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»Vor dem Sündenfall« hätte ich bald darübergeschrieben. Das Zeitalter war in den Jahrzehnten meiner Jugend von einer Unschuld, man faßt es nicht mehr. Ein Krimineller kann lange am Zuchthaus vorbeistreifen. »Mit der Hand über'n Alexanderplatz« – wo in Berlin das Polizeipräsidium stand. Wird auch schon gelitten haben.
Das kriminelle Zeitalter hat lange sich selbst nicht geahnt. Es war wohlerzogen, es betrachtete die Schonung jedes einzelnen, nicht seine Überspannung und Gefährdung, als das Richtige. Normal fand es das Vertrauen in Menschen, anstatt sie für verdächtig anzusehen. Es klingt sonderbar und unglaubwürdig, aber durch Europa reiste man ohne Paß. Man benötigte keines Ausweises, um Geld zu erheben. Wer in mehreren Ländern zu Haus und ohne ständige Wohnung war, bemerkte nie eine Behörde, besonders keine, die ihren Zoll verlangte. Einmal hat auf dem Finanzamt München ein Herr, o wie höflich, dem Besucher nahegelegt, daß man irgendwo doch steuern müsse. Dann ließ er es dabei.
Würde man es noch für möglich halten? Den Varietétheatern, vor Eröffnung der Kinos die volkstümliche Abendunterhaltung, wurden die lebensgefährlichen – scheinbar lebensgefährlichen – Nummern glattweg verboten. Um den Artisten war man wohl weniger besorgt, er hätte sich aus der Sache gezogen. Die Nerven der Zuschauer waren gemeint. Keine krankhaften Erregungen zulassen! Dies übertrage man – o Zeit, o Ewigkeit! – in die Städte von heute, mit ihrer zehrenden Gespanntheit auf die nächste Ladung von Fliegerbomben: An ihren unterirdischen Zufluchtsstätten hören es die Töchter und Söhne der vordem milde Behandelten und lächeln bleichen Hohn.
Die Selbstmorde waren verhältnismäßig selten, wenn ich in Betracht ziehe, daß gerade eine zarte Art der Sitten – wer will, nennt sie Erschlaffung – den Lebenswillen schwächen könnte. Tatsache ist, daß die meisten der giftigen Medikamente frei verkäuflich waren. Als der zweite Krieg sich ankündigte, war in Frankreich plötzlich nichts, kaum noch ein Gurgelwasser, ohne Rezept zu haben. Für Amerika scheint dies schon vorher rätlich befunden zu sein.
Um dem Verhungern durch Erhängen vorzugreifen, schied das Motiv aus: man brauchte nicht zu darben. Die ersten Spuren der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit erschienen gegen das Jahr 1914, weshalb die Kriegsmacher Erfolg haben konnten. Nichtstuer von Beruf, wie der bekanntgewordene Hitler, fanden immer ein öffentliches Asyl für ihre schöne Jugend. Ein ehrenhafterer Fall, dessen ich mich entsinne: der vereinzelte Student, der nur noch bummelte und schlief, bis er, seiner überdrüssig, im Bett sich totschoß.
Rührend beschrieb damals eine Zeitschrift den Tag einer armen Witwe. Sie hatte ihr Genügen an Kaffee und Butterbrot; nur des Sonntags bereicherte ein Topfkuchen ihr Frühstück. Mir will scheinen, der Zug steht, hinsichtlich sozialer Ironie, kaum zurück hinter der Frage der kleinen Prinzessin von ehedem: »Wenn die Leute kein Brot haben, warum essen sie nicht Kuchen?« Nur umgekehrt. Gerade Kuchen hatten sie.
Wir hatten sehr vieles, worüber wir uns nicht wunderten; oder das Geringste bestätigte uns fortwährend das Bekenntnis des 19. Jahrhunderts zum unbegrenzten Fortschritt. Auf den deutschen Eisenbahnen, die es nicht nötig gehabt hätten, sie waren staatlich, wurde, wenigstens für die erste Klasse, die Leselampe eingeführt. Eine Lampe hinter jedem Sitz, welch ein unerhörter Luxus! Der Verweichlichung kann fortan allein mit einem »Stahlbad« begegnet werden. Der Krieg muß ausdrücklich unserer Leselampe gegolten haben: Sie ist nachher nie wieder erschienen.
Der schnellste Zug Europas lief zwischen Venedig und Mailand. Er machte nirgends halt, bei der Ankunft wurde mehr als einmal der Lokomotivführer ohnmächtig herausgehoben. Dies für müßige Reisende, und wohlverstanden, damit das Land in der Welt voran sei. Jedes Land war in der Welt voran, in jedem Punkt, am liebsten in den fragwürdigen. Die Bürgermeister von Wien und Berlin wetteten, welche ihrer Metropolen das größere »Nachtleben« aufweise. Wien gewann.
Die Sexualität der großen Städte, einschließlich von Gastspielen in der Provinz, ist damals üppiger gewesen, als sie sobald wieder sein kann. Die Nazis haben durch Folterungen nachgeholfen – echte diesmal, früher waren sie gespielt. Gerade die echten sind nicht das wahre, sie verraten ein Nachlassen des Geschlechts; es sollte eine Zentrale des Lebens sein, und wird ein Ort, wo man tötet.
Das Essen, einmal heruntergekommen, erreicht selten die verlorene Höhe. Wer weiß noch, daß im Frankreich der Vorkriegszeit jede Tasse Kaffee von einer kleinen Karaffe Kognak begleitet war. Zwischen den beiden Kriegen bin ich mehrmals gerührt, wenn ich wollte, sogar erschüttert worden durch eine unvorhergesehene Wiederbegegnung mit dem alten französischen Diner. Während meiner Lehr- und Wanderjahre in Angelegenheiten des Königs Henri Quatre gelangte ich nach der abgelegensten seiner kleinen Residenzen. Das gegebene Quartier war das Hotel de France: Häuser dieses Namens sind gewöhnlich gut.
»Voyageur de commerce?« fragte die Wirtstochter. Ich gab es zu; tatsächlich galt mein interessierter Besuch dem ersten der heimischen Notables, gestorben 1610. Im Speisesaal saßen die unverheirateten Männer der Stadt bei einem Essen – diese Ausführlichkeit, diese Sorgfalt sind verschollen wie der Platz, wo sie noch geübt wurden. Als das Programm erschöpft war. stand, als Überraschung, vor mir ein blumenbekränzter Topf: Rebhuhnpastete hausgemacht. »Da möcht man weinen wie ein kleines Kind.«
Dies war ländliche Unschuld, die sich über die Zeit erhalten hatte. Das Pariser Vorkriegsdiner ist mir in den zwanzig Jahren nachher ein einziges Mal zuteil geworden – in bewußter Abweichung vom sonst Dargereichten. Ausnahmsweise aß ich an meinem Wohnort, Nice, in einem Hotel. Ich staunte: Was ging da vor? Was fiel den Leuten ein uns aufzutischen? Verantwortlich war der Tag: der Jahrestag des Waffenstillstandes, ich hatte daran nicht gedacht. Überdies war es sein letztes Begängnis 1938. Aber das wußte niemand.
Hier ermaß ich den ganzen Abstand zwischen vorher und nachher – nicht in der Ernährung allein: in der Fähigkeit, Freuden zu genießen, reich zu sein ohne viel Besitz, glücklich ohne atemlosen Anlaß. Ein Clochard oder Vagabund geht langsam über den Damm, er hebt die Hand, das Luxusautomobil bleibt gehorsam stehen. Sich fühlen, sei man wenig oder viel: das ergibt, alles in allem, das hohe Lebensgefühl, das unser war.
Das 19. Jahrhundert erhielt sich bis zum Schluß die Achtung vor der Intellektualität, mit der es angetreten war. Sein geistiges Lebensgefühl war stark genug, um in die ersten zehn Jahre des nächsten Säkulums fortzuwirken, worauf es ermattete, bis es zur bloßen Übereinkunft herabsank. So kam der Augenblick, wo auch die öffentliche Gewalt den Intellektuellen absagen und sie schlechthin verbieten konnte.
Das geht nur, wenn sie selbst als soziale Macht schon abgedankt haben. Ihren Verzicht machen Popanze, inexistente Köpfe wie Hitler oder sein Laval, sich zunutze. Sie wären anders gar nicht in der Lage zu herrschen, oder nur geboren zu sein. Wenn ich mir die Mannschaft der Affäre Dreyfus beisammen denke, Zola, Clemenceau, France, – und im Hinterhalt den Winkelpolitiker, der heute per procura als Tyrann des intellektuellsten Landes zeichnet! Er wäre, solange die Mannschaft zur Stelle war, nie hervorgekrochen, so wenig wie der ganze Rest des Unheils.
Mag die Feststellung unzeitgemäß sein, auch für Deutschland ist sie wahr. Wenn das 19. Jahrhundert unter einem Himmel machtvoller Ingenien dahin ging, sie leuchteten auf dieses Land. Der Sohn des ersten deutschen Kaisers, liberal wie ein alternder Kronprinz, ließ sich malen in Gesellschaft stolzer Gelehrter. Sichtlich repräsentiert jeder ein Amt von hohen Gnaden; keinen Fürsten hat Gott in gleich erhabener Absicht bestellt.
Das Bildnis des Historikers Leopold von Ranke, als Rector magnificus der Universität Berlin, zeigt ihn im Hermelin, und von einer Haltung, die seither niemand fände, oder die veränderten Umstände würden sie dem Gelächter preisgeben. Das kommt nicht vor. Niemals trifft geistige Macht zusammen mit der öffentlichen Gewalt von Minderwertigkeiten. Das Furchtbarste, das Absterben der Intellektualität, ist schon geschehen, bevor das Leben selbst niedrig wird, unansehnlich wird, und sich schließlich ausdrückt in der Trefflichkeit, mit der man es vernichtet.
