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Die thalmudischen Bücher (worunter wir nicht allein den eigentlich so benannten Thalmud, sondern auch alle Sammlungen der Midraschim begreifen) bilden ein Document, das, in Hinsicht der ganz eigenthümlichen Entstehung und Natur desselben, in keinem andern religionswissenschaftlichen, oder literarischen Werke irgend eines Volkes der alten und neuen Zeit ein Gegenstück hat. Daher kommt es, daß ohne die Kenntniß dieser Entstehung und Natur ein jedes Urtheil über dieselben willkührlich und falsch bleiben würde und immer bleiben wird.
Diese Arbeit, die wir dem Leser vorlegen, ist eine Blumenlese aus eben diesen immensen Folianten, die wir in eine gewisse Ordnung und in eine, dem modernen Geschmacke mehr entsprechende, obwohl im Geiste und im Wesen dem Originale getreue Form zu bringen gesucht haben, eine nicht casuistische oder gesetzliche, sondern lediglich moralische und literarische Blumenlese. Aber damit man aus derselben einige nützliche Urtheile über die Menschen und Sitten jener Zeiten ziehen könne, ist es nöthig, wenigstens summarisch, den Ursprung und die Beschaffenheit der Original-Sammlungen darzustellen.
Die thalmudischen Bücher umfassen die Urtheile, die Erkenntnisse, die Gedanken, das Leben von fast mehr als acht Jahrhunderten, nämlich von drei Jahrhunderten vor der gewöhnlichen Zeitrechnung bis zum sechsten Jahrhunderte derselben. Es sind ungefähr dreißig Generationen von Personen jeder Classe, die ihre Meinungen darin niederlegten. Die Umwälzungen und Begebnisse in jenem langen Zeitraume sind die stürmischsten und furchtbarsten, welche je die Menschheit erschüttert haben. In ihm wurde die Menschheit fast umgestaltet und barbarisirt. Das Judenthum insbesondere hatte die schrecklichsten Katastrophen zu bestehen. In jenen Zeiträumen verlor es den Thron und die Nationalität; in ihm schlug es vergeblich die blutigsten Schlachten, um sie zurück zu erobern; in ihm bereitete ihm die römische und christliche Welt jenes Märtyrerthum, welches durch das ganze Mittelalter dauerte und das noch nicht ganz aufgehört hat.
Die thalmudischen Bücher sind die Archive aller Gedanken, aller Eindrücke, aller Affecte der verschiedenen jüdischen Generationen in mitten so furchtbarer Ereignisse. Die Geschichte der Bildung dieser Archive ist nicht bloß höchst interessant, sondern für das Studium des menschlichen Geistes äußerst nutzbringend.
Ein großer Theil der religiösen Wissenschaft des Judenthums bestand in der Tradition, in jener Tradition, die nicht allein die unentbehrliche Vervollständigung, sondern auch die nothwendige Anleitung zur Beleuchtung der mosaischen Vorschriften ist.
Träger dieser Wissenschaft waren das Sanhedrin und die dem Studium ergebensten Männer des Volkes. Aber zwei bedeutende Hindernisse stellten sich immer der geordneten und vollständigen Erhaltung derselben entgegen; das erste lag in den politischen und bürgerlichen Umwälzungen, das zweite in dem Gesetze, welches das Niederschreiben irgend eines Gegenstandes dieser Tradition als Frevel und Sacrilegium erklärte.
Die erste und größte Arbeit der Gelehrten Israels war daher, aus der Tradition mit unermüdlicher Genauigkeit jene alten Normen zu sammeln, die das Wesen derselben bildeten. Dann war es ihre aufmerksamste und angelegentlichste Sorge, die lange Kette der alten Tradition mit einer niemals unterbrochenen Reihe von Ringen fortzusetzen, ihre kleinsten Aussprüche zu sammeln; bis zur Quelle, die deren Gesetzlichkeit darthue, zurück zu gehen; die Lehrsätze unzertrennlich mit den Namen derer zu verbinden, die sie aufstellten, um deren Autorität besser zu würdigen.
Dieses war der höchste Zweck der Gelehrten Israels, dieses das mühsame Werk, das eine Generation der andern überwies, ohne je das Gesetz zu verletzen, welches verbot, die Tradition zu schreiben.
Aber die Tradition war, so zu sagen, nur der Urstoff der religiösen Wissenschaft. Sie war, wie die unförmliche Natur, der Untersuchung, den Forschungen der Weisen unterstellt.
Die Tradition band und verpflichtete den Willen und den Geist. Aber von da an begann die weiteste Freiheit der Prüfung, die freieste Entwickelung und Uebung des Denkens und Forschens.
