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Sie haben aus einem und demselben Rachen gelogen, sie haben die gleichen Finger krumm gemacht. Ihre Weltanschauung, ein Name für ihre verwandten Gelüste, ermutigte die Verbrecher, sie alle zu stillen. Vor ihnen hatten andere ihre Lust gebüßt, man hat schon öfter ein üppiges Bett aus geschlachteten Menschen benutzt, um sich des Lebens zu freuen. Die Weltanschauung ließ man gewöhnlich weg. Vielleicht aber reizt sie den Genuß oder beschwichtigt die Angst.
Ein gewisser Rosenberg, früherer Spion des Zaren, jetzt deutscher Verweser des eroberten Rußlands, das noch nie so wenig erobert war, und der Verweser sitzt nirgends, er läuft, – ihm ganz allein gehört die Weltanschauung. Sie ist leicht faßlich, eine Ideologie für Vielbeschäftigte. Mach' dir ein Bett aus Menschenfleisch! Sag', du rettest die Zivilisation! Vor allem halte dich! Wer lange tötet, lebt lange – lehrt der verläßliche Balte.
Als Hitler seinen Rosenberg bestieg, verstanden sie einander gleich. Das Spannende ist nicht, daß zwei Lumpe einander um den Hals fallen. Die Unfehlbarkeit, mit der sie einander finden, ist es, was jedesmal verblüfft, bevor es immer wieder befriedigt, wie das Gesetz der Dinge selbst.
Zum Beispiel der dürftige Anfänger Hitler tippelt auf der Landstraße, als ein Wagen ihn einholt, um eigens anzuhalten, seinetwegen, damit er aufsteigt. Warum? Aber das ist ja Weinreisender Ribbentrop, dereinst sein Außenminister, wie ein Blick ihm sagt. »Von Ribbentrop«, so betitelt sich der Wicht, hat den zweiten Wicht sogleich »mein Führer« angesprochen. Etwas anderes wäre stillos, es wäre nicht im Sinne des Verhängnisses.
Oder sein erstaunliches, aber einfaches Zusammentreffen mit »der Industrie«. Wie leicht hätte »die Industrie« den billigen Abenteurer übersehen können. Hätte er ein Wochengeld von 100 Mark erbeten, wär' er hinausgeworfen. Das denkt man im nüchternen Zustand. Indessen, viel mehr wird er wirklich nicht verlangt haben, »die Industrie« wies ihm durchaus nicht die Tür: sie drängte ihm für den Anfang eine Million auf.
»Die Industrie« hatte Empfehlungen aus der Reichswehr bekommen, ein Spitzel vom Typ Hitlers war gegen die Arbeiter das Brauchbarste. Sie hatte sich Rat geholt bei auswärtigen Trusten; sie erfuhr, daß »Deutschland«, will sagen »die Industrie«, in sozialer Hinsicht unzuverlässig, daher kreditwürdig nur unter Bedingungen sei. Die Bedingung war ein entschlossener Antibolschewismus. Auf diesem Weg passierte es dem luftigen Burschen, daß er für schwer genommen wurde.
Er inzwischen lebte seinen Gefühlen, sie zogen ihn nunmehr in die besseren Münchener Wirtschaften, wo wohlgekleidete Damen und Herren seinen Namen flüstern sollten. Er wurde unruhig, wenn es unterblieb. Ängstlich wurde er, wenn einer nahe genug saß, um die schrecklichen Verschwörungen seiner Begleiter zu erlauschen. Ihr Hochverrat war reiner Unsinn, gerade weil er dereinst überwältigend glücken sollte. Wie, begriffen sie weder eh noch je. Hitler faßte es niemals.
Seine Sorge war: auftreten, Eindruck schinden, trotz dem hinderlichen Gefühl seiner Minderwertigkeit. Das Café Stephanie in München war ein Aufenthalt der Literatur, soweit sie die Promiskuität oder Geselligkeit pflegte. Eine Dame, die mit Grund unbemerkt bleiben wollte, erschrak, als ein gewisser Herr in der Tür stand. Man berichtigte die Verwechslung. »Das ist nur Hitler. Er telephoniert hier täglich um zwölf.« Tatsächlich begab er sich geradewegs nach der klapprigen Zelle, durch ihre Ritzen drangen seine Geheimnisse, wenn jemand sie wichtig befunden hätte. Er hatte nicht widerstehen können.
Das Literaturcafé mußte es sein. Er hat, ein träges Untalent, seine Leiblichkeit gescheuert an den Intellektuellen, die er beneidete, haßte, die er nachher umbrachte. Keine Fremden: eben die Gäste derselben Tische, zwischen denen hindurch er nach dem Telephon gestolpert war, zu unsicher, um sich bei ihnen niederzulassen, die tötete er. Ein noch gräßlicherer Anblick verfolgt mich nicht als das Bild des toten Erich Mühsam – Stammgast im Stephanie.
Was nachkam, war die Ermordung von Nationen und Erdteilen. Wer hat sich selbst vorausgesehen oder »realisiert« sich auch nur jetzt? Ein hysterisch Blinder? Der wollte sich immer rächen an der eigenen Minderwertigkeit.
Die Geschichte, wie sie jetzt erlebt wird – selten, in bevorzugten Jahrhunderten wurde sie anders erlebt – ist abscheulich intim. Sie ist klein, bei umfänglichster Grauenhaftigkeit. Eine wüste Familienszene, die Möbel sind zerschlagen, die handelnden Personen können nicht weiter. Nackte Bäuche, aus zerfetzten Kleidern hängend, betrachten sie einander entgeistert. Jeder hält etwas in der Hand: der Mann – den Skalp der Frau, die Frau – auch etwas ihm Ausgerissenes. Sie denken: einzig in der Geschichte.
