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Vierzehntes Kapitel.
Frankreich

Was noch übrig ist

Das Frankreich des Königs Henri Quatre und des Generals de Gaulle ist durchaus das gleiche. Beide Male ist seine Vitalität augenscheinlich; sein Lebensgefühl steigt mit seiner Besinnung. Der König und der General haben gegen sich eine tote Masse, damals die Ligue genannt, jetzt der Faschismus. Die Unternehmer der einen wie der anderen Liga sind elende Mittelmäßigkeiten, der Herzog von Mayenne (an Umfang ein Göring), Monsieur Laval, ein anderer Name für Schufterle, oder für Hitler.

Mayenne, Laval leben von der Gnade fremder Intriganten. Phillipp II. von Spanien, Weltbeherrscher, dachte Frankreich schlechtweg seinem Königreich einzuverleiben. Hitler, Taschenspieler der Weltbeherrschung, behandelte es wie eine Provinz seines imaginären Deutsch-Europa. Ein Unterschied: der Ältere überschwemmte das Land mit dem Gold von Peru, damit sie es ihm verrieten. Der Neueste hat die Bank von Frankreich ihres Schatzes entblößt, das Land, so viel er konnte, seines männlichen Nachwuchses. Untaugliche Mittel, dieses wie jenes. Frankreich bleibt niemals lange weder verkauft noch verraten.

Der Retter kommt vom Süden. Henri Navarra, von Staats wegen ein Fremder, reist mit seinen Hugenotten nordwärts, seine Entscheidung fällt bei Argues, unfern des britischen Kanals. Seine unverbrüchliche Freundin wird die große Elisabeth von England sein. De Gaulle findet, um in Frankreich einzufallen, das afrikanische Frankreich vor. Die verbündeten Angelsachsen haben es vom Feind zurückerobert: halten, das wissen sie, kann nur Frankreich den Norden und die Mitte des Erdteils. Aber die Sicherheit Amerikas verlangt, daß der Hafen Dakar in fester Hand ist.

Die Republik hat eine überaus verläßliche Hand gehabt. Ihre Kolonien, die meisten von ihr selbst erworben, fühlten bei ihr sowohl Zucht wie Wohlwollen. Ohne viel zu begreifen, fügten sie sich in eine – militärische und moralische – Überlieferung. Sie muß ihnen groß erschienen sein, gleichviel, was Frankreich an tatsächlicher Macht gerade aufbot. Marschall Liautey hat in dem ersten der europäischen Kriege mit einer Handvoll Truppen ganz Nordafrika geschützt, und der Feind stand unweit Paris.

In einem früheren Zustand der Republik, meinten die zeitweilig Enttäuschten, sie sei schön gewesen, als noch der Kaiser da war. »La République était belle, sous l'Empire«; – dank Laval wird sie nunmehr täglich schöner. Der jüngste General der Armee, ihr namhaftester, auf den Frankreich hofft, bekennt sich zu ihr jetzt. Er ist unbelastet, und ist neu. Ihre Feinde und falschen Überwinder sind alte Leute, fleckig und verbraucht, das Wort taré sagt noch mehr. Der schwache Pétain, Kapitulant von Natur, hätte ihr nachgegeben schon bei Verdun.

Damals fürchtete der Typ Pétain das ganze Frankreich – in der Person des Jakobiners Clémenceau. Sie haßten ihn und umwedelten ihn. »Warum ich immer Handschuhe trage? Er würde mir die Hand küssen.« Aber der letzte Jakobiner und seine Faust waren endlich begraben: gute Zeiten kamen für Kapitulanten und was aus ihnen werden kann. Pétain ist seit dem vorigen Mal sieben Jahre Kriegsminister gewesen.

Nachher in seinem Vichy hat er andere der versäumten Rüstung beschuldigt. Das Verfahren wurde eingestellt, wegen zu klarer Tatsachen. Außerdem verlangte der Herr aller Pétains, Hitler, keineswegs, die schlechte Vorbereitung des Krieges solle bestraft werden, sondern daß er vorbereitet wurde. Laval hätte auch das gemacht. Er befand sich nur gerade nicht an der Spitze. Seine bedingungslose Brauchbarkeit trug ihn erst hinan.

Hier wäre die Stelle für eine Betrachtung des Geizes: einer Todsünde, weil er den Geist tötet, wie Stolz, Neid, Unzucht, Unmäßigkeit, Lauheit und Zorn. Sehr obenhin kann es scheinen, sechs seiner Laster wären bestimmt, den Menschen aufzuzehren, das siebente aber erhalte ihn. Dies richtigzustellen und die volle Wirklichkeit des Geizes höchst spektakulär vorzuführen, war nun einmal der Auvergnat Laval berufen. Zu ändern ist da nichts, sonst hätte er es selbst versucht. Wie mögen seine Nächte sein!

Er hat sein Geld in Vichy gemacht, als Staatsminister und auf Kosten des Staates. Er war die Quellennymphe von Vichy, bevor er an Ort und Stelle seine Autokratie eröffnete. Das ist aber nicht, wie wenn ein Hitler es tut. Dieser alte Geschäftsmann hatte keine paramilitärischen Banden geführt, bis er sich einer richtigen Armee aufdrängte. Er hatte keine Morde ungestraft verüben dürfen – gesetzt, er wäre auch nur in Versuchung gekommen, bis es ihm erlaubt war, sie Hinrichtungen zu nennen. Wenig wahrscheinlich, daß die reichen Klassenkämpfer gerade ihn für den Staatsstreich finanziert haben. Erstens schenkten sie ihm in Geldsachen kein Vertrauen. Sodann waren Jüngere da.

Merkwürdig, das meiste Unheil ist während der Dämmerung der Republik von dem gewissen Doriot erwartet worden. Er war, wo immer er auftauchte, eine Zirkusattraktion, in der Art des Anfängers Hitler. Zur Last fiel er dem Staat, der ihm überall hin seine Polizeitruppe nachschicken mußte – wo sie kampierte, war der Tribun sicher. Die deutsche Republik hatte den ihren beschützt. Ein obskurer Wicht ohne Vergangenheit, oder mit der schäbigsten, redet Natur, wie Hitler und Doriot. Das muß doch ziehen? Das gibt doch Vorsprung gegen einen verbrauchten Parlamentarier?

Nein. Sondern durch das Ziel gehen wird der lahme Parlamentshengst, der nichts weniger als Natur, der den demokratischen Allerweltsjargon redet: keinen anderen kennt er, wird auch nichts mehr lernen. Was er voraus hat: eine Leidenschaft, den Geiz. Die eine genügt, mehr vertrüge der Jüngste nicht. Vergleiche verbieten sich, mit der Eitelkeit eines Proletariers, der aus der Kaschemme in die feinen Häuser versetzt ist – dafür hat der Abgebrühte sein düsteres Schmunzeln. Er stellt weder Knaben nach, noch übertreibt er die Freuden der Tafel, und seine Herrschsucht wäre normal. Jahrzehntelang hat er sie mit Kulissen-Intrigen befriedigt.

Niemals hat er daran gedacht, Edouard Herriot umzubringen, solange sie beide nur schichtweise, im Wechsel mit anderen Republikanern, an die Macht gelangten. Fähig, seine gleichaltrigen Kollegen und Gegner bis in den Tod zu hassen, ja, entfesselt, einer ganzen, sozusagen ehrbaren, Vergangenheit entbunden wurde er, als ihm bangte für sein Geld.

»Ich bin für die Zusammenarbeit mit den Deutschen, weil ich von Rußland – und England – den Bolschewismus befürchte.« Zugegeben, dieses Wort, wirklich ausgesprochen trotz seiner Unwahrscheinlichkeit – ist eines der starken des Zeitalters. Es enthüllt endgültig einen Mann, seine soziale Schicht und ihr Schicksal. Das Wort atmet Leidenschaft: den Geiz – der nichts Geringes ist, seine Folgen erweisen es gräßlich. Der alte Mensch in Vichy will sein schlecht verdientes Geld retten – nur seines; das Geld der anderen mögen die Deutschen holen. Er rettet das seine vermittels Zusammenarbeit. Nie im Leben hat jemand ihm trauen können: die Deutschen mußten kommen, damit er verläßlich und treu wurde.