Es blieb daher dem individuellen Gedanken ein unbegränzt weites und freies Feld; es blieb das unermeßliche Feld der Sichtung, Beleuchtung, Auslegung, Anwendung, der Vergleiche, der neuen Anordnungen, ein Feld, auf welches sich alle Denker Israels mit Begier warfen.
Aus dieser individuellen Freiheit ging, wie es natürlich ist, eine unbegränzte Reihe von Urtheilen, Auslegungen, Meinungen hervor. Aber was diese intellektuelle Entwickelung noch eigenthümlicher machte, ist die Form, welche dieselbe meist annahm.
In der That war dieselbe nicht die Frucht eines einsamen, geordneten und ruhigen Nachdenkens, sondern vielmehr das Resultat eines, wie wir ihn nennen können, academischen Kampfes, einer Art friedlicher, religiöser Schlacht.
Jeder Gelehrte von einigem Rufe hatte seine Schule, die von Schülern zahlreich besucht und dem Publikum geöffnet war. Der Gegenstand wurde vorgeschlagen, die Discussion eröffnet; die Fragen, die Einwürfe, die Antworten, die Entgegnungen folgten sich, wechselten ab, drängten sich; die Geister erweiterten sich, die Gemüther erhitzten sich; es war ein fortwährendes Gesumme von Meinungen und Urtheilen. In der Hitze des Dialogs, in den Bezeugungen des Beifalls, wie im Eifer des Streites gingen die Herzen über von der Ruhe zum Zorn, vom Zorn zur Ruhe, vom Ernste zum Scherze, vom Scherze zum Ernste. Die Witze wechselten mit den ernsten Diskussionen, die Scherze mit den schmerzlichen Erinnerungen. Ein Wort, ein Wink, eine entfernte Anspielung zog die Gesellschaft zu langen Abschweifungen in die Geschichte, in die Moral, in die Literatur, in die Wissenschaft fort und die Abschweifungen verwickelten, verwirrten sich. Die Mannigfaltigkeit, die Erregung, die Improvisation, die Hitze des Dialogs ergossen in jenes Feld alle Erkenntnisse, alle Gedanken, die Jeder im langen Nachdenken oder im Gebrauch des Lebens gesammelt hatte.
Die Mitglieder dieser eigenthümlichen Academien waren nicht eine privilegirte Kaste, eine bestimmte Classe von Personen, sondern, man kann sagen, war das ganze Volk; das Recht der Discussion, die Freiheit des Wortes war für Alle. Eigenthümliches Schauspiel! Neben durch Würden und Reichthümer ausgezeichneten Persönlichkeiten discutirten Tagelöhner, Gewerbsleute, Kohlenbrenner, Schuster, Zimmerleute. Die Academie schließt Niemanden aus, zeichnet Niemanden aus, nimmt Alle an ihrem Tische auf. In Wahrheit, ein eigenthümlicheres und edleres Schauspiel findet sich nicht in der Geschichte.
Zu unseren Zeiten haben die wissenschaftlichen Academien ihre regelmäßigen Archive, wo mit Ordnung und auch mit Auswahl die Verhandlungen ihrer Sitzungen registrirt werden.
Aber die Archive der religiösen Academien des Judenthums waren nichts Anderes, als das Gedächtniß; nie etwas Geschriebenes. Jeder Gelehrte schrieb genau in seinen Gedanken die verschiedenen Scenen, die widersprechenden Urtheile, die seltsamen Zwischenfälle der Sitzungen, an welchen er Theil genommen, oder welchen er beigewohnt hatte. So registrirte religiöse Wißbegierde in ihrem Geiste alle Worte, die sie gehört hatte und als treuer Geschichtschreiber hielt sie es für Frevel, auch den kleinsten Theil zu entstellen oder auszulassen. Mit einer wunderbaren Anstrengung des Gedächtnisses suchte Jeder den Wissensschatz seines Meisters oder seines Collegen zu dem seinigen zu machen. So füllten sich jene Archive mit enormen Bänden an, jedoch nicht geschriebenen, sondern mündlich überlieferten Bänden.
Dieses ist in Kurzem der Ursprung der thalmudischen Folianten, der noch durch die folgenden Daten der Geschichte in ein helleres Licht gestellt wird.
So viel aus den alten Denkschriften erhellt, so waren das heilige Land und Babilonien schon in den der gewöhnlichen Zeitrechnung vorhergehenden Jahrhunderten von Meistern und Lernenden zahlreich besucht, die zum einzigen Gegenstande ihrer Thätigkeit die Sammlung der Tradition und Entwickelung derselben hatten. In vielen Städten waren Schulen, oder eigentlicher religiöse Tribunale geöffnet, die einer ausgedehnten Polemik über alle Punkte des bürgerlichen, peinlichen und casuistischen Rechtes Raum gaben. Die von Hillel und Schamai waren die berühmtesten. Es gab noch keine gleichmäßig von Allen anerkannte Sammlung von Entscheidungen, keinen festen Kanon, keinen rituellen Codex; und, was mehr ist, Alles war im Gedächtniß und im Geiste niedergelegt.
