haben; jedenfalls stand nichts davon in den Berichten, die mir zugingen. Sie handelte schlechthin ober, anstatt unter Grund. Ihr Schauplatz waren die Betriebe, ihre Werkzeuge die Kameraden. Die freiheitlichen Arbeiter nahmen einfach ihre Nazigenossen für Genossen hin – es war nicht einfach. Beim Lesen der Berichte ging in meiner Vorstellung ein Drama auf Tod und Leben vonstatten. Da waren die Verführten Hitlers, die tausendmal Belogenen, auf ihre Brauchbarkeit hundertfach Geprüften. Ihre wirkliche Verwendung betraf weniger die Arbeit, als die Aufsicht und Bespitzelung.
Diese Leute, mit Köpfen voll böser und alberner Besessenheit, mußten von ihren Pflegern umständlich, vorsichtig, schlau behandelt werden – wie Irre, die erstens um ihretwillen Interesse verdienten. Außerdem können sie schaden. Der Eiertanz zwischen ihrer – Weltanschauung und ihrer Begierde nach mehr Lohn drohte täglich mit einer Anzeige zu enden: der Denunziant war seiner Prämie sicher. Sie haben nicht denunziert. Sie ließen sich pflegen, sogar heilen. Ihre – Weltanschauung kann nicht tief, nicht fest gesessen haben.
Auch wurde sie von ihnen selbst als unergiebig, erst darum als Betrug empfunden. Die Arbeiter mit – Weltanschauung bedurften ihrer nicht, um, wie ihre unzuverlässigen Kameraden, den Magen leer, die Glieder schwer zu haben und sich zu ängstigen. »Kanonen statt Butter« war ein Wort für jedermann. Die Arbeit wurde von allen gleich erzwungen, enteignete Bauern, Handwerker, Kaufleute überfüllten die Mannschaft regellos. Um so mehr Arbeitsstunden, um so weniger zu essen, um so weiter im frostigen Dunkel der Frühe und des Abends der Gang zur Fabrik. Die Frau wanderte in eine andere. Auch schon die Kinder; der Krieg ist nicht abgewartet worden, um die Familie zu trennen.
Welcher Halt gegen eine menschliche Verwahrlosung, die wesentlich unhaltbar ist? Es gab einen; der Geheimbund der Sozialisten. Er kann für die Betriebe kein Geheimnis gewesen sein; seine Tätigkeit wurde sichtbar, sooft Nazi, von der Partei gegen jede Strenge geschützt, die Forderungen einer gesamten Belegschaft vertraten. Diese vorher unbekannte Macht sind die Sozialisten damals geworden, durch ihre Einigkeit allein. Keine diplomatischen Künste an verirrten Genossen, keine Unterwühlung der Industriediktatur und Autorität der Partei konnte anders gelingen: aber sie waren einig.
Dies vor allem meldeten ihre Berichte. Sie kamen an, als ein abgenutztes Häufchen Papier, sie waren weit gereist, über Grenzen gebracht auf das Wagnis hin; sie trugen Spuren von Händen und vom bloßen Leib, der sie geborgen. Jedesmal waren sie unterschrieben von Funktionären beider sozialistischer Parteien. Kein mitgeteiltes Erlebnis ohne gemeinsames Herzblut – noch abgesehen von dem Blut, das unerwähnt blieb, aber ein wirklicher Richtplatz hatte es getrunken.
Sorgfältige Schülerschrift, hier und dort schon ausgelöscht, und die einfache, aber steife Sprache, die geeignet schien, wenn man sich an Freunde, ungewohnt und außerhalb, wendete. Die Überschrift bezog sich auf eine Mehrzahl von Freunden, das war das Komitee in Paris, oder angeredet wurde ein einzelner Freund, mit meinem Namen. Ich habe die Blätter nicht nur gelesen, sondern studiert, habe ihren Lebensatem in mich aufgenommen und mich den Redenden verwandt gefühlt. Das ist mir mit Deutschen wie mit anderen geschehen. Hier war es von allen die reinste Wohltat.