Er liefert ihnen, was sie wollen, wen sie fordern. Unzählige würden leben und frei sein. Züge über Züge, mit Männern der wehrhaften Jahrgänge vollgepfropft, wären niemals nach Deutschland abgefahren, damit Deutschland Zwangsarbeiter, aber Frankreich keine Kämpfer hat. Jede Lebensgefahr war vom Land abzuwenden oder war aufzuhalten, wenn der Feind keinen Vertrauensmann hatte, und der Vertrauensmann kein Besessener war. Aus diesem machte, was er nun ist, der Geiz.

Der Geizige, eine ungebildete Mittelmäßigkeit in allem sonst, übertrifft seine Natur, wird ein Unhold – womit andere früh im Leben beginnen: für ihn ist es das Letzte, sieht nach Verzauberung aus. Von den Bergen herab greifen geflüchtete junge Franzosen den Feind ihrer Heimat an. Der alte Mensch – wie oft hat er unter dem Vorwand, ein Franzose zu sein, das Regieren der Republik und seine Geschäfte besorgt – schickt gegen sie Soldaten. Zusammenarbeit mit den Deutschen, er tötet die Befreier Frankreichs vom Feind. Die Nächte eines Laval müßten tödlich sein. Aber der Geiz verhindert, wen er hält, zu sterben.

1940 im Juni, die Deutschen blitzten bis jetzt außerhalb Paris, wurde nicht von ihnen, sondern in Bordeaux über Frankreich beschlossen. Die Regierung der Republik ging durch schwere Ungewißheiten: mehr oder weniger schwere; einem bejahrten Marschall hätte auch in jüngeren Tagen am nächsten die Übergabe gelegen. Aber Sitz und Stimme hatte auch ein junger General, de Gaulle: er wollte die Bretagne verteidigen, noch könnten die Deutschen besiegt werden. Als er keinen Glauben fand: »Dann Nordafrika.« Hier wurde ernstlich geschwankt: der Ministerpräsident unterstützte die Meinung.

Der ehrliche, klarsichtige Paul Reynaud war Ministerpräsident nach den Regeln der Konstitution, die bis zu dieser Beratung noch gewahrt blieben, länger nicht. Sein Schlußwort: »Ich gehe zur Armee« war unzeitgemäß, es beendete, um so schlimmer für ihn, alle Förmlichkeiten: bloßgelegt wurde die Diktatur. Vorher war ernstlich geschwankt worden, auch der Generalissimus Weygand begleitete die Aussprache von Bordeaux mit Zweifeln. Wie denn! In Afrika eine große Heeresmacht, der ganze Süden frei vom Feind, Paris noch frei ... Da trat Laval vor.

Mit welchem Recht er zugegen war? Wahrscheinlich auf Grund seiner Zukunft, die Léon Blum ihm abgesprochen hatte, aber sie war verhängt. Er hätte sein Geld verloren! Sogleich legte er los, schlug die äußersten Töne an. Die Leidenschaft, die einen ausgedienten Wortemacher wahrhaft entzündete, war nur sein Geiz, aber welch einer! Er, der sein Geld retten wollte, schien Frankreich zu retten, wenn er forderte, es auszuliefern. Der wirkliche Retter, de Gaulle, hatte selbst der Leidenschaft genug, aber eine zu hohe. Die niederen wirken sinnlich unmittelbar.

De Gaulle stand da, als hätte er, und nicht Laval, Frankreich ausgeliefert. Den Deutschen? Nicht das wäre Verrat. Die Deutschen sind die Erlöser aus den Ängsten, die einer um sein Geld erleidet. Das gute Recht, Frankreich zu erobern, gehört den Deutschen vermöge ihres Antibolschewismus. Ein Verräter ist, wer Frankreich ihren Feinden, den Kommunisten überläßt, und Paris der Kommune! Die schaurige Erinnerung an die Kommune, Paris 1871 – als jeder sein Geld behielt! – hat 1940 in Bordeaux über Frankreich entschieden.

Angenommen, Paris war allein noch zu halten von einer Volksarmee, dem Aufgebot desselben Volkes, das solange verfolgt worden war, weil es nicht empfand und dachte wie eine übergeordnete Schicht, der Vorteil galt nicht, die Rettung war im voraus verleugnet und vertan. Die entsetzliche Tatsache, die hier ihre Rache nimmt, ist die Entwertung der Massen. Ließe sie sich wegdenken: das Land, mit ihm die Armee, wäre erst jetzt vollauf überzeugt in seinen Krieg eingetreten. Was, Kommune! Eine Pariser Kommune wäre nichts als national gewesen.

Ob eine Kommune, die nur ausblieb, oder ein Clémenceau, der nicht wiederkehrte, die unauffindbaren Waffen, chars d'assaut avions, Kanonen wären augenblicks dagewesen, die Regimenter auf den Schlag geformt und geführt. Die Hingebung der Massen an das Land hätte endlich verdiente Gelegenheit erhalten. Kein Offizier hätte einem umherirrenden Soldaten geraten: »Mach's wie die anderen, nimm Reißaus!« Der beschämenden Szenen, die jetzt bezeugt werden, mußte nachher niemand gedenken: Welt und Nachwelt kannten dann die Nation, die sich besonnen. Nur ihre oft bewiesene Fähigkeit der Umkehr, der Auferstehung, des Wunders, bewährte sich wieder. Das ist einige Stunden, dann nicht mehr, eine Frage der sittlichen Kräfte von Beauftragten, nicht von Berufenen gewesen. Gewicht und Gegengewicht haben geschwebt; das schwerere, das sich senkte: die energische Furcht vor der Nation und eine Leidenschaft, der Geiz.

Nicht diese sind übrig. Von Frankreich ist, wie jemals, übrig seine Spannkraft, die unvergängliche Jugend eines Landes und Volkes, dessen Halt und Rückgrat seine Gesittung bleibt.

Die Deutschen Herren über Frankreich

Gerade dieses Land zu überfallen und sich darin festzusetzen: das Geschehene erlaubt die eine oder die andere Deutung. Wer dies Volk ungewöhnlich leiden läßt, ganz zuletzt könnte er den geringeren Schaden ihm antun, den größeren sich selbst? Wie, wenn er dem gedemütigten sogar Nutzen brächte.

»Qui sait enfin si le mal qui règne depuis tant de siècles ne produira pas un plus grand bien dans des temps encore plus longs?« lese ich bei Voltaire, wo er keinen Geringeren als Gott in Schutz nimmt, und übersetze es mir: kurze, verhältnismäßig schmerzlose Unglücksfälle schaffen nichts: siehe 1918 und die deutsche Republik. Lange, boshafte Qualen – die Qualen Frankreichs, von Deutschen gewollt – empören die Natur, sie treiben das Blut um, der fiebernde Kopf wird heller anstatt dumpf. Man produziert.

Die Fruchtbarkeit ist ein äußerst angeregter Zustand des Lebens, oft mit Temperatur verbunden, immer mit gesteigertem Lebensgefühl. Die Fruchtbarkeit ist das Wagnis selbst. Darin erfahren, machen wir die Wirklichkeit gefügig bis zur Umarmung, und realisieren Gedanken. Wie steht es nunmehr um Ideen, die vor diesem Krieg inopérantes, suspectes und interdites waren?

