Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Glaube, Liebe, Hoffnung, von den dreien ist die Liebe die größte. Sie allein ist groß, wäre es nur, weil sie vorsätzlich nicht erlangbar ist. Geglaubt wird viel, gemeinhin glaubt eine Menge, zuletzt auch der einzelne, alles, wozu sie genötigt werden. Hoffen wird man ohnedies bis in das Grab hinein; ohne die lebenslange Hoffnung wäre kein Grab, das sie endlich erfüllt. Die Liebe ist frei, allein die innere Gnade erteilt sie dem Erwählten. Eine eingeredete Liebe besteht nicht, ihr Abschluß schmeckt bitter. Er hilft allein sie zu vergessen, aber die Erinnerung los werden braucht länger als vorher der Irrtum.
Nicht jede Liebe währet ewiglich, das wird nicht verlangt, sondern daß sie fruchtbar mache und dankbar stimme. Es ist möglich, daß ich diese oder jene Frau wenig und schlecht geliebt habe, nur gerade als die Gefährtin einer Gestaltung, die entstehen wollte, und die heimliche Hauptgewalt war sie. Oder nicht einmal die Arbeit selbst verband mich ihr, nur die Pause zwischen den Werken, das Austragen des nächsten, sein Dasein vor dem Beginn. Das hinderte nicht, daß ich diese schönen Personen wirklich liebte, daß sie allenfalls erwiderten, soviel ich ihnen entgegenbrachte, und daß der Rest meine Dankbarkeit war.
Ich weiß nicht, ob sie mich, ich selbst habe in allen Jahrzehnten keine vergessen. Ich sehe, sooft ich will und sogar ohne meinen Vorsatz, eine Haltung, Bewegung, Miene, – die unzufriedene macht mir Reue, noch jetzt. Ich höre ein Wort, von jeder das eine, das sie zusammenfaßt, oder das ein entzückendes Nie-wieder enthält: nur sie konnte es sprechen, und nur damals.
Von mir ist nicht die Rede. Bedauert wird ein Zeitalter, das nicht viel liebt, aber hassen muß es um so mehr. Man hatte einstmals keinen Begriff vom Haß, noch von der Begabung dieser Sterblichen, einander zu hassen. Was war Haß? Eine Kritik »vernichtete«, ein Geschäft wurde zugrunde gerichtet. Der »bürgerliche Tod« konnte verhängt werden; es war ein Tod, mit dem sich leben ließ. Der Klassenhaß, solange die Arbeiter allein ihn pflegten, ging in Reden und Bier unter bis zum nächsten Mal. Inzwischen war man Biedermann.
Nationen wallten gegeneinander auf, sämtliche Laster der anderen wurden entdeckt, wiederentdeckt, all ihr historisches Unrecht ausgekramt. Da aber Friede blieb, war nach Monaten das meiste vergessen. Mag sogar sein, man griff in den eigenen Busen, der eine Fundgrube ist, besonders um sich komisch zu finden. Das Talent, seine Komik zu sehen, entwaffnet den Haß.
Der Haß verlangt den tierischen Ernst, der im Kriege gedeiht. Bewaffnet wie man ist, nährt man den Haß, damit die Waffen nicht grundlos wüten. Kriegsjahre, die ein ganzes Zeitalter einnehmen, lassen den Haß alt werden, er hat fortgezeugt, nachgerade ist der Haß ein kindischer Großvater. Amerikaner, mit Europa so gut wie unbekannt, aber ihre Jungen machen an seinen Grenzen so gut wie andere was man Erobern nennt – manche guten Leute und Heimkrieger verkünden ohne Wimpernzucken ihre Absicht, alle deutschen Kinder zu töten, damit ein für alle Male die Schlange erstickt sei. Ach! Die Vegetation dieser Erde birgt mehr Schlangen, und das Gift spritzt endlos, da die Dummheit kernfest ist.
Liebe dagegen, Liebe macht nicht blind, der trägste Geist, das unbegabteste Herz werden hellsichtig, werden klug, wenn sie lieben. Das Gefühl reinigt unser Wissen und geht ihm voran. Wer nicht das eine Wesen angebetet hätte, sähe alle anderen falsch, sogar das mehr oder weniger schädliche, das er als Giftschlange anspricht. Man nehme das Böse im Menschen und wende es zum Besseren, – ein schweres Unterfangen, denn gut wird niemand auf höheren Befehl, wie man erwiesenermaßen böse wird. Die tröstliche Tatsache ist, daß keiner der Machthaber, die Deutschland zum Abscheu der Welt machen (obwohl lange Jahre auch zum Gegenstand einer unangemessenen Bewunderung), für Deutschland einen Funken Gefühl haben.
Der deutsche Haß ist ihr Vorwand, er macht sie unentbehrlich. Deutschland darf endlich aussterben mitsamt der vernichteten Umwelt: die Rolle der Stümper spielt bis zum letzten Wort. Das sind Staatsmänner, Massenführer, das sind Strategen und Bevölkerungspolitiker, die wohl im Plan der Dinge bedingt sind, da sie ja vorliegen: nur kannte man dergleichen nicht mehr. Wir waren seit einigen gewöhnt an Männer der Tat, die auch fühlten.
Goethe beiseite, er hat wirklich die Welt erobert, was andere mit mechanisierten Divisionen nicht können, hat gehandelt – und liebte an der Schwelle des Greisenalters wie ein Jüngling. Um die Könige zu vergleichen: Henri Quatre einigte Frankreich bis auf die letzte seiner Provinzen, er verwirklichte das Königreich, dies alles unter Liebesgeschichten; – auf seine größte, endgültige folgten Niedergang und eine beinah schon bewußte Hingabe an den gewaltsamen Tod. Friedrich der Große ist der Zerstörer des alten deutschen Reiches: an ein neues dachte er höchstens wie an das gelobte Land, das er nicht sehen sollte.
Aber er war unfähig zu lieben. Seine historische Aufgabe deckt sich mit seinem Gebrechen: es war ihm nicht immer unbekannt, er hat an sich gelitten. Die Zweifel, die ihn quälten, bezog er auf seine Preußen, die er verachtete. (Henri verehrte Frankreich in einem Zuge mit seiner Gabrielle; beide verdienten es, weil sie einen großen König zur Verehrung bewegen konnten.) Friedrich mußte ein Menschenfeind werden, sein Umgang waren Bücher, waren Personen, die er duldete, solange sie wie Bücher sprachen. Er vereinsamte ganz. Wenn er zuletzt noch auftauchte, erschien ein fremdartiger Sonderling. So der Ausgang eines hochgerichteten Lebens, dem nur die Liebe fehlte. »Und hätte der Liebe nicht –«.
Napoleon liebte die Frauen, ungeachtet er nach ärztlicher Aussage wenig begabt gewesen sein soll für die physische Liebe. Das Verlangen, die Eifersucht, das unverzagte Werben sind mehr wert als der Vollzug selbst; so viel Leidenschaft verlangt der gar nicht. Der Kaiser hat seine ungetreue Josephine geliebt, und auch die kalte Marie Louise. Die sehnsuchtsvollen Briefe des jungen Generals aus Italien zeugen für ihn, wie andererseits der Roman, den er als Leutnant geschrieben hatte. Für ihn zeugt auf Sankt Helena die bange, unbelohnte Erwartung von Nachrichten seiner Habsburgerin. Ein Herz haben samt der Kraft es auszudrücken: – der Rest ist Wille und sind Gelegenheiten, ebenso viele Gelegenheiten des Mutes wie der Furcht.
Da ist der große Mann, so klein wie groß. Er entvölkerte Frankreich, es ist ihm nicht vergessen worden; aber er begehrte Frankreich groß zu machen gleich ihm selbst. Das muß die Wahrheit sein: er wollte geliebt werden. Als England ihn in die Verbannung geschickt hatte, behauptete er, daß die Völker, voran das britische, ihn liebten. Daran richtete der Gestürzte sich auf, ist auch nur darum aufrecht geblieben alle die Zeit seither. Die Völker, gewöhnliche, ungeschickte Leute, erfüllen den Ehrgeiz eines Mannes nach ihrer Liebe, wie sie es verstehen, oft ist es gemein und lächerlich. Im Königreich Bayern, das er geschaffen hat, steht ein Dorf, darin das Wirtshaus eine Tafel zeigt, wenn sie nicht verschwunden ist. Die Inschrift: »Hier belegte der große Kaiser Napoleon ein Mensch.« Was übrigbleibt von der Größe!
Das reine Beispiel der beständigen, beständig ehrenvollen Liebe ist Bismarck. Der Brief an den Vater seiner künftigen Frau, sein Werbebrief, welch ein Manifest menschlicher Schönheit! Man verneigt sich und ist beglückt. Wer das schrieb – wer überhaupt sein klassisches Deutsch schrieb, kann das unbedingt Schlechte niemals weder gewollt noch sich erlaubt haben. Mehr: reinen Herzens, ich glaube, ohne persönlichen Ehrgeiz, nur mit dem gebotenen Machtwillen ist er durch Kriege, Ränke anderer, den eigenen Haß, durch Gunst und Ungunst vorgedrungen von Aufgabe zu Aufgabe. Keine, so sagt er, hat ihm die Erfüllung und Ruhe gebracht, da jedesmal die nächste schon lastete. Und da alle zusammen nichts versprachen, wie er zur schweren Stunde gefühlt haben muß. Das befestigte, normalisierte Deutschland, um das er kämpfte, war unmöglich.