Die Unterschriften der Sozialisten gleichwelcher Partei standen nebeneinander. Die revolutionären Arbeiter, die sich nicht so benannten, nur freiheitlich wollten sie sein – sie sprachen von der deutschen Volksfront als von der vollzogenen Tatsache. Uns dankten sie den ersten Vollzug, das Beispiel – (eher waren sie es, die es gaben), erwarteten höhere Weisungen; aber unfehlbar beschwor ihr Brief die Einigkeit und bestand auf der Befreiung von Hitler, als einzigem Ziel. Ahnten sie denn, daß unser Komitee ihre Mahnungen überhörte? Noch schlimmer wäre es, sie hätten ihre eigene Zukunft geahnt.
Sie sollten anstatt der Revolution, die sie mit oder ohne Absicht betrieben, den Krieg haben. Mußten ihn haben, wenn das Regime stark bleiben wollte gegen die geborene, heranwachsende Volksfront – die in Deutschland namentlich an die Öffentlichkeit gezogen wurde, unverkennbar war sie die Sorge. Die Diktatur ist mit dem Krieg vermählt; natürlich hat sie nicht erst der Gefahr einer Volksfront bedurft, damit Krieg wurde. Seiner Verbindlichkeiten ungeachtet hätte Hitler seinen Krieg noch lange abgeleugnet, als er – ohne Krieg – schon eroberte. Gewiß, um die Mächte hinzuhalten und zu täuschen. Ebenso gewiß, weil er von den deutschen Arbeitern nunmehr Widerstand befürchtete?
Dies sage ich auf Grund der Berichte deutscher Parteifunktionäre, 1936 bis 1939. Gleichviel, ob in dem Nichtgeschehenen die andrängende Tatsache künftig bemerkt werden sollte, ich weiß, was ich weiß. Zwischen Krieg und Revolution ist während gezählter Augenblicke die Schwelle schmal gewesen.
Ein Beweis, nicht meiner allein, ein offenkundiger, Ist der Pakt Hitlers mit der Sowjetunion 1939. Er war für den mit allen Hunden Gehetzten nicht zuerst ein diplomatischer Sieg über die Westmächte. Er drückte noch weniger Erkenntnis der russischen Macht aus. Wenn Hitler sie zwei Jahre später, als sie gerüstet war, in sechs Wochen zu brechen dachte, mußte er 1939 glauben, die geringfügige Sache sei abzumachen noch vor der Überrennung Frankreichs.
Gefürchtet hat er, wie nur der Gezeichnete, der Verräter und falsche Prophet seine Entlarvung fürchtet: die deutschen Arbeiter. Als er loszog, waren sie nicht reif dafür, ihn mit einem Überfall der Sowjetunion zu bedienen. Er mußte einige Triumphmärsche einlegen, bis er sie so weit hatte, bis um Revolution und Krieg, keine Waage mehr schwankte. Das ist nun gekommen – scheinbar wie es mußte. Nachher gibt es kein glaubwürdiges Entweder – Oder mehr, und jedes »Hätte wohl« ist müßig. Aus den deutschen Arbeitern ist etwas ganz anderes geworden als einstmals, wenige Jahre, zu lesen stand in ihren weit umgetriebenen, befleckten, liebenswerten Berichten.
Gedenke ich ihrer besseren Tage, fällt für meinen Sinn über das Geschehene ein Schleier, wie wenn es das Niegewesene wäre. Sie sollen töten, wo es sogar nach Kriegsbrauch unzulässig wäre? Peinlicher als der einfache Raub des Lebens: einem der Massengräber um die Stadt Kiew wurde, als die Russen sie öffneten, auch noch der sterbliche Rest einer jungen Opernsängerin entnommen, sie hielt ihre Rolle in der Hand.
Sie muß von der Bühnenprobe fortgeholt worden sein – eine Arbeiterin, am Abend hatte sie vielen Menschen schöne Arbeit vorführen, ihnen das Grauen wegspielen sollen. Wird aber angepackt von deutschen Arbeitern, die keine mehr sind, sondern Soldaten heißen. Wird tot oder noch lebend in ein Massengrab geworfen. Dies, anstatt der Vorstellung am Abend. Unleidlich, es zu denken. Ich will nicht, daß die Soldaten dieselben deutschen Arbeiter gewesen sein sollen – ließen mir doch einst Briefe voll menschlicher Vorzüglichkeit schreiben!