Anfänger Hitler war allein auf den Augenblick, auf das äußere Gesicht der Stunde bedacht. Der mondial exzedierende Wüstling ist es geblieben. Damals zeigte er seinen neuen Reichtum den staunenden Besuchern. Der Herr des Münchener Braunen Hauses, sein eigener Architekt bitte, welch ein Artifex und Pipifax, streckte in den Pfeilersaal, um die Kasse hergebaut, sein ergreifend ernstes Antlitz. Seine SA-Jungen lasen in diesen Zügen keinen 30. Juni, diesmal starben sie nur erst in Anbetung. Leib und Seele standen angestrengt stramm.
Ein Mann aber, der Zeitungspapier geliefert hatte, bekam es bezahlt. Der Geldschrank tat sich auf, dem Mann gingen die Augen über. Und kämmte er seine ganze Heimat Bayern nach echten Banknoten aus, niemals hätten sie Berge aufgehäuft wie hier! Er bekreuzigte sich, er verließ die Stätte als Nationalsozialist.
Armer Provinzler, denkt Hitler, der selbst einer ist. Laß sie obenauf Geld sehen, gleichviel, was unten liegt. Mein Militär ist ganz und gar nachgemacht, das hindert nicht, ich imponiere mir und ihm. Ich, der Mann aus Braunau, er, der Mann aus Feldmoching, achten beide nichts außer Militär und Geld. (Absichtlich vergißt er das Café Stephanie.) Was wird schon anders in Berlin sein:
Berlin läßt sich erobern von Feldmoching und Braunau. Es ist nicht ohne Widerstand zugegangen, aber der gebildete Widerstand bestand in Achselzucken, der volkstümliche in gesitteten Umzügen. Die Verteidiger der Republik verließen sich auf die Gesetze, als ob die Gesetze sich nicht der Macht beugten. Sie hatten von Ungesetzlichkeit keinen Begriff. Seit dem vorigen Krieg war ihnen entfallen, daß man töten kann. Die Angreifer töteten.
Dieser Zustand hieß Demokratie. Er war zu glücklich für einen Hitler, er rief nach einem Hitler, ein Hitler mußte erfunden werden, wenn er nicht schon da war. Seine Feinde von der Polizei verhafteten seine anderen Feinde, Kommunisten genannt. In Wirklichkeit können sie damals nicht gewesen sein, was sie beanspruchten: die Revolution, deren sie sich rühmten, hatte weit dort hinten stattgefunden, in ihren Köpfen nie. Sie waren gesetzlich gesonnen. In einem Land, das sich auflöste, in einem flüssigen Zustand der Dinge blieben sie als letzte fest. Sie glaubten, bis in den Untergang, an Marx.
»Die Industrie« hatte einen Agenten oder homme de main vor die Aufgabe gestellt, die Macht zu ergreifen. Zerschlagen Sie die Gewerkschaften, Herr Hitler! Sie haben Geld genug bekommen. Machen Sie uns zu Herren in unseren Betrieben und nebenbei im Staat! Wir sind es, mehr oder weniger. Wir wollen es in dem Grade sein, daß unsere Hochkonjunktur, das Kriegsgeschäft, einsetzt. Sonst war es ein Fehler, die Wirtschaft zu verelenden. Den Staat hätten wir vergebens genötigt, die Millionen von Arbeitslosen zu unterhalten. Nur die Diktatur der Truste, kombiniert mit Krieg, rechtfertigt eine Überzahl von Bettlern, von wehrlosem Menschenmaterial, wie wir es brauchen, wie Sie es wünschen.
»Sie haben schon zu viel Glück gehabt, Herr Hitler«, ist ihm wörtlich gesagt worden. Zu viel, in Anbetracht seiner greifbaren Leistung, denn es ging nicht vorwärts. Trotz allem und allem hat Hitler keine Revolution gemacht. Was er nachträglich seine Revolution genannt hat, war die Vernichtung des je errungenen Menschenglücks. Es war die Wiedereinführung der Folter, Wiederabschaffung der Gedankenfreiheit und der ganze Rest. Eine Revolution bedingt hochherzige Ziele, denen so einer von Natur fremd bleibt, eine Verbesserung der menschlichen Lage, die ihm zuwider wäre, und Ideen. Aber sein Beruf war gerade, Ideen in Lügen zu verwandeln, wenn er sie nur anfaßte.
Jede Revolution ist außerdem sichtbar gekennzeichnet: der Revolutionär ergreift die Macht aus eigener Kraft. Hitler hat sie niemals ergriffen, sie wurde ihm zugesteckt. Selbst nur ein Hehler der Macht, fand er Verräter, die sie ihm brachten, sogar ein zugängliches Staatshaupt war bei der Hand. Er wurde mit Entgegenkommen bedacht, bis in seinen Krieg hinein überall mit Entgegenkommen seitens herrschender Klassen, die so gütig waren, ihm seinen »Antibolschewismus« zu glauben.
Als ob dem Typ des arbeitsscheuen Deklassierten und ausgehaltenen Jungen die Gesinnungslosigkeit nicht ein für alle Male mitgegeben wäre und lesbar auf der Stirn stände! Aber die Truste bestehen aus Sachverständigen des Geldmachens: Menschenkenner fehlen. Es fällt auf, wie schlecht die reichen Leute überall mit ihren politischen Agenten und hommes de main fahren.
Lauter Karikaturen, immer gleich übertrieben, scheußlich und lachhaft, mal Zwerge, mal dunkle Banditen aus einem alten Melodram; oder der bekannte Verehrer der guten Gesellschaft, endlich bei ihr angelangt, zeigt sich vormittags im Frackjakett mit gelben Schuhen, wie Hitler selbst es getan hat. Der Antibolschewismus ist ein Karneval. Folgt als Aschermittwoch die neue Ordnung, ausgedrückt in Niederlagen.
Heute ist den Nah- und Fernbeteiligten die Gestalt Hitler völlig klar, das hat nur leider eine Welt gekostet. Sie wissen: eigenen Antrieb hat der Kerl nie besessen. Gehorsam, für alles brauchbar, aber soweit wir zurückdenken, mußte er jedesmal gestoßen werden, außer vielleicht bei individuellen Morden. Angst hatte er, auch wenn er mordete, persönlich drückte er sich immer. Da war ein Bankett, können wir uns entsinnen; jeder zweite Mann an der Tafel war bestimmt, seinen Nachbar umzubringen.
