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Die Feindschaft zweier Bürger Jerusalems hat den Fall der heiligen Stadt und des Tempels beschleunigt.
Ein Bürger Jerusalems hatte unter seinen Freunden einen Namens Kamza. Zum Unglück hatte ein Anderer, mit dem derselbe nicht gut stand, ja von dem er ein erbitterter Feind war, einen dem ersten wenig unähnlichen Namen; er hieß Bar Kamza.
Der Bürger Jerusalems gab eines Tages ein großes und glänzendes Gastmahl, zu dem er die angesehensten Personen der Stadt einlud, unter ihnen die berühmtesten Gesetzes-Gelehrten. Da er dem Diener die Namen derjenigen angab, die er eingeladen haben wollte, erwähnte er unter den Ersten seinen Freund Kamza. Aber der unachtsame Diener, der an Anderes dachte, und vielleicht falsch verstanden hatte, ging, den Bar Kamza einzuladen; gerade den Feind seines Herrn.
Der Tisch war reich besetzt, und der geräumige Saal angefüllt von der großen Menge der Geladenen. Der großmüthige Festgeber nahm die Ankommenden mit freundlicher und höflicher Zuvorkommenheit auf und überhäufte sie Alle mit Artigkeiten. Das muntere Treiben, die frohe Unterhaltung, die anständigen Scherze bildeten das Vorspiel des frohen Mahles und gossen eine sanfte Heiterkeit in die Gemüther. Während Alle den Freuden der Unterhaltung und des Schmausens sich hingaben, verbreitet eine unerwartete und sonderbare Erscheinung die Ueberraschung unter die Menge, und macht auf einmal den festlichen Tumult aufhören. Auf der Schwelle des Saales erscheint Bar Kamza, der bekannte Feind des Festgebers.
Bei dieser unerwarteten Erscheinung erblaßt der Herr, verstummt, und betrachtet mürrisch den verhaßten Rivalen. Es folgt ein Augenblick des Schweigens und peinlicher und ängstlicher Erwartung. Endlich springt der Herr wüthend von seinem Platze auf, stürzt sich seinem Feinde entgegen und spricht mit drohender Stimme zu ihm: »Was wollt ihr hier? hier ist kein Platz für euch; geht hinaus!«
Der Unglückliche, der sich vielleicht eingebildet hatte, daß die unerwartete Einladung einen Wunsch der Eintracht und des Friedens bedeute, gerietst bei jener Aufforderung in Staunen und Schrecken. Vergebens wollte er das Zeugniß des Dieners anrufen, um darzuthun, daß sein Kommen nicht eine Beschimpfung des Herrn sei, sondern ein Folgen seinem Rufe; der Herr wiederholte drohend seine Aufforderung.
Und alle Blicke der Gäste waren auf Bar Kamza gerichtet, und auf ihren Lippen schien ein Lächeln des Hohnes zu spielen. Jener fühlte auf seinem Gesichte die Flammen der Scham, und den Zorn der Beschimpfung im Herzen. Er that sich jedoch Gewalt an, versuchte ein Mittel der Versöhnung und sagte, zu seinem Feinde gewendet: »Denket, daß es eine zu schwere Beleidigung ist, mich so gemein, im Angesichte so angesehener Personen aus eurem Hause zu jagen; lasset mich bleiben, und wenn es euch drückend ist, mich gastlich und freundschaftlich zu behandeln, so werde ich aus meinen Mitteln das, was ich in eurem Hause genießen werde, zahlen.«
»Gehet hinaus,« schrie der Herr.
»Beruhigt euch,« versetzte der Rivale, sich mit Mühe zurückhaltend; »beruhigt euch; laßt mich bleiben, und ich mache mich anheischig, die Hälfte der Kosten dieses Gastmahles zu zahlen.«
»Gehet hinaus,« rief der Andere drohender als zuvor.
»Das ganze, das ganze Mahl werde ich geben; so werdet Ihr der Gast sein, nicht ich.«
»Gehet hinaus,« donnerte der Andere unerbittlich.
Bar Kamza, mit dem Zorne im Herzen und mit dem Fluch auf den Lippen, ging fort aus jenem Hause, indem er zuvor auf Alle einen wilden Blick warf, aus dem die Gluth der Rache für den erlittenen und von den Gästen nicht abgewehrten Schimpf hervorsprühte.