Wenn die deutschen Kriegsgefangenen in Amerika landen, kommen sie hervor, fratzenhaft anzusehen, aber immer höhnisch wie Sieger, beanspruchen auch eine Haltung, die bewundert werden will. Siehe! Sie wird bewundert, der deutsche Soldat und seine unbeirrbare Disziplin werden jedermann als das Muster vorgehalten. Worauf sie im Lager – ein Gefangenenlager, ein fremdes Land und das gemeine Los aller Gescheiterten – alsbald wieder aufnehmen, was gelernt und geübt ist: Folterung ihrer eigenen Kameraden, wenn einer sich zur Freiheit bekennt.
Das müssen unbekannte Geschlechter deutscher Proletarier sein. Offenbar wachsen jetzt in zehn Jahren mehr davon auf, als sonst in hundert. Die letzten kenne ich nicht, wie ich einige vorige kannte. Gesehen habe ich auch sonst nicht jeden; aber eines Tages hatte ich wieder einmal einen Aufruf nach Deutschland gelangen lassen. Vermöge eines freimaurerischen Einverständnisses, das eine Nahezu-Gesamtheit ergriffen haben muß, zirkulierte er wirklich. Er ist auf offener Straße zu Gehör gekommen.
Es war ein Taxenchauffeur. Auf einem Haltplatz mitten in Berlin las er den Passanten, die sich ansammelten, mit lauter Stimme vor, was er in Händen hielt. Beweis ihres Einverständnisses: er ist weder sogleich verhaftet noch nachher denunziert worden. Die Einmütigkeit verbot es damals, bis zum Krieg. Heute wird gemeldet: »Ein Mann (folgt Name) hat in Gegenwart von Soldaten umstürzlerische Äußerungen getan. Er wurde zum Tode verurteilt. Das Urteil ist sogleich vollstreckt.«
Dazwischen scheinen einige Zeitalter zu liegen, es ist aber dasselbe, unter wechselnden Aspekten. Man hat die Wahl, welcher der rechte und echte sei. Soldaten, Arbeiter in Kleidern mit Blutspuren anstatt Ölflecken, bringen einen anderen Arbeiter vor die Maschinengewehre des Hinrichtungskommandos, als ob sie nur sagten: »Schichtwechsel! Nach Hause, Kamerad.« Mir waren sie lieber, als sie selbst, oder ihre älteren Brüder – die Freiheit wie ihren inneren Besitz pflegten. Ein Volk ist nicht zu allen Zeiten liebenswert. Es während gezählter Augenblicke lieben zu dürfen, ist viel.
Die französischen Massen ließen sich entmutigen von dem vehementen Klassenkampf der dünnen Oberschicht. Sie haben ihn nicht erwidert. Als Daladier die Volksfront glücklich hinter sich gebracht hatte, manövrierte er auch gleich aus dem Volk heraus – was er seinen Weg wählen nannte. Der Verrat an der Nation selbst blieb den Nächsten vorbehalten. Aber der verwandelte Volksminister, jetzt ein Beauftragter der deux cents familes, schloß die hundert kommunistischen Abgeordneten aus der Kammer aus: ein Staatsstreich, und blieb ohne Antwort.
Frankreich, die Gewalt hinnehmen! Das macht es unkenntlich. Es war nicht mehr Frankreich, so wenig die späteren deutschen Proletarier sich gleichen. Die Kommunistenverfolgungen gingen ins einzelne, kleine. Auflösung der Kommunalräte, ihre Mitglieder verhaftet, ihre Anhänger brotlos gemacht. Aber sie haben es geschehen lassen, kein Widerstand, und ein fatalistischer Gleichmut der Nation. Verzweiflung, träfe nicht zu. Oder man bezöge es auf die Intellektuellen. Die aber wußten mehr, als gut ist, um zu kämpfen.