Er hätte es beständig und treu gewollt gleich seiner ehemaligen Liebe: die war sein Maß. Der Fürst hat, ob er es bedachte oder nicht, sein Land, Europa und die Kunst, die er übte, immer ermessen an der Dauerhaftigkeit einer einzigen Liebe. Nichts anderes hielt stand; wie wäre der Erfolg ihm treu geblieben, nur seine Liebe war es. Als der Hof endlich sagen durfte: »Es gelingt nichts mehr«, – da dieselben Personen hinterrücks gegen ihn einwirkten, nun, er war anzutasten, aber beileibe nicht auf Kosten seiner Frau. An der Hoftafel wollte man sie damals tiefer setzen als ihn. Er entschied: »Mich kann man nach Belieben placieren. Wo ich sitze, ist immer oben. Meine Frau aber gehört zu mir.«
Sie hat von seinem Exil in Friedrichsruh den ersten Teil noch miterlebt. Jemand beklagte ihn wegen seiner Einsamkeit. »Es ist keine Einsamkeit«, antwortete der Greis. »Es ist Zweisamkeit.« Hier ist das Beispiel, wie eine Verbundenheit durch Liebe die Abdankung erleichtert, nachdem sie lange das Gleichnis der Dauer gewesen war für ein Leben und Werk.
Die Liebe bringt auf Ideen und in Gefahren. Als Beispiel will ich einen einfachen Kaufmann – nicht so einfach wie man denkt, aber doch immer ein durchschnittlicher Mitgänger des Zeitalters, das Verwandlungen durchgemacht hat: während es noch Frieden zu haben glaubte, trug es in seinen Falten schon den Krieg. So auch der mehr oder weniger – eher weniger – imaginäre Kaufmann, Sohn eines Kaufmannes und von ihm der Jurisprudenz bestimmt.
Warum nicht. Die Familie hatte dem Eisenhandel en gros lange genug obgelegen. Es wurde Zeit, nach öffentlicher Ehre zu geizen, anstatt nach Geld. Der Doktor juris führte zu allem. Sein Inhaber war nach dem Herkommen für sein Leben versorgt. Wer das Staatsexamen hatte, mußte nicht ununterbrochen dienen. Er konnte aussetzen, Reisen machen, Musik treiben: sobald er wieder eine Anstellung verlangte, war sie ihm geschuldet. Er stieg um so schneller im Rang, wenn man ihn bemittelt wußte, wie diesen jungen Kaufmannssohn.
Indessen, so weit kam es gar nicht, die Liebe zerriß die Rechnung. Gleich sollte er das Gymnasium hinter sich haben, da, kurz vor dem Abiturium, verführte ihn seine Kusine. Sie war um sieben Jahre älter als der Siebzehnjährige, sie wußte, was sie wollte., ihm dagegen ahnte nichts. Als Waise, die sie war, lebte sie im Haus, sie bewohnte sogar das Zimmer neben seinem. Dem Kaufmann, ja, seiner gesellschaftlich geschulten Gattin verstand sich das Moralische von selbst. So bleibt man trotz Erfahrungen, wenn die früheren Eindrücke vom Leben den Anstand als das Natürliche hingestellt haben.
Alice besuchte ihren Vetter wohl einmal, wenn er über seinen Aufgaben saß: es war kein Geheimnis. Man kannte ihre Neugier hinsichtlich der unfaßbaren Wissenschaften, denen so ein Junge sich näherte. Sie verhehlte keineswegs ihr Erstaunen, daß er griechisch las! Damit er sie in einige seiner Künste einweihte, wenn noch so flüchtig, stand sie nahe hinter ihm, schlang um seine Schulter den Arm, ließ ihn ihren Atem spüren, und an seiner Schläfe schwirrten ihre langen Wimpern.
Sie war bis jetzt größer als er, ihre voll geformte, leichte Büste stützte sich von selbst auf seine Schultern, die schlanke Taille, die gebauschte Tournure waren fortgebogen. Er erhob den Blick nicht vom Buch, dort lag aber ihre schön gestaltete große und nackte Hand. Sie fingerte an den gedruckten Zeilen: ein Fingern mit Anspielungen auf Kenntnisse – oh! kein Gedanke, daß er ihr Wissenschaften hätte vermitteln können, wie sie ihm. Um ihrer Hand zu entgehen, richtete er seine Stirn seitwärts hinauf gegen sie.
Ihr Anblick beruhigte ihn einigermaßen, der harmlose, ungewandte Eifer, den sie zur Schau trug. Ihr kindlich guter Wille machte, daß zwischen den Zähnen, aus dem feuchten, starken Munde die Zunge schlängelte. Ihr ovales Gesicht hatte Farben, glatt wie nur auf kolorierten Bildnissen von Damen, die es einst gegeben haben sollte. Aschblonde Haarfransen fielen von der hohen Frisur herab, in Abschnitten, dazwischen schimmerte die Stirn. Sie blieb gesenkt, die veilchenblauen Augen in den dunklen Wimpern begegneten mit nichten den seinen. Er war darauf angewiesen, ihre Nase zu bewundern, ihm klopfte dabei das Herz.
Ihre Nase, aufwärts gebogen, weit vorgestreckt, wäre von ihrem ganzen Körper das Stück, das er küssen mochte, gesetzt, die Versuchung übermannte ihn. Das einzige, was er weiß, ist vielmehr: zwei Zoll von mir, aber unerreichbar, existiert Alice, die schönste der Frauen. Der Frauen nur? Nein. Alles was die Erde hat an Begehrenswertem, ihr Endzweck, der ganze Sinn des Lebens – Alice. Wie geschieht es, daß sie sich hier befindet?
Dies ist eine kleine alte Handelsstadt, mancher verläßt sie nie. Alice könnte überall die Schönste, die Erste und Einzige sein, was geht vor, daß sie es nur bei mir ist? Ich wäre sie niemals wert, kein Mensch ist ihrer würdig. Überdies bin ich zu jung, fünf Jahre werde ich an Universitäten studieren müssen, Zeit genug, daß sie mich vergißt bis auf das Aussehen. Hat sie überhaupt schon beachtet, wie ich beschaffen bin? Es würde nicht lohnen. Ich bin ein gewöhnlicher Schüler.
Dabei hielt er von sich mehr, ihm waren seine schmalen, energischen Züge bewußt – energisch nur, wenn sie nicht zusah. Er erinnerte sich wohl, daß ein Geschäftsfreund seinem Vater zugeflüstert hatte: »Der Junge hat schöne Augen«, denn sein Blick verriet die Fähigkeit zu lieben, bevor es statthaft war. Sie betrat sein Zimmer um der Wissenschaften willen einmal, zweimal, dann lange nicht. Als sie dennoch eines Tages den Arm um ihn legte, hatte er aufreibend nachgedacht, es wurde unerträglich, er mußte endlich in ihr Gesicht blicken und sie in seines. Hier, Kopf an Kopf, allein und im Ernst. Am Familientisch fand man keine wirklichen Blicke.
Plötzlich richtete er sich auf, nach dem Spiegel an der Wand. Sie bemerkte genau gleichzeitig den Spiegel. Niemand weiß, ob eine Sekunde oder mehrere Minuten, Tatsache ist, sie erkannten einander sehr tief und endgültig. Nachdem dies geschehen, streckte sie ihm lang die Zunge heraus und verließ das Zimmer.
Er blieb zurück mit seinem Entschluß, der gefaßt war. Er wollte sie besitzen, sie wollte, daß er sie besaß. Obwohl aber die beiden Zimmer nebeneinander lagen, kam der Vollzug nicht von selbst, bei weitem nicht. Die Kühnheit des Siebzehnjährigen reichte nicht bis an sein Verlangen, im Gegenteil hemmte ihn sein übermächtiger Wunsch. Er faßte das Hindernis von einer anderen Seite: er verkaufte seine Schulbücher. Von ungefähr begründete er es damit, daß er doch nie studieren werde; es war noch nicht seine Überzeugung, nur die vorläufige Ausrede, die er brauchte, eine Geste, als bräche er Brücken ab.
Die Händlerin kam, sie war eine beleibte, nicht übel erhaltene Figur, das ungepflegte Gesicht faltig, aber lüstern. Haarfransen hatte auch sie. Statt des »Goldfuchses«, den sie für seine Habe bot, nahm er sie selbst, und sie war es zufrieden, doppelt sogar, da sie mit ihrem geretteten Geld wieder abzog. Jetzt, merkwürdigerweise, störte ihn nichts mehr in seinem Vorhaben.
Nur gedulden mußte er sich, bis im Haus alles still war. Da präsentierte er sich heftig und tatbereit, mit Schwung und Sprung, übrigens ohne eine Faser von Bekleidung, seiner Kusine. Sie saß, gleichfalls entblößt, vor ihrer Toilette. Sie streckte ihm diesmal nicht die Zunge heraus, das nicht; sie erschrak sogar, wenn auch mit Anstand. Sie konnte erschrocken sein, weil das vergebens Erwartete endlich doch eintritt. Er, blind von seiner Wut, sah nicht sie, nicht was sie taten, und so verbanden sie sich.
Sie empfing ihn jeden Abend, eine Woche lang. Beim achten Wiedersehen sagte sie: »Jetzt etwas anderes.« An ihm wäre hier das Erschrecken gewesen; aber er wußte sich sicher, zu genau fühlte er: Alice ist mein. Das ganze Leben mit Alice. Er hatte es das erste Mal noch nicht erkannt, beim achten mußte er gar nicht nachdenken. Unversehens lag sie nicht mehr die hingebreitete Schönheit und immer nehmende, gewährende Liebe, die sie für ihn war. Hochgestützt, die ziselierten Finger an der bläulichen Schläfe, forderte sie ihn auf, mit ihr zu überlegen.