Es sieht nicht aus, als ob der mittlere Franzose die Volksfront, wie sie war, heute für kühn halten würde: er fände sie unzulänglich, ebenso in Hinsicht der sozialen wie der nationalen Einheit. Wenn es wieder in Frage käme, noch einmal würde die spanische Republik nicht aufgegeben: dies als selbstverständlich beiseite gesprochen. Aber aus den Fenstern der Pariser Kaufhäuser ließen damals Angestellte, die unterhalb der Lebenskosten bezahlt waren, Streifen hängen: der Ankaufspreis der Waren und die Ziffer, mit der sie ausgezeichnet waren, standen darauf.

Aber auf Place Masséna in Nice demonstrierte ein Zug von Frauen, voran mit dem Banner der sozialistischen Intellektuellen ein alter Arzt. Die grellen Stimmen skandalierten: »Les Soviets partout! Les Soviets partout.« Kein Laut erfolgte von den entgeisterten Gästen der Caféterrassen; der Vorgang und daß die Polizei sich unsichtbar machte, verstieß gegen jede Konvention, hauptsächlich darum war er gefährlich. Eine einzelne Frau allerdings, die auf der Promenade ihre Zeitung Le Peuple ausrief, wurde von zahlreichen Nichtliebhabern des Volkes zur Ordnung gewiesen.

Kein Jahrzehnt wäre es her? Jahrhunderte scheinen vergangen. Denn sichtbar wurde inzwischen, wofür sonst die Augen blöde gewesen, der unmögliche Zustand, wenn die Hälfte der Nation verhaßt und entrechtet ist. Darum allein konnte nachher der Feind im Land auch die andere Hälfte abtöten: bürgerlicher Tod, hier und da in das Körperliche übersetzt mit Hängen und Schießen. Ein überfallener Deutscher ist hundert französische Leben wert – mäßig berechnet, da in Prag ein einziger gerichteter Wüterich Tausende tschechischer Leichen verdient hat.

Es ist nötig, der Einsichten wegen zu vergessen, daß Ungeheuerlichkeiten zur Rede stehen, Verbrechen einer sonst nicht mehr bekannten Ordnung. Sie werden verübt, als wären sie vorgeschrieben und dürften ohne empfindliche Störung des Weltgeschehens nicht unterbleiben. Der Sinn! Wo, um alles, ist der Sinn!

Der Nation, die dem Kontinent die Menschenrechte geschenkt hat, wird klargemacht, daß sie niemals eines zu vergeben hatte: ihr selbst ermangeln alle, zuerst das Recht auf Leben. Der deutsche Beschluß ist: jeder Franzose muß wissen, daß er vor deutschen Galgen und Gewehrläufen sterblich ist – nicht nach seinem Verdienst, sondern nach deutschem Belieben, zu der Stunde, die er nicht kennt, und unter Vorwänden, die nicht als Gründe gemeint sind. Ausgelöscht, wird er auch noch verhöhnt!

Juden und Kommunisten, eine abgeleierte Kabarettnummer der befohlenen Weltanschauung muß herhalten, wenn intellektuelle oder vermögende Franzosen als Geiseln herausgegriffen werden. Den Anhalt liefert ein Bankausweis, kein Kirchenregister. Hundert Ärzte, die vielleicht Kommunisten, allenfalls Juden waren, sind beiseite gelassen, aber mit traumwandlerischer Sicherheit fand die deutsche Parze den Doktor Simkow. Denn er hatte seine Praxis in einem reichen Stadtviertel. Er verstand die Geplagten und fühlte mit den Armen; er kannte selbst den Kummer wie der Ärmste. Er ist der Vater, dem unlängst seine beiden jungen Söhne von einer Wanderdüne erstickt worden waren.

Die deutschen Herren Frankreichs wußten sich nichts Besseres, als den trostlos Vereinsamten völlig zu vernichten: Nachrichter, im Sinn des Wortes. Der Doktor hat am Leben wenig verloren. Paul Langevin, membre de l'Institut, war krank, er wurde in die Santé gebracht – keine Heilanstalt, sondern ein Gefängnis. Langevin, der namhafte Wissenschaftler, scheint von den Nachrichtern bisher vergessen: sie scheuen die französischen großen Namen. Sie können gegen ihren Respekt nicht an, er ist ein altes deutsches Erbe. Friedrich der Große redet ihnen manchmal hinein, wo sie lieber töten würden.

Dabei hatte der Gelehrte sich besonders schuldig gemacht. Er hatte gegen die deutsche Weltanschauung verstoßen vor der Niederlage, als Frankreich in der Täuschung befangen war, es habe das Recht auf seine eigene. Unsere spätesten antifaschistischen Veranstaltungen, als die Republik angefangen hatte sich faschistisch zu benehmen, wurden von ihm geleitet. Sein hohes Ansehen, sein gebietender Titel nahmen ihn von Belästigungen aus (obwohl der Eingang des Hauses von Polizei besetzt war). Unseren Volksversammlungen glich dies nicht ganz: Intellektuelle, einzeln und in Abordnungen, füllten mächtige Säle.

Viele waren vorher einander kaum begegnet. Wer sich sonst nicht zugehörig gefühlt hätte, kam dennoch, gerufen von der äußersten Stunde, ermutigt von einer seltenen Persönlichkeit. Er war einfach, streng und rein. Fremd blieb ihm immer der äußere Anschein als kämpfte er, die Geste eines Wagnisses fehlte. Er tat, was recht war. Die Wahl der deutschen Nachrichter ist auf ihn gefallen. Manche demonstrativen Gestalten traf sie nie. Aber sie traf Maurice Sarraut. Als die Deutschen ihn ermordet hatten, verbreiteten sie, der französische Untergrund habe es getan.

Schmerzlich denke ich seiner: daß ein entehrendes Ende ihm von seinen Mördern nachgesagt werden konnte, und niemand sah sogleich die feige Lüge. Der stolze Herr der Dépêche – ein Kooperationist? Das wird am wenigsten aus Männern der altbürgerlichen Mitte, die nicht anders können als sich jakobinisch betonen bis in den nationalen Zusammenbruch.

Als ich, nach der Kriegserklärung, meine Verbindung mit der Zeitung löste, entschuldigte er sich, weil er mich gehen ließ. Die Dépêche werde klein werden – réduite à sa plus simple expression. Dann aber wäre er in der Selbstverleugnung bis zum Verrat gegangen? Hätte verdient, von Patrioten gerichtet zu werden?

Toulouse ist eine sozialistische Stadt. Sie lag noch lange außerhalb des besetzten Gebietes. Die alteingesessene Familie, ihre Zeitung, die den Südwesten beherrschte, ihn in Paris vertreten hatte; der Minister, dessen Macht die Zeitung gewesen war – und die Macht vertrug, ideell und praktisch, keinen anderen Ausdruck als Freiheitssinn und Liebe zum Lande! Als aber gemeldet wurde, sein bejahrter Bruder, der bedeutendere von ihnen, habe sich die Rache des Landes zugezogen – niemand hat sogleich widersprochen, auch ich nicht.

Es zeigt an, wie tief wir schon gedemütigt sind. Einen Augenblick, bis wir durch die Wahrheit beschämt werden, lassen wir uns beleidigen in den Menschen, die wir hoch stellten, und die mir nichts dir nichts gesunken sein sollen. Nicht, daß ein Abfall und Versagen, wie diese erfundenen, mich ausdrücklich überzeugt hätten. Entmutigt durch der Zeiten Schande, bezieht man das Unwahrscheinliche in sie ein. Das Wahrscheinliche bleibt immer die Furcht dieser Deutschen in Frankreich vor ihrer eigenen Herrlichkeit.

Warum sie einen anderen Mord eingestehen und gerade diesen nicht, wer weiß es. Die Verirrungen, Verwirrungen, die man bei ihren Opfern sucht, sind unfehlbar die ihren. Sie fürchten nun schon die lange Zeit ihrer Herrlichkeit in Frankreich, nichts so sehr wie ihren fehlgegangenen Mut. Daher die Übertreibungen ihrer Tyrannei. Im Falschen hält man schwer die Mitte. Die Fiktion, als gäbe es keine französische Nation, ist die deutsche Fiktion. Einmal aufgestellt, erläßt sie dem Verirrten an Schamlosigkeiten und Fehlern nichts.