Während die Stecherei plangemäß vonstatten ging, entfernte sich der Flieger Udet, er war nicht betrunken genug, um unter die Gemeuchelten zu gehen. In dem Korridor, der aus dem Saal führte, begegnete er dem Veranstalter des Gelages. Hitler drückte sich unentschlossen umher, bis der Sieg entschieden wäre. »Sind Sie verrückt geworden?« fragte Udet seinen Freund, rauh und geradezu. Der Traumwandler lispelte mehr oder weniger aufrichtig, daß er von gar nichts wisse. Der Kunstflieger hatte ihn grob aufgeweckt und erleichtert, er wurde dafür General, wenn nicht sogar Luftmarschall. Zum Glück ist er verunglückt, so kann dergleichen nicht wieder vorkommen.
Wie wird es nunmehr aussehen, wenn die Gestalt Hitler nicht mehr abgezählte Ermordungen, nein, wenn sie ganze Kriege beschließen soll. Gewiß, den Krieg hatte Hitler versprochen. »Die Industrie« hatte sein Wort, die Liebhaber seiner Weltanschauung, die aufgerüstete Armee, die Leser oder Nichtleser von »Mein Kampf«, die Welt schlechthin hatte sein Wort. Er selbst hätte sich zum Krieg verpflichtet fühlen müssen, wäre nicht das innige Verlangen seiner Natur gewesen: Überhaupt keine Verpflichtungen haben! Nur bummeln!
Das heißt nicht im Café hocken, es heißt eher durch das Lokal gehen, um wichtig zu telephonieren. Auf wunderbare Art – gegen seine Erwartung – zur Macht gelangt, hat er in jedem Sinne telephoniert, telepathisch, televisionär – unfehlbar mit Erfolg. Denn sein sicherer Grund war der Antibolschewismus. Er lähmte jedes der Länder, die er begehrte, mit der Drohung einer Gefahr, die nicht er selbst war. Ihn fürchtete niemand; ich habe selbst erfahren, welchen Unwillen, ja Verdacht man außerhalb Deutschlands erregte, wollte man vor ihm warnen, anstatt vor dem Bolschewismus.
Er hat niemals eingesehen, wozu noch Krieg sein mußte, wenn die begehrten Länder, so wie er selbst, es viel leichter haben konnten. Sie hätten sich nur in seine Arme sinken lassen, annektiert, verbündet und jedenfalls betrogen, cocus, battus, et contents. 1939 konnte es auch wieder gut gehen, obwohl es schon vorher durchaus nicht gut gehen mußte. Das war Glückssache, oder er hielt es dafür, und das Glück fällt bekanntlich auf Seite des Verwöhnten. Der war er.
Er hatte zu viel Glück gehabt. Noch spät, im russischen Feldzug, hat er einem General, der »Unmöglich!« sagte, allen Ernstes geantwortet: »Wenn ich Reichskanzler werden konnte, ist nichts unmöglich.« Das ist die Unschuld. Es ist unschuldig bis zur Unheimlichkeit. Gehen wir weiter.
Im Unglück des Glücks gedenken, heißt unter anderem, es noch immer für möglich halten. Ein Hitler verzweifelt nicht. Geredet hat er alles, auch seinen Selbstmord. »Wenn ich einmal fertig bin, brauche ich zehn Minuten, um zum Revolver zu greifen.« Er braucht zehn Minuten, wo eine halbe genügt. Sein Revolver ist anderswo verwahrt, der Eigentümer wird zur guten Stunde nicht bei ihm sein.
Ein Menschlein, vom schamlosen Glück zum Unmenschen aufgezüchtet, fürchtet sich beinahe beständig. Ohne Furcht ist es nur, wenn es außer Rand und Band ist. Daher die Anfälle. Daher auch die Rückschläge, die Aufenthalte in dem unsichtbaren Bergschloß, – man soll es sich aus Kristall und verwunschen denken. Übrigens wird ein irrsinniger König von Bayern imitiert, seine Bausucht mitsamt mörderischem Delirium. An den Daten des russischen Feldzugs – Tag des Überfalles, festgesetzter Zeitpunkt, an dem in Moskau einmarschiert werden soll – ist abzusehen, daß Napoleon imitiert wird.
Friedrich den Großen möchte Hitler gewiß unter seinen Bestand an Wachsfiguren aufnehmen, aber erstens müßte er französisch können, dürfte auch nicht Frankreich wie eine deutsche Kolonie behandeln. Friedrich fühlte sich am liebsten als Vasallen des Königs von Frankreich. Das paßt nicht; dagegen beruft er selbst sich auf Gengis Khan! Eroberungen ohne nächsten Tag, ein vergessenes Reich aus aufgelösten Reichen, die es nicht bleiben sollen, – übrig ist ein Name.
Ein Name dieser Art wäre gut als historischer Kinderschreck, aber die Völkerkinder nehmen ihn nicht ernst, ein so alter Menschenfresser wie Gengis Khan ist ihnen zum Märchen geworden; sonst hätten sie inzwischen Vorsicht erlernt, sie hätten den Hitler nicht über sich kommen lassen. Dieser wird denn wohl unwirksam dagewesen sein; auch ihn beschattet baldmöglichst seine angezweifelte Legende, und macht ihn unkenntlich. Er selbst – schon heute weiß er sich in der Rolle jenes sagenhaften Weltübels. Gengis, keinen anderen hat er angezogen als Zeugen seiner eigenen Existenz.