Die Zukunft natürlich, denn wir leben nicht für eine Woche, und wäre es die seligste. »Ich meine« – ihre Aussprache war »iesch«, eine mädchenhafte Geziertheit –, »iesch bin offenherzig.« Hierbei lachte sie. Das Wort »offenherzig« wurde in bürgerlicher Gesellschaft verübelt, es konnte auf einen freigelegten Busen anspielen. In ihrer gegenwärtigen Haltung, mit ihrem Herzen über ihm, versenkt in seines, und er dem ihren ergeben auf immer –: beide lachten. Dann folgte das Überlegen.
Es bestand darin, daß sie ihm ihren Willen eröffnete. Er studierte nicht, das war vorbei. Nach bestandener Abgangsprüfung – aber was konnte ihm die Schule noch nützen –, trat er alsbald in das väterliche Geschäft. Mit seiner Bildung und Tüchtigkeit genügten ihm wenige Monate bis zur Erreichung eines Gehaltes, von dem sie beide leben konnten. Sie heirateten noch dieses Jahr. Er hörte dies wie eine Offenbarung, obwohl er dasselbe als Vorsatz und Möglichkeit selbst schon erwogen hatte. Hier war es ein Wille, ihr Wille, er betete ihn an, weil er die Frau anbetete. Jeder ihrer weiteren Sätze kehrte Schwierigkeiten weg, zuletzt wunderte es ihn, daß etwas im Weg gewesen sein sollte.
Sie sagte, tiefer auf seinen Körper geglitten, ihre Wimpern kitzelten sein Gesicht: »Zusammen sind wir die Stärkeren. Dich verstoßen oder nach Amerika schicken kommt nicht in Frage. Deine Mutter ist schüchtern aus Wohlanständigkeit. Du weißt; ich bin nicht anständig«, sprach sie ruhig. »Daher sehe ich die Dinge, wie sie sind. Dein Vater wird seine Pläne aufgeben, nachdem er uns etwas gedroht hat. Sein Sohn wird nicht Minister werden, aber Nachfolger in seinem Geschäft. Er wird noch froh sein, dich hineinzunehmen.«
Der Junge unterbrach sie nur, um einzustimmen. »Erst recht, da ich jung genug bin – minderjährig sogar, und dürfte gar nicht heiraten. Aber mein Vater hat Einfluß, er ist nicht reich, nur sehr wohlhabend.« Hier stimmte sie wieder ein: »Das habe ich dich selbst sagen lassen. Deine Minderjährigkeit wird uns nicht stören. Seine Wohlhabenheit haben wir nötig, ja, sie ist unsere Bedingung.«
Nunmehr lag sie vollends auf ihm und sprach ihm von dem, was zuletzt kommt: Geständnisse, die nur gewährt werden, wenn die Liebe erprobt und ein für alle Male gegeben ist. Sie nannte mit Namen den Vorsprung, den ihr Alter ihr sicherte: sieben Jahre mehr als er, – und er hatte wohl nicht bedacht, welche Erfahrungen in diesen sieben Jahren ein Mädchen erwirbt? Die Enttäuschungen, die sie sammelt? Ihre Einblicke und die Entschlüsse, zu denen sie gelangt?
Sie war natürlich geküßt worden, in einem oder zwei Fällen noch etwas mehr als das; der ernsteste Bewerber war ein verheirateter Mann. Man läßt sich nicht scheiden, das ist kein Anfang. Übrigens war die Auswahl hier in L. gering und allbekannt; sie konkurrierte mit allen Mädchen ihres Jahrgangs, bei derselben begrenzten Zahl von Direktoren, Agenten, Firmeninhabern gesetzten Alters. Keiner hatte den Mut oder Geist, über die im Leben erreichte Stufe hinaus zu gehen. Einen Mann ertragen, wenn er bis in die Verkalkung hinein zu bleiben gedenkt, was er vorher schon gewesen war? Danke.
Hier folgten die Worte, die man nicht vergißt, und würde man hundert Jahre alt. »Dich habe ich gewählt und gewollt, weil du mich liebst wie nur ein Jüngerer, wie gerade nur du, und weil die Liebe auf Ideen bringt. Auch in Gefahren, hör' ich. Du, mein lieber Junge, stößt um meinetwillen deinen Stundenplan um, das heißt etwas. Du sollst ein ganz anderer sein als vorgesehen, nun, das macht stark, es führt hoch hinaus, oder man läßt es. Du liebst mich, um ein großer Mann zu werden: Glaube mir, beinah in dieser Absicht bist du mein. Ich – in dem zarten Jüngling, nicht zu zart bekanntlich, liebe ich im voraus den großen Mann. Sei ruhig, ich liebe auch den zarten Jüngling.«
Kuß, und in nächtlicher Stille der geraunte Rest: »Dein Vater ist sehr wohlhabend, auch das muß sein. Nicht um uns auszuruhen. Aber der reichste Kaufmann, weiterhin als nur hierorts, könntest du ohne eine gesunde Grundlage nicht werden. Unsere geradezu meisterhafte Leidenschaft, füreinander täte manches, nur zu langsam. Du siehst, alles muß zusammentreffen: so glücklich sind wir.«
Sie kamen von selbst dahin überein, daß morgen, Sonntag, »die Bombe platzen solle«. Beim Nachmittagskaffee war die Familie ohnehin versammelt, man ersparte die Einberufung eines Familienrates, der unvermeidlich schien bei so widergesetzlichen, wenn nicht widernatürlichen Vorgängen. Ihre Berechnung erwies sich richtig. Die erste Reaktion der Versammlung, Eltern, Tante, Onkel, Großmutter, war Geschlagenheit. Alle wurden auf ihren Stühlen kleiner, als stellte sich bei den jungen Leuten eine giftige Krankheit heraus, – noch schlimmer, sie hätten sich einer Verbrechergesellschaft angeschlossen.
Im Vordergrund, dem ganzen Halbkreis vollauf sichtbar, stand das entartete Paar, zwei Hände fest ineinander, jeder auf jedem die Augen treu und unverwandt. Der Vater versäumte zu verbieten, was er fertig vor sich sah. Die Mutter flüsterte ratlos über seine Schulter, die sie umklammerte. Die Tante ließ vernehmen: »Die alte Person – das Kind!« Dem Onkel fiel das »rauhe Haus« ein, wo man abgeschweifte Knaben auf den rechten Weg zurückbrachte. Indessen setzte er selbst hinzu: »Sie sollen dort gänzlich verdorben werden.«
Der Vater, ein Mann von Welt und von Humor, lachte unvermittelt auf. »Das rauhe Haus! Er kann die Zöglinge in Latein unterrichten.« Die Mutter unternahm ihren solange aufgeschobenen Versuch: sie fand sich selbst fehlerhaft, wenn sie laut vorging gegen eine wahre Wirrnis von Unstatthaftem. »Ihr werdet freiwillig zur Einsicht gelangen«, sagte sie nur, obwohl ihr gewesen war, als werde sie länger reden.
Das Beispiel seiner Frau erinnerte den Vater an seine Pflicht. So erhob er sich denn und sprach: »Erstens ist euer Altersabstand natürlich unpassend, damit ich nicht sage: anstößig. Er beträgt nicht sieben Jahre, sondern vierzehn, die du mehr haben müßtest, mein Lieber. Ferner bist du auf eine Karriere vorbereitet und wärest fahnenflüchtig. Ein Überläufer taugt auch im Kaufmannsstande nichts. Du weißt schon zu viel aus abgelegenen Gebieten, du würdest scheitern. Es bleibt dabei: Du beziehst die Universität. Das genügt.« – Er schloß sogar gütig: »Wir brauchen einander.«
Trotzdem enthielt das Schlußwort die Drohung, auf die beide Schuldigen sich gefaßt gemacht hatten. Sie waren sofort einig. Der Junge berichtete heftig: »Meine Bücher habe ich verkauft.« Dem Onkel wurde die Antwort überlassen. »Man kauft andere«, murmelte er. Jetzt Alice, mit ganz klarer Stimme und einem Blick über den Halbkreis hin: »Wir haben ein Verhältnis.« Der Vater setzte sich wieder. Die Tante behauptete: »Es war ihnen anzusehen.«
Dennoch zeigten alle sich zerschmettert wie bei der ersten Ankündigung des Unheils, diesmal aber endgültig. Die Großmutter, eine fromme Dame, wollte das Äußerste nicht gehört haben, ihr herzlicher Vermittlungsvorschlag ging darauf nicht ein. Der junge Mensch prüfte sich ein Jahr lang unter fleißigem Studieren. Das Mädchen inzwischen wartete ab, ob ihre Gefühle die nächste Ballsaison überstanden. Dieser wohlgemeinte Unsinn, den die Großmutter selbst wohl schwerlich ernst nahm, fiel einfach zu Boden.
Während die ganze Gesellschaft am Ende ihres guten Rates war, wußten nur die Liebenden, was zu tun sei. Sie umschlangen einander, und sie küßten keinen dezenten Kuß von Verlobten, zum Besten einer andächtigen Familie. Sie küßten wie im Schlafzimmer.
Ohne einen anderen Aufschub als den von der Minderjährigkeit des Bräutigams verursachten, wurden sie verheiratet: Die Tatsache ihrer ohnedies vollzogenen Verbindung hatte dies bewirkt. Zu sagen, daß sie glücklich waren, genügt nicht. Sie triumphierten. Sein schneller Erfolg im Geschäft war der ihre: dies verdoppelte ihn. Er hatte wirklich Ideen und hatte sie wirklich, weil er liebte, Alice liebte, und sie ihn – jede Stunde und Minute, die nicht dem Geschäft gehörte.
