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Muttertreue.

Es war Abend. Die alte Wanduhr in der Kinderstube verkündete mit lauten Schlägen die neunte Stunde, und kaum war der letzte Schlag verklungen, so legte Babette, die alte Kinderfrau bei Oberförster Reimann, das Strickzeug aus den fleißigen Händen. Ihr Blick schweifte hinüber zu dem Kinde an der anderen Seite des Tisches, welches so eifrig las, daß es die Umgebung fast vergessen zu haben schien.

» Magda, mein Herzchen, es ist Zeit, schlafen zu gehen,« mahnte die treue Alte in mütterlich liebevollem Tone.

Magda blickte auf. »Schon neun Uhr?« fragte sie erstaunt. »Ist denn der Vater noch nicht zurück?«

»Nein, Magda, er ist noch nicht daheim. Er hatte soviel Besorgungen,« meinte die gute Alte wichtig. »Ei, ei, was für schöne Dinge wird er für unser Geburtstagskind mitbringen!«

Ein Lächeln verscheuchte für einen Augenblick den Ernst, der auf dem blassen Kindergesichtchen ruhte; doch es verging so schnell, wie es gekommen war.

»Ach, Babette, ich freue mich gar nicht auf morgen,« sagte die Kleine traurig. »Ich wünschte, morgen wäre schon vorbei. Ja, wenn mein liebes Mütterchen noch lebte, aber so – –«

Tränen erstickten ihre Stimme, und laut schluchzend fiel sie der treuen Pflegerin um den Hals.

Liebkosend, streichelnd suchte Babette die Weinende zu trösten und allmählich beruhigte sich auch Magda und trocknete ihre Tränen.

»Komm, Magda, geh zu Bett!« bat die Alte noch einmal, »sonst kommt der Vater, während du noch wach bist.«

Folgsam entkleidete sich Magda.

»Babette,« sagte sie, »sage dem Vater nicht, daß ich geweint habe; er wird sonst traurig.«

Babette beruhigte sie darüber und versprach, nichts zu sagen, und nachdem sie beide noch gemeinschaftlich das Nachtgebet gesprochen hatten, schlief Magda ein.

Magda erwachte am nächsten Morgen etwas spät und kleidete sich schnell an, um in das Wohnzimmer hinabzugehen. Hier traf sie den Vater, und sie ward mit liebevollem Gruß und Kuß, sowie unter Glückwünschen empfangen; dann frühstückten Vater und Tochter miteinander, und darauf führte er Magda an den reichbesetzten Geburtstagstisch.

Alles, was sich Magda gewünscht, hatte der gute Vater ihr geschenkt, und in der Mitte des Tisches stand eine schöne Torte, umgeben von neun brennenden Lichtern; denn Magda wurde heute neun Jahr alt.

Freudig überrascht dankte die Kleine dem guten Vater, und nahm dann die Geschenke näher in Augenschein.

Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Voriges Jahr hatte ihre gute Mutter den Geburtstagstisch mit aufgebaut; diese Erdbeeren hier in der schönen Schale hatte sie gepflanzt, die Puppe dort, welche ihr heute im neuen Kleide stolz zuzulächeln schien, hatte sie ihr einstmals geschenkt; kurz, alles erinnerte an die geliebte Tote.

Bestürzt gewahrte der Oberförster die Veränderung, die mit seinem Töchterchen vorging. Er ahnte den Grund. Liebevoll schlang er seinen Arm um sie und zog ihr Köpfchen an seine Brust.