Was er durchaus verkennt: er geriet in die Rolle unfreiwillig. Ein Schritt, der kühn sein sollte, nötigte alsbald zum nächsten; ein Produkt der Furcht waren alle weiteren, von Wien bis Stalingrad. Als er, nur um mal anzufragen, das Rheinland besetzt hatte, vertragswidrig wie sich versteht, aber sogar ohne wirkliche Machtmittel, hat er zwei Nächte in schrecklichen Zuständen verbracht. Er erwartete seine Bestrafung, sie hätte ihn geradezu erlöst. Am dritten Tag sprach er mit Verachtung der anderen – und seiner selbst –: »Jetzt können sie es nur noch zerreden.«
Er hat die Sonntage genommen, wie sie fielen, das heißt, Sonntag war bei ihm öfter als für die Gemeinen. Wird auch geboren sein an einem traurigen Sonntag; nicht jeder ist der Tag des Herrn. Wenn sein Glück einmal Lücken zeigte, nahm er es übel, wie einen Sabotageakt. Noch heute faßt er nicht das geschehene Unrecht, als das Vereinigte Königreich und die französische Republik ihm den Krieg erklärten. Aus heiterem Himmel! Es wäre so einfach gewesen, ihm den Osten des Kontinentes freizugeben, nebenbei den Norden, im weiteren Verlauf den Süden und wer weiß, Stützpunkte jenseits der Meere.
Die Polizeigewalt über unnütze Kleinstaaten war geboten im Interesse einer deutschen Berichtigung von Auch-Nationen, ewigen Ärgernissen für ein großmächtiges Volk ohne Raum. Wahrhaftig, Britannien und Frankreich, die keine Neuordnung zulassen wollten, widerstanden der Natur und verkannten die Geschichte. Einst im Reiche Kaiser Karls V. war die Sonne nie untergegangen (da er König von Spanien war). Europa zum mindesten ist ein deutscher Gegenstand: ein Gefühl, das sehr fest sitzt, nicht nur bei Hitler, und das auch dieser Krieg nicht ohne weiteres lockern wird.
Ohne Krieg – allein mit Polizeiaktionen, was war Polen mehr – konnten die beiden westlichen Imperien bleiben – ungefähr bleiben was sie waren, natürlich unter Vorbehalt der deutschen Wohlgesinntheit. Frankreich bedurfte ihrer sehr, aber Hitler hatte sie ihm zugesagt. Laßt mich machen, erklärte er beizeiten einem Franzosen, ich laß euch in Ruhe. Ihr behaltet Elsaß und Lothringen, ich habe das Straßburger Münster nie gesehen und wünsch' es mir nicht. Solange ich da bin – wörtlich wie Briand! – kommt kein Krieg. Auf eurer Halbinsel – »Halbinsel!« – könnt ihr eure Kultur pflegen. »Kultur pflegen!« kennt er, es heißt im Bett liegen und nichts tun.
Ein Gönner, der auf Undank stößt, verliert die Geduld. Hieraus erklärt sich die nachmals strenge Behandlung Frankreichs, und anderes mehr. Der Undank begründet das Wüten, die Ermordung von Nationen, die versuchte Austilgung mehrhundertjähriger Anstrengungen, die auch aus Deutschland einiges gemacht hatten. Zu der vorigen, jetzt abgeschlossenen Größe Europas konnte Deutschland nur mit innereuropäischen Kriegen beitragen. Andere haben außerhalb des kleinen Weltteils seine Macht über die größeren begründet. England, Holland, Frankreich outre mer, beyond the seas, Rußland auf dem asiatischen Kontinent eroberten Europa ein Ansehen, das im 19. Jahrhundert auf absoluter Höhe stand: hiervon war damals auch Deutschland groß.
Der Name Bismarcks, wer weiß es noch, ist als der einzige deutsche bis nach den weltfremdesten Inseln gedrungen; aber zuerst mußten sie englisch sprechen. Sie mußten an Europa glauben. Die beiden deutschen Kriege dieses 20. Jahrhunderts haben nichts erreicht, nur dies: die Welt glaubt an Europa nicht mehr, sein Glanz ist ausgelöscht, es steht auf gleich mit Exoten, wenn nicht unter ihnen. Dieser Weltteil wird in noch abzumessenden Zeiträumen nie wieder der führende sein. Wenn er sich allenfalls behaupten wird, dann nur, weil Amerika seinen ganzen Verfall nicht wünscht – und weil die Sowjetunion davorsteht.
Undank, wenn man vorurteilslos, ja mild, überlegt, empfängt jeder vom anderen: Deutschland von Europa, das seine fürsorglichen Absichten mißversteht: Europa von Deutschland, seit es die Wohltaten der Geschichte ohne Rest vergessen hat.
Nie zu übersehen, daß Deutschland das Unwissendste, was es hatte, zuerst sich selbst als Geisel verordnet hat, niemand wird ganz erklären warum. Leichter ist verständlich, daß die krasse Ignoranz sich alsbald gegen das Universum entfesselte. Einem Hitler blieb nur dies übrig. Wie er die Intellektuellen haßte, weil er an ihrem Tisch keine gute Figur gemacht hätte, genau so England – für das er eigentlich eine »Affenliebe« hegt, mit dem eigenen Ausdruck seiner Leute.
Der Mensch aber, der nichts weiß, wird jedem mißtrauen. Die Furcht, betrogen und verraten zu werden, ist das Fundament seines Tuns und Wesens. Seine eigenen groben Listen sind Vorbeugungen, eh daß die Gentlemen feinere verwenden. Vertragsbrüche? Er kann sich nicht erlauben, sagt er selbst, seine Unterschrift zu achten wie die Gentlemen. Ihnen dient sogar die Rechtlichkeit, ihm hilft nur die Aufhebung des Gesetzes, früher des deutschen Rechtsstaates, jetzt des Völkerrechtes.
Bei dem allen zieht er immer noch den kürzeren, das ist seine innige Meinung, es ist ihm das ewige Licht; seine Erfolge, die widersinnig waren, haben es nicht ausgelöscht. Als Paris fiel, hat er getanzt. Er hat wahrhaftig den Tanz aufgeführt, wie der »Große Diktator« Chaplin ihn seinem Rivalen vorgemacht hatte – beiseite die Anmut, die Hitler nicht mehr lernt. Er konnte es nicht lassen, in Paris einzuziehen, er, Schickelgruber Adolf mit deutsch-böhmischem Akzent und Himmelfahrtsnase. So fuhr er denn gen Himmel, versäumte darüber den rechtzeitigen Fliegerangriff auf England: als es zu spät war, verwandelte sich die Battle of Britain, die ein Sedan versprochen hätte, in seine Marneschlacht.