Sie durchschauten die internationalen Ereignisse und daß jedes, mit schrecklicher Folgerichtigkeit, gegen Frankreich ausschlug. Gegen Frankreich hieß: gegen die Republik, ihren sozialen Keim, ihre revolutionäre Bestimmung, die beide nur erstickt werden konnten mit der Republik selbst. Die französischen Intellektuellen waren nach dem Herkommen und ihrem gemeinsamen Werdegang bei den staatlichen Mächten zuständig genug, um sie zu kontrollieren, in Atemnähe, von Auge zu Auge. Sie erfuhren nicht aus Vorzimmern, sie überzeugten sich persönlich, was da jetzt einschlich, anonym und nachgeordnet zuerst, dann ausgedehnt, gefährlich und unentbehrlich.
Dieser langnäsige Typ verband die Regierung der Republik mit den aktiven Emissären der faschistischen Klasse. Die Regierung ließ es zu, daß ihre officiers de liaison im Bilde vorgeführt wurden, wie sie mit den Umstürzlern der Republik konspirierten. Denn keiner der Teile legte sich Zwang auf, dem photographierten Frühstück war die Verschwörung genau anzusehen. Was er dort getrieben hatte, stand ihm im Gesicht, das er gesenkt hielt. Der Mann, eine Großaufnahme des schlechten Gewissens, hieß Marschall Pétain.
Die vorletzte Mannschaft der Republik benötigte eine Bedeckung: entblößt stand sie da. Ihr Antikommunismus hatte sie vom Volk entkleidet; sie war in Wahrheit allein; nichts blieb ihr übrig, als ihre Scham und Schwäche zu verbergen hinter der Rückseite ihrer Feinde: der vorderen würdigte niemand sie. Daladier zog nach seinem verhängnisvollen München sieghaft in Paris ein. Der Jubel über den geretteten Frieden war am stärksten beim arc de triomphe – was irgend noch zu schänden war, versäumte man nicht.
Aber eine Dame der guten Gesellschaft verwahrte sich: »Ich nicht! Für nichts in der Welt hätte ich ihn hochleben lassen.« Was immer die vorletzte Mannschaft tat oder duldete, wie viel sie ihrem ermüdeten Gewissen abgewann, es verschlug nichts mehr. Sie hatte »ihren Weg gewählt«; sein Ende war unausweichlich. Das Grausige: sie haben es gewußt. Sie beobachteten sich, den ganzen Ablauf ihres Verbrechens – sie werden es Fatum genannt haben, man muß doch leben. Bei derselben Heimkehr von München hat Daladier – der ehrenhafte Emile Buré sagt es – seine Hochrufer gemustert und hat vor sich hingeseufzt: »Quels imbéciles!«
Wenn sie ihn niedergeschrien hätten, nach seiner Verabredung mit Hitler über das Fallenlassen der verbündeten Tschechoslowakei! Er hätte es beinahe gehofft, wenn kaum noch erwartet. Er wäre ausgezischt im Boden versunken, endlich hätte er wieder seinen normalen Puls gehabt, auch weniger Pernod getrunken. Das war ihm nicht beschieden, sondern der volle Lohn seines Instinktes für die Laster und Abgründe eines häßlich entstellten Klassenkampfes. Vehemente Angreifer, Angegriffene ohne Geste begegnen einander in derselben Abneigung, Hitler zu reizen.
Die einen, weil er ihr Ritter, die Bürgschaft ihres Besitzes ist; – ihr Glaube hinkte; gleichviel. Die anderen fanden Bündnisse lästig, hielten Frankreich für mehr oder weniger gesichert, unnütz überall einzugreifen, wo Deutschland seine Unruhe ausübte. Die Nicht-Einmischung ihrer beruhigten – und belehrten – Nation in die Angelegenheiten der unheilbaren Störenfriede war ein Bekenntnis aller Republikaner: im Ernst gefragt, auch der Kommunisten.