Die moralische Unterordnung, die sie manchmal verraten, hat als letzten Grund auch nur die Furcht. Nicht die Furcht vor einer greifbaren Macht. Um so schlimmer, das Beängstigende ist unsichtbar, die ganze Vergangenheit dieses Landes – die nicht tot ist und wird von ihrer Hand nicht sterben. Alles was dieses Land ihrem eigenen gewesen ist, lebt fort, kann nicht vergehen, ob man auch wollte. Die Herren über Frankreich wissen es nicht. Aber sie handeln danach.

Vor allem dort trägt ihre fragwürdige Herrschaft das Gesicht der Rachsucht – und der Kriecherei. Die demütige Werbung, der sie sich ergeben bei den namhaften Franzosen, um ein Zeichen der Duldung, wenn es denn Mitarbeit nicht sein kann, ihre Kriecherei ist ohne Gegenstück in anderen Ländern.

Ein Zeichenlehrer existiert namens Abetz, dem Führer kongenial auf dem Wege der Kunst, und nicht die einzige seines Zeichens: maître de dessin ist auch der Balte Rosenberg, übrigens Spion des Zaren und Verfasser der deutschen Weltanschauung. Zeichenlehrer Abetz wurde der Botschafter des anderen Künstlers, Hitler, bei der französischen Republik. Nach ihrer Beseitigung ersetzte er mit seinem Talent die ganze Republik. Trägt er den Titel Gauleiter von Frankreich? Ist er Großinquisitor, oder geheimer Kommissionsrat? Die Phantasie der rassischen Naturen, die über Europa hereingebrochen sind, kennt keine Grenzen. Man möchte Laval loben, für die einzige Tatsache, daß er nie im Leben den Louvre betreten hat.

Zeichenlehrer Abetz ist nach Amt und Neigung ein Gönner des künstlerischen Frankreichs; wo irgend der Fall gegeben, bewegt er es zur Kooperation, bei deren gefährlichem Gelingen die Seele flöten geht. Auch den Maler Picasso suchte der unvermeidliche Abetz heim, er gab sich als Verehrer und war es wirklich. Er erbat Zutrauen in seine bedingungslose Beflissenheit und offerierte Geschäfte. Er öffnete sein Herz, erfuhr aber, daß es unverstanden blieb, gewürdigt wurde es gar nicht.

Endlich brachte der Zeichenlehrer mit einer Bescheidenheit, die bei den Mächtigen jedesmal rührt, seinen Wunsch vor: Bilder zu sehen! Was der Meister wohl vollendete, indessen lieber noch nicht herzeigt! Wird Picasso dem demütigen, obwohl gefährlichen Gast die Gunst erweisen? Er tut es, er holt eine Leinwand, die verkehrt gegen die Wand lehnt, er stellt sie auf. Guernica. Abetz erblickt nicht mehr, nicht weniger als Guernica.

Er hat weder die Komposition bezweifelt noch das Kolorit gerühmt: er hat sich empfohlen. Der Meister wurde nicht noch einmal aufgefordert in Berlin unter staatlichen Ehrungen auszustellen: das verböte jetzt auch das Befinden Berlins. Ebensowenig ist er in ein Lager verschleppt oder anders belästigt worden. Mein Freund Louis Gillet blieb gleichfalls verschont.

Er war noch nicht von der Académie Française: die nationale Weihe der Literatur, sie empfängt sie nun schon das vierte Jahrhundert seit Richelieu. Da kam er zu mir das erstemal, gleich 1933, ich war frisch geflüchtet. Sein Interesse für das deutsche Verhängnis wird nicht tief gewesen sein. Was er mir brachte: seine natürliche Kameradschaft, unbefangen ausgedrückt, als fände er mich an meinem Platz, der nach seiner Meinung überall oben war. Zu bedenken ist, daß Mißhelligkeiten mit einem Staat damals die französischen Intellektuellen nicht trafen. Macht genug waren sie selbst.

Als Mitglied der Akademie hörte er keineswegs auf, mich zu sehen. Sooft ich will, erblicke ich ihn wieder, an meinem Schreibtisch, im Begriff mir bei einem Manifest zu helfen. Er ist stattlich mit seinem blonden Bart und der edelsten aller vollen, weichen Sprechstimmen. Ich bin in seine Vorträge gegangen, um ihn und um die Stimme zu hören. Nachher, beansprucht von hundert Personen, die wichtiger als meine, hat er dennoch den Rest des Abends bei mir verbracht. Ich gedenke seiner und der intellektuellen Kameradschaft, die ich in Frankreich empfing. Ich danke dem Leben für vieles, und hierfür.

Als die Zeiten schwierig geworden waren, gerade damals lud er mich nach der Rue Bonaparte, ganz nahe der Seine, zu einem deutschen Mittagessen, Rindfleisch und Mehlspeise. Auf dem Familientisch standen Weinkaraffen ohne Bezeichnung, aber ich schmeckte: Côtes du Rhone: damit interessierte ich alle seine Angehörigen, beinahe war ich kein Fremder mehr. Und der Krieg stand in Sicht.

Louis Gillet erschien in meinem Zimmer während des Krieges, Frankreich zählte noch wenig Tote. Er war verlegen. Ich sah, er hatte niemals bedacht, mit wem er eigentlich verkehrte: sein Freund auf Grund der gut gebauten Sätze, sein Kollege von einer jüngeren Akademie, aber heute? Heute erwies der Aufgenommene sich abgesondert; es überraschte uns beide, zu leugnen war es nicht. Wenn man mich hörte, sah, und persönlich, nicht Feind nennen wollte: was übrigblieb, ist stärker als wir. Es besteht trotz unserem erzogenen Wesen, unser Wille und Wissen vermögen in Stunden der Entscheidung nichts dagegen, daß wir Mitschuldige der Angreifer sind.

Wenn er es ist, dann kann er nichts dafür! Louis Gillet in dem Sessel neben meinem Schreibtisch, Stil premier Empire, Periode Ägypten, wird sich gut zugeredet haben. Seine Neigung für mich war niemals politisch gemeint gewesen: auf einmal erschien sie absichtsvoll. Ein ungewohnter Mut wurde erfordert, um mich zu halten. Nicht die Sache eines jeden, mein alter Bekannter – mehr war er jetzt nicht – wagte manches, er wußte selbst nicht was. Im Hause wohnte ein beschäftigungsloser Exfunktionär, der heimlich auf den Speicher stieg und mein Gepäck durchsuchte.

Mut nach Selbstüberwindung ist der allein verdienstvolle. Louis Gillet hat ihn nicht nur mit mir bewiesen. Die Deutschen kamen in die Lage, ihre armselige Weltanschauung, die antisemitisch und sonst nichts ist, zum Gesetz zu erheben. Alsbald erließen die französischen Verlage eine Kundgebung gegen ihre eigenen Autoren. Solange hatten sie nicht bedacht, daß Bergson eine Schande sei; daß Frankreich zugrunde gehen müsse an der humanen Philosophie eines Juden und an dem gütigen Lachen eines anderen Juden, Tristan Bernard.

Bergson starb, nachdem er ein tapferes Bekenntnis abgelegt hatte. Sehr übel konnte es dem überlebenden Träger der Charakterkomödie ergehen. Gemeinhin sieht man in ihm den fruchtbarsten Witzbold. Aus Gleichgültigkeit hat er es geschehen lassen, daß Scherze mit Bärten so lang wie seiner ihm zur Last gelegt wurden. Er ist ganz anders, wie ich weiß. In der Pause zwischen den Kriegen sah ich niemand so wie ihn gegen den Krieg öffentlich eifern. Ganz und gar vergaß er zu lachen, heiliger Zorn brach seine Stimme – ein Briand ohne Cello.