Im Zweifel zwischen Liebesstunde und Geschäftsstunde siegte immer das Geschäft. Die Kraft, vernünftig zu handeln, war ein Ergebnis seiner Leidenschaft. Wahrscheinlich brachte er die diplomatischen Talente eines neuartigen Geschäftemachers schon mit. Ohne Alice und seine Liebe hätte er sie weder entdeckt noch entwickelt. Seine einzige Leidenschaft war sie, war ihr Ehrgeiz, reich zu sein, ihn groß zu sehen. Seinen unwandelbaren Sinn für ihren Körper, ihr Gesicht unterschied er keinen Augenblick von seiner Aufgabe, Vorrang und Macht zu erwerben.
Sie blieben die langen Jahre vereint ihren Gliedern, ihrem Atem, so vollkommen, wie damals in der heimlich seligen Woche, als er ein Schüler gewesen und sie die entschlossene Person, die ihn sich aufsucht. Ihr eingefleischtes Interesse aneinander verstärkte sich immerfort durch den Nutzen, den es brachte. Sie war ihm treu.
Übrigens alterte sie nicht, bei so viel Liebe. Indessen hielt sie sich gegenwärtig, daß er der jüngere und viel begehrt war. Bei den ehelichen Sicherungen der Fürstin Pauline Metternich ließ sie es nicht bewenden. Diese Botschafterin entwendete jeden Morgen ihrem Gatten die Bereitschaft für die Künste der Frauen am Hof der Kaiserin Eugénie.
Alice ging die Gefahr nicht ein, daß ihr einziger Mann im Lauf des Tages dennoch Stimmung sammelte, um Verführungen entgegenzukommen. Sie setzte durch und er selbst erreichte, daß jede andere ein mehr oder weniger angenehmes Gebilde ohne betontes Geschlecht war: einzig für Alice entflammte er, und dies bei jedem Wiedersehen.
Natürlich veränderte sich mit fünfzig Jahren ihre Linie, er fand sie nur schöner. Ihn erhielt die Frau jung, da auch sie es mit allen Sinnen war. Ihr Schritt wurde schwerer, er aber erbebte, sooft beim gemeinsamen Betreten einer Gesellschaft ihr Schenkel sich senkte den seinen entlang. Er hätte ihre vorgestreckte Stumpfnase küssen wollen, als Herausforderung all der aufmerksamen Augen, die dem Auftreten des Paares beiwohnten. Sie hätten einander so wenig dezent geküßt, wie einst vor dem Halbkreis der entgeisterten Familie.
Damit man anschaulich erkenne, wer am Arm des reichsten Herrn daherkam, behängte er sie mit fabelhaften Kleinodien. Sie wußte Bescheid und trug die Pracht, die sie beide kleidete, nach Verdienst, wie Generäle ihre fünfzig Orden, worüber auch niemand lacht. Ihre Kleider und Mäntel waren Modelle, einzige Exemplare: die Männer, außer dem ihren, bemerken das nicht. Die Frauen – das ist etwas anderes. Sie machen sich beim Anblick ihrer Gestalt und ihrer Bewegung, sonst nichts, Gedanken, die nie erklärt werden.
Alice stieg aus einem ihrer Wagen, sie war an der Stelle grell beleuchtet. Eine Unbekannte, die vorüber wollte und aufgehalten wurde, wahrscheinlich neigte sie ohnedies zur Entrüstung, sagte hörbar: »Das triumphierende Laster!« Alice sah nicht hin. Das Sonderbare: daß sie sich auch nicht wunderte.
Dies war 1913, das Jahr vor dem Krieg, für die Gemüter schon ein Kriegsjahr. Manche, um nicht zu sagen die meisten, hatten irgend etwas gründlich satt, es zu beschreiben, war ihnen nicht gegeben. Sie rochen Fäulnis, die Geruchshalluzinationen aber sind dauerhaft, sind sehr lästig; um sie zu vertreiben, willigt man in das Unwahrscheinliche. Der Krieg versprach eine Erfrischung, er sollte reinigen – sowohl die Luft als auch die Phantasie, da er die Wirklichkeit stark untermalt – high colored, mit einem wenngleich feindlichen Ausdruck –, und da er endlich allein ehrenhaft die Tat macht.
Ein Geschäftsmann, der den Eisenhandel monopolisiert hat und seinen Erfolg in Gestalt einer anspruchsvollen Gattin mit sich umherführt, oh: er war nicht auf einmal im Preis gesunken, Geld bleibt Geld. Früher als er entwertete sich seine Legende. Mit siebzehn Jahren, wie bekannt, hatte er den Grund seines riesigen Vermögens gelegt. Heute bekam er als Gegenspieler siebzehnjährige Helden. Wenige Monate, sie brachen auf, sie siegten, starben, machten sich unsterblich. Der Erwerb ist nichts Unsterbliches, die Frage erhebt sich vielmehr, ob ihm nicht Grenzen gesetzt sein sollen. Für gewisse Fälle errichtet sie der Krieg.
Der erste Eisenhändler der Welt hatte, noch zu der Zeit seines Vaters, damit angefangen, daß er, einen nach dem anderen, alle Abnehmer des schwedischen Eisens verdrängte. In welche Länder es immer geleitet wurde, unfehlbar nahm es den Weg über seine Bücher, seine Frachtschiffe. Seine langfristigen Verträge hätten nach festem Gesetz und Recht keine Wendung des Geschickes erlaubt: man nennt es Bruch, es wäre strafbar, die Gerichte jedes Landes verfügten den Erlag von Entschädigungen, die nicht auszurechnen wären, aber der Anspruch aus den Verträgen bestände fort.
Dies die strengen Sitten eines Zeitalters, das sich indessen selbst veruntreute, da es Krieg machte. Der Monopolinhaber stand damals vereinzelt wie sein Geschäft. Sein Vater war ausgetreten, als der Sohn es auf die nie geahnte Höhe gebracht hatte, und gestorben war er, als der Nachfolger in sein fünftes Jahrzehnt trat. Die Mutter, der neuen Stellung des Hauses nicht gewachsen, zog sich in eine Waldeinsamkeit zurück. Ihr Sohn besuchte sie, bis sie unter dem Waldesboden ausruhte, und auch dann noch.
Er nahm einen Juniorpartner auf: kein Geschäftsmann, ein Adliger von gutem Aussehen. Sein vornehm eingeschätzter Teil war das Auftreten, die Empfänge von Gästen, die nur distinguiert waren, die Repräsentation bei Versammlungen und auf Reisen, wo flüchtige Sachkenntnis genügte. Plötzlich überschritt er seine Kompetenzen: der unerfahrene Zugelassene wies den Chef offen darauf hin, daß die Lieferungen an das feindliche Ausland aufhören müßten.
Er wußte es. Er hatte vorerst eine kurze Pause eingelegt; Stockung und Verwirrung des Verkehrs machte sie anfangs unvermeidlich. Inzwischen überlegte er mit seiner Frau: er hatte allein sie. Sie hatten einander, wie nur ein Mensch den anderen, von allem Besitz der gründlichste. Noch immer verständigten sie sich in liegender Stellung. Der Unterschied gegen früher: sie waren für die Nacht bekleidet und beide locker aufgestützt: es sollte sich erst entscheiden wozu. Ihr Gespräch konnte in eine Umarmung oder in eine Meinungsverschiedenheit übergehen.
Nun hatte das Leben lang dieselbe Anschauung, ein niemals abgewichenes Interesse sie bestimmt. Wenn sie es sich sogar vorgesetzt hätten, keiner der beiden war nachgerade noch stark genug zu widersprechen. Der Zweifel und Warnungen wenig gewohnt, ließen sie sich ungern darauf ein, von dem Selbstbewußtsein des anderen, und vom eigenen, etwas abzuhandeln. Gewiß waren sie überzeugt, daß Deutschland siegen müsse und auch werde: sonst entfiel das Eisenmonopol und alles andere stürzte mit ein.
Beiseite bemerkten sie, daß die einzelnen Sterbefälle, mochte man im Schützengraben noch so zahlreich fallen, vorübergehend zu hoch bewertet würden – ganz natürlich unter den neu geschaffenen Umständen. Für weitere Sicht wog der Bestand des internationalen Eisenmondpols eine Armee auf. Es dahingehen unter dem Vorwand eines mittelmäßigen Patriotismus und einer unechten Gesetzlichkeit wäre mehr als ein Verbrechen, es wäre ein Fehler gewesen.
»Erfüllen wir wirklich nicht mehr unsere klaren Verträge«, sagte Alice, »die Schweden werden keinen Grund sehen, den Schaden zu tragen. Wenn auch ohne unser Zutun, die Feinde bekommen todsicher das Eisen, das sie brauchen; und heute brauchen sie mehr, benötigen es dringender als in all unserer Zeit. Es ist etwas viel verlangt, daß wir uns aus dem Geschäft zurückziehen sollen genau beim Einsetzen der großen Konjunktur, die eigentlich unser Werk ist. Unser fünfundzwanzigjähriges Werk«, wiederholte sie und ließ von ihrer aufgestützten Haltung etwas nach, ihr Schlafanzug öffnete sich.
»Nicht nur das Eisen ist auf der Höhe«, erwiderte er. »Du bist herrlicher als je.« Er küßte. Sie liebten. Der einige Beschluß im Geschäftlichen war gefaßt. Die Schiffe, mit Eisen beladen, fuhren unter neutraler Flagge, ohne deutsche Häfen zu berühren, nach den Empfangsstationen der Kriegsgegner. Diese verfertigten mit einer Hilfe, die niemandem unerwartet kam, die besten Waffen gegen ihren gemeinsamen Feind. Das ging gut, – obwohl gemunkelt wurde und die Behörden aufmerkten –, bis einer der Kapitäne dennoch hierorts anlegte: zuerst behauptete er, wegen eines Maschinendefektes.