Es hat keineswegs vermocht, aus dieser Nation mit der ältesten militärischen Überlieferung schlechte Soldaten zu machen. Als die Franzosen dann kämpfen mußten, haben sie, spät und auf verlorenem Posten – nichts gerettet, einzig den Ruf des gemeinen Mannes von Frankreich. Dunkerque – moralisch wiegt es Schlachten reihenweise auf. Nur, daß man mit dem kühnsten Rückzug allerdings nicht siegt.
Dies ist der Abgang der Republik. Denke ich aber ihrer Dämmerung, erscheinen Bilder noch einmal. Die aufgegriffenen Worte haben seither an Stärke verloren, angenommen, das längst Ausgemachte hätte mich im Grunde getroffen. Aber ich sehe Bilder: sie sind mehr als konventionell, sie bestehen die Zeit und alles seither Eingetroffene.
Ein Kriegsschiff machte eine Sommerreise im Mittelmeer, an Bord hatte es Monsieur Daladier, Président du conseil: gewöhnlich ruhte er im Liegestuhl. Seine Bekleidung war eine Badehose. Er sprach niemand an, oder sie ihn nicht. Ein gutmütiger Elsässer, Radio-Offizier, kam ihm in aller Einfalt nahe genug. Sie tauschten harmlose Seufzer aus, der Sohn eines Gastwirtes mit dem anderen Demokraten, der nur leider, selbst begriff er nicht wieso, gegen die Konstitution regierte. Daher lag er nackt auf einem Kriegsschiff – was beides vor Augen führte, die Allmacht des kleinen Mannes und seine Einführung in eine Rolle, die Takt nicht brauchen kann.
An der Küste stand ein Mann, vor dem blauen Meer ein älterer Mensch allein – draußen sah er einen Kreuzer vorüberfahren. War es derselbe, mit dem Demokraten auf Ferien? Der Zuschauer hatte brennende Augen, angespannte Wangenmuskeln, er sprach zu niemand und sagte doch: »La der' des der'.«
Es wollte ausdrücken: Die haben uns erzählt, der letzte Krieg sei der letzte gewesen. Er war vergeblich, und bezahlt haben wir kleinen Leute. Unsere Söhne wären jetzt vierzig, ohne den letzten. Verdammt! Draußen fährt noch ein letzter. – Dies die sinnenfällige Wut des Mannes, sie übertraf jeden Aufschrei. Als er dann da war, der nächste letzte, aber gekämpft wurde noch nicht, unwiederbringliche neun Monate verstrichen: da gingen die Frauen in Schwarz. An meinem Wohnort sah ich Trauerkleider, mehr, viel mehr, als Soldaten damals fallen konnten. Die Frauen beklagten noch keinen Verlust: den Krieg betrauerten sie.
Die Gesichter der Faschisten stellten sich in der Avenue des Champs Elysées zur Betrachtung aus. Sie waren erstaunlich, ohne neu zu sein. Das Erstaunliche war gerade ihre Verwandtschaft mit den längst erblickten, deutschen. Dieselbe Leere, die lange den Anschein von Jugend hinzieht; die bekannte verantwortungslose Dreistigkeit. Wir sind da, alle Mittel sind uns recht. Bald bescheiden wir uns nicht mehr mit der Beherrschung von Caféterrassen. Die Macht, und wäre es die Schande. Die Macht! (Ein Nazi, vor dem Antritt Hitlers: »Wir haben vor euch eines voraus, wir können töten!«)
In Frankreich hat der Typ, ob er es noch so echt anstellte, unfranzösisch gewirkt. Gegen ihn zeugte die elende Gelegenheitsmacherei der Stunde, die Vergänglichkeit als Kupplerin. Junge schmale Intellektuelle ließen um ihre bleichen Gesichter Barte wachsen. Ein äußeres Kennzeichen des Faschismus war geboten; ihre Art zu sein hätte widerlegt, was sie vorstellen wollten. Auch ihre Vorfahren bis ins fünfte Glied hätten gegen sie gezeugt. Die nationale Geschichte verleugnete dieses Geschlecht – das sie gern mißachtet hätte.