Es waren damals sehr unglückliche Zeiten für die israelitische Nation. Judäa hatte noch den Namen und den Anschein eines Staates; Jerusalem und der Tempel standen noch; aber die wahren Beherrscher derselben waren die Römer, nicht die Israeliten. Bloß die Römer verfügten über die wichtigsten Aemter; sie allein theilten, nach ihrem Gutdünken, Judäa in verschiedene Provinzen und wiesen sie ihren Schützlingen an. Durch ihre Auflagen sogen sie das Land bis auf's Blut aus, zwangen ihnen ihre Gesetze auf und ließen nur ein Schattenbild von Staat.
Um sich ihren Herren unterwürfig zu zeigen, pflegten die Israeliten öfters Opfer im heiligen Tempel als Sühnopfer für die Römer darzubringen. Und diese Opfer waren von den Römern selbst geschickt; denn da diese beinahe alle Culte und alle Götter gleich hielten, so nahmen sie auch die Opfer, die für sie dem Gotte Israel dargebracht wurden, gerne an.
Der beschimpfte Bar Kamza wußte sich, zur Befriedigung seiner Rache, boshafterweise der Lage der Dinge, die wir so eben angedeutet haben, zu bedienen.
Er begab sich zum römischen Kaiser, und mit allem Anscheine von Aufrichtigkeit und Eifer benachrichtigte er ihn, daß sich die Israeliten heimlich zum Aufruhr vorbereiteten, und daß sie schon fest beschlossen hätten, sich um keinerlei Befehl mehr zu kümmern, der ihnen von der römischen Regierung ertheilt würde.
Der römische Kaiser konnte dieser so unerwarteten Anzeige kein volles Vertrauen schenken, da ihm noch von keiner andern Seite von dieser angeblichen Empörung eine Mittheilung gemacht worden war. Aber der boshafte Verleumder beharrte mit Festigkeit und unglaublicher Hartnäckigkeit, und da er die Ungewißheit, die er nicht zerstreuen konnte, wahrnahm, bat er, daß man seine Behauptungen durch eine Probe erforschen möge. »Ich sagte,« fuhr er fort, »daß jeder Befehl von dir von den Israeliten nicht mehr befolgt werde. Nun gut, es gefalle dir, wegen meiner Worte eine Probe anzustellen. Sende durch mich ein Opfer, das im Tempel der Israeliten dargebracht werden solle; lasse mich von einigen deiner Diener begleiten, und du wirst sehen, wie man dein Wort beachten wird.«
Dem Kaiser gefiel der Rath, und er ließ dem Bar Kamza ein junges Kalb geben, um es im Tempel zu Jerusalem zu opfern. Dem boshaften Verleumder schlug das Herz vor Freude, da er nach und nach seinen verruchten Plan gelingen sah. In der That, als er halbwegs auf seiner Reise war, durchstach er, ohne daß seine Gefährten es sahen, das Auge des armen Thieres. Der Boshafte wußte, daß die heiligen Satzungen verboten, als Opfer ein Thier anzunehmen, das jenen Fehler im Auge habe, und dabei war der Fehler so leicht, daß die Weigerung, es zu opfern, ohne Zweifel als ein Anzeichen der Rebellion ausgelegt und jede Entschuldigung als nichtig zurückgewiesen werden würde.
Des Gelingens seines höllischen Anschlages sicher, geht er beherzt und keck der heiligen Stadt zu, mit jener Miene höhnischen Triumphs, die derjenige zu haben pflegt, der, aus einer Stadt verbannt, später als Sieger in dieselbe Stadt einzieht. Er eilt mit seinen Begleitern und mit dem Opfer in den Tempel und übergiebt das Thier mit einem so gebieterischen Blicke, als wenn er selbst der Kaiser wäre, und spricht: »Hier das Opfer; euer Herr befiehlt, es zu darzubringen.«
Die Priester und die Gelehrten, die dort gegenwärtig waren, erriethen sogleich die boshafte Absicht des Verräthers. Auf jene Worte folgte ein Tumult, eine Verwirrung, unglaublich. Verschiedene Rufe lassen sich aus der Menge vernehmen; entgegengesetzte Rathschläge, widersprechende Ansichten drängen sich, bekämpfen sich, und der Tumult und die Verwirrung unterdessen vermehren sich.
