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Die Pfingstreise.

Eine Ferienreise! Welchen Zauber hat dies Wort für ein Kinderherz! Obgleich nun aber das Reisen an sich schon seine Reize hat, wie viel schöner ist es noch zur Maienzeit, wo alles grünt und blüht, wo man in die lachende, goldige Frühlingswelt geradezu hineinfährt! Ach, über eine Pfingstreise geht doch nichts in der Welt!

Auch im Hause des Doktor Berg herrschte seit längerer Zeit eine freudige Unruhe, welche sich steigerte, je näher das Pfingstfest herankam. Frau Berg hatte ihren Kindern als Belohnung für die guten Osterzensuren eine kleine Vergnügungsreise versprochen; wohin und wie lange, das war noch nicht fest bestimmt. Nur so viel stand fest, daß die Pfingstferien zur Ausführung derselben benützt werden sollten.

Es war kurze Zeit vor Pfingsten, nur ein paar Tage fehlten noch. Frau Berg war mit ihrem Manne über das Ziel und die Dauer der Reise einig geworden; die nötigen Vorbereitungen waren im Gange, da trat etwas Unerwartetes ein.

Eines Morgens war Frau Berg allein daheim, ihr Mann war über Land gefahren. Da kam eine Frau, anscheinend dem besseren Arbeiterstande angehörig, und fragte, ob der Herr Doktor nicht daheim sei. Als sie erfuhr, er sei über Land, fing sie an zu weinen und sagte: »Ach Gott, nun muß mein armer, lieber Junge blind werden!«

Auf Befragen teilte sie mit, daß ihr Knabe, ihr einziges Kind, sich durch einen Zufall beide Augen gefährlich verletzt habe und in Gefahr schwebe, zu erblinden, wenn nicht bald Hilfe komme. Da Doktor Berg als tüchtiger Augenarzt bekannt sei, wäre sie sofort zu ihm geeilt, um, wenn möglich, ihrem Kinde noch Rettung zu bringen.

Frau Berg versprach, ihren Mann gleich nach seiner Rückkehr zu ihr zu senden, und die Frau entfernte sich, nachdem ihr die Frau Doktor noch einige Linderungsmittel mitgegeben hatte.

Kaum war ihr Mann zurückgekehrt und hatte Kunde von dem Unfall erhalten, so eilte er zu dem kleinen Kranken.

Beim Abendbrot fragte Frau Doktor Berg teilnehmend: »Nun, wie geht es dem armen, kleinen Jungen?«

Der Doktor zuckte traurig die Achseln. »Ich fürchte,« sagte er, »die Augen sind verloren.«

»So wird das Kind blind?« forschte seine Frau erschrocken.

»Ich fürchte es!« erwiderte er ernst, »doch werde ich tun, was in meinen Kräften steht, um die Gefahr vielleicht doch noch abzuwenden.«

Unwillkürlich blickte Frau Berg auf ihre vier Kinder. Wie munter und hell blitzten deren Augen! Welcher Frohsinn, welche Schelmerei und ach! welche Liebe strahlte aus diesen glänzenden Kinderaugen! Und alles dies sollte die arme Mutter des kleinen Unglücklichen nie wieder in dem Auge ihres Kindes sehen können! Eine Träne des innigsten Mitgefühls für Mutter und Kind trat der Doktorin ins Auge, und sie sandte im stillen ein heißes Gebet für Rettung des Knaben zu Gott.

Später, als Frau Berg ihre Kleinen zu Bett brachte, fragte die kleine Emmi:

»Sag' einmal, liebe Mama, muß der arme Knabe wirklich blind werden? Kann er dann nicht mehr die schönen Blumen und die kleinen Vöglein sehen, die so munter auf den Bäumen hüpfen und singen?«

»Nein, mein Herz,« erwiderte traurig die Mutter, »er kann dann gar nichts mehr sehen von der schönen Natur.«

»O, liebe Mama, da kann er ja auch seine Mutter nicht mehr sehen, wenn sie abends mit ihm betet wie du mit uns!« sagte Emmi erschrocken. »Ach! laß mich heute und alle Abende für ihn beten!« bat sie und fügte dann an ihr Nachtgebet die Bitte: »Ach, lieber Gott, laß den armen Jungen nicht blind werden, sondern hilf, daß Papa ihn gesund machen kann!«

* * *

Einige Tage vergingen in Angst und Sorge; denn wirklich schien es, als ob jede Aussicht auf Rettung verloren sei. Die Familie des Doktors nahm herzlichen Anteil an dem Schicksal des kleinen Patienten, besuchte ihn öfter und brachte ihm Erfrischungen mancherlei Art.