Die Deutschen, um unter anderen besonders sie zu nennen, sind die leichte Beute profaner Machthaber geworden, seitdem sie nach keinen geistigen Denkern mehr die Augen erheben konnten. Ungelehrte, Geringe hatten vordem durchaus gefühlt: das sind sie, durch die ich etwas gelte. Mein Recht und Leben ist geschützt durch sie. Man muß das gekannt haben – oder es künftig nochmals erwerben von Grund auf –: das Vertrauen in menschliche Güte und Duldsamkeit, die Achtung des Menschen, die Selbstachtung.
In der jetzt noch währenden Pause der Humanität möchte ich einem Jungen, ob an der Front oder zu Hause, nicht gern gewisse Züge von sonst berichten: Vielleicht käme ich an den Unrechten. Er würde mir bestenfalls ins Gesicht lachen, wollte ich ihm erzählen, daß ein großer Arzt seinen Studenten einprägte: »Der Beruf des Arztes ist, das Leben zu erhalten.« Leben erhalten? Ein Menschenleben? Eine Kartoffel ist mehr wert.
Der Name des denkwürdigen Mediziners war Nothnagel in Wien. In Berlin begann der Physiker Helmholtz jeden Kursus mit dem Satz: »Vorausgesetzt, daß die Natur erkennbar ist.« Man sage es ihnen, die Jungen von 1944 werden antworten: »Entweder versteht er Giftgase und Gleitbomben zu machen, oder er soll den Mund halten.«
Denn von der Wissenschaft haben sie gehört als einer bloßen Utilität. Ersatz für echtes Essen, neue Tricks, um möglichst schnell möglichst viel Leben zu vernichten: das sind ihre Grenzen, hiermit endet die menschliche Erkenntnis. Aber von 1890-1898 war ich befreundet mit einem jungen Doktor, der seine Jahre an aussichtslose Untersuchungen setzte. Sie sind zu keinem Ergebnis gelangt, oder auch die negative Entscheidung der Natur wäre ein Erfolg. Das war sie bei allen, die urteilten, und mein Freund ein ausgezeichneter Schüler der Helmholtz und Dubois-Reymond.
Sie können nichts dafür, den neuen Jungen ist das Bedürfnis, uninteressiert zu denken, abhanden gekommen. An ihrer Stelle, wenn es um das eigene Leben, sonst um keines geht, wäre auch zu meiner Zeit jedem das Denken um des Denkens willen vergangen. Oder das Gestalten. Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meine Romane unter der stillen Zustimmung, etwas lauteren Ablehnung von zweitausend Personen geschrieben. Die Welt erfuhr nichts davon. Sie waren damals sozial unbrauchbar, ähnlich wie die Experimente des jungen Physikers von der Natur abschlägig, beschieden wurden.
Aber beide existierten, seine Versuche und meine. Ein Werk der Wissenschaft war unbedingt lohnend, da es vornehm war: so auch der Dienst am Wort. Die Grundlage unserer Existenzen war vielfältig, von unseren Voraussetzungen ist keine jetzt gegeben. Wir mußten warten können. Wir mußten bescheiden sein, bei einem inneren Stolz, der bis zur gelinden Verachtung des Erfolges ging. Wir bedurften der Heiterkeit. »Wer schaffen will, muß fröhlich sein.« Wozu fröhlich? Gelassen und mit sich selbst im Reinen, genügte. Die Hauptsache, unsere Unabhängigkeit, hätten wir kaum erwähnt, so sehr war sie ein Teil von uns.
Unsere Väter hinterließen uns meistens an Geld das Nötigste. Ich habe mein ererbtes Einkommen erhalten genau bis zu der deutschen Inflation. Da brauchte ich es nicht mehr. Als das Geld entwertet war, verdiente ich es haufenweise – mit denselben Romanen, die vorher nichts abwarfen. Ich habe für glückliche Zufälle zu danken, angenommen sei: dem Zeitalter, das ein Zusammentreffen verheerender Umstände mit anderen, gleichfalls ungeahnten ist.
Eine ähnliche Koinzidenz von Unglück und Glück hat sich einige Male wiederholt, zuletzt als ich meinen Wohnsitz in Berlin notgedrungen aufgab und nach Frankreich übersiedelte. Man nennt es Exil, es soll sehr hart sein, ist es wohl auch. Wer vor dem Hunger bewahrt bleibt, kann wieder, wie Heinrich Heine, vor Heimweh nicht schlafen.
Gern gestehe ich, daß die sinnlose Sehnsucht nach einem zugrunde gegangenen Deutschland mich in der Verbannung nie belästigt hat. Hitler-Deutschland hätte mich abgestoßen, wäre ich auch keines seiner vorgesehenen Opfer gewesen. Dagegen brachten mir die Atmosphäre Frankreichs und seiner Sprache gerade den Gewinn, der in diesem Zeitpunkt der willkommenste war. Ohne Vorausberechnung der Ereignisse und meiner veränderten Lage hatte ich unternommen, die Geschichte eines Königs von Frankreich zu schreiben.
Einzelheiten, auf ein Leben verteilt. Meine Jugend wenigstens war ihrer selbst leidlich sicher, sie erwartete ihre Erschütterungen nicht von außen. Damit eine ganze Jugend einheitlich sei, sich »historisch entwickele«, mit einem Ausdruck des 19. Jahrhunderts, muß man glauben können, ihr Ablauf sei logisch begründet, – was aufhört wenn Krieg ist. Kriege sind der gewaltsame, obwohl vorgesehene Bruch in einem Leben, das sonst zusammenhing.
Nicht, daß es meiner Generation an inneren Störungen gefehlt hätte. Ein unreifer Anfänger, fürchtete ich durch Krankheit aus meiner Arbeit gerissen zu werden – wurde daher auch wirklich für eine Weile krank. Angesichts des wenigen, das ich war, konnte ich mir das Ärgste ersparen. Die Sache ist, daß eine lange Zukunft, die Verantwortlichkeit für alles Ungetane, das bevorsteht, unsichtbar lasten auf dem jungen Leben.
Wirklich gesichert war damals die äußere Ruhe allein, aber wie wichtig ist die Beständigkeit der Umstände! Intellektuelle sind anspruchsvoll. Die Welt soll nach ihrem Kopf handeln, was allenfalls die Teilnahme am Wohle der Menschen einbegreift. Aber während im Namen ihrer Vernunft alles drunter und drüber gehen mag, fordern sie auch noch einen unantastbaren Schreibtisch. »Ich hasse die Bewegung«, verriet zuletzt Anatole France, ein vorderer Aktor der Affäre Dreyfus, des Rumpfes einer Revolution.
Der Friede, ein unabsehbarer, unbezweifelbarer Friede, war unsere Voraussetzung. Ich denke mich, zurückgewendet, nur mit dem lange, lange genossenen Frieden und mit den Personen, denen ich mich für ihn verpflichtet weiß: einige wenige Europäer, aber voran ein Deutscher, Bismarck. Er hat, von 1875-1890, den Frieden nicht nur erhalten, ihn auch stark gemacht. Dank dem Fürsten ist der Friede, dessen seine Nachfolger schlecht achteten, noch fünfundzwanzig Jahre fähig gewesen zu dauern, gegen Übermut und bösen Willen.
Das entdeckt man nach den Dingen. Zur Zeit unserer Unschuld war der Friede mir die selbstverständliche Tatsache, wie meine Unabhängigkeit. Die eine ist dann auch mit der anderen verlorengegangen. Um so enger verbinde ich den gewährten Aufschub des Unheils, meine Arbeitsmuse, ihre Ergebnisse und eine ausgedehnte Jugend, denn der Friede hat sie auffallend verlängert, mit dem Namen des Staatsmannes, den ich noch am Werk sah. Zu seiner Zeit wurde es kritisch verfolgt. Man hielt noch keinen Könner für unfehlbar, wie später jeden Nichtkönner, sobald er an der Macht war.
Mein Vater, ein Kaufmann, der den kleinen Freistaat Lübeck zum guten Teil regierte, denn er verwaltete die Abgaben, las die Zeitung: eine neue Rede des Fürsten. Sie sollte lange in aller Mund bleiben, besonders der Satz: »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt.« Senator Thomas Heinrich Mann, geboren 1840, war skeptisch wie sein Jahrhundert. Er schnob Luft aus und meinte leichthin: »In Wirklichkeit fürchten wir manches.« Dies mit Zärtlichkeit für den gewagten Ausspruch und seinen Urheber.
Der Knabe, der ich war, las über die Schulter des Vaters mit. Er hat gedacht: »Wahr oder nicht, ist es gut gesagt.« Er erblickte den Fürsten in Kürassieruniform, aber stark verkleinert und flach auf Pappe gezogen, zum Gebrauch des Puppentheaters: eine herrliche Figur, der Knabe hatte für seine Bühne keine bessere angefertigt. Überdies war hier ein wirksamer Text.
Überschätze ich nicht den Knaben? Ich glaube, daß er seinen, dieses einzige Mal empfangenen Eindruck übertragen hat auf den Mann und seine Anschauung menschlicher Tugend. Ungefähr fünfzehn Jahre später betrachteten mein Bruder und ich die beiden Erscheinungen des abgelaufenen Jahrhunderts, Napoleon und Bismarck. Ich gab Bismarck den Vorzug. Mein Bruder bezweifelte es, und ich wußte, daß meine Meinung angreifbar war. Aber man empfängt eine Religion sehr früh, lernt sie wohl beurteilen und bekennt dennoch sie oder ihr Andenken bis ans Ende.
Napoleon ist ohne Zweifel das umfänglichere Phänomen. Voltaire ist nicht universal wie Goethe. In meiner Phantasie vereinigen sich ihre Gestalten. Mein Lebensgefühl wäre gering, wenn sie mir fehlten. Der Verkehr mit ihnen und mit anderen, der Vollkommenheit Angenäherten, hat mir Mut verliehen und mein Gewissen belehrt.