»Opfert nur jenes Kalb,« sagten die Gesetzeslehrer, »man verletze den Brauch aus Ehrerbietung gegen den Kaiser und zum Heile des Volkes.«
Es erhob sich heftig gegen diesen klugen Rath ein gewisser Zacharia, Sohn Abkula's, und rief: »Nein, man entweihe den Altar nicht, man verletze den Ritus nicht; es geschehe nicht, daß Thiere, die der Vorschrift nicht entsprechen, dem Herrn geopfert werden.«
»Tödten wir den Opfernden und sein Thier, rief Einer aus der Menge, der Tod des Bar Kamza wird uns von seinen Verleumdungen befreien und wir werden gerettet sein.«
»Ihn tödten?« rief sich von Neuem widersetzend Zacharias, »ihn tödten? Und wegen welcher Schuld? Was hat er anders gethan, als für den Altar Thiere darbringen, die der Satzung nicht entsprechen? Ist das vielleicht ein Vergehen, das die Todesstrafe verdient? Die Weisen mißbilligten die übertriebenen Bedenken, die das Opfer zurückweisen machten und sagten: »Die allzugroße Strenge des Zacharias, Sohnes Abkula's, hat die Zerstörung Jerusalems, den Brand des Tempels und unsere Vertreibung herbeigeführt.
Talmud Gittin S. 55 b.
Es ging bald in Rom das Gerücht von der vorgeblichen Empörung der Israeliten und sogleich wurde ein zahlreiches Heer ausgerüstet, um sie zu unterdrücken und von Neuem Judäa zu züchtigen.
Der General, der dem Heere vorgesetzt wurde, hatte schon lange Umgang mit Israeliten und kannte ihre Gebräuche und Sitten. Ja, in seiner Seele fühlte er einige Zuneigung zu dem heiligen Glauben und sein Gemüth schwankte zwischen dem heidnischen Aberglauben und den Wahrheiten des Gesetzes.
Sobald er den neuen Befehl hatte, nahm er zu einem gewöhnlichen Aberglauben damaliger Zeit seine Zuflucht, um eine Vorbedeutung für den Ausgang seines Feldzuges zu erhalten. Er schoß einen Pfeil ab und beobachtete aufmerksam die Richtung, die er bei seinem Falle nahm; der Pfeil fiel nach der Seite von Jerusalem. Der General wendet sich nach der andern Seite und drückt einen andern Pfeil ab, der von Neuem in der Richtung von Jerusalem niederfällt. Er versuchte das Nämliche nach allen Seiten der Welt und immer wendete eine geheimnißvolle Macht den Pfeil gegen Jerusalem. Der General wurde davon betroffen und schloß bei sich, daß Gott selbst den Untergang Jerusalems beschlossen habe.
Mit dieser Ueberzeugung im Herzen trat er seinen Feldzug an. Aber eine geheime Unruhe trübte ihm von Zeit zu Zeit das Gemüth und den Schlaf. Eines Tages begegnete er einem israelitischen Knaben und sagte zu ihm: »Sage mir die erste beste Stelle deines Gesetzes her, die dir in den Sinn kommt.«
Der Knabe recitirte ihm den Vers eines Propheten Jecheskel Cap. 25. V. 14., welcher besagte, daß Gott später die Zerstörung Jerusalems und des Tempels streng bestrafen werde. Der General erschrak und dachte bei sich: »Also ich werde das Werkzeug des Zornes Gottes sein und dann wird die Reihe auch an das Werkzeug kommen. Gebe sich dafür her, wer will; ich gebe mich nicht dafür her.« Er entließ die Armee, wurde Israelit und aus seinem Stamm entsprang der berühmte Rabbi Meïr.
Gittin S. 56 a.