Dann kam er darauf, seine Sache zu verbessern durch die Heranziehung seines vaterländischen Gewissens. Ein verhängnisvolles Wort: einmal in Umlauf gesetzt, verkehrte es die Meinung der Kaufleute und der Ämter ins Unerbittliche. Bis dahin hatten sie widerstrebend noch zugegeben, daß ein verdienter Mann das Recht auf zeitgemäße Maximalverdienste besaß. Zwei Rechtsauffassungen, die alt anerkannte und die neue des Krieges, standen einander entgegen. Solang möglich, war davon abgesehen worden.
Man bedenke, was alles einbegriffen ist in die unbeschränkte Bereicherung eines einzelnen, wie hier. Zahllose Existenzen hingen an seiner, das wirtschaftliche Gleichgewicht einer Stadt, ja, des Landes, waren, schwer unterscheidbar von dem seinen, gesichert oder bedroht. Beziehungen von allgemeiner Bedeutung schützten ihn. Das wußte er selbst am besten und hatte darauf vertraut – auf alle seine Vorteile, um einen Augenblick zu lange. Versäumt hatte er dennoch nichts. Keine vernünftige Frist, denn sie war nicht gestellt gewesen.
»Apfelsinenschalen, über die man ausgleitet«, erklärte er seiner Frau, »liegen niemals da, wenn man hinsieht. Dieser Kapitän mußte nicht notwendig ein dunkler Ehrenmann sein. Wir haben uns nichts vorzuwerfen.« Er wollte vor allem, daß Alice sich nichts vorwürfe. Seine eigene Schuld – nach Nietzsche die Bezeichnung für etwas schief Gegangenes – war ihm bewußt.
Seine Verhaftung war schon in aller Mund, als er darüber noch, die Achseln zuckte. Indessen besprach er mit seiner Frau, wie sie, gesetzt, er wäre einmal abwesend, sich zu verhalten habe. Es schien, daß man ihm gerade hierfür noch die Muße ließ: dann wurde er wirklich verhaftet.
Es lag nicht im Sinn ihrer Beziehungen von jeher, daß sie weinend in das Gefängnis lief. Im Zweifel zwischen Liebesstunden und Geschäftsstunden hatte noch immer das Geschäft gesiegt. An ihrem Wohnort unternahm sie nichts, vergab sich nichts. Diese Leute mußten selbst entscheiden, ob sie eine Verurteilung ihres Gatten wagen wollten: schon daß er angeklagt war, stellte alle bloß, es setzte die Stadt herab.
Sie verreiste – ohnehin jetzt das Angenehmere; sie hielt sich an ihre Standesgenossen, die reichen Familien außerhalb. Sie wurde, wie sonst, von Ministern empfangen, privat natürlich. Einer war verheiratet mit einer ihrer Verehrerinnen, wenn nicht Verehrerin des Reichtums überhaupt. Alice wurde zum Diner geladen, hatte den gewohnten Erfolg, verändert erwies sich bisher nichts, obwohl ihr Mann in Untersuchungshaft saß. Man gab vor, den Irrtum zu belächeln: Widersinnigkeiten liefen einer zwar großen, aber auch verbiesterten Zeit natürlich mit unter. Soweit das Gesellschaftliche, es klappte.
Amtlich wurde ihr Hoffnung gegeben, die Verurteilung für nicht wünschenswert erklärt, aber außer Frage blieb eine Überschreitung der Zuständigkeiten. Sie sah durchaus: das Aufsehen, das ihre Angelegenheit machte, wuchs an sich selbst, aufzuhalten war es nicht. Allein ein Machtwort, das militärisch sein mußte, beendete den Skandal. So ließ sie denn den Juniorpartner nachkommen.
Wenn jemals, konnte er seine Daseinsberechtigung hier erhärten. Der Herr von historischer Abkunft und gutem Aussehen machte Eindruck überall, nur nicht bei den Befehlshabern, denen jetzt die Macht gehörte. Seine Vettern dritten Grades nannten ihn scherzweise »Koofmich«, ihre Ansicht der Sache klang deutlich mit. Ein hochgestellter Onkel sprach endlich das Wort, das gemeint war: Vaterlandsverrat.
Damit schien die Aufgabe dieses Mitgliedes der Firma gescheitert, wenigstens hielt er sie dafür. Allerdings fehlten in dem Gesamtbild gerade die Personen, die ihr eigenes Verhalten dem Beschuldigten – nicht annäherte, wer wird das zugeben. Immerhin wären die Generäle und Ministerialdirektoren, die um des Mammons willen ihre früheren Büros mit denen der Schwerindustrie vertauscht hatten, die geeigneten Vermittler gewesen. Es lag zu nahe, um erwähnt zu werden. Wenn ihr Gehilfe keinen Anlaß nahm, schwieg auch Alice davon.
Sie hielt nur noch Besprechungen mit dem berühmtesten Verteidiger, einem Champion der mitreißenden Beredsamkeit, überführte Mörder gingen aus seinen Händen rein hervor. Sie reiste; am Vorabend der gerichtlichen Verhandlung war sie zur Stelle. Der Landgerichtspräsident wartete nicht, bis sie ihn aufsuchte; er kam selbst.
In leichter, gesellschaftlicher Form, die ein Richter als Mann von Welt einfach mitmachen mußte, erwirkte sie die Erlaubnis, ihren Gatten bis in den Sitzungssaal zu begleiten. Das Gespräch gab ihr Gelegenheit, Namen auszusprechen: die Personen von Rang, die nicht das geschäftliche Verhalten des Angeklagten, wohl aber das Verfahren gegen ihn für staatsgefährlich erachteten. Der Richter stutzte, obwohl eine Stirnader ihm anschwoll.
Als sie ihren – sichtlich gealterten – Mann im Gefängnis abholte, war das erste, was vorging, eine leidenschaftliche Zärtlichkeit: beide ließen sich überwältigen, ungeachtet des Beiseins der Beamten. Um so kühler besprachen sie alsdann den bevorstehenden Tag – ein Tag wie andere, mit den gewöhnlichen geteilten Ansichten, nur daß die besseren die wahrscheinlichen waren, gemäß Regeln und Erfahrung.
Wie sie übrigens, jeder für eigene Rechnung, wirklich denken mochten, die Beweisaufnahme als erste Prozedur des Gerichtshofes verdarb bestimmt nichts. Die Tatsachen waren nachgerade bekannt, sie waren abgeleiert. Jeder im Haus glaubte der Einzelheiten mehr zu wissen als die Akten enthielten. Der Kapitän mit seinen belastenden Aussagen erregte bei dem Publikum entschiedenen Widerwillen. Zuerst sich bezahlen lassen, dann denunzieren, zum Schaden eines Gemeinwesens, ja, mit Folgen, die noch offen blieben.
Der Angeklagte und seine Frau, zwei Schritte vor ihm am Rand einer Bank, verständigten sich mit den Augen über die Eindrücke, die auch das Gericht empfing. Unlust an der Sache war das geringste, was sich ablesen ließ. Schon entstand die Frage, warum es zu dem Prozeß gekommen war. Derselben Stimmung, seiner eigenen, paßte der Vertreter der Anklage seine Forderungen an. Für den Fall, daß auf eine Freiheitsstrafe verzichtet wurde – dem Staatsanwalt hätte es keinen Kummer bereitet –, beantragte er eine Buße in barem Geld, so ungeheuer hoch, daß jeder erschrak – bis man sich erinnerte, wer den Monsterbetrag zahlen sollte: da wurde still gelächelt.
Der berühmte Verteidiger beging den Fehler, daß er nicht einmal heut und hier von seiner Berühmtheit absah. Er mußte sich nur klein machen und hatte schon gewonnen. Statt dessen ritt er die Hohe Schule, warf die Reitpeitsche in die Luft und grüßte mit dem Zylinderhut – was noch harmlos gewesen wäre. Aber er bestand auf der unverantwortlichen Haltung des Staates gegen Wirtschaft und Nation. Er geißelte den Mißbrauch des Krieges als eines Vorwandes, um die Autorität zu übertreiben.
Obwohl persönlich nichts weniger als revolutionär, ging er bis an die Grenze, wo der Krieg nicht mehr mit nebensächlichen Nachteilen belastet, sondern um seiner selbst willen verworfen wird. »Der Übermut der Ämter« ist von Shakespeare, ein Gericht aber erträgt keine Maßregelung durch Dichterworte. Den Verteidiger mußte an dem Tage seine erprobte Weitläufigkeit verlassen haben, oder hielt er den Fall für entschieden und erlaubte sich, ins Leere hinein zu glänzen? Da er mehrfach sein Gesicht abzuwischen hatte und seine Augen bald nach der Decke himmelten, bald eingedrückt wurden, entging ihm seine Wirkung: sie war beklagenswert.
Der Beifall, den seine Kunst natürlich errang, veranlaßte den Vorsitzenden einzuschreiten. Die Replik des Staatsanwaltes nötigte jeden Hörer, auf gründlich berichtigte Auffassungen zu schließen. Nicht mehr um den bekannten Konflikt ging es – hier hohe, eigentlich geheiligte Interessen, hier ein Verbot, das nicht der Nation, wohl aber anderen nützte. Nein, die Nation war verletzt in der vornehmsten ihrer sittlichen Betätigungen: das ist der Krieg. Verletzt hatte sie der Angeklagte, nach dem eigenen Geständnis seines Verteidigers.
Während das Gericht beriet, begleitete seine Frau den so gut wie Verurteilten in das vorbehaltene Zimmer. Sie sprachen nicht. Der Verteidiger sprach und bekam keine Antwort.
Alice erhielt an den folgenden Tagen der Beweise genug, daß die Verurteilung ihres Mannes mißbilligt wurde. Die gute Gesellschaft nannte sie barbarisch, vernunftwidrig, eine Niederlage der deutschen Sache: staatliche, ja, auch militärische Stellen äußerten sich wenig anders. Bei ihren Besuchen im Gefängnis erfuhr ihr Mann von ihr noch einmal, was ihm auch sonst zugetragen war. Etwas Neues gab es nicht. Dies machte, zum erstenmal im Leben, ihr Zusammensein unfruchtbar.