Seine tief gefühlte Minderwertigkeit liegt im aussichtslosen Kampf mit seinem Größenwahn. Keine äußeren Schlachten entscheiden diese geheime. Hitler lebt meistens depressiv. Sterben könnte er dereinst im äußerst gehobenen Bewußtsein des verkannten Genies: ein Heiliger, der gegen das Säkulum recht behält. Wer weiß. »Jedermann, der sterben soll, ist achtbar«, sprach Clémenceau, als es für ihn so weit war. Warum? Geachtet von anderen war er. Blieb der letzte Zweifler, ihn besiegte nur die Todesstunde.
Unverkennbar sind es Worte, immer Worte, die den Typ Hitler aufpulvern, sonst ginge es überhaupt nicht. Je weniger seine Lage ihn beruhigen kann, um so schwärmerischer seine Reden. Seine Gegner englischer Zunge nannte er vor versammeltem Reichstag »Idioten«: wenn das nicht gesteigert und erdentrückt ist! Es war sehr unvorsichtig. »Was strategische Idioten tun werden, sieht niemand vorher.« Gleich nachdem er dies von sich gegeben, waren sie in Nordafrika, wo er sie im Traum nicht erwartet hatte. An welchen anderen Fleck der Erde hätten sie sich eigentlich begeben sollen? Genug, daß auf Idioten kein Verlaß ist.
Dagegen auf ihn! Er hat es durch Intuition, ein Wort, für ihn gemacht. Seine Marschälle haben etwas gelernt, das eine auf der Akademie, das Beste durch Mißerfolge. Als sie dem Unternehmen gegen die Sowjetunion mehr oder weniger offen absagten, sprang ihr Kriegsherr für sie ein, er leitete nunmehr wirklich, mit nichts als seiner Intuition. Sie machte aus dem Nichtswisser den Strategen, wie sie ihn zum Staatsmann befähigt hatte, zu allem, was ihm beikam. Meistens hatte »die Industrie« seine Einfälle gehabt.
Das große Beispiel seiner – oder ihrer – Intuition gibt Stalingrad. Hitler, der – völlig unbefugt – den Sowjetführer beneidet, hatte persönliche, infantile Zwecke: »die Industrie« hätte ernste, männliche gehabt. Eine Million künftiger deutscher Revolutionäre weniger verschlägt etwas. Die Revolution ist zu fürchten, wenn die kräftigsten jungen Männer bewaffnet und wenn sie noch am Leben sind. »Die Industrie« versteht auch Opfer zu bringen: so viele rüstige Arbeiter.
Der intuitive Stratege hat zu seinen Marschällen nicht anders geredet, als im vorigen Krieg der Gemeine Hitler zu den amüsierten Kameraden. (Einer von ihnen berichtete, daß dem Essenträger Hitler die Strategie wie Sauce von den Lippen troff.) Seine neuesten Hörer, die Marschälle, sind auf den Gedanken gekommen, ihn unschädlich zu machen. Wenn sie es bleiben ließen, müssen große Mächte, hinter ihnen im Lande, sie aufgehalten haben. Das sind nicht allein die 750 000 Mann des Polizeistrategen Himmler. Seine ganze Verantwortung übernimmt dieser pedantische Sadist gegen Ende, nachdem die Welt unbezweifelbar bewiesen hat, daß sie sich nicht vernichten läßt. Dann wird Himmler das seine tun, um wenigstens Deutschland zu vernichten.
»Die Industrie«, sie ihrerseits hält große Stücke auf Deutschland, sie rechnet mit Deutschland als ihrem eisernen Bestand. Solange sie es hat, ist nichts verloren. Sie kennt dies Volk als tüchtig und geduldig. Nach den unvermeidlichen Aderlässen der heutigen Konjunktur wird es sich weiter benutzen lassen für die deutsche Durchdringung der Weltwirtschaft so oder so. Nicht jede Konjunktur muß blutig verlaufen, oder Blut fließt das nächste Mal erst, wenn es nichts mehr ändern kann.
Daher hat »die Industrie« ihrem Personal vor allem Generale beigelegt. Auch Nationalsozialisten nimmt sie zeitweilig in ihren geschlossenen Kreis auf, in die inzestuöse Familie von zwei, drei Dutzend Burschen, die unser aller Unglück besorgen. Die Parteibonzen aber werden fliegen, wenn Hitler fertig ist. Die Generale bleiben – erst recht nach einem verlorenen Krieg. Ihre Brüder und Schwäger, wenn nicht sie selbst, nachdem ihr bisheriger Chef sie fortgejagt hat oder sie ihn, sitzen in den diversen Aufsichtsräten, die alle nur einer sind, überall dieselben eng verwandten Piefkes. Altadlige Militärs fühlen sich schon wie zu Hause.
Aus meiner Knabenzeit erinnere ich mich eines preußischen Kommandeurs, der, nach Hamburg versetzt, seine Offiziere fragte, wo sie verkehrten. Als sie antworteten: bei Kaufleuten, entrüstete er sich über das abhandengekommene Bewußtsein der Standesunterschiede. Er hatte bis dahin nur den Krämer in seinem östlichen Marktfleckchen gekannt. Das sind verklungene Tage. Den betreßten Proletariern »vom Stande« folgten Generalstäbler, die den geschäftlichen Wert ihrer Stellungen begriffen. Jetzt sind sie Kaufleute, so aufgeweckt wie von Vorurteilen frei.
Daß niemand ihnen zumute, Krieg zu führen wegen einiger Eisenbahnzüge voll geplünderter Möbel! Sie sind – gerade die entscheidenden von ihnen – mit den zeitgemäßen Forderungen ihres Berufes eng vertraut. Sie halten sich verantwortlich, daß, sollten Krieg und Deutscheuropa zusammenbrechen, die Armee doch immer gerettet wird. Nicht um der Armee willen. Nicht für Ruhm.