Vespasian, der neue römische General, belagerte Jerusalem und schloß es eng ein. In der heiligen Stadt waren drei Personen von unermeßlichem Reichthum und heiligen Sitten; alle drei übernahmen es, die Stadt mit denjenigen Gegenständen zu versorgen, die damals am nöthigsten sein mochten. Einer richtete unermeßliche Magazine von Getreide, der andere von Oel und Wein und der dritte von Brennholz ein. So vorgesehen, hätte die Stadt eine lange Belagerung aushalten können.
Aber eine Hand voll liederlicher Menschen, tollkühner Parteigänger, hauste in Jerusalem, wollte die Dinge nach ihrem Sinne leiten und kehrte Alles zu unterst und oberst.
Die Gesetzeslehrer und die klügern und besonnenern Leute sahen die Unmöglichkeit der Vertheidigung und den Ruin, den ein längerer Widerstand herbeiführen würde, ein und wagten es, den Bürgern zu rathen, daß man mit den Römern unterhandeln solle. Aber die Andern erhoben sich wüthend gegen den Vorschlag und verhinderten jede Unterhandlung.
Ihrerseits riethen die Parteigänger, sich Alle zu versammeln, und einen Ausfall gegen die Römer zu machen. Aber die Klügern widerriethen jenen verzweifelten Versuch, der eher thöricht, als kühn und hochherzig war.
Die Sicarier So nannte man jene tollkühne Partei, die mit Dolchen bewaffnet waren und öfters die ruhigen Bürger im Geheimen ermordeten., wüthend über diesen Widerstand, wollten die Stadt in eine Lage bringen, daß sie keine andere Hoffnung mehr hätte, als auf solche verwegene Unternehmungen. Sie liefen deshalb mit Fackeln umher, zündeten die Magazine an, wo der große, von den drei edeln Männern gelieferte Vorrath aufgehäuft war. So wurde die Stadt in kurzer Zeit von den Schaudern des Hungers gemartert und in Trauer versetzt.
Eine reiche Matrone zu Jerusalem, ihr Name war Marta, Tochter des Bitus, war an alle Feinheiten und an allen Prunk des morgenländischen Lebens gewöhnt; um sie dufteten beständig balsamische Wohlgerüche und ihre zarten Füße ruhten immer nur auf weichen und kostbaren Teppichen. In der heiligen Stadt fing man an, den Mangel an Lebensmitteln schmerzlich zu empfinden; aber die verruchte Matrone, auf ihre Schätze vertrauend, machte sich nicht den geringsten Gedanken. Eines Tages gab sie eine Hand voll Münzen ihrer Magd und sagte zu ihr: »Gehe und bringe mir Brod vom feinsten Mehl.«
Die Magd kommt zurück und berichtet, von jener Qualität keines gefunden zu haben, aber wohl von einer etwas geringeren Qualität. »Bringe mir dieses,« antwortete die Matrone mit einem Seufzer.
Und bald hernach kehrt die Magd zurück und sagt, daß jenes Brod schon an Andere verkauft wurde und daß sich noch welches vorfinde, aber viel geringer. »Bringe mir dieses, antwortete die Frau fast weinend.
Und bald darauf kommt die Magd zurück und meldet, daß sich kein Brod mehr vorfindet.
Die erschrockene Matrone springt von ihrem Sitze auf und sagt: »Ich werde selbst gehen, welches zu suchen«
Sie geht, fast außer sich, fort, aber kaum standen ihre an die weichen Teppiche gewöhnten Füße auf den harten Steinen der Straße, so versagten der Armen die Kräfte und sie konnte nicht weiter gehen. Und theils aus Aerger, theils aus Schwäche und Furcht wurde sie krank und war dem Tode nahe. Da ließ sie all' ihr Gold und alle ihre Edelsteine auf die Straße werfen und rief: »Diese eiteln Reichthümer konnten mir nicht einmal ein Stück Brod verschaffen.«
So ging das Wort des Propheten Jecheskel Cap. 7. V. 19. in Erfüllung, welcher weissagte, daß die Israeliten selbst aus Verzweiflung ihr Gold auf die öffentlichen Plätze werfen würden.