Die Verehrung ist eine mitbekommene Gabe, um den Geist ungenügsam und wach zu erhalten. Sie ist eine sittliche Gabe, befähigt zu unterscheiden, nach unten und oberhalb. Goethe – wie ich wiederholen will – empfand es als Unrecht, wenn seine späteren Zeitgenossen ihn mit Tieck – einem Romantiker von Rang – verglichen. »Ich vergleiche mich auch nicht mit Shakespeare.« Er hatte »Faust« vollendet – und sah zu einem anderen auf. Daher die Vollendung: sein Werk empfing sie vermöge des immer tätigen Antriebs, streng zu messen und, wo es recht war, zu verehren.
Auch die Heiterkeit ist ursprünglich, im Gegensatz zur Skepsis, die erworben sein will. Ein Gemüt, das ohne sie wohl auskäme, wird von jähen Freuden gewiß hingerissen wie jedes andere, und noch mehr. Da waren zum Beispiel die Bühnenerfolge. Sie kamen auch bei mir vor; einen bedeutungsvollen, weniger für mich als für die Zeit und den Augenblick, ließ ich den ganzen Abend über mich hingehen, hinter der Szene oder vor der Gardine, jedesmal »oben«, mit einer bezwungenen Menge unter mir. Für den ganzen Genuß eines Erfolges scheint es wichtig, daß man anwesend und daß man »oben« ist.
Als mir nachher in meinem dunklen Zimmer noch immer das Herz klopfte, fragte ich mich: Warum eigentlich? Meine Bücher waren gerade damals in allen Häusern, das Theater faßte jeden Abend nur tausend Personen. Aber die Anschaulichkeit, körperlich verstanden! Die Gegenwart meiner Gestalten und Ereignisse, nicht in dem besonnenen Geist stiller Leser, sondern angesichts einer Menge – alle berauscht, wenn der Fall einmal eintritt. Das Mitwissen wird unkontrolliert übertragen von erregten Sinnen auf andere erregte Sinne. Endlich muß der unschuldige Urheber des Vorganges gestehen, daß er nicht gekannt hat, was er anrichten werde – und ist selbst überwältigt.
Es ist wahr, daß ich gewissen anderen emotionellen Wirkungen meiner Arbeit ein innigeres Andenken bewahre – je ferner sie nachgerade sind. Als Fünfundzwanzigjähriger in Rom erfand ich eine meiner ersten Geschichten. Sie hatte nichts Besonderes, nur daß sie eine der ersten war. In demselben Alter ist manchem mehr und Besseres eingefallen. Aber ich sprang vor Freude bis an die Decke. Die Zimmer in alten römischen Häusern haben unterhalb des echten Plafonds einen falschen aus bemaltem Papier: zwischen beiden laufen die Mäuse. Hoch war es nicht, mein Scheitel stieß wahrhaftig gegen die nachgiebige Bespannung. Dieser Nebenumstand prägte mir den Augenblick des Glücks für mein Leben ein.
Die Nebenumstände tragen zum Glück bei, wenn sie es nicht entscheiden. Ich war nicht mehr fünfundzwanzig, schon dreiunddreißig und endlich genötigt, etwas zu können. Da begegnete mir der »Blaue Engel«, wie das Ding jetzt überall heißt. Der Film, eine ziemlich genaue Photographie des Romans, ist wieder fünfundzwanzig Jahre später gedreht worden, übrigens durch Zufall. Wie lange Zeiten muß man seine eigenen Empfindungen begleiten, um sie anlangen zu sehen – wo, in welchem Zustand, bleibt fraglich.
1931 war die französische Kolonialausstellung, eine seltene Darbietung von Pracht und Macht. Großer Abend im Hôtel de Ville, zwischen den unvergleichlichen republikanischen Garden schritt man befangenen Sinnes, falls man Sinne hatte, viele Stufen hinan, jede mit zwei Gardes. Lange Erwartung der Hauptperson. Als der alte Marschall Liautey eintraf, empfing die Versammlung ihn stehend. Vorher war dem Bürgermeister mein Name genannt worden; er breitete beide Arme aus. »C'est vous l'auteur de l'Ange bleu!« Dies ist der Gipfel des Ruhmes, den ich kenne.
Der Marschall setzte mich später an seinen Tisch. Eine volle Minute hat er meine Hand mit seiner festgehalten, hat unseren Ländern Frieden und Freundschaft gewünscht. Wäre ich Deutschland gewesen.
Aber gegenwärtig ist erst das Jahr 1904, ich sitze wie gewöhnlich im Teatro Alfieri, einem Florentiner Schauspielhaus vom alten Stil, mit fünf hohen Rängen enger Logen, und immer leer. Die Vorkriegszeit in Italien besaß das Geheimnis, wie man für hundert Zuschauer, der Kopf zwei Lire, ein herrliches Theater macht. »La Bottega del Café« des Settecento-Venezianers Goldoni, es gibt kein gleiches Wunder der Anmut, außer Mozart. In der Pause wurde eine Zeitung verkauft, darin las ich die Geschichte, die einstmals der »Blaue Engel« heißen sollte.
In Wahrheit stand auf dem Blatt etwas ganz anderes, war nur mißverständlich berichtet, und datiert aus Berlin. Gleichviel, in meinem Kopf lief der Roman ab, so schnell, daß ich nicht einmal bis in das Theater-Café gelangt wäre. Ich blieb versteinert sitzen, bemerkte dann, daß der Vorhang wieder offen war, und so viel Beifall aus dankbarem Herzen hat nicht oft ein Schauspiel von einem einzelnen Gast erhalten.
Der Protagonist der Komödie ist ein Verleumder. Sein boshafter Tratsch bringt ein kleines Campo, in der Mitte der Brunnen, ringsum die schmalen Häuser, fassungslos durcheinander. Die Tänzerin im ersten Stock, die Hausfrauen, Ladnerinnen, Cafégäste – ein aufgestörtes Wespennest. Zuletzt entdecken sie den Anstifter, wollen einmütig über ihn her, er kann nur flüchten. Seinen runden Mantel über dem Kopf geschlossen, entkommt er um die Ecke. Mir erschien Zug um Zug von einer außerordentlichen Vollendung.
Ich selbst hatte etwas fertiggebracht, das war es, war die ganze Ursache meines Glücksgefühls. Hätte es erhöht werden können? Wenn die Zeitung, die übrigens nur Ungenaues enthielt, gleich die Geschichte fortgesetzt hätte! Sie konnte geradesogut schreiben: Nur ein Vierteljahrhundert Geduld, dies wird der Film sein. Der Maire wird ausrufen –. Der Marschall spricht –. Weitere fünfzehn Jahre, nur vierzig im ganzen, und das Hollywood des zweiten Krieges sucht nach Auskunftsmitteln«, wie es unbeanstandet das Produkt einer nunmehr feindlichen Industrie noch einmal machen kann.
Hätte ich 1904 dergleichen mehr vorausgewußt, ich wäre darum nicht glücklicher gewesen. Das Glück, wie ich es kenne, gebiert und trägt sich selbst. Die Glücksfälle sind Höhepunkte einer inneren Heiterkeit, die hervorbringt: das ist ihr Grund und Beruf. Man hat sie oder hat sie nicht. Ganz anders steht es mit dem Erkennen der eigenen Relativität. Die Skepsis will gelernt sein.
Ein Anfänger, der Glück hat – nicht das äußere, ich meine ein inneres Gelingen –, überschätzt sich, er geht bis zu unschicklichen Vergleichen. Zu der Zeit des »Blauen Engels« war ich noch sehr jung, vermutlich jünger als alle anderen desselben Alters. Als ich das Buch schnell und geläufig hinschrieb, dachte ich leichtsinnig: mehr hat auch Goldoni nicht gekonnt. Das Stück im Teatro Alfieri, oder ein anderes, verfertigte er in drei Tagen, weil er gewettet hatte. Nun, und? Voll übermütiger Begeisterung griff ich viel höher hinauf. Eine komische Handlung tragisch bestimmt, die lustige Fratze, darunter die harte Wahrheit selbst, wer macht das. Wer – hat – das gemacht? dachte ich und dachte einen Namen.
Das habe ich verlernt. Denn ich erfuhr höchst lebendig, daß auf Jahrhunderte die Größe höchstens einmal trifft, und daß lange aushalten muß, wer in seiner begrenzten Laufbahn auch nur der Vollkommenheit vielleicht begegnen soll. Ich habe, um oft vollkommen zu sein, zu oft improvisiert, ich widerstand dem Abenteuer nicht genug, im Leben oder Schreiben, die eins sind. Nicht, daß ich mich belogen hätte: das lohnt nicht, soviel wußte ich immer.
Aber man kann schnellfertig geprüft haben und steht plötzlich unglaubwürdig da, bei eigenem bestem Glauben, oder was sich so nennen läßt. Als Gleichnis halte ich mir gegenwärtig, sooft es dienen kann, eine gewisse Fahrt durch den Apennin. Auch dies fällt in meine frühe Zeit.
Juli, und siebzig Tunnels oder so, man atmete kaum. Ich streckte und reckte mich auf einem Sitz, von dem ich vorher gedankenlos eine Zeitung entfernt hatte. Ich mußte wissen, daß unter Italienern nichts weiter verlangt wird, der Platz ist belegt. Der rechtmäßige Inhaber tritt dann auch auf und fordert ihn. Ich behaupte: Er war frei. Die Zeitung hatte ich wirklich vergessen. »Hab' ich recht, war er frei?« fragte ich gegenüber in der Fensterecke den Herrn mit weißem Kinnbart, Typ des alten Offiziers.