Unter vier Augen hat er mir geklagt über den Verfall, noch nicht der Literatur, aber der Liebe für sie, der Kenntnis ihrer Schätze. Jemand hatte ihm Racine vorgesprochen, absichtslos, als ein Geschenk, dessen Größe der Geber nicht ermaß. Der Empfänger dankte ihm noch immer. Dies ist der Autor vielgespielter Lustigkeiten, manche mit Nachgeschmack, je nachdem. Der Flüchtige hat eine Posse gesehen, dem folgenden Leser wird sie tief. Ernst und Gefahr – aber der Autor hatte sie gekannt, jetzt kamen sie an ihn selbst.

Louis Gillet trat vor und erwarb Ehre. Er schrieb dem alten Meister einen Brief und veröffentlichte ihn: Worte von einem Widerhall, daß niemand unseren geliebten Tristan verletzen konnte, oder er hätte die Akademie herausgefordert. Ein zeitweiliger Herr über Frankreich, Ersatz Louis XIV., hätte aufgegeben, was er mühselig hinzog: Achtung vor einer Kultur, unter Erniedrigungen der Nation, die sie fortwährend schafft.

Ein Konzert von Beethoven

Das vermeiden sie gern. Ihre Generale, Propagandisten, Gestapohäupter, hier vereinigen alle sich mit Zeichenlehrer Abetz in gleicher Demut: der einzige Fall, und ist allerseits nicht frei vom Zähneknirschen. Was tun, der Führer hat seinem vorbestimmten Opfer, Frankreich, versprochen: »Auf eurer Halbinsel könnt ihr eure Kultur pflegen.« Das Wort gilt nach wie vor der Überrennung Frankreichs, – sie war schon, als er es sprach, beschlossen und virtuell vollzogen. Also Halbinsel. Also Kultur.

Nur gilt es nicht für die Nation, die sterilisiert wird und absterben soll. Die Reste sind gemeint – alte Leute, mit Namen die nachglänzen, der historische – allzu historische Ruhm eines Landes, das ohne übermäßiges Aufsehen den Zustand einer Kolonie erreichen wird. Einzige Voraussetzung: militärisch. Aber davon abgesehen, daß nicht einmal diese erfüllbar ist, welch eine Verkennung der menschlichen Wirklichkeit: Bis zu welchem Grade muß das deutsche Verhältnis zur Welt insgesamt falsch sein, damit sie Frankreich aufheben – in ihrer Vorstellung, wenn sie eine hätten. Aber sie stellen sich gar nichts vor.

Wer ohne Phantasie ist, bewegt sich im geistigen Unfug, er handelt vernunftlos, auch wenn die Vernunft das Leichtere wäre. Am Anfang der deutschen Herrschaft über Frankreich kam einiges ihr entgegen. Die Republik war nicht ganz ohne eigene Zustimmung gestürzt, da ihr Recht auf Bestand nicht mehr mit Überzeugung verteidigt worden war. Auch ohne den deutschen Angriff hätte sie ihre Katastrophe gehabt. Die Katastrophe liegt jetzt schon hinter ihr – viel früher als jemals zu erwarten war. Die deutschen Herren über Frankreich haben alle Franzosen zu echten Republikanern gemacht. Auch General de Gaulle war es nicht immer.

Faschisten bleiben, was sie sind, notgedrungen: jetzt droht ihnen die Rache nur von einer Seite; wenn sie überliefen, von beiden. So oder so, das sind die Verurteilten; jeden Tag wird ein Urteil des französischen Untergrundes, will sagen des pays réel, vollstreckt. Es fallen Franzosen, die sich als Vollzugsorgane deutscher Greuel hergegeben hatten. Es fallen Folterer: die Sorte, deren unterirdische Arbeitsstätten schon vor den Ereignissen eingerichtet waren, in Paris, von Ingenieuren aus Grenoble.

Sie werden mit Sorgfalt ausgewählt, es trifft unfehlbar die Übelsten. Der Vichy-Minister Picheu hatte den Vorzug, von dem Komitee der nationalen Befreiung in Algier hingerichtet zu werden. Das ist nun die Leitung, die der Untergrund höchst sichtbar über dem Boden hat. Das pays réel beweist seine Wirklichkeit, es hat wirkliche Geltung, indessen Vichy gespenstert wie kein Untergrund, nur die Grube.

Der mörderische Geizhals Laval, und ein Doriot, der sonst den Salons der veredelten Proletarier vorführte, jetzt gehen sie umher wie vom Friedhof beurlaubt. Die Exekution jedes faschistischen Gespenstes kostet die lebendigen Franzosen zweihundert Erwürgte, Erschossene. Gleichwohl wird exekutiert: das gute Gewissen will es.

Das Recht zu töten, die Gewissenspflicht zu rächen, ist heute auf der Seite der Freiheit, das erst ändert den Zustand von Grund her. Vorbei die Zeiten, als ein Neugieriger von Nazis dies zu hören bekam: »Wir haben eines vor euch voraus, wir können töten.« In dem Augenblick, da sie es nicht mehr voraushaben, sind sie geliefert.

(Die Wendung ist in Frankreich vollzogen; worauf wartet sie in Deutschland? Noch ist keiner der Verbrecher am Volk gefallen. Vielleicht – wenn auch der deutsche Untergrund, wie der französische, eine anerkannte Leitung über dem Boden haben wird? Oder der siegreiche Feind im Land ist? Oder nach Ausbruch der Anarchie und aller gesetzlosen Instinkte? Früher wäre ehrenvoller gewesen; aber es ist nötig, daß ich Nationen, die beinah in der gleichen Lage wären, auseinander halte gemäß dem Ursprung ihrer Lage. Frankreich ist von einer Klasse verraten worden, Deutschland – im Lauf der Dinge – von allen. Die französischen Intellektuellen haben gekämpft. Wir ...? Darum – darum ist dort das Recht zu töten noch immer nicht auf seiten der Freiheit, gesetzt sie existiere.)

Die Schuld Frankreichs, des ganzen

Frankreich: in seiner letzten merkwürdigen Selbstgenügsamkeit hat es diese Deutschen nicht kennen wollen, bis es sie zu fühlen bekam. Es hing gläubig an deutschen Überlieferungen, die drüben leerer Schall waren. Ein Weg, der mit Beethoven angefangen hat und in kurzen hundert Jahren beim Hitler endet, ist allerdings zu unwahrscheinlich, als daß die scheinbar Unbeteiligten ihm folgen könnten wie der vollen Wirklichkeit. Übrigens sind sie selbst sich interessanter. So denn: »Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium« – Worte Schillers, Musik von Beethoven. Das ist, was Unbefangene kannten und über die äußerste Frist festhielten. Die Eroberer haben nicht versäumt, in Paris ihre Konzerte zu geben.

Wären es nicht gerade diese Deutschen, wären es wesentlich andere, sie konnten ihre Konzerte wahrmachen. Statt dessen Erniedrigung, Bestrafung, Rache. Erniedrigt wird eine Nation, deren Stolz nur herausgefordert werden muß, dann weiß sie wieder um seine Herkunft. Die Deutschen haben von den Zeugnissen der Revolution einige aus dem Wege geräumt, sie gehen bis zum Abbruch ganzer Stadtviertel. Der zufällige Eindringling, die Denkmäler der Revolution zerstören? Aber wo ist seine? Die größte Tat der neueren Geschichte, auch er hat davon mitgelebt. Jetzt bestraft er die Geschichte Frankreichs, bis zurück auf alte Jahrhunderte. Das ist Rache an seiner eigenen, verfehlten.

Gerächt wird, daß Friedrich II. von Preußen, genannt der Große, an Deutschland nichts zu achten fand. (Aber Goethe, liebevoll, nannte Wien »die Hauptstadt unseres Vaterlandes«.) Die ganze Ehrfurcht Friedrichs war für die Monarchie Frankreich, alles, was er an Freundschaft besaß, für französische Intellektuelle. Das wird gerächt, Frankreich muß geistig aussterben, wenn es als Macht getötet ist.