Um den Sturm, der schon lange die heilige Stadt bedrohte, abzuwenden, um den göttlichen Zorn zu entwaffnen, um die Rettung des Tempels zu erlangen, beobachtete der fromme Rabbi Zadok vierzig Jahre nach einander jeden Tag das Fasten, indem er blos am Abende und an den Festtagen Speise genoß. Der Unglückliche war so mager geworden, daß er nur noch die Haut über den Knochen hatte und daß man von außen die Speise in die Eingeweide hinabgleiten sah. Er war so schwach geworden, daß er keine andere Speise vertragen konnte, als den Saft der Feigen, den er mühsam mit den fleischlosen Lippen saugte.
Ebendas.
Jerusalem war unterdessen von der schrecklichen Geißel des Hungers zum Aeußersten gebracht und dennoch wollten die Sicarier lieber, als mit den Römern zu unterhandeln, die Stadt und den Tempel den äußersten Gefahren und den schrecklichsten Verderben aussetzen. Die besonneneren und klügern Bürger hätten lebhaft gewünscht, die Milde des Feindes anzurufen, sich von Neuem der römischen Herrschaft zu unterwerfen und so das Vaterland und den Tempel zu erhalten. Aber keiner wagte offen diesen Wunsch, denn jene Tollkühnen würden sofort den Unklugen zur Zielscheibe ihrer Wuth gemacht haben.
Das Haupt dieser verwegenen Menschen war glücklicherweise durch das Band der Verwandtschaft mit Rabbi Jochanan, Sohn Saccai's, einem wegen seines religiösen Eifers und seiner Gelehrsamkeit hochgeehrten Manne, verknüpft. Eines Tages ließ Jochanan ganz im Geheimen dieses Oberhaupt, der seiner Schwester Sohn war, zu sich rufen und sagte zu ihm:
»Mein Freund! Siehst du nicht, daß, wenn man auf dem Widerstand beharrt, wir Alle unwiderruflich verloren sind? Der Hunger reibt uns auf und das römische Schwert wird die Wenigen aufreiben. die der Hunger verschonen wird. Ach, laß dich zum Mitleid mit uns bewegen, rette den Tempel, so lange uns noch irgend eine Hoffnung bleibt, den Zorn des Feindes zu besänftigen.
Der Neffe antwortete ihm also: »Auch ich sehe ein, daß unser Widerstand thöricht und verderblich ist; ich sehe ein, daß dieser uns nur einen gänzlichen Untergang bereiten wird; aber vermag ich denn etwas über diese Wüthenden? Wenn ich von Ergeben sprechen würde, wäre ich des Todes.«
»Aber,« versetzte der Gelehrte, »wenn du über diese Wüthenden nichts vermagst, so könnte ich vielleicht etwas beim römischen General versuchen. Ich könnte wenigstens zur Stadt hinausgehen und mich in das feindliche Lager begeben. Würdest du mir nicht die Erlaubniß geben?«
»Die Erlaubnis geben, hinauszugehen? Aber diese Wüthenden halten genaue Wache an allen Thoren und tödten unerbittlich Jeden, der sich entfernen will. Wehe, wenn sie irgend einen Verdacht schöpfen würden! Es bleibt uns kein anderes Rettungsmittel, als zur List unsere Zuflucht zu nehmen. Stelle dich krank, verbreite das Gerücht von deinem Tode und sorge, daß deine Schüler dich zur Stadt hinaustragen, um dich zu begraben.
Jochanan nahm den Rath an, legte sich zu Bette und ließ alsbald die Nachricht von seiner Krankheit verbreiten. Man ließ nur seine Vertrautesten zu, um ihn zu besuchen und unterdessen wurden immer ernstere Nachrichten von seinem Leiden in Umlauf gesetzt; und endlich kündigten seine Schüler weinend Allen seinen Tod an.
Sobald die Nachricht von der ganzen Stadt als wahr ausgenommen wurde, dachte man, den fingirten Todten fortzutragen. Man legte ihn in einen wohlverdeckten Sarg; man verbreitete über den Sarg einen schrecklichen Uebelgeruch, wie von einer Leiche; dann hoben zwei der vertrautesten Schüler, der eine zu Kopf, der andere zu Füßen sich ihn auf die Schultern und machten sich mit der süßen Last nach dem Thore der Stadt.
Die Wächter, die immer Acht geben, lassen sogleich den Leichenzug anhalten und verlangen genauen Bericht über Alles.