Preußen war gefährlich, seit Friedrich der Große eine leer arbeitende Kriegsmaschine daraus gemacht hatte. Sie hat ihn, seinem Mitbewerber Voltaire auf den Fersen, zu dem nächstberühmten Mann des Jahrhunderts gemacht: das war auch ihr ganzer Zweck. Wer einen anderen gehabt hätte, würde nicht zwanzig Jahre lang Europa beunruhigt haben, ohne jeden materiellen Erfolg: nur eine – größtenteils – eroberte Provinz und sein verwüstetes Königreich.
»Pour faire des oeuvres durables il ne faut pas rire de la gloire«, ist das Bekenntnis eines Schriftstellers, Flaubert. Die deutschen Generale dieses Krieges sind Angestellte – nicht nur ihres Generalissimus, auch ihn haben größere Interessen als seine verpflichtet und vorgeschickt. Ein kleiner Mann, wie er, kann die Scheinwerfer der Aktualität mit der Sonne des Ruhmes verwechseln: nicht seine Generale, die manchmal erzogen, meistens geschult sind. Sie maßen sich nicht an, für Ruhm zu kämpfen. Nur der Anstand verbietet ihnen, »über den Ruhm zu lachen«.
Nun ist der Ruhm, alles hin und her erwogen, das einzige stichhaltige Motiv der Kriege – womit ihnen viel Ehre geschieht; sie würden beigesellt den höchsten Werken, die allein den Künsten gehören. Für den Ruhm kämpfte die Armee der Sowjetunion. Ruhm ist die Behauptung des Wertes, den einer hat, dessen er gewiß ist: der vorgeschrittenste Wert, er überzeugt sogar ohne Krieg. Wenn aber gekämpft sein soll, dann so, dann ohne Schwanken und Zweifel, klug wie die Schlangen, unschuldig wie die Tauben – überlegen, der ganzen Zeitgenossenschaft überlegen und voraus, als wäre man schon die Nachwelt.
Dies das Geheimnis der Sowjetunion. Die Deutschen haben keins. Sie gehen an die Front, weil sie müssen. Seit den Niederlagen ziehen sie der Front jede andere Strafe vor, ausgenommen nur die Todesstrafe. Die Sowjetsoldaten sind ganze Kämpfer erst durch Niederlagen – den Krieg im Lande –, den die Deutschen für den »Abgrund« und das Ende halten. Der Krieg im Lande hat den Sowjetvölkern ihre Wahrheiten bestärkt. Die ausgeklügelten Gegenwahrheiten, die den deutschen Soldaten in den Kopf gesetzt waren, bedurften, um vorzuhalten, der nie endenden Siege. Wenn das Siegen einmal unterbrochen wird, verzweifeln sie sofort; die falschen Wahrheiten in ihren Köpfen vertragen keinen augenscheinlichen Widerspruch.
Da sie fliehen müssen, sind sie kein Herrenvolk. Wenn ihr Führer sie den Weg der Leichen und der Brände rückwärts laufen läßt, kann er kein echter Führer sein: das geht ihnen auf. Der Führer hat immer recht, ließ er über sich verbreiten; sie glaubten es, weil er Glück hatte. Der Führer denkt für euch – war bequem, solange es lohnte, blind zu gehorchen. Das verdankt ihr dem Führer! hatte schon immer den Sinn umschrieben: nehmt euer Elend für die Größe Deutschlands hin. In dem Augenblick, da die eingebildeten Sieger ihre Kehrseite zeigen, fällt ihnen ein: war das Größe, wo wir elend waren?
Jeder Zweifel wäre überflüssig; ein geschlagenes deutsches Heer unter Hitler hat keinen Glauben mehr. Denn sein Glaube war Hitler – mit seinem Glück, nie ohne Glück. Hitler ist ein Fetisch gewesen. Noch einmal gedenkt man der »wundertätigen Alraunwurzel«: im Jahre 1906 stellte ein Berliner Warenhaus sie unter Glas aus. Das war bis gestern Hitler, scheinbar mit dem Unterschied, daß er tatsächlich gezaubert hatte. Oder wenn es kein Zauber war, auch gar nicht von ihm ausging, der Erfolg ließ sich mit Händen greifen. Die Alraunwurzel zu ihrer Zeit wirkte aber gleichfalls, bis sie dann vertrocknete und aus der Mode kam.
In den deutschen Heeren von Frankreich bis nach der Ukraine, als sie dort noch standen, ist niemand mehr, der an Hitler glaubt. Er hat zu viel Glück gehabt: ihm ist verboten, gar keines mehr zu haben. Sie verachten ihn, vom General, der das rettende Flugzeug besteigt, bis zu dem gemeinen Mann, wenn er nach einem letzten Stück Pferdefleisch auf dem Eis erstarrt – »in grotesken Stellungen«, wie gemeldet wird. Auch noch sterben müssen als Groteske, nachdem man gelebt hat für einen Führer!
Unter einer massigen Wucht von Verachtung wie diese würde jeder andere zusammenbrechen – noch dazu in Anbetracht des Führerprinzips, das geteilte Verantwortungen ausschließt. Hitler muß sehr gesund sein. Ein so schwerer Hysteriker macht sich seine eigene Gesundheit, Anfälle, die zuletzt erleichtern, und kein Ende abzusehen. Bei dem Verachtetwerden hält er sich nicht auf, das ist keine Sorge, aber der Verrat!
Er lebt der Meinung, daß sein Kampf vor allem ein Kampf gegen den immer wachen Verrat war. Die deutschen Arbeiter haben den Anfang gemacht – mit ihnen die Intellektuellen, die Katholiken, sämtliche Andersgläubige, deren Gott nicht er war, dazu die Bauern, Kleinbürger, die SA-Leute des 30. Juni, denn der war ein Verrat an ihm! Was kreucht und fleucht, hat ihn verraten, die Herren Chamberlain und Daladier so gut wie seine eigenen Generale, die ihn nötigten, sie abzuschießen – einst in besseren Tagen, aber die sind vorbei.