Er antwortete mir nicht, aber was er gesagt haben würde, fand ich äußerst ausdrucksvoll auf seinem ehrenhaften Gesicht. Nicht zufrieden, sich anzueignen, was ihm nicht zusteht, will dieser junge Mensch, daß ich für ihn lüge! Ich las es, erschrak heftig, und unter Verzicht auf Erklärungen räumte ich das Feld. Nun, dies wäre nicht viel, man könnte es vergessen.
Tatsächlich aber habe ich mehr als zwanzig Jahre später der Jahrhundertfeier für Victor Hugo als einer der Sprecher beigewohnt. Es war in dem alten Trocadéro, ich saß auf der Rednertribüne links von Edouard Herriot. Der Trocadéro ist seither erneuert, Herriot unter deutscher Aufsicht gestorben. Seine Löwenstimme erhob sich damals zu den unabsehbaren Rängen, der sechste, letzte, verschwand im Dunkel. Auf den Präsidenten folgte der spanische Republikaner Unamuno, er beschäftigte sich mit seinem König, den er bitter haßte. Dann stand ich auf.
Ich gab dem Dichter Victor Hugo die Ehre der »Vereinigten Staaten von Europa«, seine Erfindung, sein Gedanke und sein Wort. Ich erklärte ihre Verwirklichung endlich für herangereift; den entschlossenen Willen ließ ich offen. Der deutschen Republik konnte man ihn damals zutrauen oder nicht – solange sie einen Minister, wie Gustav Stresemann hatte. Zweifelhaft wie mit ihr, stand es auch anderswo.
Ob ich zu viel sprach? Ich hoffe es nicht. Es ist immer nützlich, an einen Gedanken in seiner ersten ganzen Größe, an seine Glorie première, zu erinnern. »Le père Hugo« wird von jüngeren Generationen, die bald auch nicht mehr jung sind, als ein prachtvoller Wortemacher verwiesen, – wahrscheinlich weil er zu lange gelebt hat, das rächt sich. Genug, ich pries seine Idee der Vereinigten Staaten an, aber durfte ich es? Ich fragte hinauf, wo unter dem Dach die Gesichter zerflossen: »Darf ich es?« Sechstausend Personen antworteten »Ja«.
Eine Stimme fehlte: der alte Oberst aus dem Apenninentunnel. Wahrhaftig, an ihn allein habe ich bei der kritischen Stelle meiner Rede gedacht, sein Zeugnis erbat ich, und es blieb aus, wie das erstemal. Ich dachte: Mein Gott! Daß es zu Ende wäre – indessen ich mich bemühte, die Sprechtechnik des Präsidenten Herriot zu befolgen. Dann war es getan, ich wurde beglückwünscht – für meinen Takt. »Takt?« dachte ich. »Aber wenn es nun Lüge war?«
Das geht zu weit, wie ich mir nachher vorhielt und heute natürlich bestätige. Durchaus genau sein wollen, ist ein ästhetisches Bedürfnis, bevor es ein moralisches wird. Die Literatur befestigt den Sinn für die Wahrheit. Damit man weder etwas Ungenaues aufstellt noch sich in Skrupeln verliert, bleibt allein die Skepsis. Die hatte Lavater nicht.
Diese berühmte Gestalt des 18. Jahrhunderts, Physiognomiker und Moralist, hat ein Tagebuch hinterlassen. Den größeren Teil meines Lebens besaß ich das Original, mit Kupfern geziert, ich hatte es von Vorfahren ererbt. Wo sind in diesen mit Recht unsicheren Zeiten meine alten Bücher geblieben?
Lavater quälte sich redlich, damit er gegen kein göttliches Gebot verstieß: obenan die Wahrheit. Er war auf einem richtigen Weg, der dennoch in die Irre führt. Um dieselbe Zeit hat Werther geliebt, ohne Nachsicht für sich selbst hat er die Liebe einschließlich des Todes geliebt. Auch diese beiden, das leidende Gewissen, das nie gestillte Herz, waren einst deutsch: allen gesagt, die es nicht wissen.
Was ich meine: eine wirkliche Hilfe, um am Leben zu bleiben trotz Gefühl und Gewissen, ist der Zweifel.
Ich war jung, daher nicht von jeher skeptisch. Der Zweifel macht höflich. Man will nicht immer recht haben, und man achtet die Schwächen anderer. Diese beiden Kennzeichen der Höflichkeit nennt Voltaire, dessen Jahrhundert über sie Bescheid wußte. Ich war streitsüchtig, bevor ich über den Menschen und seinen Bestand so viel gelernt hatte wie mir beschieden ist. Die Direktheit oder Geradzügigkeit des Jungen noch abgerechnet, hielt es allmählich schwer, mit mir zu streiten.
Wenn ich Überzeugungen hatte, ich behielt im Grunde von früh an immer dieselben, glaubte ich sie formen zu müssen. Der geformte Ausdruck vollendet die Überzeugungen, er macht sie erst wirklich wahr, vielleicht für andere, für mich gewiß.
Nun sparte ich meine Bekenntnisse lange auf – ich meine die wörtlichen, insofern sie den Bekenner preisgeben und seine Widersacher unmißverständlich treffen. Schnell, sogar vorzeitig kam ich mit Romanen, die Wahrheiten abhandeln, nicht erörtern. Ich war ein Gestalter; Zweifel blieben mir hinsichtlich meines Rechtes zu reden. Die innere Nötigung, seine Gedanken zu äußern, fehlt einem Autor, dessen Geschöpfe sie schon verkörpert haben. Die Not der Zeit hat mich dennoch reden lassen.
Auch die Romane, in denen ich das Zeitalter besichtigte, brauchten viel Weile, ein hartnäckiges Verweilen. Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II. dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges – der in dem Buch nahe und unausweichlich erscheint. Auch die deutsche Niederlage. Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des »Untertan« nachträglich betrachtet. Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht.
Mit dem Roman »Der Untertan« kam ich früher als erlaubt. Er mußte die vier Kriegsjahre abwarten. Erst Ende 1918 konnte er gelesen werden, und wurde es wirklich: mit großem äußerem Erfolg bei allen Deutschen, denen der verlorene Krieg zuerst Bedenken über ihren Zustand aufdrängte. Sie sind bald mit ihnen fertig geworden und haben fortgefahren, wie wenn nichts wäre. Wahrhaftig gäbe ich die Schuld lieber den Fehlern des »Untertan« als ihren.
Meine Artikel, jeder ein Ausbruch des gequälten Gewissens, sind zahlreich. Sie begannen schon 1910, als das Kaiserreich in voller Macht und Blüte stand. Gerade darum konnte es Schriftstellern vieles nachsehen. Damals wurde kein »Defaitist« erschossen, so wenig wie »Juden und Kommunisten«, die Opferlämmer des nächsten Kriegsherrn Hitler. Erschossen oder nicht, gegen einen Hitler oder Wilhelm wird jeder recht behalten. Die Niederlage den beiden beibringen, war schwer. Ihnen die Niederlage vom Gesicht ablesen konnte jedes Kind. Nur daß die großen Kinder von Vorurteilen beirrt werden.
In der Republik machte ich meine Warnungen dringend und stark. Das freie Wort war nunmehr von der Verfassung gewährleistet; Grenzen setzten ihm die Inserenten der Zeitungen. Aber wieviel gerade mir erlaubt war, der Beweis ist auf das Furchtbarste erbracht, daß es nichts helfen konnte. In Ländern mit willkürlicher Machtverteilung ist die Presse eine Scheinmacht. Sie blendet die Augen, ohne sie wüßte man mehr. So las man Artikel wie meine. Unerschütterlich dahinter stand der Börsenbericht – und das Drohendste blieb ungedruckt, die geheimen Machenschaften der Wirtschafts-Talleyrands.
Eingestanden sei, daß ich mich nicht wirklich als einen Kämpfer fühlte. Dafür durchschaute ich zu deutlich die Vergeblichkeit des Kampfes – und begleitete meine eigenen moralistischen Übungen mit dem Lächeln des Zweifels, das allein sie mir selbst erträglich machte. Oft genug erging ich mich ironisch, um mir und den Lesern einen guten Sonntag zu verschaffen. Denn man begehrte mich bei festlichen Gelegenheiten: schon ein Zeichen, daß niemand daran dachte, in der Woche mein Wort zu befolgen. Wer ernst sein will unter so aussichtslosen Umständen, muß aufflammen, aber kurz.
Mein letztes Wort habe ich den Deutschen in aller Ausführlichkeit hinterlassen, als es ihnen bestimmt nicht mehr helfen konnte. Dies, weil es ihnen vorher nicht geholfen hätte. Hitler regierte schon. Es war der Übergang, als er seinen Vorwand wie seinen Reichstagsbrand abwartete, um zu wüten. Die »Neue Rundschau« war die angesehenste Revue, ihre Ausgabe vom Dezember 1932 war die letzte ehrliche. Darin erschien mein »Bekenntnis zum Übernationalen«.
Es hatte nur noch den Sinn eines Abschieds von dem Land, wo ich, mit so fragwürdigem Erfolg, dennoch durch lange Jahrzehnte gewirkt hatte. Genötigt, die Deutschen sich selbst, das heißt, keinem zuverlässigen Freund zu überlassen, erinnerte ich sie an verlorengegangene oder niemals begriffene Tatsachen.