»Mein liebes, gutes Kind,« tröstete er, »weine doch nicht so; noch bin ich ja bei dir. Und deine liebe Mutter sieht vom Himmel auf uns herab und sendet dir ein Engelein, das dich bei Tag und Nacht behütet und bewacht!«

Magda weinte still an des Vaters Brust, und als sie sich ausgeweint hatte, sagte er:

»Komm, mein Kind, wir wollen einmal in den Wald gehen. Ich habe gestern zwei junge Rehe gefunden, denen der Wilddieb die Mutter weggeschossen hat. Die armen Tierchen sahen mich so flehend an mit ihren großen Augen und folgten mir nach wie Hündchen. Da habe ich sie in ein Gehege gesperrt, wo du sie füttern und großziehen kannst. Ich schenke sie dir!«

Magda nahm ihren Hut, und bald vergaß sie während des Spaziergangs durch den maigrünen Wald und bei den Rehen ihren Kummer. Erst zum Mittagsbrot kehrten Vater und Tochter heim; doch war und blieb es ein trauriger Geburtstag. Mehr als einmal mußte Magda die Tränen zurückdrängen, und alle waren froh, als der Abend kam. Als Magda schlief, rief der Oberförster Babette in sein Zimmer.

»Babette,« sagte er, »ich kann es nicht mehr mit ansehen, daß Magda so oft weint. Ich fürchte, die Kleine wird uns noch krank. So habe ich mich denn entschlossen, so schwer es mir auch wird, ihr eine neue Mutter zu geben. Was meinst du? Könnte ihr damit geholfen werden?«

»Ich fürchte,« sagte Babette, »Magda wird sich schwer an eine Fremde gewöhnen; die Sehnsucht nach der toten Mutter wird die Liebe zu einer anderen nur sehr langsam aufkommen lassen.«

»Aber, Babette, Magda ist noch ein Kind. Und ich werde ihr auch nur eine Mutter geben, welche Kinder lieb hat; so wird es ihr dann nicht schwer fallen, Magdas Herz zu gewinnen. Und nun gute Nacht, Babette, es wird schon alles recht werden!«

»Gute Nacht, Herr Oberförster!« gab Babette zurück und verließ das Zimmer.

»Eine Stiefmutter,« murmelte sie vor sich hin, »unserem Kinde eine Stiefmutter! Wenn das nur gut abläuft!« –

Der Frühling und der Sommer waren vergangen, und der Herbst stand vor der Tür.

Eines schönen Tages sah es im Försterhause sehr festlich aus. Girlanden und Kränze schmückten die Türen, und über der Einfahrt am Hoftore prangte ein weithin sichtbares »Willkommen!« – umrahmt von grünen Tannenzweigen.

Festlich geschmückt standen Babette und Bernhard, der Jägerbursche, vor der Haustür und hinter ihnen Magda im weißen Kleidchen, mit einem Blumenstrauß in der Hand; denn heute kam die – neue Mutter.

Magda hatte einer Erkältung wegen der kirchlichen Trauung nicht beiwohnen können, sie war deshalb sehr neugierig, wie die Mutter aussehen würde; aber glücklich war sie nicht. Sie wollte keine neue Mutter; sie wollte mit dem Vater und Babette allein bleiben.

Jetzt kam der Wagen ins Hoftor gefahren. Bernhard öffnete den Schlag, und Babette half der neuen Frau Oberförster beim Aussteigen.

»Siehst du,« sagte der Oberförster zu seiner Frau, »dies ist meine getreue Babette, von der ich dir schon so viel erzählte. – Aber wo ist Magda?« wandte er sich an Babette.

Babette blickte sich um. »Sie ist gewiß in die Stube gegangen,« erwiderte sie, »es zog etwas vor der Haustür; doch ich werde sie holen!«

»Nein, nein,« wehrte die Frau Oberförster, »ich gehe selbst zu ihr.« Damit ging sie mit ihrem Manne in das Haus.

Magda war beim Herannahen des Wagens in die Stube gegangen. Jetzt stand sie vor dem Bilde ihrer verstorbenen Mutter, und es war ihr, als blickten die Augen der Dahingeschiedenen traurig auf sie herab. Magda strich sanft mit der Hand über das Bild und küßte es. »Ich bleibe nur dir gut, Mütterchen,« flüsterte sie, »die neue Mama habe ich nicht lieb!«

Jetzt traten die Eltern ein.

»Komm, Magda, begrüße deine Mutter,« gebot der Vater, und Magda kam langsam herbei. Da trat die junge Frau auf sie zu.