Der Fall des politischen Staates scheint für kurze Zeit diese geistige Arbeit unterbrochen zu haben. Das in Jamnia wiederhergestellte Sanhedrin vereinigte in sich einen Theil der alten Autorität; aber in den zahlreichen Schulen Palästina's und Babiloniens herrschte die größte Freiheit der Meinungen und eine unglaubliche Thätigkeit der Discussion und der Forschung.
So war der Zustand der überlieferten Wissenschaft, als gegen Ende des zweiten Jahrhunderts der gewöhnlichen Zeitrechnung Rabbi Jehuda, der Heilige genannt, aufstand, Ordnung in das Chaos und Ruhe in jenen stürmischen Ocean brachte. Er faßte den Plan, der ungeregelten und unbestimmten Entwickelung der religiösen Wissenschaft einen Damm zu setzen, eine Sammlung herzustellen, die als Norm, als Führerin, als Regel für die zerstreuten Söhne Israels dienen sollte.
Diese Art Codex ist die berühmte Mischna, welche von anderen kleineren Sammlungen, die schon im Gedächtnisse Einiger vorhanden waren, ausgehend, die ganze unermeßliche Masse der alten Tradition über alle Theile des bürgerlichen, peinlichen, religiösen, moralischen, politischen und geschichtlichen Rechtes des Mosaismus, zugleich mit den bemerkenswerthesten Meinungen der Tanaiten, das ist derjenigen Meister, die jener Sammlung vorhergingen, in sich faßte.
Aber auch diese Sammlung wurde, wie dies von den anerkanntesten Kritikern nachgewiesen wurde, noch nicht geschrieben.
Das Judenthum nahm die große Arbeit als eine mit größter Autorität bekleidete Führerin, als einen Ausgangspunkt für jedes weitere Studium, für die Entwicklung seiner Zukunft auf. Aber die Freiheit der Meinung wußte sich auch durch diese Art Codex, der sie ersticken zu müssen schien, Bahn zu brechen. Die Vergleichung des mischnischen Textes mit anderen kleinern, von andern Schulen vorgeschlagenen und darum äußere, oder Baraitot genannten Texten; die Zweideutigkeit des äußerst concisen und energischen Ausdrucks des mischnischen Verfassers; die ungewisse, und zweifelhafte Anwendung auf die tausende von neuen Fällen, neuen Bedürfnissen des Lebens, gewährten von Neuem den hunderten von Amoraischen Schulen, (wie man die auf die tanaitischen folgenden nannte) eine umfassende Nahrung und vermehrten in großem Maaße das schon reiche Magazin der mündlichen Wissenschaft. Diese neue Arbeit, von tausenden von Schulen und Gelehrten und zwar immer in der academischen Form, thätig fortgesetzt, verhundertfachte fast das Material, das immer dem Gedächtnisse und der Ueberlieferung der Schulen und der in entfernten Gegenden zerstreuten Gelehrten, die, so zu sagen, lebendige und ambulante Encyclopädien geworden waren, anvertraut blieb.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß man in diesem Zeitraume anfing, die unter dem Namen Midrasch, später Rabbot und Jalkut genannt, bekannten Sammlungen und die eine Mischung von Moral, von biblischer Exegese, von Homiletik, von geschichtlichen Darstellungen sind, zu schreiben, oder doch die Fundamente dazu legte. Aber erst im vierten Jahrhundert finden wir den Versuch hinsichtlich der amoraischen Schulen, wie ihn Rabbi bezüglich der Tanaiten gemacht hatte: es ist dieses der jerusalemische Thalmud, von welchem sich bloß wenige Bruchstücke, vielleicht, weil er nicht geschrieben wurde, erhalten haben.
Die große, unter dem Namen babylonischer Thalmud bekannte Sammlung gehört der Mitte des fünften Jahrhunderts an; eine Riesenarbeit unternommen von Rab Aschi und vielen anderen Mithelfern, mit jener Genauigkeit, die wir schon bemerkt haben, mit jener Treue eines Chronisten, die Alles registrirt und sich ein Gewissen daraus macht, etwas auszulassen, zu entstellen; die erzählt und nicht wählt, die berichtet und nicht urtheilt.
Aber auch diese unermeßliche Recapitulation scheint bloß dem Gedächtnisse überwiesen worden zu sein. Erst im folgenden Jahrhunderte fürchteten die neuen Gelehrten, Saboraiten genannt, daß das kostbare Erbe durch die persischen Verfolgungen, welche die Schließung der Schulen und die Zerstreuung der Lernenden zur Folge hatten, verloren gehen könnte; und der Thalmud wurde geschrieben.