»Um 1900«, so rekapitulierte ich, »verringerte sich bei den Denkenden die menschliche Teilnahme. Man nennt sich dann gern unpolitisch. Was dafür eintrat, war Schönseligkeit – die nicht wertlos ist, sie hat auch große Werke ermöglicht, sie würde Kraft des Charakters nicht ausschließen. Gefährlich wurde eine Kombination, bestehend aus Ästhetizismus und der Bezweiflung der Vernunft. Die Vernunft hatte fast das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch zu groß dagestanden, noch länger wurde es einfach nicht ertragen. Die Gottlosigkeit des gebildeten Bürgers und der arbeitenden Masse war zu selbstverständlich geworden. Wenn die Naturwissenschaft schließlich fast den ganzen Raum der Religion mitsamt der Philosophie einnahm, schien ihre Stellung angemaßt. Der große Helmholtz war vorsichtig gewesen, er hatte jedesmal an den Beginn seiner Vorlesungen ein einschränkendes Wort gesetzt; es besagte: »Wenn die Natur überhaupt erkennbar sei –.«
Das verhinderte nicht, daß die mittleren Intelligenzen sie als restlos verständlich voraussetzten, denn sie waren keine Philosophen mehr, wie noch Helmholtz. Viel eher hatten sie am Ausgang des Jahrhunderts für alle Metaphysik nur Mißachtung und Gelächter. Man muß das gesehen haben: vor dem Sieg Nietzsches stellte jeder mitlebende Philosoph den mittleren Intelligenzen einen veralteten oder abseitigen Typus dar, und für Geschwätz wurde genommen, was später als Denken, dem Naturwissenschaftlichen gleichgeordnet, wiederentdeckt werden mußte – so im Falle Wilhelm Diltheys. Auf diese Verarmung des Denkens erfolgte um 1900 der Gegenschlag; nur war leider nicht durchaus die Bereicherung des Denkens gemeint. Man bemühte sich, es überhaupt zu entwerten. Wozu sonst legte man alles Gewicht auf das Irrationale.
Wir haben nur unsere Vernunft, und selbst was wir von unseren unbewußten Abgründen ans Licht ziehen, wird erreichbar durch unsere Vernunft. Kunst vor allem gibt es nicht ohne vernünftiges Denken. Die Anschauung wird erst lebendig, wenn sie durchdacht ist. Gestaltung ist eine besonders sinnliche Form des Denkens – nicht als ob seine anderen Formen unsinnlich wären. Aber der Gegenschlag gegen den Intellektualismus bediente sich der Kunst auch nur als des auffallendsten, wenngleich falschen Beispiels für das Irrationale in allen großen Mächten des Lebens. Die Unterlegenheit der Vernunft wurde ebensowohl betont hinsichtlich der triebmäßigen, tiefen Bereiche, die Nation, Traum, Krieg, Liebe heißen sollten.
Die neue Wendung des Geistes von 1900 verdient Achtung, solange sie Forschung ist und der Erkenntnis neue Quellen öffnet. Sie hat keinen Anspruch auf Nachsicht, sobald sie dem Denken andere Mittel des geistigen Erlebens entgegenhält. Diese nennt man Gefühl oder Ahnung, es bleibt aber immer das Nichtdenken. Einen anderen Gegensatz als das Nichtdenken kennt das Denken nicht. Das ist auch vollkommen begriffen worden von der gesamten Mittelmäßigkeit. Denn was die Vornehmen erfinden, bekommt erst seinen schließlichen Sinn, wenn es bei den Kleinen anlangt. Die haben gewittert: jetzt geht es uns gut! Das Vernünftige muß redlich erarbeitet werden, aber das Irrationale hat jeder von selbst. Es hat immer die Neigung sich auszubreiten und alle die so ungesicherten Bauten der Vernunft hinwegzuschwemmen. Die Wiedereinführung des Irrationalen war die gute Gelegenheit der menschlichen Schwäche, sich gehen zu lassen, sich auszuverschenken an Instinkte, die nicht nachgeprüft werden, weil sie tief sind, und nicht nachgeprüft werden dürfen, weil ihre Tiefe sie heiligt.
Nur so hat die entscheidende Bewegung dieses halben Jahrhunderts, der Nationalismus, weiterlaufen können bis ins äußerste und darüber hinaus. Der vierjährige Krieg schien wahrhaftig das letzte, was der Nationalismus leisten konnte; aber die Muskeln des Amokläufers haben seither nicht gelitten, und sein Schwung hat zugenommen. Er kann nicht früher zum Stillstand kommen als beim Abschluß des irrationalen Zeitalters. Denn das hat ihn für seine Taten erst reif gemacht; und es dauert, es dauert –!
Die geistige Haltung des öffentlichen Körpers verändert sich mit furchtbarer Langsamkeit. Wenn ihre Unerträglichkeit allseitig feststände, sie behielte noch lange ihr herkömmliches Recht. Ja, der öffentliche Körper macht von einer gewissen geistigen Haltung erst dann den abscheulichsten Gebrauch, wenn sie im Grunde vorbei ist, alle Tatsachen des Lebens sind gegen sie. Man weiß, aber will nicht wissen. Der öffentliche Körper und seine barbarische Langsamkeit erdrücken das Bewußtsein der einzelnen.
Das neunzehnte Jahrhundert, eine große Zeit des Denkens, mußte absteigen und sich verflachen, bis jeder kleinste Monist persönlich die ewigen Rätsel überwunden hatte. Dann wurde endlich die Geisteshaltung des alten Jahrhunderts beendet, und Mißachtung traf mit der Vernünftelei auch gleich die Vernunft. Die seitdem heraufgekommene Unvernunft hat sich erhoben zu den großartigsten Katastrophen. Zuerst ein geistiger Umschwung, dann ein Ereignis! Das Irrationale – und erst nach seinem Durchbruch der Krieg. 1890 wäre er auf alle Fälle aufgehalten worden; wenn durch sonst nichts, dann durch den herrschenden Intellektualismus. 1914 hat sich die Unvernunft hoch genug aufgeschwungen.
1932 ist der Irrationalismus seinerseits klein und niedrig geworden. Er hält noch immer die ganze Wirklichkeit besetzt, er wäre auch für die Wiederholung der Katastrophe; aber darin widersteht die Wirklichkeit ihm schon. Die Welt ist für einen Krieg zu schwach geworden, obwohl ihre Unvernunft ihm gerade jetzt durchaus genügen würde. Wir fühlen auch, daß inmitten dieses Chaos das Zeitalter des Irrationalismus früher bis an sein Ende laufen wird, als wenn noch Krieg sein könnte. Der letzte Abschnitt jedes geistigen Zeitalters ist der lauteste. Man trumpft noch einmal auf, heimlich beschlichen von der Verzweiflung. Dann ruft 1932 irgend jemand in den Sender: Das intellektuelle Denken lehnen wir ab! Allerdings. »Wir« kämen sonst in Verlegenheit. Das »intellektuelle Denken« ist lange nicht geübt worden, und damit müssen andere anfangen.
Das Zeitalter des Irrationalen wird gegen 1940 ablaufen. Die Vernunft darf sich vorbereiten, wieder einzuziehen.
Dies ist veröffentlicht Dezember 1932, in dem Deutschland, das den letzten Abschnitt eines geistigen Zeitalters, seinen lautesten, unmittelbar antrat. Die Voraussage, gegen 1940 werde es enden, erweist sich nach den Ereignissen als haltbar. 1939 fing der leibhaftige Irrationale, Hitler, seinen unmöglichen Krieg an. Er selbst hat die Niederlage heraufbeschworen, nicht nur seine und nicht die deutsche allein. Großartig widerlegt ist seither der Fanatismus der Widervernunft. Nichts anderes bedeutet dieser Krieg, insofern er als ein geistiger Vorgang verstanden ist.
Ende 1943 berichtete ein Sowjetschriftsteller, daß die deutschen Munitionsfabrikanten begonnen haben, sich zu beschweren über Fehler in den Kriegsplänen von seiten der hilflosen Strategen. Die Fabrikanten! Gerade sie haben Grund. Für wen der Krieg? In wessen Auftrag ein Kriegsherr Hitler? Sie werden schlecht bedient von ihren Angestellten. »Puppe der Schwerindustrie«, nennt endlich auch die amerikanische Zeitung, die ich lese, den vorgeblichen Führer.
Aber der Sowjetbeobachter fährt fort: »Mit anderen Worten, die Manufacturers verlangten von dem deutschen Oberkommando nüchterne Pläne – genau das, was die eigenste Natur der Hitlerstrategie ausschließt. Zufolge der Erklärung einer Autorität, des Generals Dietmar, beruht die Strategie des Führers auf seinen irrationalen Impulsen.«
Da haben wir den Irrationalismus, haben alles auf einmal, seine Herkunft aus der Unfähigkeit, seine für nichts und wieder nichts verübten Untaten, und wie er endlich zur Ordnung gerufen wird von seinen eigenen Patronen, die »sich beschweren«. Noch weiter kann ein Mißerfolg nicht gehen. Der Strich unter einem Zeitalter war niemals dicker.
Was früher da war, die wirtschaftlich-imperialistischen Unterlagen der beiden Kriege oder ihre Ideologie der Widervernunft, ich gebe es anheim. Zuerst die Wirtschaft, dann der »geistige Überbau« – ist eine Theorie. Marx würde sie in anderen Fällen wohl bestätigt finden, gerade diesmal verläßt sie ihn. 1900, als der Irrationalismus einsetzt, hat keine Industrie der Welt, auch die deutsche nicht, gewußt, daß sie eines europäischen Weltunterganges bedürfen werde, um ihre unsozialen Sitten auf einige Jahre zu verlängern.
Das Geistige erscheint mir als das Primäre, es hat in der Geschichte den Vortritt. Dies behaupte ich mit Einschränkungen und bleibe auf ein vernünftiges Entgegenkommen bedacht. Könnte es sein, daß intellektuelle nur bestimmt sind, die Wirklichkeit im voraus zu erraten? Daß sie aber jedenfalls, und sogar ohne geistige Vorbereitung, ins Leben träte? Es genügt, wenn der Vorgang von einem Franzosen, Jules Lemaître, richtig bezeichnet wurde: »Die Wahrheiten der Denker werden immer in die Tat umgesetzt – zehn Jahre später.«
Meine Bewertung der Verdienste wie auch der Schuld ist vorsichtig, sie muß es sein. Mit Neigungen, die vernünftig sein wollen, haben wir nicht dasselbe Recht wie die Irrationalen auf einen blutigen Fanatismus. Wenn nun der ungebundene Wille angepriesen und erstrebt wird – als ob er jemals ungebunden wäre –, dann los gegen Recht und Wahrheit, was unversehens aus dem Irrationalen einen Wüterich macht und, ehe er es sich versieht, einen Besiegten.