Keinem vorigen hatte die volle Vertraulichkeit gefehlt: nicht die körperliche allein verstand sich von selbst, immer auch ein Projekt, das nur sie beide kannten. Hier gab es, unerhörterweise, nichts zu beraten, nichts zu tun. Den Kaiser um Begnadigung angehen, nun ja. Aber gerade der Kaiser war gehalten, den Krieg hoch zu achten, mit allen Opfern, die er forderte: von den Armen das Leben, von den Reichen den Verzicht auf gewisse Arten des Gewinnes.
Der höchste Herr erriet, daß man sich lieber drückt, sowohl vom Sterben wie vom Geldverlust. Im Gegenteil verzeichneten das Leben und der Profit eine merkliche Zunahme an unwiderstehlichem Reiz. Worauf es ankam: nicht ertappt zu werden. Soweit war er damals nicht, wie zwanzig Jahre später, als ein Ministerpräsident und Marschall dasselbe schwedische Eisen einem Feinde, der spanischen Republik, verkaufte, und hatte es seinem selbst regierten Staat unterschlagen. Für dies und mehr dergleichen wurde er Reichsmarschall. Andererseits konnte er, derart in die Geschäfte eingeführt, den gesamteuropäischen Trust begründen. Einer seiner Vorgänger, bisher Inhaber des Eisenmonopols, erschlaffte in seiner tristen Einzelhaft, obwohl er Goethe las. Die Besuche seiner Frau begann er zu fürchten, während er sie doch herbeisehnte.
Bei jedem ungewöhnlichen Geräusch hinter der Tür seiner Zelle klopfte ihm das Herz, um nur müder zu schlagen, wenn nichts erfolgte. Er war unterrichtet, daß ihr allmählich seltener erlaubt wurde, ihn zu sehen. Aber äußere Schwierigkeiten beseitigten keineswegs die selbst verantworteten – weder seine noch ihre.
Es stand derart, daß beide einander leidenschaftlich umklammert hätten mit allen ihren Gliedern, sobald ein Umschwung der Dinge stattfand. Je weiter aber der Coup de théâtre, an den sie ohnedies nie geglaubt hatten, ihren Blicken entschwand, um so peinlicher wurden ihnen die Begegnungen, entfremdet der Leidenschaft, wie sie sein mußten. Dies nicht nur, weil für Aufwallungen kein Raum, noch mehr, weil sie ungefühlt waren.
Im Einklang mit ihr – und mit der Außenwelt – bemerkte der Gefangene, daß sein Geschick sich eingliederte unter die landläufigen, zeitgemäßen. Es hörte auf, ihn auszuzeichnen, weder im Sinn der Entrüstung, noch des befriedigten Neides. Sein Geschäft war ruiniert, alle Beteiligten hatten sich umzustellen: nur natürlich, daß sie auch hinsichtlich seiner Person anders disponierten. Er war kein Gegenstand mehr, wurde voraussichtlich nie wieder ein Gegenstand ihrer Anhänglichkeit und Furcht. Der Tag erschien, als die Ehegatten sich aussprachen über die wirkliche Wahrheit. Sie war durchaus neu, das erste Neue, das sie seit der Katastrophe einander zu bieten hatten.
Alice begann »Mein Lieber, wir sind Realisten«, – was er bestätigte, mit einem angstvollen Vorgefühl; aber so weit wie die wirkliche Wahrheit gingen seine Ahnungen denn doch nicht. Sie stellte fest, daß seine internationalen Verträge unwirksam geworden waren – infolge höherer Umstände, ohne sein Verschulden, aber so gut wie aufgelöst. Andere hatten die Lieferungen übernommen, Ausländer, die gegebenenfalls bei den Gerichten im Vorteil waren. Es wäre denn, daß die deutschen Heere zuletzt noch im Triumph den Sieg davontrügen. Danach sah es immer weniger aus.
Er war einverstanden: danach sah es nicht aus. Ob man es bedauern sollte? Sogenannte Vaterlandsverräter wie er selbst wurden am ehesten durch die Niederlage und den Umsturz in Freiheit gesetzt. Alice gab es freudig zu. Wenn es soweit wäre! Eine oder zwei Minuten raunten die beiden Angehörigen der herrschenden Klasse, mit Blicken nach der Tür, staatsgefährliche Wünsche.
Indessen waren es fromme Wünsche. Bis jetzt war Krieg. Von dem überführten Verräter kauften weder Deutschland noch seine Verbündeten das Eisen, das ihn abzunehmen ihre verbürgte Pflicht gewesen wäre. Die Firma erfüllte beständig ihre Verbindlichkeiten in Schweden, das unabsehbare Eisen häufte sich an. Ein Teil mußte mit Verlust abgegeben werden an neutrale Händler. Es bildete immer noch einen Schatz ohne Ende – wenn der Krieg erst aus und Deutschland geschlagen war. Bis zu diesem Zeitpunkt war es eine Last: das Haus trug an ihr schwerer und schwerer. Sein verhinderter Chef zog selbst das Ergebnis: »Ich sitze hier, bis ich in aller Stille ein armer Mann geworden bin.«
Zwei Minuten eines unheilschwangeren Schweigens. Die Augen der Gatten streiften einander, sie hafteten nicht. Die Ahnungen des Mannes gewannen während der Pause an Inhalt. Sie waren furchtbar konkret geworden, als Alice ihr Wort sprach: »Du mußt das Geschäft abtreten.« – »An meinen Juniorpartner«, vollendete er. »Zum Schein« – dies holte er versuchsweise nach. Sie belehrte ihn, obwohl es kaum nötig war, daß eine fiktive Übertragung sich verbiete: sie war genau informiert. Was aber dann? Ebensogut, wollte er meinen, war ein geduldiges Abwarten des Endes.
Er gab sich überzeugt, während er doch wußte: so deicht resignieren wir nicht. Am wenigsten sie, und sie hat zu verfügen. Ich – für wieviel zähle ich noch? Das sollte er jetzt erfahren. Sie sagte, daß sie seine Gefährtin sei und niemand lieben werde als nur ihn. Sie sprach es im Ton einer geschäftlichen Erörterung. Er hatte genug. Das übrige nahm er ihr aus dem Mund – um ihretwillen. Sie sollte nicht genötigt sein, es auszusprechen.
»Unser Freund wird Alleininhaber der Firma, unter der Bedingung, daß er dich heiratet. Deutschland und der Balkan kaufen wieder, du bleibst die Frau, die du bist. Bemerke wohl, daß ich es will. Dir in den Weg treten, nie. Aber es gibt einen anderen, du wirst meinen Vorschlag in Betracht ziehen, wie ich den deinen. Ich habe im Ausland beträchtliche Guthaben. Wir sind nach Abtretung der Firma persönlich noch immer reich genug, um unsere Stellung – deine Stellung – zu behaupten.«
»Du vergißt deine eigene Lage«, erwiderte sie schonend und traurig. »Meine Stellung, solange mein Mann hier sitzen muß?« – »Nicht lange«, – zum ersten Male bat er, seine Stimme wurde flehentlich. »Vielleicht nicht einmal für die Dauer des Krieges. Wegen meiner guten Führung – und aus anderen Gründen, werden mir Hoffnungen auf Abkürzung der Strafe gemacht.« – »Sehr möglich«, sagte sie immer schonend, »aber wir wissen es nicht. Inzwischen werden wir älter.«
Er verstand: sie selbst alterte. Sie hatte um sieben Jahre mehr. Sie fürchtete das Alter. Hier sah er sie voll an, ein langer Blick, berauscht von Liebe – dermaßen, daß sie aufweinte. »Du bist schöner als je«, – er atmete stark. »Schöner als in unserer besten Zeit, und sie war nicht die beste. Ich verspreche dir mehr. Denn ich begehre dich mehr.«
»Dich liebe ich. Dich allein werde ich immer lieben.« Sie stöhnte wie er. Wo blieb die geschäftliche Erörterung und ihr Ton? Im Zweifel zwischen Geschäft und Liebe, siegte die Liebe. Alice sank an seine hingebreitete Brust. Nach ihrer Vereinigung trennten sie sich, um nie einander wiederzusehen.
Statt ihrer betrat seine Zelle ihr Arzt, um ihm mitzuteilen, daß sein Juniorpartner ein kranker Mann sei. Ein Herzklappenfehler, die herrschenden Umstände machten ihn schneller kritisch als er sonst wohl gewesen wäre. Frage: »Wie lange?« Antwort: »Sie werden ihn bei Ihrer Rückkehr kaum noch vorfinden.« Hiernach verging dem Gefangenen jeder Zweifel – nicht gerade an dem Gesundheitsbefund des gutaussehenden Herrn. Nur was Alice beschlossen hatte, war im reinen. Nach dem pünktlichen Abgang ihres zweiten Gatten brachte sie ihrem ersten das gerettete Geschäft in eine neue Ehe mit.
Er begriff, daß sein Widerstand unnütz und daß er verderblich gewesen wäre. Er willigte in die Scheidung – die wegen gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung ausgesprochen wurde. Sie ließ bis zu ihrer Wiederverheiratung die Anstandsfrist vergehen, er wartete sie ab; erst als er sie auf der Hochzeitsreise wußte, erhängte er sich. »Aber die Liebe bringt in gewissen Jahren dem Geschäftsmann erst die wahren Gefahren«, wäre die Inschrift auf seinem Stein gewesen, aber sie hätte sich indiskret ausgenommen.