Was ist also der Thalmud, unter welchem Worte wir immer, im weitern Sinne, auch die agadischen Bücher verstehen? Er ist ein Document, worin sich das Gemüth, der Geist, die Irrthümer, die Leidenschaften, die Sitten, die Hoffnungen, die Fortschritte, die Erkenntnisse, die Schmerzen, die Größe Israels im Laufe von acht Jahrhunderten siegeln.
Er ist nicht eines jener riesenhaften, vom Genie eines einzigen Menschen erzeugten Werke; er hat zum Verfasser nicht einen Menschen, sondern ein Volk, nicht eine einzige, sondern dreißig Generationen.
In jenem großen Zeitraume von Jahren, die, so zu sagen, jene große Sammlung ausgebrütet haben, in dem raschen Wechsel so verschiedener Zufälle, in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Charaktere so vieler Individuen, kann man leicht denken, wie groß die Mannigfaltigkeit des Denkens und Fühlens gewesen sein müsse.
Diese ganze unermeßliche Mannigfaltigkeit stellt sich im Thalmud wie im Reflexe dar. Die tausend Stimmen, welche darin ein Echo finden, sind die Stimmen eines ganzen Volkes.
Jeder Gelehrte, der vorüber kam, ließ dort das Andenken seines Gedankens, jeder edle Affect fand einen Wiederhall in ihm, jede Bewegung des Zornes, jede Hoffnung, jeder Schmerz, jede Begeisterung legten in ihm eine Erinnerung nieder.
Und in der großen Mannigfaltigkeit herrscht doch eine gewisse Einheit, denn das jüdische Volk, das sein Verfasser ist, trug in ihn jene Einheit des Empfindens über, die ihn zuwege brachte.
Dieses der wahre Charakter des Thalmuds, ein unermeßliches, formloses, religiöses Dichtwerk, in welchem sich Himmel und Erde, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, die Schwächen der Individuen, die Größe eines Volkes wiederspiegeln.
In dem reichen Schatze orientalischer Spruchweisheit, der in dem agadischen Theile der beiden Thalmude, sowie in den Midraschim niedergelegt ist, prägt sich der ureigne Geist der heiligen Urkunde, wie ihn die mündliche Ueberlieferung heraus- und fortgebildet hat, noch bestimmter und prägnanter aus, als in der, den breitesten Raum des thalmudischen Schriftthums einnehmenden Halacha. Beide, in einem und demselben Compendium ungesondert enthaltenen Literaturen, die halachische, wie die agadische, entwickeln die Tradition in Lehre, Satzung und Geschichte mittelst freiester Ausdeutung des Bibelwortes, das die Autorität ihrer Lehrsätze begründet, aber mit dem wesentlichen Unterschiede, daß jene mit juristischer Subtilität positive Satzungen, diese dagegen mit idealem Geistesschwunge allgemeine Wahrheiten zu eruiren bezweckt. Die Agada und in gleicher Weise die Midraschim können daher als die Poesie des traditionellen Judenthums definirt werden. Aus dem harten Felsen schlägt diese die lieblichsten Vorbilder einer gottes- und menschenwürdigen Denk- und Gefühlsart und schmeichelt sie entzückend in Geist und Herz ein. Unter ihrem Zauberstabe wird die Religion in ihren strengsten Forderungen zur Herzensfreundin, die Sittlichkeit mit ihren schwersten Opfern zur Seelenlust. Sie hat kein Sylbenmaaß und keinen Reim und ist doch voll anmuthendsten Ebenmaaßes und süßesten Wohllautes. Wie sie aber aus der biblischen Poesie nach dem Geschmacke und den Anschauungen einer veränderten Zeit herausgewachsen ist, so muß sie auch jetzt wieder, um richtig verstanden und genossen zu werden im Gewande moderner Cultur erscheinen.
Der verewigte Professor Giuseppe Levi, der Mendelssohn Italiens, hat sich daher durch die in diesem Sinne mit der ihm eignen Meisterschaft in Auffassung und Darstellung veranstaltete Blumenlese aus Agada und Midrasch ein bleibendes Verdienst erworben, nicht nur um sein Vaterland, sondern auch, durch die Gestattung der Uebertragung seines Werkes in's Deutsche für das »Institut zur Förderung der israelitischen Literatur,« um Deutschland.
Die nöthig gewordene zweite Auflage der Schrift, nachdem die erste in 4500 Explr. verbreitet ist, erscheint mit dem Wunsche, daß sie sich der gleichen Gunst, wie ihre Vorgängerin zu erfreuen haben und unter Gottes Wohlgefallen Segen stiften möge.