Eines Mittags jedoch sagte der Doktor: »Liebe Frau, freue dich, ich habe Hoffnung, den Kleinen zu retten!«

»Wie wäre das möglich?« fragte Frau Berg erstaunt.

»Der Knabe müßte eine Operation durchmachen, deren Erfolg allerdings etwas unsicher ist, die aber, wenn sie gelingt, auch vollständige Rettung bringt.«

»Ach, wenn möglich, so versuch' es doch!« bat Frau Berg.

Der Doktor aber entgegnete: »Die Operation ist sehr teuer, da der Knabe erst in die Augenklinik des Professor Herz gebracht werden müßte. Die Mutter des Kindes aber ist zu arm, die Kosten einer Operation allein zu bestreiten, besonders da eben, wie schon gesagt, der Erfolg noch unsicher ist.« Er machte eine Pause und fuhr nach einigem Überlegen fort: »Ich werde übrigens einmal bei meinen reichen Freunden und Patienten eine Fürbitte für den Kleinen tun; vielleicht gelingt es mir, etwas Geld zusammenzubringen, um wenigstens einen Teil der Kosten zu decken.« –

Am Nachmittag besuchte Frau Berg mit ihren Kindern die arme Frau und den kleinen Kranken. Sie fand die Mutter emsig mit Nähen beschäftigt; denn die Doktorin hatte ihren Bekannten die Arme als fleißige Näherin empfohlen, man hatte sie aufgesucht und ihr Fleiß, ihr bescheidenes Wesen, sowie die im Stübchen herrschende peinliche Ordnung und Sauberkeit erweckten Vertrauen; man gab der Frau Arbeit, und so konnte sie denn etwas verdienen, ohne ihr Kind sich selber oder Fremden überlassen zu müssen.

Die arme Mutter bat weinend, wenn eine Rettung möglich sei, kein Mittel unversucht zu lassen, dem Kinde das Augenlicht zu erhalten, koste es, was es wolle.

»Ich will gern Tag und Nacht arbeiten, wenn nur mein Junge wieder sehend wird,« sagte sie unter Schluchzen.

Die Doktorin versprach, mit ihrem Manne zu reden und entfernte sich mit den Kindern.

Am Abend, als sie in der gemütlichen Dämmerstunde mit ihren Kindern zusammensaß, und alle die kleinen Vorkommnisse des Tages von der Mutter und den Kindern besprochen, alle Bitten und Wünsche vorgebracht wurden, kam das älteste Mädchen, die dreizehnjährige Resi, plötzlich zur Mutter, legte ihr Köpfchen an deren Schulter und fragte:

»Mama, ist eine Operation teuer?«

»Gewiß,« erwiderte die Mutter, »sehr teuer; doch warum fragst du denn?«

»Teurer – als – eine – Pfingstreise?« kam es zögernd von ihren Lippen.

Frau Berg sah sie erstaunt an.

»Wie kommst du darauf, Kind, wie meinst du das?« fragte sie.

Resi errötete. »Ach, Mama, ich hätte eine Bitte an dich, eine recht, recht große Bitte,« begann sie schüchtern. »Willst du sie mir erfüllen? Nicht nur mir, auch den andern mit?« Sie sah die Mutter bittend an.

»Wenn ich kann, gern!« erwiderte diese, »doch was wollt ihr?«

»Liebe Herzensmama!« bat Resi, »laß uns das Geld, was die Pfingstreise kosten würde, dem armen Knaben geben, daß er operiert werden kann! Ich glaube, ich würde gar keine rechte Freude haben an all dem Schönen, was ich auf der Reise sähe; denn ich müßte immer an den armen kleinen Jungen denken, der nicht einmal seine Mutter schauen kann. O, liebe Mama, erfülle unsere Bitte!«

Frau Berg vermochte erst nicht zu antworten; dann bezwang sie ihre Rührung und antwortete, um die Kinder zu prüfen: »Aber Kinder, die schöne Reise, auf die ihr euch schon so lange gefreut habt, wollt ihr aufgeben? Die Kleinen doch gewiß nicht! Überlegt es euch nur noch einmal!«

Die Kinder aber riefen: »O ja, Mama, wir wollen es alle! O bitte, bitte, erlaube es!« – und diese merkte, daß Resi nur die Fürsprecherin der andern gewesen war.