Der Hunger, der in Frankreich umgeht, ist deutsche Rache, für den reicheren Boden: er hat alles, auch die größere Geschichte, getragen. Der Überschuß Frankreichs an Getreide und Wein ist, als Krieg war, dem Lande skalenmäßig gezeigt und vorgehalten, augenscheinlich war er unzerstörbar, eine Bürgschaft des Endsieges. Wenn dennoch, man frage nicht wie, der Feind siegte, konnte schon der Überschuß an Brot und Wein ihn ernähren. Unnütz, vielmehr sein eigener Schade, die Felder unergiebig, das Land gerade für die Zeit der Besetzung arm zu machen.

Wie verkehrt man Fülle in Mangel? Nicht ohne Mühe und witzige Einfälle, bis ein schlechtes Geschäft gelingt. Die jungen Bauern bleiben kriegsgefangen, trotz ungezählter Versprechen, sie heimzuschicken. Für hundert entlassene Gefangene fordert man tausend Franzosen, die sozusagen frei waren; verbraucht sie beschleunigt in den deutschen Zuchthausfabriken; entläßt sie nach Haus tuberkulös, unfähig zur Arbeit. Der Erfolg ist Brachfeld. Der Erfolg ist ein unterernährtes Volk. Was ihm von seinem Reichtum übrig wäre, ißt Deutschland – gute Verdauung!

Der Mundraub hat seine Zeit gehabt, die Deutschen sind längst wieder bei Kartoffeln angelangt. Wenn die Franzosen nur hungern: das ist der Sieg. Was einen Sieger vorstellt, das heizt sein Sturmgerät mit den kostbarsten Produkten der Trauben, sofern sie ihm nicht schmecken. Die Verschleuderung ist Gesetz, ein Gesetz des Krieges, der als Bestrafung der Nationen und Rache an der Geschichte verstanden wird. Nur daß nicht überall so viel zu verschleudern war wie in Frankreich. Aber mit Deutschland selbst wurde früher angefangen. Das Regime der Eroberungskriege betreibt seit seinem ersten Tag die Wirtschaft der Katastrophen: Raubbau und Ausverkauf.

Den deutschen Herren über Europa ist unter ihren toten Händen alles abgestorben: nur das Gold bleibt kleben. Eine Milliarde in Gold, errafft aus allen Überfallenen Ländern, ausgenommen die Sowjetunion, dient Wichtigkeiten wie der Bezahlung südamerikanischer Generalsrevolten. Es besorgt den Unterbau des nächsten Krieges, den sie sich interkontinental denken. (Sie selbst wären draußen.)

Wahrhaftig, noch weniger mit Europa verbunden ist nicht leicht einer, als diese ehemaligen Ruhmredner eines »Deutsch-Europa«, von dem sie nunmehr schweigen. Es hat nicht gelohnt. Das Meer, das gegen die Westküste Frankreichs brandet, hieß bei ihnen »der deutsche Ozean«. Was in einem einzigen Namen alles mitsprechen kann! Worauf sie die atlantische Küste von Finistère bis Basses Pyrénées flüchtig befestigen, denn wie lange kann es dauern?

»Der deutsche Ozean« – hervor klingt eine scheele Ungenügsamkeit, die Minderwertigkeit durch Irrtum, die dem Größten und Besten ihres Besitzes nicht Dank weiß. Hamburg, der erste Hafen des Kontinentes, liegt an der Elbmündung. Bordeaux, wo Wein und Baumharz verschifft werden, ist mitsamt dem Ozean für Deutschland keinen Hamburger »Gang« wert. Stadt und Freistaat Hamburg haben diesem Binnenland Deutschland die Welt erschlossen. Der Erfolg waren Reichtümer – waren die beständige Aufgewecktheit, die Voraussicht, Weltkenntnis, Weltfreundschaft: von allen Deutschen allein die hanseatischen Handelsherren und Seefahrer aller Klassen hatten dies.

Bürgermeister Petersen, eines Abends zu mir: »Ich habe hier mehr diplomatische Vertreter als sie in Berlin haben. Uns befragt keine Reichsregierung. Die Herren von der Ruhr werden gehört.« Die Kriegsinteressenten, die beschränkten Binnenländer – nicht die Weltfreunde und geöffneten Geister. Daher. Jedes Warum hält in Bereitschaft das Daher, das Hamburg heißt. Sein freudiger Hafen war die ungehörte Mahnung, daher jetzt der Sumpf aus Stahlsplittern und Menschenresten. Der Asphalt von Hamburg! Er läßt mich erbeben. Die Brände nach den Luftangriffen hatten ihn erweicht; Bewohner, die auf die Straße flüchteten, blieben stecken und sind erschossen worden. Erschossen von Soldaten desselben Deutschlands, das in Bordeaux die Seemacht heuchelt.

Der Geographie zum Trotz, die atlantische Macht! – ohne Schiffe, hinter schwachen Mauern, aus denen man sich keineswegs auf das Wasser getraut. Das Land aber hinter ihnen hat das Meer nach seinen Befreiern abgesucht. Sie treffen ein. Die Deutschen – sind die Verteidiger Frankreichs: sie sagen es. Ihre Sache, es auch zu glauben. Endlich am Ozean, vereinsamt, genau besehen machtlos, haben sie eine Sehnsucht, die wesentlich leer ist, dennoch erfüllt mit einem Nichts. Es wäre rührend, wenn es nicht sinister wäre.

Die deutsche Herrschaft über Frankreich hat Gauleitern und Generalen niemals eingeleuchtet. Ein Land, das sie nach allem Ermessen nicht halten können, tut wohl daran, zu sterben. So haben sie denn beschlossen, das reichste Land des Kontinentes zu bestatten – es einfach beizusetzen. Die Gesellschaft, samt ihrem Direktor Hitler, ist eine Bestattungsgesellschaft. Das wird aus der Ohnmacht, die sich vermißt, und aus der Rachsucht, die den Faden verliert.

Sie teilen Frankreich in Eile auf – seither erwägen andere, Deutschland aufzuteilen. Sie nahmen mehr als das Elsaß und Lothringen, die nicht darum ersucht hatten; sie annektierten im voraus den ganzen Nordosten, die ganze Industrie, und der Krieg war unentschieden. Solange Italien selbständig genug blieb, um wenigstens Worte zu bekommen, versprach man ihm den Süden. Marseille und Toulon wurden inzwischen deutsche Häfen. Wenn die Bestattungsgesellschaft an sich selbst den rechten Glauben hätte, die beiden Mittelmeerhäfen würden für alle Zeiten deutsch erklärt. Es unterbleibt nur bis zum siegreichen Frieden.

Aber sie haben gerade genug geredet, gedroht, geprahlt. Noch verräterischer als Taten sind Worte. Gut, man fürchtet die Auferstehung der französischen Armee, man entvölkert das Land. Das Dahinschwinden der einstigen sechzig Millionen Deutschen fordert einen Ausgleich: daher für ganz Europa die deutsche Bevölkerungspolitik der Vernichtung.

Sie ist eine Erfindung des Jammers, der in die Grausamkeit flüchtet. Überschwänglich wird der Jammer, wenn sie den Nationen Europas ihre Zukunft ausmalen. Alle sollen arbeiten für Deutschland allein, damit ein einziges Herrenvolk die Waffen führe: alle fabrizieren sie ihm. Ernähren es auch. Kleiden es, denn es hat verlernt, sich zu helfen. Hegen und pflegen es um seiner Herrlichkeit willen – und für so viel entwaffnende Naivität.