Als nicht der Herzkranke, sondern Alice ihm in Bälde folgte, hätte man über dies wirklich gebrochene Herz die Worte setzen können: »Aber die Liebe verführt die armen Frauen, immer blond zu bleiben, nie zu ergrauen.« Auch das unterblieb.
Die geistige Liebe ist eine Tatsache, so wolkig unfaßbar sie erscheint. Das süße Herz unseres gütigen Herrn Jesus wird angebetet, über die sehnsüchtige Vorstellung hinaus, mit einer Zärtlichkeit, die besitzt. Das Menschenherz, das diesem anderen schlägt, würde ohne seine immer gegenwärtige Hilfe stocken und vergehen.
Auch sterbliche Wesen, noch lebende sogar, haben, so unnahbar sie waren, vielen den Trost von Umarmungen geschenkt. Als Victor Hugo sich auf ein Inselchen im Ozean verbannt hatte, sind ihm Mengen von Seelen gefolgt, sie umgaben den Einsamen unsichtbar, schweigend, abhängiger als ein Hof seinen Herrscher. Eine gealterte Schönheit begann Goethe zu lesen.
Die großen, guten Bände hatten, soweit sie zurückdachte, in dem Bücherschrank ihres wohlhabenden Hauses gestanden. Als sie endlich die Lektüre vornahm, wohnte sie in Resten und Erinnerungen. Sie las aber nicht, wie sie früher wohl geliebt hatte: elle n'aimait que sa propre chair, heißt es. Nein, sie gab sich hin und dachte ihrer selbst nicht. Sie hat mit derselben Andacht die unverständliche Farbenlehre gelesen wie den leichtgeschürzten Anfang des »Meisters« und die erhabene »Novelle«. Worauf es ihr ankam: in fühlbarer Berührung zu bleiben mit dem Herrn ihres Sinnes – der noch andere beherrscht und begnadet, aber nicht wie sie.
Die geistig Verliebten sind stolz, sie wissen nicht wie sehr. Sie kennen die Eifersucht nicht, sie sind gesegnet. Wiedergeliebt zu werden, müssen sie nicht wünschen: sie tragen in sich Liebe und Gegenliebe. Mag ihr Auserwählter zu ihren Rivalen in Verhältnissen stehen – die sie gut sein lassen und nicht vergleichen. Das ihre ist unantastbar.
Eine zuletzt unerfüllbare Liebe überschattet jede greifbar wirkliche. Sie befruchtet, das Selbstgefühl, dergestalt, daß eine Persönlichkeit von Format, gerade sie, sich an ihre geistige Schwärmerei verlieren kann im ungeschicktesten Augenblick. Der Physiker Helmholtz, ein Gipfel des 19. Jahrhunderts, das an Gipfeln reich war, verspätete sich bei seiner Trauung. Befragt warum, sagte er: »Ich habe im Goethe gelesen.«
Das war keine Entschuldigung, es war ein Bekenntnis seines festlichen Zustandes. Aus ihm sprach das Glück, weil der geliebte Dichter ihm Ideen eingegeben hatte, schon oft, aber die besten heute. Ich weiß darum Bescheid, ich habe ähnliches, erfahren, dank meiner geistigen Liebe für Giacomo Puccini.
Nach viel sieht es nicht aus, was will da noch die Liebe? Ein Opernkomponist, zu seiner Zeit der beliebteste überall. Man schließt sich dem zahllosen Zug an, man teilt die wohllautende Leidenschaft, die letzte, eines Zeitalters, dem unter der Hand das meiste abhanden kommen sollte, seine Lebenstatsachen, seine Reaktionen auf geistige Vorkommnisse. Die Ahnung, daß bald für tiefe Schwärmereien keine Gelegenheit mehr sein werde, ließ mich vielleicht diese ergreifen.
Mir war nichts bewußt, als ich im November 1900, unvergeßliches Datum, auf der hinteren Plattform einer langsamen Pferdebahn von Florenz bergan nach Fiesole fuhr. Ich fuhr oder ging dort alle Tage, dieses Mal spielte am Weg ein Leierkasten. Damit keine Banalität fehlte, war es ein Leierkasten, der mich mit dem Maestro Puccini bekannt machte. Solange hatte ich weder von seiner Existenz erfahren noch die »Bohème« gehört.
Die wenigen Takte, die ein Wind mir zutrug, veranlaßten mich, von meinem Tram abzuspringen. Ich stand und ließ mich entzücken; die reizendste Akrobatin, die auf einem Teppich im Staub ihre lockeren Gliedmaßen vorgeführt hätte, wäre schwerlich imstande gewesen, mich so lange zu fesseln. Dies meine erste Begegnung mit einem vollkommenen Darsteller des leidenschaftlichen Lebensgefühls jener Tage: seinem Schmelz, Aufschwung, Todesverlangen.
Ich vernahm die große Arie des Rodolfo, Akt I, auf einer Landstraße. In Riva bei einem Weinwirt, noch weiß ich, daß er Marchetti hieß, spielte das Orchester zum erstenmal »Io moio desperato«, »Tosca« III. Als das Stück aus war, stand mein Nachbar, der Segretario communale, gleichzeitig mit mir auf den Füßen. Er, der mich noch nicht angesprochen hatte, sagte: »Questo è proprio divino.« Das war es, und der Ton des Mannes zeugte von einer schmerzlichen Begeisterung.
»Madame Butterfly« hörte ich avant la lettre, im Hause eines Florentiner Priesters von San Lorenzo. Die Oper war bisher nicht aufgeführt, jemand aber hatte die Partitur gelesen, er spielte auswendig, spielte lange: ich war sofort in dem Zustand einer vollkommenen Liebe, wie vorher auf der Landstraße und bei Marchetti. Alle diese lyrischen Bühnenwerke habe ich viele Jahre in den Theatern mancher Stadt gehört und gesehen: sie auch zu sehen, vermehrte die Eindrücke. Die Stellung der vier Personen um das Bett der entschlafenen Mimi war ein klassisches Bild geworden, ich habe es im Kopf wie die Abfahrt nach Cythère.
Den Operntruppen, die Puccini geben, bin ich von Stadt zu Stadt gefolgt. In Florenz beschäftigt, nahm ich mir die Zeit, nach Mailand zu reisen, nochmals »Tosca« zu hören und eine Schauspielerin wiederzusehen: ihr Name war Livia. Was ich von ihr zu sehen wünschte, war eine leichte Bewegung des Schenkels, etwas wie ein gebeugtes Knie. Erster Akt, Kirchenszene, sie fürchtet für sich und ihren Geliebten die blauen Augen des Modells, das er malt.
Er stillt ihre Eifersucht, aber das entscheidende Wort, die Farbe der Augen, die er einzig liebt, ihrer Augen, fällt zuletzt, sie wartet. Verzauberte Bangigkeit, Livia verlor die Kraft, die Lippen zu schließen, eines ihrer Knie sank tiefer. Endlich fiel das Wort: »gli occhi ... neri«, da glänzte sie auf und breitete ihre Arme hin. Das ist nicht viel, was vermögen wir denn auch, um darzutun, daß wir nach Glück verlangen und daß es an zwei Silben hängt.
Dennoch bleibt dies ein unvergänglicher Augenblick, stärker sogar, seitdem das Teatro lirico von Bomben bedroht ist, hungernde Unglückliche daran hinschleichen und in den Schatten, die einst selig waren, der Durst nach Blut sich sättigen muß. Der Maestro Puccini ist einer, der viel Glück, das beste Lebensgefühl eines Kontinentes, dahin mitgenommen hat, wo er jetzt weilt.
Wohlverstanden habe ich ihn von jeher als den Urheber, nicht nur des leidenschaftlichsten Gesanges, auch des gehobenen Gefühles seiner Mitwelt empfunden. Es ist folgenreich, eine einzige »kleine Stadt« singend zu machen: in meinem so benannten Roman tut es der Dirigent Enrico Dorlenghi. Der Maestro Puccini hat es für eine Welt getan, bevor ihr aller Gesang verging. Mein junger Kapellmeister, seine glühende Sehnsucht, Musik für ein ganzes Volk zu ersinnen, ist meine Anschauung des werdenden Puccini: meinen Roman hätte ich sonst nicht geschrieben.
Bevor er mir einfiel, hatte ich einige Sommerwochen des Jahres 1907 am Fuße des Monte Grappe verbracht – noch ein weniges, dann machte der Krieg den Berg berühmt. Vorher stand in dem Dorf das Geburtshaus und Museum des Bildhauers Canova, der dem Musiker geistig ähnelt. (Stendhal, der Canova immer liebte, hätte für Puccini die Zärtlichkeit gefühlt wie für Cimarosa.) Die Piaveschlacht wird die lebendigen Spuren beseitigt haben.
1907 hatte das Wirtshaus mich als einzigen Gast, was diese lieben Italiener nicht ärgerlich, nur gefälliger machte. Ich aß Polenta unter einer Rosenlaube, mit dem Ausblick in ein Blau, das hat es für mich nie wieder gegeben, tief, tief blau wie kein anderes war das venezianische Land. Als ich aus dieser Stille hinabstieg nach Padova (»Er liegt in Padua begraben«), war im Hotel eine Hochzeit, durch den Lärm drang eine vertraute Musik.
Auf der Treppe hörte ich sie zu Ende, Bohème erster Akt: E cosa faccio, scrivo. Allerdings: scrivo; aber wann hätte der Herzensdrang, etwas Schönes zu machen, einen energischen Wohllaut und machtvolle Inbrunst gefunden wie hier. Der Maestro, seine Lust an ihm selbst, seine immer nahe Furcht, nie abzuschließen, schon vorher fort zu müssen, interessierten mich. Der Zufall hätte mich nicht verwundert, wenn er unter die Teilnehmer einer kleinbürgerlichen Hochzeit getreten wäre. Er schrieb für sie, da er allen, auch mir, gerecht wurde.