Jetzt haben sie ihn abgesetzt, nicht mehr und nicht weniger, trotz lebendigem Leibe und fortgesetzter Gegenwart. Der Verrat, den er von je gewittert, oft enthüllt hatte, ist vollzogen. Die Menschen, besonders die Militärs, vertragen keine säkulare Persönlichkeit. Ganz zuwider ist ihnen das inkarnierte Jahrtausend mitten im Hauptquartier, das allerdings nach Polen zurückverlegt werden mußte, und wer weiß, wie bald ist es in Chemnitz. (Die Normandie, Juni 1944, hat den Kriegsherrn keine acht Tage gesehen.) Die geschlagenen und entlassenen Generale haben Berlin unsicher gemacht mit offener Verschwörung. Die Geschlagenen, die er nicht mehr fortschicken kann, handeln. Glattweg entmachten sie ihn.
Bei ihren Beratungen, die übrigens unerfreulich verlaufen, ist der Höchstkommandierende nicht mehr zugelassen. Schon seit dem 1. Februar des schlechthin unglaubwürdigen Jahres 1943 unterzeichnet er Armeebefehle, die er nicht gelesen, viel weniger verfaßt hat. Zwischen damals und heute – kein Erfolg, um das Ansehen des Führers aufzufrischen. Dürfte er noch »seine Soldaten« zu Hilfe rufen! Aber sie würden nicht kommen. Könnte er sich in ihren Schutz begeben! Leider sind sie selbst auf der Flucht.
Seine Lage ist, nach wie vor, keineswegs »einzig in der Geschichte«. Wilhelm II., ein so unbedeutender Herrscher, hat verwandte Augenblicke erlebt. Aber die Lage des annoch Blühenden ist ausgesprochen peinlich, wenn er sie vergleicht mit seinem vormaligen Freudentanz um Paris – und sogar mit der unleugbaren Tatsache, daß er noch immer der Herr über Europa wäre, hielten sie ihn nur nicht gefangen (weniger mit Armeskraft als moralisch).
Am 30. Januar, sein berühmter Gedenktag, seiner, nicht ihrer, hat er 1943 geschwiegen, 1944 mit matter Stimme, ohne Begleitung von Volkschören, abgestandene Redensarten gemacht. Nicht nur, weil es ihm nachdrücklich nahegelegt wurde: auch aus Protest gegen die Anmaßung seiner Generale. 1943 redete sein Reichsmarschall. Oh! Er hat sich aus der Affäre gezogen, mit der frühreifen Tücke, die dem Wanst im infantilen Gesicht steht. Er hat seinem »Führer« auserlesene Höflichkeiten gewidmet, während er ihn, hinten herum, der Lächerlichkeit preisgab. »Die Russen« nannte er die listigsten Schwindler der Weltgeschichte. Sie hätten, damals in Finnland, eine schwache, technisch veraltete Macht vorgespiegelt, eigens damit man sie angriffe: und der »Führer«, der sie durchschaute, habe wirklich angegriffen. »Dummkopf!« läßt sich nicht besser sagen.
Dieser Göring ist mit seiner vollen Leibesschwere zur Schwerindustrie übergegangen. Einst irrtümlich dem Soldatenstand bestimmt, hat er als Kaufmann sich selbst gefunden. Vor noch nicht sieben Jahren eröffnete er mit 5 Millionen preußischer Staatsgelder einen Trust, der dank der Hitlerschen Eroberungen angeschwollen ist bis in die Milliarden.
Den gewaltigsten ihrer erfolgreichen Abenteurer wird »die Industrie« weder verleugnen noch stürzen: es träfe sie furchtbar. Sie ist mit seinen Unternehmungen geschäftlich verfilzt, geschlechtlich vermischt, dafür sorgen ihre und seine Brüder, Schwäger, Onkel, Großväter: alle mit drin.
Hitler, jedes Familienanhanges bar, aber behaftet mit einem deutlichen Widerwillen gegen seine geringe Verwandtschaft – seit er die Macht hat, ist sie nicht größer, sondern dank seinem Revolver kleiner geworden, dank seinem Geiz arm geblieben – Hitler hat geduldet, daß Göring seine Person vervielfachte, bis sie ein Schwarm gefräßiger Heuschrecken war. Er begreift, daß es Landplagen geben muß. Er ist überzeugt von den Trusten, er »sieht nichts anderes«: dies bekundete er bald nach seiner Machtergreifung einem fremden Ausfrager, der ihn sozial ins Gebet nahm. Mittlerweile hülfe es ihm auch nichts, »etwas anderes zu sehen«.
Was zuviel ist, ist zuviel: er haßt Göring. Als er ihm unvergleichlich weniger mißtraute, hat er ihn zu seinem Nachfolger bestimmt, – damit der Dicke nicht versucht wäre, ihn ermorden zu lassen. Eigenhändig machen sie das selten.
Heute ist der letzte Wille Hitlers ein leerer Wisch, wie alles, was er und sein Reich erlassen und gekennzeichnet haben. Seine Nachfolge entscheiden andere, in düsteren Träumen ahnt ihm, wer mit den Siegern verhandeln wird. Sieger über ihn verletzen das Weltgesetz. Aber auch der Verrat an ihm ist gegen die Verfügung, dennoch verraten ihn alle. Die Sieger, denkt er bitter, werden sich an »die Industrie« halten. Ich habe sie übermächtig gemacht. Der Fürsprecher der Industrie wird mein Reichsmarschall sein. Die von mir verliehenen Insignien wird er abgelegt haben, auf seinem Fettherzen wird das Klimperzeug, das ich dem Narren anhängte, nicht klimpern – oder wenn doch, dann ohne daß meiner gedacht wird.
»Von Geschäften verstehe ich so viel« – er hat es aufgeschnappt – »daß sie das Geld der anderen sind.« So träumt der verbitterte Führer, der eine Weile der glückliche Führer war. Ihr Trust, von mir, mir zusammenerobert, erfaßt die wichtigen Teile des europäischen Reichtums, zu schweigen von den Verquickungen Übersee. Während meines Krieges haben die Verräter sie keineswegs aufgegeben.