Eine Frage, die entscheidende. Wären die Deutschen heute, 1944, fähig, Frankreich noch einmal zu erobern? Die Armeen Frankreichs ständen wieder da, aber mit de Gaulle, und mit der Luftmacht, auf die er vergebens gedrungen hatte. Die Erfahrungen wären zurückgelegt und genutzt, die militärischen, die moralischen; Verräter gäbe es nicht: wären die Deutschen in ihrem seither erreichten Zustand fähig, Frankreich zu erobern? Wenn nicht, stehen sie dort ohne Recht, besonders ohne das Recht, das sie allein anerkennen, die gegebene Macht, sie haben keine.

Sie klammern sich an, mit Kniffen, gräßlichen oder widerwärtigen. Verarmung und Entvölkerung: letzte Auskunftsmittel für Sieger, die keine sind. Mitschuldige anwerben, Verdiener, niedere Komödianten, eine käufliche Presse – verrät dieselbe Verlassenheit, wie die täglichen Erschießungen.

Man will, daß sie sich einsam fühlen. Holland, neun Millionen Menschen, sabotiert seine Tyrannen nur darum. Von allen aufgegeben, sollen sie zittern. Als die Invasion der Alliierten nur erst erwartet wurde, aber von zitternden Deutschen, hatte sie im voraus gesiegt. Ein Eroberer, der keine Klette, sondern ein Herr ist hätte das Land aufgegeben. Deutschland wäre ebenso leicht und schwer, es wäre ehrenhafter in Deutschland zu verteidigen. Vorausgesetzt wird der Mut, den andere gehabt haben.

Der Krieg im Land, um das eigene Land, ist der allein heilige Krieg. Die Deutschen scheinen nicht bereit, ihn zu wagen. Aber sie haben die Entschuldigung, daß es nicht ihrer wäre, nur wieder der Krieg der Abenteurer, denen sie ausgeliefert sind. Die Bande denkt nicht daran, das Land, aber um so fanatischer, sich selbst zu retten. Leugnet auch kaum, was sie vor hat; innere Schlächtereien mit Parteitruppen, das Land getrennt von seiner nationalen Armee, die hinter den Grenzen aufgerieben und verlorengegeben ist. Gefangene und Gefallene, je mehr, um so besser, verlängern den Hitler und Himmler ihr abscheuliches Dasein. Es wäre um sie geschehen, wenn bewaffnete – und belehrte – Soldaten heimkehrten.

So viel Haß sollte nicht erdrücken!

Als Italien die Waffen hinlegte, sprach sein deutscher Freund über ein mißachtetes, mißbrauchtes Land das erste wahre Wort. »Jetzt erst recht wird Italien Kriegsschauplatz werden.« Siehe, so kam es alsbald. Blitzartig besetzten deutsche Truppen den untersten Süden: die Absicht war immer nur gewesen, ganz oben den Zugang nach Deutschland zu schützen. Italien sollte niemals seiner selbst willen von Deutschen verteidigt werden; jeder hat gewußt, daß es den Alliierten anheimfallen mußte, gleichviel, ob Niederlage oder Übergabe.

Der Sturz des Duce ist das Werk seines deutschen Freundes allein. Die Affäre Italien kennt nur den einen Verräter. Aber Italien hat ihn satt gehabt und wird von ihm bestraft. Anstatt die Heere Britanniens und der Vereinigten Staaten in der Poebene zu erwarten, wie vorher die Absicht gewesen, verwüstet er nunmehr das Land von Grund auf – völlig zwecklos –, wenn nicht die Rache wäre. Wenn auf Deutschland jemals genug Haß geladen werden könnte!

Hier ist ein Land, das niemanden haßte, das von allen geliebt wurde – ja, Italien hat nur als ein Gegenstand der allgemeinen Liebe wahrhaft existiert: weil bei ihm allein die Liebe die erste Sache des Lebens war. Es war das geweihte Land; ohne Selbstverkennung und schwere Schuld wäre es niemals eingetreten in Kriege, die ihm fremd blieben, und die enden mußten auf seinem eigenen, unverletzlichen Boden. Nun es spät war, wollte der Papst die Stadt Rom heilig erklären. Aber das Land selbst ist geheiligt von Millionen Herzen, die ihm schlugen und seither still sind.

Europäer, einbegriffen die amerikanischen Abkömmlinge derselben Vorfahren, mit den umhergeschleuderten Trümmern jeder italienischen Kleinstadt treffen sie zuerst sich selbst. Sie beleidigen die toten Herzen ihrer Väter. Generationen von Reisenden, Wissenden, Schwärmenden haben höher geatmet, wenn sie hier leben durften, und sind mit Trauer umgekehrt. Aus der Fontana Trevi in Rom tranken wir zuletzt, damit wir wiederkämen. Wir – von Winckelmann und Goethe bis hinauf zu den frühesten deutschen Humanisten. Wir – vom Président de Brosses und Anatole France zurück in die Jahrhunderte der Montaigne und Rabelais.

Angesichts des verwüsteten Italiens höre ich auf zu unterscheiden – Nationen, Armeen, Verantwortungen. Die einen setzen sich auf Monte Cassino fest, die anderen zerschießen das ehrwürdige Kloster. Das Urteil erläßt der Genius der Zivilisation. Die Schlacht bei Salerno: Zwei Worte – Salerno und Schlacht, so unerwartet zusammengestellt wie liebliches Mädchen und Tritt in den Hintern. Aber sie hat stattgefunden, auch für die Schlacht bei Salerno war dieses Zeitalter reif.

Die Bucht voll Wohllaut der Linien, ihre weißen Städtchen, Normannenburgen, im Vordergrund, gegen das tiefe Meeresblau, die Gruppen der Fischer und Frauen: der Anblick war mir schon immer vertraut. Hätte ich selbst ihn nicht aufgesucht, mein Verwandter vor hundertdreißig Jahren hat ihn gemalt – für mich wohl, damit ich wisse: das war schön von je, wir alle liebten es.

Wir liebten seit alters die Städte, die jetzt, eine nach der anderen, vom Untergang nur erst bedroht sind, aber meine Angst genügt mir. Ich hatte von meiner Erdenspanne alles erwartet, nur dies nicht: daß ich nahe daran wäre, den Untergang Roms zu erleben. Werden die Deutschen es auslassen, das phantastische Siena, Florenz, die wohlerwogene? Jeder Stadt, die unhaltbar wird, könnten sie noch schnell den Rest geben und zur nächsten schreiten. Ist es nicht, um an das wirkliche Ende Europas zu glauben? Es gelangt dahin – nicht Reiche aufzuheben, das wäre nichts.

Zeugnisse von seiner eigenen ältesten Lebenskraft vernichtet es. Eine fortgeschrittene Zerstörungstechnik muß nun einmal angewendet werden: Europa eigenhändig, alle dabei, vergeht sich ohne Leidenschaft – ohne zwingende Leidenschaft! – an den leidenschaftlichsten Beweisen des Lebens, die ein Land außer Vergleich, ihm zur Beherzigung hinterließ. I laudi: das ganze Italien ist Lob und Preis unseres Lebens. Verbrechen gegen das Leben ist alles, was jetzt geschieht. Gäbe es ein noch beweinenswerteres als die anderen, dann hier.

Wahrhaftig fehlte, daß die Florentiner Kirche San Lorenzo, mit ihr »Die Nacht« von Michelangelo, in Trümmer fiele. Um daß »Abendmahl« in Mailand ist es schon geschehen. Die Kürassiere Napoleons hatten an der Wand, worauf Lionardo es malte, ihre Pferde befestigt. Hundert Jahre lang sind die Beschädigungen beklagt worden. Aus. Bleibt nichts mehr zu beklagen. Der deutsche Führer wird beizeiten Photos hergestellt haben, Künstlerblut wie er ist.

Aber die Italiener haben es so gewollt, sie waren Faschisten. Waren sie? Sulla und Cäsar sind bessere Faschisten, sogar noch Borgia hat den Vortritt vor jedem Mussolini. Die mußten die Erlaubnis, Äthiopien zu erobern, von keinem Laval erbetteln. An dem schimpflichen Anfang der faschistischen Unternehmungen findet sich derselbe Laval, wie an ihrem schmutzigen Ende. Die ganze Gesellschaft ist unverbrüchlich beisammen. Tragiker werden die Narren, sooft der Deutsche hinzutritt.