»Also das ist meine kleine Magda,« sagte sie freundlich, »komm mein Kind, gib mir einen Kuß, und habe deine neue Mama lieb!«

Stumm reichte Magda den Strauß hin, als aber die neue Mutter sie in die Arme ziehen und küssen wollte, rief sie heftig: »Nein, du sollst mich nicht küssen! Ich will keine neue Mutter! Meine Mutter ist gestorben, aber ich habe sie doch noch lieb, dich aber habe ich nicht lieb!«

Die Kleine hatte eine so abwehrende Haltung angenommen, und ihre Augen blitzten so herausfordernd, daß die junge Frau erschreckt die Arme sinken ließ.

Befremdet sah der Oberförster auf sein sonst so sanftes Kind. Jetzt aber sagte er streng: »Was soll das heißen, Magda? Sofort gibst du der Mutter einen Kuß und sagst: ›Guten Tag, liebe Mutter!‹« Doch Magda schüttelte den Kopf.

»Sie ist nicht meine Mutter,« wiederholte sie trotzig. »Ich will keine neue Mama; ich will bei dir und Babette bleiben; aber sie soll wieder fort!«

»Magda!« rief der Oberförster jetzt drohend. »Bitte sofort ab, was du gesagt, und begrüße deine Mutter!«

Magda fing an zu weinen. »Lieber Vater,« bat sie, »sei nur nicht böse; ich kann aber die neue Mama nicht liebhaben; ich habe nur meine tote Mutter lieb und dich! Sie hat mich ja auch nicht lieb!«

»Natürlich hat sie dich lieb, Magda, sei doch vernünftig!« erwiderte der Oberförster ernst. »Komm, begrüße die Mutter!«

»Ich will nicht!« entgegnete Magda hartnäckig.

Jetzt verlor der Oberförster die Geduld. »Babette,« wandte er sich an die Eintretende, »führe Magda ins Kinderzimmer; sie ist trotzig, das soll ihre Strafe sein!«

Stumm folgte Magda; alles Zureden der treuen Alten nützte nichts, denn aufgeregt sagte Magda: »Siehst du, Babette, sogar der Vater hat mich nicht mehr lieb; und auch daran ist die neue Mutter schuld.«

Babette bemühte sich, Magda diese Gedanken auszureden; doch sie entfernte sich endlich traurig und sagte, als sie draußen vor der Tür war, leise vor sich hin: »Das habe ich mir gedacht! Meine Ahnung hat mich nicht betrogen.«

Am anderen Morgen gelang es durch Babettens Zureden, Magda zu bewegen, ihre Eltern im Frühstückszimmer zu begrüßen.

Langsam ging sie auf die Mutter zu und reichte ihr, ohne aufzusehen, die Hand.

»Guten Morgen, Mama!« sagte sie leise.

»Guten Morgen, mein Herzenskind,« erwiderte diese freundlich und wollte die Kleine an sich ziehen und küssen; doch Magda wich geschickt aus und begrüßte den Vater. Darauf nahm sie ihren gewohnten Platz am Tische ein. Die neue Mutter besorgte ihr das Frühstück; dann unterhielten sich die Eltern über allerlei Dinge. Der Vorfall vom vergangenen Tage ward absichtlich nicht mehr erwähnt. –

Die neue Hausfrau hatten alle im Hause bald sehr gern; nur Magda weilte oft stundenlang im Walde, um nur nicht mit ihr allein zu sein, und alle Liebe, alles Entgegenkommen der Mutter war umsonst. Vergebens schalten der Vater und Babette; vergebens machte die Mutter Puppenkleider, erzählte Geschichten und betete mit der Kleinen beim Zubettgehen; es blieb alles beim alten.

Die Tage wurden kälter; Magda durfte nur noch selten in den Wald, und mit Bangen sah sie dem Winter entgegen.

Einst wurde sie im Walde von einem heftigen Unwetter überrascht und erkältete sich dermaßen, daß sie das Bett hüten mußte. Allmählich nahm die Krankheit eine ernste Wendung, und der Arzt befürchtete den Ausbruch eines Nervenfiebers. Wie er gesagt, so kam es, und die Aufregung der letzten Wochen trug noch dazu bei, die Krankheit zu verschlimmern; denn Magda fieberte ununterbrochen. Wochenlang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Nur der treuen Sorgfalt des Arztes und vor allem der unermüdlichen Pflege und Aufopferung der Mutter dankte sie ihr Leben.