Die Französische Revolution von 1789 beging, höchst sinnvoller Weise, ihr Gedenkjahr 1939. Sie selbst wird immer an sich erinnern, sie bleibt unzerstörbar. Die Frage: welches Geschlecht sie gerade noch vorfindet. Diesen 14. Juli, sechs Wochen vor dem Krieg, meldete die hundertfünfzigjährige Tat der Nation sich ungelegen. Einzig die Goethefeier der deutschen Republik hat mit ihrem Datum, 1932, dermaßen gestört. Die Regierung der französischen Republik gewährte mit gebeugten Schultern dem kühnsten Erlebnis der Nation sein Begängnis. Eine Bestattung – hätte es sein wollen.
Was tun – mit schlechtem Gewissen nach allen Seiten. Dieselben Massen, die einst die Jakobinermütze getragen hätten, werden heute verfolgt unter dem Namen von Kommunisten. Dieselben Aristokraten hassen die Republik – um so giftiger, da sie diesmal nichts anderes sind als die verlorenen Söhne der Revolution. Kein 1789 – keine bürgerliche Klasse mit Besitz und Macht. Ein Fest der zusammengebissenen Zähne hielten allein die Armen – für die einstmals die große Revolution wohl gedacht, aber wenig gemacht worden war.
Die Armen sind bescheiden. Es würde ergreifen, wenn es recht zur Kenntnis käme, auf wie vieles sie jedesmal verzichten, wenn sie nur danken, nur verehren dürfen. Eine Gestalt der allein den Armen heiligen Revolution ist der Unbestechliche: er war allerdings unempfindlich gegen den Reichtum; antasten wollte er ihn nie. Er hat Aristokraten geköpft, oft waren es arme Menschen, und ihre Toten sind an Zahl gering. Jeder Vergleich verbietet sich, mit den Opfern der faschistischen Gegenrevolution – allein in Frankreich. Aber ihr Richtplatz ist das ganze Europa.
Maximilian Robespierre hat in 150 Jahren an seinem Geburtsort Arras einen Stein, sonst über das ganze Land kein Zeichen bekommen. Keine Inschrift sagt, daß er gelebt, blutig gelebt hat, bis er selbst in seinem Blut lag auf einem Tisch des Rathauses; aber daß er die Revolution gerettet hat, noch anders als mit dem Fallbeil. Mit dem Schwert. Sein Saint-Just, jung und schön, ein gewappneter Erzengel, stürmt beflügelt, seine Schlachten retten die Revolution und das Land.
Von diesen beiden zu wissen und zu hören, war am Quatorze Juillet des Jahres 1939 allen unerträglich – außer der Nahezu-Gesamtheit, die absichtsvoll auch nur für eine Partei oder Klasse zählen soll. In Wahrheit ist sie das Ganze, abgerechnet die imitierten Faschisten der Champs Elysées. Wenn die Nation, mit dem Zeitalter auf seiner Schneide, gewagt hätte, die Nation zu sein? Wenn es denkbar wäre, daß sie sich zurück, oder ebenso weit vorwärts versetzt, da es so oder so um Tod und Leben gehen soll?
Aber Nationen sterben nicht so bald, am wenigsten diese. Sie erlauben sich Vergeßlichkeiten – das Dasein eines einzelnen wäre mit ihnen vertan und aus. Die Folgen für Nationen sind der Zustand Frankreichs seit Mitte 40: vier Jahre, und enthalten Demütigungen genug für vierhundert. Gleichwohl lebt die Nation, diese Jahre verjüngen sie, anstatt sie zu entkräften. Eine gloire première steht auf, als wäre nichts gewesen, wenn es der Niederlagen genug ist.
Gesetzt, ein Daladier kehrte heute von München zurück? Aber er kehrt, man weiß es trotz seiner Heimlichkeiten. Heißt nunmehr Laval und findet in seinem Schlafwagen eine Zeitbombe, vorerst nur das.
Gesetzt, heute wäre die Revolution zu feiern? Die Leidenschaft, mit der es geschähe, wäre Valmy und die Marne wert. Nein, das Trostlose ist nicht die entfesselte Katastrophe. Vorher, das unheilvolle Zwielicht war es, die Dämmerung der Dritten Republik.