Wer seine Niederlage nunmehr überstanden hat, das ist die Vernunft. Ihre Auferstehung geschieht nicht ohne weiteres, weil es Zeit wird: sie verlangt Entschluß und Handeln. Um so mehr wird erfordert, daß die tatkräftige Vernunft immer noch Vernunft bleibt, getreu ihrem innersten Gebot, dem Zweifel. »Es ist aber der Glaube ein inneres Wissen« – spricht Luther über den Glauben. Das gleiche trifft auch den Zweifel.
Wir können glauben, daß die menschliche Lage der Verbesserung zugänglich sei, müssen alles tun, damit sie es wirklich sei. Darum bedürfen wir erst recht des Wissens um die menschliche Fragwürdigkeit, um alle Widerstände der Menschennatur. »Das Menschengeschlecht bestände nicht einen Tag ohne Lüge«, schreibt Anatole France, dessen ganzes Wesen das Formen fälliger, wieder fälliger Wahrheiten war: auch dieser Wahrheit.
France war der berufene Nachfolger des Zweiflers Renan. Kein Zweifler an Gott, Ernest Renan, kein entlaufener Seminarist; er zweifelte allein an der menschlichen Fähigkeit, in der Wahrheit auszuhalten. Innig war er bemüht, es seine Leser zu lehren. Das währt jetzt hundert Jahre. Der Vater des Zweifels, Montaigne, ist bald vierhundert alt. Sein »Que sais-je« bezeichnet in Wahrheit die Höhe des europäischen Wissens.
Sein berühmtes »Que sais-je« schließt ein: Duldsamkeit und guten Willen. Bedauern der robusten Unwissenheit, die nicht fragt, nicht zweifelt. Hilfsbereitschaft für die Demütigen, denen alles entgegen wäre, die Macht der Mächtigen, ihre überlegene Leiblichkeit, ihre Kriege, Siege, ihr Gesetz, mit eingeschlossen eine Religion, zurechtgemacht für den Nutzen der vornehmen Starken. Herr Michel de Montaigne war vornehm, aber nicht stark.
Sohn eines Edelmannes aus dem Périgord und einer portugiesischen Jüdin, wurde er geboren, lebte und starb in demselben Haus, einem bescheidenen Schloß: der Turm ist die Stätte, wo alle seine Essays entstanden. Sein gedrungener Wuchs war etwas unter dem mittleren Maß, seine Hände waren ungeschickt. Er taugte weder für den Gerichts- noch für den Kriegsdienst; aber er war sowohl besonders wie allgemein genug, um Könige zu beraten. Henri III., in der Furcht vor seinen Feinden, fuhr eilends zu ihm. Henri Quatre war sein Freund.
Als nun das Land dieser beiden, des großen Königs und seines weisen Gefährten, geschlagen und erniedrigt war, 1940 im Juni, wurde es den Franzosen schwer, sich innerlich wiederzufinden. Sie hatten immer viel gelesen: Jetzt sagte man ihnen, daß ihre Lektüre sie verweichlicht habe. Nach dem Muster des Siegers wurde der jüdische Einfluß denunziert. Da taten sie etwas Unvorhergesehenes. Sie griffen zurück auf einen ihrer frühesten Bildner, den Edelmann halbfremder Herkunft. Montaigne hat damals seine neueste Welle von Volkstümlichkeit erlebt.
Sie lasen bei ihm Sätze wie diesen: »Nur der ist ein wahrhafter Sieg, der den Feind zwingt, sich besiegt zu geben.« Oder: »Manche Vorteile, die wir über unsere Feinde gewinnen, sind entliehene Vorteile, nicht unsere ... Das Verdienst und der Wert eines Mannes werden bestimmt von seinem Herzen und seiner Gesinnung (consiste au coeur et en la volonté): da liegt seine echte Ehre.«
Weiter: »Wer unterliegt bei hartnäckigem Mut, si succiderit, de genu pugnat.« (Seneca: »Wenn er hinfällt, kämpft er auf den Knien.«) Was auf de Gaulle und auf die Partisanen zutrifft – wenn Worte nötig gewesen wären, damit sie erschienen. »Wer, so nah der Tod ihm sei, von seiner Zuversicht nichts aufgibt; wer noch bei entschwindender Seele seinen Feind anblickt fest und mit Verachtung, der ist geschlagen, nicht von uns, sondern vom Glück; er ist getötet, nicht besiegt. Wirklich gibt es verlorene Schlachten, die zu triumphieren mehr Anlaß geben als Siege.«
Das dürfen eine Reihe von Nationen dem französischen Edelmann nachsprechen. Er hat es vor der Zeit gewußt. Sein »Que sais-je« gilt für Welt und Überwelt: nicht für unser sittliches Bewußtsein. Er verwirft die gewaltsame Überanstrengung der Natur, eingeschlossen eine Tapferkeit, die bloßer Trotz und nachher unbegreiflich ist; das Opfer, das über die besonnene Kraft geht; jeden Fanatismus, auch das Martyrium. »Alle Handlungen außerhalb der gesetzten Grenzen unterliegen unheimlichen Deutungen.«
Sehr zuwider ist ihm der Mißbrauch des Wissens, das vielmehr in ein bösartiges Nichtwissenwollen übergeht. »Callicles, bei Plato, nennt das Äußerste von Philosophie schädlich und rät, sich nicht in sie zu versenken bis unter die Linie des Nutzens. Mäßig genossen sei sie wohltuend und brauchbar, ihr Ende aber mache einen Menschen wild und lasterhaft, dann mißachte er die Religionen, die gemeinen Gesetze, er werde ein Feind der gesitteten Verständigung, ein Feind der menschlichen Freuden, unfähig jeder öffentlichen Verwaltung, des Beistandes für andere und der Selbsthilfe – der richtige Mann, ihn ungestraft zu ohrfeigen.«
Es ist nirgends besser gekennzeichnet, dieses Ausschweifen von aller erlaubten Lebensweisheit, das zur Abwechslung einmal »Irrationalismus« heißt: Da ist seine Menschenverachtung, Ruchlosigkeit und sein Verenden in Schande. Sein Urteil war ihm 360 Jahre vor diesem gesprochen worden, nicht von einem Doktrinär: von einem Zweifler, der nichts mit Sicherheit weiß und gerade dies für die Lage des Menschen hält.
Was bleibt, angesichts der Lage des Menschen, übrig außer: seine Schwäche zu achten und gegen ihn nicht immer recht haben zu müssen. Da dies eine Definition der Höflichkeit ist: Der Skeptizismus ist vom geistigen – und politischen – Verkehr mit Menschen die kultivierteste Form. Richtig verstanden, gelangt er zur Güte und zu einer Tatkraft, die Güte will. Das Land des Herrn Michel de Montaigne ist es, von dem, hundert Jahre nach seiner Revolution, gesagt werden konnte: »La Fance est, en somme, le pays oû il y a le plus de bonté, et oû tout arrive cent ans plus tôt qu'ailleurs.« (Ich zitiere auch Lemaître auswendig. Wo sind meine Bücher?)
Zunächst stelle ich nur fest, daß die zeitgemäßen Irrationalisten gottlos sind. Die Frage nach Gott ganz abzuweisen, ist auch ihnen nicht gegeben. Aber ihnen liegt einzig an dem vorweggenommenen Schluß, eine höhere Vernunft fehle. Sie leugnen, was uns zu ihr verpflichten würde, wenn wirklich oberhalb unserer Besinnung eine höhere wacht. Nur was unter der Schwelle des Bewußtseins gesucht – und nicht gefunden wird, liegt ihnen. Ihre Sache ist das unbewiesene Dunkle; es enthebt sie jeder Rechenschaft. Von einer Helligkeit, die über ihnen wäre, trifft sie kein Abglanz, kein Gebot.
Sie glauben an ihren Willen, je unheilvoller er umgeht, je armseliger es mit ihm ausgeht. An den Willen Gottes glauben sie nicht. Dieser übel angebrachte Stolz verfeindet sie mit der Natur: Sie tun immer das Unhaltbare. Sie beten nicht, will sagen, sie versäumen die heilsame Selbstprüfung. Sie beten dennoch, aber nicht um Vernunft, nicht daß die Vernunft der Schöpfung sich zu ihnen herablasse: sie verlangen Wunder.
Wie recht und billig, sind es Irrationalisten, die wieder einmal die Prophetie in Schwung gebracht haben. Einer der ersten Wahrsager Hitlers kam direkt vom Varieté. Sie nahmen ihn ernst, was sie nicht abhielt, ihn zu ermorden, als er lästig wurde. Sie nahmen ihn ernst genug, um ihn zu ermorden. Seine unnatürlichen Kräfte hätten ihnen noch viel nützen können, gesetzt, sie hielten ihn nicht doch für einen Schwindler. Das bleibt im unklaren; wer die Vernunft leugnet, muß nirgends genau sein.
Wenn sie reich genug sind, unterhalten sie Sterndeuter, wie man sagt auch Goldmacher; der Stein der Weisen wäre gleichfalls fällig. Sie begehen ihre sinnlosen Verbrechen an sorgfältig numerierten Tagen. Sie sind zahlen- und datengläubig und der Einbildung ergeben, daß die Zukunft sich beschwören läßt – aber nur von einem Sterblichen, der gegenwärtig Macht hat. Wenn Vernunft und ein Wissen, das Gott heißt, weil darum gekämpft werden muß, ihnen niemals warm macht, begierig sind sie nach Geheimnissen, die nur bei krankhaftem Zustand zugänglich, übrigens aus zweiter Hand für Geld erhältlich sind.