»Es ist unser armer Meister, den wir zur Stadt hinaus tragen, um ihn zu begraben,« sagten die Schüler weinend.
»Ach! Ist der Arme gestorben?« antworteten die Wüthenden mit einem bittern Lächeln. »Gehet nur weiter; aber zuvor wollen wir eine Probe anstellen. Lasset uns ihm diesen Degen in die Brust stechen. Wir können ihm durchaus nicht wehe thun, da er schon todt ist, wie Ihr sagt.«
Die Armen erblaßten und fühlten ihr Blut vor Schrecken erstarren. Aber indem sie in diesem äußersten Momente alle ihre Geister zusammen nahmen, sagten sie mit bewegter Stimme:
»Ein Schwert unserm Meister in die Brust bohren! Welche Schmach wäre es für uns, wenn wir diesem heiligen Manne solchen Schimpf anthun ließen! Es wäre ein Sacrilegium!«
»Genug, genug,« versetzten die Sicarier, »raset nicht so sehr, statt ihn durch und durch zu bohren, begnügen wir uns, ihn gehörig zu schütteln; wir wollen probiren, ob er erwacht.«
»Ihn schütteln! diese heiligen Reste mißhandeln! riefen die Schüler? »Sind das also die letzten Ehren, die man dem großen Manne erweisen will? Einen Todten mißhandeln! Aber was wird man von uns sagen? Von uns Allen?«
Die feste Beharrlichkeit der Schüler zerstreute den Verdacht der Sicarier und der Condukt ging weiter.
Der gelehrte Jochanan stellte sich dem General Vespasian vor, sagte ihm die Krone voraus und gewann dessen Wohlwollen. Aber er konnte die Rettung der Stadt und des Tempels nicht erlangen; er erreichte bloß, daß die Stadt Jabne, damals Sitz der gelehrten Academie, gerettet, daß die Familie Gamaliel's verschont wurde und daß man für Rabbi Zadok Sorge tragen würde, der durch sein freiwilliges Märtyrerthum zum Aeußersten gebracht war.
Talmud Gittin ebendas.
Ein reicher Bürger, Namens Doëg, starb frühzeitig. Die Wittwe blieb allein mit ihrem einzigen Söhnchen und einem großen Vermögen. Aber das ganze Leben und die Freude der Frau bestanden in ihrem innigst geliebten Kinde; für dieses alle ihre Sorgen, alle ihre Hoffnungen, alle Befürchtungen. Und damit es ihr erhalten bleibe, spendete sie Reichthümer und Geschenke in Menge an den heiligen Tempel.
Jedes Jahr spendete die liebevolle Mutter so viel Geld an den Tempel, als das Kind, an Alter zunehmend, mehr im Gewicht hatte.
Während der Belagerung schlachtete die Unglückliche, die vom Hunger blind und wahnsinnig geworden war, selbst das Knäblein und bediente sich seiner als Speise.
Der Prophet Echa Cap. 2. V. 20. hat es wohl gesagt: »Die Weiber werden die Frucht ihrer Eingeweide essen.«
Robbot Echa S. 68.
Eine arme Mutter mit ihren sieben Söhnen wurde vor den römischen Kaiser geschleppt, ein Altar herbeigebracht, der Weihrauch zubereitet und den Jünglingen der Befehl gegeben, die Götzen anzubeten.
Sie lassen den ersten Sohn hinzutreten und rufen: »Bete an, oder du bist des Todes.« Der Jüngling antwortete: »Ich finde in meinem Gesetz diese Worte: ›Ich, der Ewige, bin dein Gott;‹« und der Jüngling wird zum Tode geführt.
Sie lassen den zweiten hinzutreten; derselbe antwortet: »mein Gesetz verbietet mir, einen Andern anzubeten, als den ewigen Gott;« und er wird zur Strafe fortgeführt.
Der dritte antwortet: »mein Gott ist der einzige Gott;« und er fällt unter den Streichen der Henker.
So thut der vierte und die andern bis zum siebenten.