Endlich durfte Magda wieder aufstehen und, auf des Vaters Arm gestützt, durch das Zimmer gehen. Die Mutter bot sich ihr nicht an, sie zu führen, da sie eine Aufregung und infolgedessen einen Rückschlag der Krankheit befürchtete; denn seit Magda bei vollem Bewußtsein war, übernahm die Mutter die Pflege nur des Nachts und während der Stunden, welche die Kranke schlafend zubrachte. So hatte Magda keine Ahnung davon, daß die Mutter ihre treue Pflegerin gewesen, sondern glaubte immer, Babette und der Vater hätten sich in die Pflege geteilt. –

Am Weihnachtsmorgen saß Magda das erstemal seit ihrer Krankheit im Wohnzimmer. Der Arzt war soeben bei ihr gewesen, um zu sehen, wie es seiner kleinen Patientin gehe und ob sie wohl soweit hergestellt sei, abends der Bescherung beizuwohnen.

Im Vorzimmer traf er die Frau Oberförster.

»Nun, wie geht's unserer kleinen Magda, wird sie heute abend bei der Bescherung sein können?« fragte sie besorgt.

»Gewiß, gewiß, Frau Oberförster,« erwiderte der Arzt. »Aber Sie sehen angegriffen aus. Die unermüdliche Pflege und das Wachen in der Nacht scheint Ihnen doch zuviel gewesen zu sein. Sie hätten auch Babette oder Ihren Gatten bitten sollen, Sie öfter abzulösen.«

»O nein, Herr Doktor,« antwortete die Angeredete, »ich hätte niemand das Kind überlassen. Erst als Magda außer Gefahr war, habe ich mir zeitweise Ruhe gegönnt. Sie glauben nicht, Herr Doktor, wie lieb ich das Kind habe.«

»Oh, das habe ich während der Krankheit gemerkt,« bestätigte der Arzt; »doch nun leben Sie wohl! Lassen Sie sich heute abend viel Schönes bescheren!«

»Danke herzlich, Herr Doktor!« gab sie fröhlich zurück und setzte hinzu: »Mein schönstes Festgeschenk ist ja Magdas Genesung!«

Die Haustür fiel ins Schloß; dann rollte der Wagen des Doktors aus dem Hofe.

Magda hatte durch die Tür die ganze Unterredung mit angehört. Die Worte der treubesorgten Mutter hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und waren wie heiße Tropfen auf ihr kleines Herzchen gefallen, welches sich seither der neuen Mutter so kalt verschlossen hatte. Mit einem Male kam jetzt ein Gefühl der Scham und bitteren Reue über sie.

Da trat die Mutter ins Zimmer. Aufspringen und ihr stürmisch um den Hals fallen war eins!

»O Mutter, liebe Mutter!« rief sie unter Tränen, »kannst du mir denn verzeihen? Ich war immer so ungezogen und trotzig, und du warst stets so gut Bist du mir noch böse?« Zärtlich küßte die Mutter ihr Kind, indem sie antwortete: »Nein, mein Liebling; ich wußte doch, daß dies kleine trotzige Herz sich noch zu mir kehren werde. Und was wird erst der Papa für eine große Freude über dich haben!«

»Ach, liebe Mutter, ich habe heute vom Herrn Doktor gehört, wie treu du mich gepflegt hast und ich danke dir herzlich dafür. Nun habe ich dich ebenso lieb wie meine erste Mutter!« sprach Magda und schmiegte sich zärtlich an sie an. –

Das gab ein fröhliches Weihnachtsfest! Magda wich nicht von der Mutter Seite und suchte nach Kräften nachzuholen, was sie bisher versäumt hatte. Ihre Genesung machte jetzt auch schnelle Fortschritte, und bald war sie vollkommen hergestellt; von nun an trübte nichts mehr den Frieden und das Glück des Forsthauses im Walde.

Else Frey.

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