Plato argumentiert und der Skeptiker Montaigne erinnert daran, »daß die Gabe der Prophetie über unsere Kraft geht, daß wir außer uns sein müssen, um sie zu betätigen. Unsere Besonnenheit muß verlegt sein vom Schlaf, oder von einer Krankheit, oder sie ist uns entführt durch himmlische Verzückung«. Die himmlische Verzückung wäre erstaunlich bei den Verfolgern der Religion, in deren Mund nichts anderes so falsch klingt wie das Wort »Vorsehung«.
Die Vorsehung ist, wie sich versteht, kein Privileg, sie betrifft alle – während die gut bezahlten, daher glaubwürdigen Astrologen tatsächlich ein Vorrecht sind. Minderbemittelte beziehen Fertigware von den Handwerkern der Zauberei. Hier erscheint die soziale Bedeutung des Irrationalen.
Es bevorrechtet von jeher eine herrschende Schicht: die bekannten Weissagungen sind gewöhnlich Königen gegeben. »Der Führer denkt für euch«, ist fortzusetzen: Nur über den Führer wachen die Sterne. Wenn er den »Wallenstein« von Schiller gelesen hätte, sähe er sein Vorbild, den Feldherrn mit dem Sterndeuter, der ihm persönlich zusteht. Die Einkünfte der niederen Chargen und ihre Bedeutung reichen nicht für einen weisen Seni – der in Wirklichkeit zu Fuß nach Italien tippeln mußte, als sein Brotgeber dahin war. Er hatte nichts vorausgesehen und kein Geld gespart.
Die Gottlosigkeit ist erst mit dem Irrationalismus zur offenen Herrschaft gelangt. Sie war nie vorher an der Macht. In einer Laienrepublik, der französischen, war man duldsam, das setzt Zweifel voraus, und war Freimaurer, eine andere Form des Bekenntnisses zur göttlichen Vernunft. Von den jungen Tagen dieser Menschengläubigkeit, ihrer gloire première, zeugt die »Zauberflöte« des wunderbaren Mozart. Kein anderes Credo kann höher, edler, reiner gewesen sein: es rief nach der vollkommenen Musik.
Anstatt der menschlichen Reinheit behaupten Irrationalisten eine reine Rasse. Ihre heiligen Hallen, wo man nichts so gut kennt wie die Rache, sind das »Gestüt« – die erste treffende Übersetzung von Bordell. Kurz, die Ausrottung der Menschengläubigkeit ist ihnen angelegen, da sie den Glauben an Gott, das Gleichnis unserer Vernunft, als ihr großes Hindernis fühlen.
Demgemäß ist während dieses Zeitalters, seiner letzten, schweren Stunden, niemand von Gott so unbeschützt wie die Deutschen. Sie haben es gewollt. Sie sind von den Völkern das ungläubigste, wie ihr Schopenhauer bemerkt hat. Möglich, daß bei ihnen, außer am Rhein und im Süden, das Christentum niemals tiefe Wurzeln gefaßt hatte. Dann stände es ihnen bevor. Der Versuch Karls des Großen, als er einige tausend Niedersachsen erschlug, ging fehl. Die wirkliche Kraft der Religion besteht in der Heiligung des Lebens allein.
Das Leben fördern, es erhalten, es wohltätiger gestalten ist die einzige Art, wie der gewöhnliche Mensch – und der außergewöhnliche – um Gott weiß. Der Begriff von Gott ist ein hoher Begriff des Lebens, zuerst des eigenen. »Ich habe noch niemand Gott anrufen gehört, ohne daß er sich selbst meinte«, sagte mir ein zynischer Sachverständiger in moralischen Wissenschaften, mit Namen Frank Wedekind.
Beeilen wir uns, anzuerkennen, daß sich mit dem Materialismus leben, sittlich leben läßt. M. de la Mettrie starb infolge einer getrüffelten Pastete, die er am Tisch des Königs Friedrich von Preußen im Übermaß zu sich genommen hatte. Der Discours préliminaire seiner Werke ist auf ganz andere Genugtuungen bedacht. »Errötet, ihr Unterdrücker einer erhabenen Vernunft! ... Die Männer, die ihr verbannt, die euretwegen ihr Land verlassen müssen (ich sage es ohne Furcht, daß man mir eitle Motive oder ein besonderes Bedauern zutrauen könnte), diese Männer, die ihr in grausame Gefängnisse sperrt, ... seht den Ruhm sie bis zum Himmel tragen!«
Weiter: »Kann man denn nach Unsterblichkeit nicht verlangen, ohne sich unglücklich zu machen?« Andererseits: »Autoren, denen die schmeichelhafteste Vergeltung zu gering ist, ich meine die Anerkennung von seiten des aufgeklärten Europa, wollt ihr ungestraft unsterbliche Werke schaffen?« Dies sind moralische Betrachtungen eines Materialisten. Aber sie sind vom Jahre 1753.
Der deutsche Materialismus des 19. Jahrhunderts leidet darunter, daß er nicht verfolgt wurde, sich für selbstverständlich hinnahm und von seinen Errungenschaften vollauf gesättigt war. Das ist nicht bekömmlich; es macht kompakt, um nicht zu sagen schwerfällig. Gefängnis und Exil wären der geistigen Erfrischung günstig gewesen, wie man seither erfahren hat.
Heute entfallen Strafen, nicht nur auf das politische, noch mehr auf das moralische Bekenntnis, wenn das eine vom anderen zu trennen wäre. Zu der Zeit, als man noch im glücklichen Besitz geistiger Freiheit war, wurden sie getrennt. Außerstand, ohne ernste Gefahren die Autorität des Unteroffiziers anzugreifen, tat es dem Gelehrten wohl, in aller Breite und Placidität das Dasein Gottes wegzubeweisen.
Ohne Furcht vor peinlichen Folgen muß niemand fanatisch sein, dagegen wird man langweilig. Eine Geschichte des Materialismus, die ich in früher Jugend las, habe ich immer aufgehoben, schön gebunden, als ein unübertreffliches Denkmal der Langeweile. Später habe ich festgestellt, daß l'Homme machine und le Système de la nature unterhaltend sind. Und ebenso richtig. La Mettrie und d'Holbach wissen auch schon alles – bis auf den unerklärten Ursprung der menschlichen Maschine und des Weltengetriebes.
Weder ihnen noch den folgenden Materialisten ist aufgefallen, daß beide künstlich, gar zu künstlich sind. Um so mehr Gedanken hat Voltaire sich hierüber gemacht. »Und wenn ich Ihnen sagte, daß es eine Natur überhaupt nicht gibt, und daß in uns, um uns und hundert Millionen Meilen weit ausnahmslos alles Kunst ist!«
Selbst ein Künstler, legt Voltaire seine Wahrheiten in den Mund seiner Gestalten: dieser ist ein besonders vernünftiger britischer Menschenfreund, ausdrücklich Friend geheißen, hier schon erwähnt. Der Engländer des 18. Jahrhunderts erläutert seine Behauptung.
»Fast niemand beobachtet es; aber es ist die Wahrheit selbst. Ich sage Ihnen nur immer, gebrauchen Sie Ihre Augen, Sie werden erkennen und werden Gott anbeten. Bedenken Sie, wie die ungeheuren Weltkörper, die Sie ihre ungeheuren Bahnen rollen sehen, die Gesetze einer tiefen Mathematik einhalten. So existiert denn ein Mathematiker: Plato nannte ihn den ewigen Geometer.
Jetzt richten Sie Ihr Augenmerk auf sich selbst. Prüfen Sie, mit welcher erstaunlichen, nie genug bekannten Kunst Ihr Inneres und Äußeres eingerichtet ist, wie Sie es brauchen, wie Sie es wünschen. Ich will hier keine Anatomiestunde geben.« (Er gibt sie, in klassischer Kürze. Dann:) »Von der Haarwurzel bis zu den Fußdaumen ist alles Kunst, alles Vorbereitung« (er denkt an dramatische Expositionen), »Mittel und Ziel« – (lies Verwicklung und Auflösung. Für ihn ist der Mensch eine Tragödie, die mathematisch berechnet wäre).
Diese Auffassung wird um ihrer selbst willen vertreten, nicht für Nutzen. Voltaire und sein königlicher Schüler von Preußen bestanden darauf, daß Gott in die Angelegenheiten seiner Geschöpfe nicht eingreife. Er habe sie geschaffen mitsamt ihrer Verantwortlichkeit: von da an überlasse er sie ihren Neigungen, ihren Verbrechen, Lastern, Todsünden, einbegriffen den Widerstand gegen sie.
Die Hauptsache bleibt: Widerstand, die Nötigung, ihn zu leisten. Mit der bloßen Tugendhaftigkeit, wenn es sie gäbe, wäre nichts gewonnen. Friedrich der Große verurteilte nicht gern, was gegen die Gesetze Gottes verstößt; die sittliche Freiheit und ihre persönliche Kontrolle waren ihm wie seinem Lehrer teuer. Seine eigenen Gesetze nahm er streng. Aber er sollte ein Todesurteil unterschreiben, weil ein Mann mit seiner Tochter verkehrt hatte. Er machte die Randbemerkung: »Erst beweisen, daß er der Vater ist!« Dies war weder freundlich noch gerecht gemeint. Der König wiederholte einfach, was Gott ihm vormachte. Er überließ den Menschen seinem Gewissen.
Da Gott keine polizeiliche Aufsicht ausübt, wird es eine geliebte Pflicht, nach der Vernunft, seiner Mitgift, zu leben. Das Sittengesetz ist wirksam – nicht, daß Unmoral höheren Ortes gezüchtigt würde; sie rächt sich schon hier. Aber das moralische Wissen scheint allerdings von einem Schöpfer gewollt, da es seine bestens konstruierte Maschine im ordentlichen Gang erhält.