Den italienischen Faschisten abzustreiten, hätte ich kein Recht: ich habe ihn entdeckt und dargestellt, als er sich selbst noch lange nicht begriff, viel weniger die politische Macht wollte. Sein Faschismus ist nicht Weltanschauung, nicht ausgebrütet aus fremden Eiern. Er ist die einfache Herrschsucht des Blutes, ist erotischer Herkunft: – erotisch bleiben sie dort, was immer sie täten. Dasselbe herrschsüchtige Blut arbeitet roh im Faschisten und in den Meistern der schönen Dinge sublim.

Traurig, wenn ich es nicht wüßte. Die erste, frischeste Erfahrung meines Lebens war dieses Land der Liebe. Mit zwanzig Jahren dort gehört zu haben »Anch' io ti voglio molto bene« – tröstet über vieles, es darf über so viel nicht trösten. Verlassen wir Italien, dem Haß verfallen, wie es nun ist. Er sollte uns nicht erdrücken?

Dennoch geht der Haß Frankreichs mir näher. Mit Schaudern denke ich daran, daß die Deutschen auch Paris verteidigen könnten: aus zäher Weltanschauung ihr deutsches Paris gegen einen französischen Fremdling verteidigen könnten, bis nichts übrig ist. Die Schlächterei der Bevölkerung durch Polizeitruppen soll in Frankreich anfangen, bevor sie Deutschland zugedacht ist. Dies und noch mehr zu verhindern, bleibt dem guten Glück Europas überlassen.

Gewiß, wir haben immer auch Glück, kein Zeitalter berechtigt nur zu klagen oder zu fluchen, so wenig dieses wie andere. Es hat seine Größe. Sogar Schönheiten lassen sich bei ihm auffinden. Ein Weltuntergang, wenn er dann stattfände, ist schön, groß; außerdem umfaßt er nicht die Welt. Das Leben, das sich einerseits zurückzieht, findet immer wieder seine gedeihlichen Schauplätze. Ich bin es zufrieden. Mich stört hauptsächlich der Haß, den dieses Deutschland auf sich gelenkt und mit Selbstaufopferung verdient hat.

Der Haß, der jetzt in der Welt ist, fände bei Menschen der starken Gefühle – im Italien des Quattrocento – so bald kein Ende. Morgen werden sie einander – obenhin, geschäftlich und konventionell – das meiste vergessen haben. Aber keine Täuschung, es bleibt doch sitzen; um das Geschehene einfach nicht mehr zu wissen, ist auch diesen Geschlechtern verboten. Alle ohne Unterschied werden ihre eigenen Taten und im Grunde sich selbst hassen, während sie, der produktiven Arbeit längst entwöhnt, bemüht sind, die Spuren ihrer Kriege zu verwischen.

Trost und Rechtfertigung ist allein, daß sie die Deutschen wenigstens offen und ehrlich hassen dürfen, ein Haß außer der Reihe, aber zivilisiert natürlich, mit der gebotenen Rücksicht auf den Weltverkehr, die gerechte Verteilung der Rohstoffe und die Deutschen als Konsumenten. Nach Abzug dieser technischen Vorbehalte bekommen die Deutschen, was ihnen gebührt: die Verachtung für einen mißlungenen Anschlag, der noch dazu ein Rückfall war; das allgemeine Mißtrauen, die Maßnahmen gegen ihren nächsten Rückfall, den dritten deutschen Angriff auf die Welt. Sie werden gleichzeitig gering geschätzt und gefürchtet sein.

Das ergibt noch keinen wilden Haß. Jeden Deutschen gleich in die Kehle beißen – wäre dem Quattrocento wohl zuzutrauen. Gott sei Dank, wir sind nicht so. Es ergibt Zurückhaltung. Drei Schritte vom Leib, wird der vorherrschende Wunsch sein. Er meldet sich schon jetzt, mit Vorschlägen, die psychologisch primitiv, praktisch ungeeignet sind, wie auf der Hand liegt. Die Deutschen von überall her nach Deutschland zurückgeschafft, nirgends auf Erden eine beträchtliche Ansammlung Deutscher. Aber sein angestammtes Deutschland verläßt kein Deutscher. Aus, die deutschen Touristen, ihre Spionage und wirtschaftliche Durchdringung der Länder, bevor sie bewaffnet kommen.

Höchstens emotionell wäre es begründet. Emotionen flauen ab, sie entarten auch. Ein Land, das unsichtbar und voll Geheimnis wäre, bekommt eine ungesunde Anziehung. Nur die internationale Kontrolle, die man hineinsetzt, langweilt sich und läßt nach, wir kennen es vom vorigen Versuch. Nein, in einer befreiten Welt, die nach Möglichkeit ihre Grenzen öffnet, wird Deutschland kein verbotenes Reservat sein. Die Deutschen werden reisen, aber wie? Ich möchte nicht dabei sein.

Ich möchte nicht erkannt werden an meinem Wulstnacken, meiner arischen Quetschnase, oder beim Fehlen beider Merkmale das Erkanntwerden dennoch fürchten müssen. Ich fände es mehr oder weniger betrügerisch, mich auf eine andere, obwohl legitime Staatsangehörigkeit zu berufen. Ich weiß, wie mir zumute war 1940, mitten im Zusammenbruch Frankreichs, als jeder den nächsten bedauerte wie sich selbst, als, einen Augenblick lang, alle einander gut waren. Außerhalb meines Wohnortes geriet ich in ein Gasthaus, wo vorher niemand mich gesehen hatte, sonst hätte ich dies nicht gesprochen, obwohl es verlangt wurde.

Das Speisezimmer war leer, die Wirtin setzte sich zu mir. Sie wollte bedauert werden und mich bedauern. Ich sagte, was ich mußte. »Je suis un de ces malheureux Tchécoslovaques ...« Wörtlich wahr: mein Unglück, meine Staatsangehörigkeit; nur hingen sie nicht zusammen. In dem besetzten Prag war meine Tochter zurückgehalten, ich habe bis heute von ihr kein Zeichen. Meine Wohnung, mit allen sichtbaren Erinnerungen meiner Lebenszeit, war dort verlorengegangen. Thomas Masaryk hatte mich naturalisiert, aus Güte und in Anerkennung meiner Freundschaft.

Alles wahr. Aber mein tieferes Unglück war meine unverlierbare Verbundenheit mit einer anderen Nation. Sie hatte Prag unglücklich gemacht und mich. Sie trug nunmehr das Unglück, das ihr anhaftet, nach Paris und brachte es auch über mich wieder. Vom Unglück ist immer die eigene Schuld abzuziehen. Wenn es dem unglücklichen Frankreich gesagt werden konnte, mir auch. Mir auch.

Die Patronne mir gegenüber war eine der schönsten Frauen. Gewiß wurde sie noch schöner dank den Umständen und meinem Gewissen. Anstatt ihr zu sagen, was wahr, aber nicht die tiefere Wahrheit war, hätte ich sie gern gefragt: wie ist es mit dem Haß? Wie steht es um die Schuld? Fallen beide auf einen Deutschen, der verbannt und ausgebürgert, übel verzeichnet und heute mehr in Gefahr als Ihr, die Französin, doch immer ein Deutscher heißen muß, auch gar nicht anders gesonnen ist und sein will? Sagt mir doch, was ich hätte tun sollen, um unschuldig zu bleiben. Ob ich es je gewesen bin. Und warum meine Schuld? Wofür der Haß, der auch mich nicht verfehlen wird.

Sie hätte es nicht zu beantworten gewußt. In diesem Augenblick des wechselseitigen Mitleidens würde sie mir gewünscht haben, daß der Haß mich nicht erdrücke.


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