»Nun denn,« entschied sie, »ich werde eure Bitte erst mit Papa überlegen!« – und sie hatte Mühe, die stürmischen Liebkosungen der Kinder zu beschwichtigen, da diese wohl merkten, daß Mama der Bitte nicht allzusehr entgegen war.

Der Doktor, als er heimkam, war sehr gerührt von der Opferfreudigkeit seiner Lieblinge und sagte: »Wir müssen den Kindern die Bitte erfüllen, liebe Frau, um ihren Hang zum Wohltun nicht zu ersticken; insbesondere auch, weil sie ihre Gabe nicht verschwenden, denn Hilfe tut bei der armen Frau wirklich not. Auch ich habe mit meiner Fürsprache Glück gehabt; ich habe eine ansehnliche Summe zusammenbekommen und werde der Mutter alles sobald als tunlich einhändigen.«

Der Jubel der Kinder über die Erfüllung ihrer Bitte war groß. Sie ließen es aber noch nicht genug sein. Als Nachmittag die Großmama zu Besuch kam, wurde ihr sogleich die Leidensgeschichte des Knaben erzählt; und die kleinen Samariter mögen wohl sehr beredt geschildert haben, denn auch Großmama trug ein Scherflein zu dem guten Werke bei, legte aber heimlich jedem der Kinder ein blankes Talerstück in die Sparbüchse, welch letztere auch ihres Inhalts beraubt worden war, indem sie sagte: »Die Kinder sollen erfahren, daß Wohltun Zinsen trägt!«

Bald war eine hübsche Summe Geldes beisammen, und die Kinder trugen dieselbe zu der Frau, welche beim Anblick der reichen Gabe Dankestränen weinte.

Sie ließen es sich auch nicht nehmen, ihren Schützling mit auf die Bahn zu bringen, als er zur Ausführung der Operation in Begleitung des Doktor Berg nach B. reiste. –

Eine bange Woche verging. Es war sehr schwer, die ungeduldigen Fragen der Kinder immer zu beantworten; denn dieselben hätten gern täglich Nachricht von dem Ergehen ihres Schützlings gehabt, den sie nach wie vor in ihr Nachtgebet einschlossen.

Endlich kam ein Telegramm mit den Worten: »Morgen Operation!« – und den zweiten Tag darauf ein anderes: »Glücklich überstanden, gerettet!«

Der Jubel im Hause des Doktors war groß. Es wurde ein wahres Freudenfest gefeiert, als sei der Knabe ein Mitglied der Familie.

Einige Tage darauf holte Doktor Berg seinen kleinen Patienten selbst aus der Klinik und brachte ihn der Mutter zurück. Frau Berg hatte auf die Bitten der Kinder einen Kuchen gebacken und im Verein mit den Kleinen eine Girlande und Kränze gewunden, und die Kinder schmückten das Stübchen der armen Frau und trugen auch den Kuchen hin und eine Flasche Wein: so ward ein fröhliches Genesungsfest gefeiert.

Bei ihrer Heimkehr konnten die Kinder gar nicht genug erzählen von dem Wiedersehen der Mutter und des Knaben und der allgemeinen Freude; Resi aber erzählte den Eltern:

»Ach, das schönste war doch, als der Knabe seine Mutter umarmte und sagte: ›Ach, liebe, gute Mutter, jetzt kann ich doch wieder dein liebes Gesicht sehen und werde es, so Gott will, immer sehen können!‹ Da küßte ihn die Mutter weinend und sagte: ›Ja, mein Kind, jetzt bist du mir aufs neue wiedergegeben!‹ Da mußte auch ich weinen und dachte: Das ist doch viel schöner, als unsere Reise gewesen wäre!«

»Habt ihr aber auch wirklich nie bereut, die Reise aufgegeben zu haben?« fragte Frau Berg.

»O nein, Mama,« erwiderte Resi, »die Freude der beiden Armen machte uns so glücklich, daß wir reichlich belohnt und für das aufgegebene Vergnügen entschädigt waren.«

Frau Berg küßte ihre Kinder zärtlich; im stillen aber beschloß sie, als Ersatz für die Pfingstreise den Kindern in den großen Ferien die Schönheiten des Riesengebirges zu zeigen, und hat diesen Vorsatz zu aller Freude auch ausgeführt.

Else Frey.


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