Das erweist sich, wenn sie stockt: Hier wage ich den alten Gedanken in meine bescheidenen Erfahrungen zu kleiden. Die menschliche Maschine, einmal die deutsche, einmal eine andere, wird schrecklich vertrackt, sooft man sich sittliche Eigenmächtigkeiten herausnimmt. Ihr gemeiner Name ist Greuel. Sie waren aber vorbereitet mit einer geistigen Gleichgültigkeit, die früher oder später in Untaten ausartet. Von den Materialisten des 19. Jahrhunderts, die sich moralisch desinteressieren, übrigens gutartige Mittelmäßigkeiten – führt eine Verbindung nach den sittlichen Wildlingen dieses Krieges und Zeitalters.
Das waren keine Philosophen. Der Vorbehalt eines Helmholtz: »Angenommen, daß die Natur erkennbar ist«, ihnen wäre er nicht eingefallen. Alle hohen Geister des 19. Jahrhunderts, das ihrer denselben Parnaß wie das 18. Jahrhundert zählte, haben die Frage der Erkennbarkeit offengelassen. Sie gaben hiermit das Dasein Gottes anheim, wenn ihr Taktgefühl auch nur diesen unbestimmten Ausdruck vertragen hätte. Das Dasein Gottes behaupten oder es leugnen, beides muß für sie einen Klang voll Ironie gehabt haben. Wo ist die Zuständigkeit? Der Mensch – über Gott!
Mangels der Erkennbarkeit entscheidet das persönliche Bedürfnis. Goethe, naturwissenschaftlich gebildet, wie auch Voltaire es gewesen war, wünschte sein individuelles Fortleben nach dem Tode. Voltaire begnügt sich mit der Erhaltung der Kraft. De nihilo nihil, in nihilum nil posse reverti. Er übersetzt: »Das Nichts schafft nichts, nichts kehrt ins Nichts zurück.«
Bismarck mußte begreiflicherweise ein Wort wie dieses sprechen: »Wenn ich nicht an die Unsterblichkeit glaubte, wäre mir das Leben nicht das An- und Ausziehen wert.« Bei dem Haß, den hier einer tragen – und selbst empfinden muß! Was bliebe, wenn nicht der sehnliche Anspruch auf ein Wiedererwachen, fortan ohne die bekannten Verletzungen des eigenen Urbildes.
Pasteur, dem naturwissenschaftliche Einwände nicht wohl entgegenzuhalten wären, hat um der Natur willen an Gott geglaubt. Er war ein frommer Katholik. Als er nun sein berühmtes Institut plante, ging sein Weg zu einigen reichen Leuten, auch zu der Besitzerin eines Warenhauses. Irre ich nicht, war es »La Samaritaine«; vielleicht verleitet mich der Name. Er trug seine Sache vor und erwartete 10 000 Franken. Sie schrieb die Anweisung. Er las: eine Million.
Hat er die Erklärung zugelassen, daß Gott ihr die Hand führte? Aber nein, das Gewissen, die Vernunft sind Gottes genug. Immer darf unbekannt bleiben, wo er noch weilt, wenn nicht in uns. Soweit ich mich auf die Frömmigkeit verstehe und Personen wie die hier genannten ahnen kann, sind sie durchaus Skeptiker. Die Namen Katholik, Deist, Freimaurer und Protestant decken sämtlich dieselbe mutige Unterwerfung unter das Nichtwissen, mitsamt der inneren Gewißheit trotz allem.
Ich kann es mir denken, man hat die Frage einmal satt. Ein Zweifler des höchsten Grades, Anatole France auf seinem Sterbelager, sprach: »Ich werde endlich erfahren, was dahinter ist. Vermutlich nichts.« Da war er achtzig Jahre mit der lebenswichtigen Frage umgegangen. Der Tod allein erlaubte ihm, von ihr Abschied zu nehmen.
Solange er lebte, war seine Rechtfertigung – oder die Rettung des weniger beherrschten Menschen vor seinen Trieben – der Abbé Jérôme Coignard, Held eines seiner vollkommenen Romane; »La Rôtisserie de la reine Pédauque«. In einer geistigen Welt, die wankt und schwankt, muß eines durchaus feststehen. Vorbild im Denken ist der Abbé – oder wäre er nur ein Wunschbild seines Erfinders und kaum das. Was will der Skeptiker? Was muß er wollen? Daß alles wankt und schwankt.
Sei es wie immer, der Abbé bezweifelt alles Menschliche, den Staat, die Macht, die Gerechtigkeit. Das revolutionäre Wort von der unparteiischen Majestät des Gesetzes, das Armen wie Reichen verbiete, Brot zu stehlen und unter Brücken zu schlafen, ist ein Ausspruch des Abbé Coignard. Es ist allbekannt, und niemand zieht den Schluß daraus, worauf der Abbé auch niemals gerechnet hätte. Er selbst bleibt seinen begehrlichen Sinnen ausgesetzt. Er tötet. Er wird ermordet. Aber er hat Religion.
Von nichts überzeugt, hält er einzig an den Lehren der Kirche fest. Er fühlt: hier zu prüfen, wäre der Beginn seiner Auflösung. Die Lebensfähigkeit der Menschen hängt davon ab, daß sie eines unangetastet lassen, eines wissen, es gelernt haben und für ihre Dauer unbedingt wissen. Es muß kein Dogma sein. Verpflichtend, eher mehr als weniger, ist auch das Nichtwissen, ist unsere Zustimmung, daß wir allein und eng begrenzt sein sollen.
Mit Lichtblicken. Mit jähen, zum Glück vergänglichen Hoffnungen und Ausblicken, die bei fortgesetzter Eröffnung wohl unerträglich wären. Ich erinnere mich, wie ich zuerst davon hörte, daß die Milchstraße Lücken aufweise, Löcher, aufgetan nach fremden Weltsystemen, Fenster in die – angenommene – Unendlichkeit. Wie ich erschrak. Wie kalt es mir über den Rücken lief. (Sonst nur bei Menschenwerken, die mich erstaunen.)
Der Zusammenhang zwischen diesem Erlebnis und einigen anderen ist vag und unbenannt. Das bloße Nichtverstehen ergäbe höchstens eine Analogie. Als Siebenjähriger drohte ich mit hinaufgereckter Faust dem lieben Gott, wenn er mir nicht den Willen täte. Worauf er ihn mir tat und ich zufrieden war. Man ist robust mit sieben Jahren.
Als ich bald vierzig war, starb, fern von mir, das geliebteste Wesen. Überall hin hätte mein Gedanke sie eher begleitet als in ihr Ende. Ich mußte wissen, und ahnte nicht einmal. Gegen Mittag erging ich mich in einem kahlen Garten, dem einzigen auf diesem Südtiroler Berg. Es war still, da wurde ich gerufen: ich meinte, aus dem Haus. Ich war so wenig vorbereitet, daß mir im ersten Augenblick nicht einfiel: hier ruft niemand mich bei meinem Vornamen. Später am Tage kam das Telegramm mit der Nachricht.
Kaum, daß die genaue zeitliche Übereinstimmung ihres letzten Augenblickes mit ihrem letzten Ruf an mich noch wunderbar erschien. Ich habe sie eher natürlich gefunden, aber so tut das Gefühl. Bei Erklärungen, die keine sind, hielt ich mich nicht auf. Mein Unterbewußtsein? Oder ein Fluidum zwischen Getrennten? Wenn der Sendende mit dem stärksten Akt seines Lebens, dem beschlossenen Tod, beschäftigt ist? Wenn der Empfänger durch hundert Sachen abgelenkt ist vom Empfang der Sendung?
Weiß nicht, ich weiß es nicht. Ich habe mich enthalten – gleich weit von den Geheimnissen und ihrer Profanierung. Soviel ich mich erinnere, habe ich in meinen Schriften den Namen Gottes nie erwähnt. Aus Scheu? Um das Unbekannte nicht zu verantworten? Vielleicht aus Entgegenkommen für eine Konvention des Zeitalters. Oder, im Gegenteil, als unwillkürlichen Protest gegen diese seine Trägheit.
Mündlich wurde ich kaum je veranlaßt, die Frage zu berühren; es hätte nicht nur die allgemeine Trägheit, auch den üblichen Takt hätte es verletzt. Einzig mein Freund Frank Wedekind äußerte sich über das Bedürfnis des Menschen nach Gott: Wenn er Gott anrufe, verlange er eigentlich von sich selbst, daß es vorwärts gehe.
Ein Mönch auf einer staubigen Straße im Lande Tirol, die wir zusammen wanderten, schien neugierig, als hätte es ihn belehren können, auf mein Bekenntnis. »Ehrwürden, keines.«
»Sie glauben nicht.« – »Das wäre zu viel für mich. Ein Selbstvertrauen, das ich durch nichts gerechtfertigt fände, wäre nötig, um Gott zu leugnen.« – »Sie glauben!« – »Ich leugne nicht, das ist alles, was ich kann. Ich gestehe meine Unwissenheit.«
Er dachte nach. »Aber das ist Stolz«, sagte er. Auf mein Vorbringen, ich hielte mich für bescheiden: »Sie wollen bescheiden sein. Sie sind nicht einfach.« Worauf der Kapuziner aus seiner Praxis mit den Einfachen erzählte – auch mit den weniger Einfachen, die es dank der Gnade erst geworden sind. »Ist denn die Gnade etwas Einfaches?« fragte ich. Er schwieg. Wir sprachen von anderen Dingen. Beim Abschied sagte er unvermittelt: »Jetzt werde ich immer für Sie beten müssen.«
Der Mönch hat damit längst aufgehört. Wenn aber etwas, das mir zustieß, wunderbar war, dann dies: In einem Kloster und auf dem Weg zu kranken Bauern wird einer vollendenden Seele gedacht, und sie soll meine sein.