»Ich – mußte zusehen, welchen Greueln mußte ich nicht zusehen! Einzig in der Geschichte! Der Riesentrust, meine Mißgeburt, ist nicht leichter Hand aufzulösen. Die Bestohlenen haben sich auszugleichen mit den Dieben.« (Sein Zustand wird beängstigend, er hat Gesichte.) »Triumphmarsch der Plutokratie! Arm in Arm mit den Gentlemen, meine alten Juden!« (Er bringt keinen Ton mehr aus der Kehle, schäumend bricht er nieder.)
Gern und glühend versetzt er sich in seine Anfänge! Wie einst, bedeuten seine alten Parteigenossen ihm »das Volk«. Im vier- und fünfundzwanzigsten Jahr nach der Parteigründung wagte er sich in eines der vertrauten Bierhäuser – oder schickte einen Vertreter, für den Fall, daß unter der Wandverkleidung eine Zeitbombe säße. Allerdings gebrach es dem Ersatzbekenner an dem echten Hals und Akzent.
So ließ er denn sagen, leicht habe seine Partei es nicht gehabt (weil er sie manchmal »säuberte«). Sie möchte ihm glauben, sein Fanatismus sei der alte, werde ihn auch bei seinen Lebzeiten nie verlassen. Kämpfen werde er bis fünf Minuten nach zwölf (noch im U-Boot nach dem Mond!) Nun ist er gegen seine eigenen Versprechungen gewiß abgehärtet; das Versprechen, weder zu altern noch müde zu sein, kostet auch nichts. Gleichwohl, der Führer, dahinten »bei seinen Soldaten«, hat ein vertracktes Gesicht geschnitten, als er nachher die Aufnahmeplatte abhörte.
Seinen geschlagenen und flüchtenden Soldaten ein gutes Stück voraus, schwört er wie in den glücklichen Tagen, mit den festgelegten Worten: »Wir werden brechen die Macht der jüdischen Weltkoalition. Die Menschheit, in ihrem Kampf für Freiheit, Leben, täglich Brot, wird aus der Schlacht den Endsieg heimbringen.« Richtiges Deutsch, ist aber aus dem Englischen zurück übersetzt. Soviel ist ausgemacht, daß er selbst der einzige Nichtjude und daß er die Menschheit ist. Einfacher wäre es gewesen, er hätte mit einem kräftigen Entschluß auch sich unter die Juden eingereiht: sofort gäbe es keine Weltkoalition mehr.
Er kennt hoffnungsvollere Stunden – zu hoffnungsvoll, um noch gesund zu sein. Dann vertraut er seinem Deutschland, wie vormals nie. Als die Deutschen, bis auf Ausnahmen, die er hätte übersehen dürfen, ihm jauchzten, ließ er ihnen eine um so härtere Erziehung angedeihen. Wohl glaubt er noch immer an den Schrecken – aber auch an die Liebe, was bei ihm ein schlimmes Zeichen ist. »Meine Deutschen!« Im Glück hat er sie keineswegs sein, sich nicht den ihren genannt; seine Geburtstagsreden feierten unverbrüchlich ihn selbst, niemals sie. Im Unglück ist seine Meinung, daß sie ihn, der ganzen Welt zum Trotz, verteidigen und halten werden. (Als Gegengeschenk an seine Deutschen läßt er schnell noch die Bilder alter Meister photographieren, bevor der Feind sie zerstört. Die Photos wird er schonen.) Intuitiv wie je, rechnet Hitler mit einer Zukunft!
Das seelenvolle Volk der Deutschen – Hitler, an die Seele gewendet! – wird nicht zulassen, daß sein Retter der einzige Ausgestoßene sei; daß die Nutznießer seiner Taten bleiben, wo sie sind; daß Göring, Gönner der zurückgekehrten Juden, daß seine eigenen Generale, Genossen der rachdürstigen Feinde, aus Deutschland etwas Niedagewesenes machen, ein internationales Jagdgebiet für Sklavenfänger. (Hitler, uneingedenk seiner Vergangenheit und Gegenwart, träumt sich als Menschenfreund und Freiheitsbringer.)
Der Vorsehung sei gedankt, er hat noch die drei viertel Million Mann seines Himmler, er hat seinen Heinrich Himmler, seine Ausgeburt, ein heillos perverses Gewächs, wie Hitler auch im Zustand der verwahrlosten Ekstase noch weiß; aber Hühnerzüchter, aber treu! Ja, auf Himmler und seine himmlischen Heerscharen ist Verlaß, vorausgesetzt, daß die Besten von ihnen nicht schon im Donezbassin verlorengegangen wären. Verrat! Man schlachtet seine Getreuen hin, damit er mit ihnen nicht nochmals Deutschland und nochmals die Welt erobert.
Dies aber wird er tun. Nochmals Deutschland, nochmals die Welt. Es ist sein Vorsatz und Zukunftsbild, ausgebrütet hinter dem verschlossenen Gesicht, wenn er nunmehr im Kreise seiner Achsenfreunde sitzt und schweigt. Sie sind weniger demütig geworden, er ist verstummt. Sie planen heimlich, auf seine Kosten am Ende glimpflich davonzukommen. Er verspricht sich im stillen, sie fürchterlich büßen zu lassen. Es ist ein herzliches Zusammensein. Göring allein, trotz aufgesetzter Umstandsmine, lacht sich ins Fäustchen.
Hitler denkt: Als ich noch redete! Reden war mein innewohnender Beruf. Das andere tat ich – weil das Glück es wollte. Ein großer Gedanke, der erste, erfaßt ihn staunend: Ich habe zu viel Glück gehabt.
Das ist nur eine Regung, sie geht vorbei, wahrscheinlich kommt sie nicht wieder. Fester als vorher wird er sich überzeugen, daß sein Glück verdient war, ihm geschuldet von der Vorsehung. Sie allein verantwortet seine Verbrechen, mehrere tausend sozusagen privater Morde, ungerechnet die eingeleitete biologische Vernichtung der Gattung Mensch.
»Jedermann, der sterben soll, ist achtbar.« (Georges Clémenceau.) Jeder? Dieser nicht.