Sie hätten in seiner Gegenwart ihr lautes Wesen abgelegt, womöglich wären sie nicht mehr ordinär gewesen: aus Schonung für ihn. Sie hätten zweifellos bemerkt, was mir nicht entging: er bedarf der Zurückhaltung, er ist allein und gar nicht immer heiter. Vielleicht nach langer Arbeit nimmt er un bagno di sciocchezza, wie d'Annunzio von sich aussagte; wäscht in alberner Gesellschaft seine geistigen Schwierigkeiten ab, badet seine angespannte Seele. Die elegante Figur und Kleidung des Mannes täuschen nicht, die leidenschaftliche Verzücktheit seiner Erfindungen, die Macht der Sinne, der Sturm der musikalischen Sprache sind eitel Schein; sie gehören den wenigen Stunden, in denen man produktiv ist, und gerade dann ist man nüchtern. Ich kenne das.
Die wenigen Eingeweihten ahnen sehr wohl, daß seine Haltung, der Stil seiner Personen in das Alltägliche nicht einbezogen werden dürfen, dort träfen sie nicht zu. Ein Schauspieldirektor, guter Liebhaber, dachte eines Abends, seinem Publikum etwas mitzuteilen, er trat aus dem geschlossenen Vorhang. Die Pause, bis es still wurde, füllte er mit Bewegungen von verführerischer Gespreiztheit. Mein Nachbar fragte: »Cosa vuole? Vuol cantare la Bohème?« Man lächelte. Das Modell Puccini ging, aber es ging nur, wenn von ihm selbst.
Er inzwischen hielt sich zur schweren Stunde für ganz unmöglich, aber in seine Aufführungen liefen die Leute. Dieses Mittel, sich zu berauschen, war ihm versagt. Von allem, was er geschrieben hatte, ertrug er nur noch den dritten Akt der Bohème, den schönen, hoffnungslosen. Ich dachte ihn mir als den tätigen Kenner des Erfolges, dennoch enttäuscht, dennoch traurig, in seinem Landhaus an dem Waldsee bei Viareggio. Sicher war es heiter eingerichtet, der Flügel immer aufgeschlagen, Notenblätter achtlos verstreut, wenn sie nicht behutsam verschlossen waren.
Die Lorbeerkränze haben nicht gefehlt. Am Teetisch sitzt eine Operndiva, anspruchsvoll, bezaubernd, wie ihr Fach und Beruf es wollen. Sie bringt ihre Formen in die Nähe des Maestro – er muß immer jung bleiben, es ist sein Genre, immer auf der Höhe, wohin käme man. Sie verwöhnt ihn mit Schmeicheleien, und er sie. Das ist nicht ernst. Völlig ernst war seine erste Begegnung mit Caruso.
Puccini verließ gerade das Haus, ein junger Unbekannter trat ihm entgegen: ihm kein Unbekannter. Anfänger, die bemerkt werden wollten, standen damals beim Dom von Mailand unter der Galerie und warteten auf den Agenten, der sie probesingen ließ. Puccini hatte ihn gehört und dieser Stimme seither gedacht. »Lei canterà la Bohème«, sagte er sogleich. Das Wort begründete den Ruhm einer Oper und die Laufbahn des ersten Sängers seiner Zeit. Caruso, ein Ingénu mit dem Instinkt für Menschen, der gern Bildnisse zeichnete, hat seinem Entdecker nie das Wort vergessen.
Es geschieht uns wohl, daß wir das Glück eines Mimen, einer künftigen Prominenten machen. Nachher verdient sie, glänzt solange sie kann; von uns wird sie nicht einmal wissen, wenn alles vorbei ist. Enrico Caruso, Giacomo Puccini einander gegenüber, und »Sie sollen die Bohème singen«, das hat mich oft gerührt, ich höre das Wort geflüstert, ein Geheimnis zweier Toten.
Ich bin nie vor ihn hingetreten, von mir hat er nicht gewußt. Sollte ich mir seinen Teetisch, aufgeschlagenen Flügel und die Kränze betrachten? Eine ermüdete oder leichtfertige Stimmung bei ihm antreffen und nur begrüßt werden, weil ich vielleicht schrieb? Es hat aber die geistige Liebe ihre Genugtuung in einem bescheidenen, nicht ganz bescheidenen Dunkel. Sehr spät, er hatte wohl keine drei Jahre mehr, wurde ihm mein Name genannt.
Merkwürdigerweise war er nach Oberammergau gekommen: soweit ging die Neugier des alten Praktikers auf Wirkungen der Bühne. Der Vertreter einer Berliner Zeitung erzählte ihm, daß er in Deutschland einen besonderen Verehrer habe. (Man sagt Verehrer, nicht Liebhaber, eine verbrauchte oder mißverständliche Bezeichnung.) Puccini ließ sich den Namen wiederholen und schüttelte den Kopf: »Jamais entendu«. Mit Recht oder Unrecht, aus Hochmut, Demut, Ironie – als ich davon erfuhr, beglückte es mich.
Dann starb er »den schweren Tod«, wie im Nils Lyhne steht. Kehlkopfkrebs oder etwas anderes, die wirkliche Qual war nicht dies. Die Hoffnung und Verzweiflung um seine nicht vollendete »Turandot« hat ihn verfolgt von seinem Schreibtisch, wo er den Rauch der letzten Zigaretten in seinen kranken Hals zog, nach Brüssel, zu der Operation, die jeder ihm machen konnte, vergeblich war sie immer. Seiner Pflegerin sagte er: »Es ist sehr schwer für einen Künstler, mit dem unfertigen Werk zu sterben.«
Das Jahr darauf sah ich die Aufführung des Wiener Opernhauses. Einen ganzen Abend Puccini, und keine Melodie. Mit der Fanciulla del ovest hatte er angefangen, herb und ungefällig zu werden. Geht mit oder laßt es, fühlt, wie ich, das Leben sich entzaubern, oder behaltet eure Illusionen: mir gleich. Sein tiefster Zauber ist zuletzt unsere Erkenntnis, daß es wenig war, und daß es hart ist. »I profondi amori fanno le profonde miserie« – Scarpia, in »Tosca« I.
Wir hätten nie das Leben gefeiert, wenn es uns nicht zum Ende bitter und mörderisch machte. Prinzessin Turandot, jung und ungeprüft, tötet ihre Bewerber, wie der wunderliche Gozzi es gewollt hat. Die Existenz eines Puccini hat einen besser berechneten Verlauf, von der Seligkeit zur Bitternis, von der Macht des Wohllautes bis an den Tod, der sich in seiner Art besingt.
Als der große Verdi zuerst von dem jungen Puccini hörte, schrieb er: »Man sagt, er mache Melodien, das ist weder alt noch neu.« O nein, aber es ist gläubig, lebensgläubig: zum Beweis hat Verdi Melodien gemacht, bis er siebzig war, und erst mit achtundsiebzig den »Falstaff« ohne jede. Der späte Wagner ist, für heutige Eindrücke, ein Melodiker, ihm vergehen keine drei Minuten bis zu der nächsten Erfindung von geschlossener Form. Überdies ist sie zart, man würde sagen herkömmlich, wenn nicht einstmals heftig gekämpft worden wäre um so große Neuheiten.
Puccini mit seinem Spätling – lange vor den siebzig arbeitete er daran – wagte wenig, höchstens, daß die »Turandot« bis auf weiteres nicht gegeben wird: sie scheint zu wenig von ihm. Die Nachkömmlinge setzten nichts mehr aufs Spiel. Im Gegenteil wäre es ein Unterfangen, der Gegenwart, diesem Zeitalter, die nichts als wohllautende Schönheit anzubieten. Die glückliche Gestaltung, mit all ihren Untertönen, ihrem Nebensinn, wäre eine Kränkung und wäre lächerlich.
Ich habe die »Turandot« nur das eine Mal erlebt, und hätte ich vor ihr weniger erlebt, als ich wirklich durfte, immer geschah doch von meinem Geist das Abschiednehmen einer geliebten Persönlichkeit. Mir waren ihre schmerzlichen Tiefen nicht fremd geblieben, als sie obenauf berauschtes Lebensgefühl strahlte, und die Frage ist, ob ich auf den Schlag in Liebe verfallen wäre für den Autor der »Bohème«, hätte ich insgeheim nicht seine tödliche letzte Heldin vorher gekannt. So weiß man, daß unser Glück gebrechlich, ein Zeitalter abgelaufen und gerichtet ist.
Bei der Uraufführung an der Scala hat im letzten Akt der Dirigent Toscanini den Stab gesenkt. Nach dem Haus umgewendet hat er gesprochen: »Qui finisce la partizione del maestro Puccini.« Hier endet – viel.
Wenn es mir selbst begegnete, daß ich im Geist geliebt wurde, habe ich mir meinen Anteil wohl zugeeignet. Der weitaus stärkere Antrieb waren die Lebensbedingungen des anderen: auch Todesbedingungen mögen es sein. In einem Stück von mir nahmen Liebhaber und Liebhaberin einen stilisierten, eher opernhaften Abschied, schwebenden Fußes, Bewegung und Wort ganz Wohllaut. Im Parkett wendete jemand das Gesicht hinauf nach der Direktionsloge und sprach zu mir wie aus nächster Nähe: »Ist das schön!«
Seinen Namen weiß ich nicht besser, als der Maestro den meinen kannte. Aber er war ein wohlhabender Kaufmann, hatte gestern geheiratet, sollte morgen in den Krieg. Nicht lange, und ich hörte, er sei gefallen. Sie sind in den Krieg gegangen, sie sind gefallen.