Und als der siebente zum Tode geführt wurde, bat die arme Mutter also: »Lasset mich noch einmal mein armes Kind umarmen.«
Und der Sohn wirft sich in die Arme der Mutter und diese preßt ihn zärtlich an den Busen und küßt ihn und spricht zu ihm: »Meine Kinder! gehet in Frieden und saget zu dem Herrn, daß der Stammvater Abraham ihm einen Sohn zum Opfer dargebracht habe und ich habe deren sieben gegeben zum Ruhme seines Namens.
Talmud Gittin S. 57 b.
Als Rabbi Jehoschua sich in Rom befand, erfuhr er, daß ein schöner israelitischer Knabe als Sclave gehalten und mißhandelt wurde. Von Mitleid ergriffen, suchte der Rabbi den Knaben zu sehen und fand ihn von hübschem Aussehen, lebhaftem Blicke und zierlich gelockten Haaren. Er geht nahe zu ihm hin und wie wenn er bei sich selbst spräche, rief und wiederholte er die Worte des Propheten Jesaja Cap. 42. V. 24.: »O! wer hat Israel seinen Peinigern und Jacob seinen Plünderern preisgegeben?«
Und das Kind antwortet sofort laut mit den Worten des Propheten Ebendaselbst.: »Gott ist es, gegen den wir gesündigt haben; und wir wollten nicht in seinen Wegen gehen.«
Aus dieser Antwort entnahm der Rabbi die freudigsten Vorbedeutungen für die Zukunft des Knaben und gelobte, auch all' das Seinige hinzugeben und er konnte ihn loskaufen, indem er einen großen Schatz gab; und der Knabe wurde später einer der größten Gelehrten Israels Es war Rabbi Ismael, Sohn Elischa's..
Rabbot Echa S. 79 a.
Oft war die Uebung der heiligen Gebräuche Ursache der Trauer für die armen Israeliten und gab den Römern einen Vorwand, sie zu unterdrücken.
Es war der schmerzliche Jahrestag des Falles des Tempels und die Israeliten waren ganz in Trauer und mit Trauergebräuchen beschäftigt. An jenem nämlichen Tage hatte die Frau des römischen Statthalters ein Söhnchen geboren. Es wurde der Frau berichtet, daß die Israeliten Trauer hielten an ihrem Freudentage und sie faßte einen Haß gegen sie.
Das Kind erkrankte und starb. Am Tage, an welchem das Kind starb, war ein Freudenfest der Israeliten, das Fest der Tempelweihe, an welchem der religiöse Ritus vorschreibt, daß in allen Häusern viele Lichter angezündet werden, um den Jahrestag der wunderbaren Siege der Maccabäer zu feiern.
Die armen, schon einigermaßen verdächtigen Israeliten trugen Bedenken und frugen sich einer den Andern und sagten: »Sollen wir dem Gebrauche gemäß die Lichter anzünden? oder was sollen wir thun?«
Aber die Meisten antworteten: »Verrichten wir unsere heiligen Bräuche; erfolge, was will.«
Obwohl die Frau von der Ursache jenes Festes in Kenntniß gesetzt war, wurde sie doch überaus ärgerlich darüber, da sie großen Haß gegen die Israeliten hegte und ließ ihrem Manne sagen: »Statt die Barbaren zu unterjochen, komme, diese Unverschämten zu bestrafen, die über unsere Trauer sich freuen und bei unsern Freuden weinen.«
Und der Gemahl kam und richtete ein großes Blutbad an.
Rabbot Echa S. 67 a.
Es war sogar manchmal der Fall, daß eine und dieselbe Handlung, sie mochte geschehen oder nicht geschehen, ein Vorwand zur Bestrafung war.
Einmal ging ein Israelite an Kaiser Hadrian vorüber und grüßte ihn achtungsvoll. Der Fürst rief ihn zu sich und sagte: »Von welcher Nation bist du?«
»Ich bin ein Israelite,« antwortet der Arme.
»Israelite? und ein Israelite wagt es, mich zu grüßen, wie wenn er mein Vertrauter wär? Tödtet ihn.«
Die Minister des Fürsten selbst drückten ihr Erstaunen über dieses Verfahren aus. Der Fürst antwortete: »Ich hasse sie; und ihr wollt, daß ich euch Rechenschaft über die Gründe gebe, deren ich mich bediene, um sie zu tödten?«
Rabbot Echa S. 77 b.