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»Piep, piep, piep!« rief es den ganzen Tag im kleinen Sperlingsnest. Papa und Mama Spatz hatten vier kleine Spatzenkinder, welche immer nur ihre Schnäbelchen aufrissen und fette Bissen, als Mückenbraten und Fliegenspeise, verlangten.
So hatten die Sperlingseltern ihre reichliche Arbeit, besonders noch, da eins der Kinderchen, der kleine Jöching, recht wild und ungezogen war und sich trotz strengem Verbote immer wieder weit aus dem Nest herauslehnte. Die Mutter flog stets mit Sorgen davon, wenn sie neue Nahrung suchte, und hatte ihren Lieblingen schon manch traurige und schaurige Geschichten erzählt von dem großen, schwarzen Kater mit den blitzenden Augen, der nur immer auf der Lauer stände, ob er nicht ein armes Vögelchen erhaschen könne, um es zu verspeisen. Dann hatten wohl die kleinen Spatzenherzchen ängstlich gepocht und das Mütterlein glaubte, daß ihre Kinder aus Furcht vor dem Kater nun tief im Nestlein sitzen bleiben würden.
»Piep, piep!« rief die Mama, als sie davonflog, und alle riefen ihr nach: »Piep, piep!« das sollte heißen: »Komm recht bald zurück!«
Zuerst verhielten sie sich auch ganz ruhig; jedoch der Jöching hielt das Stillsitzen nicht lange aus.
»Ich will doch mal sehen, wie eigentlich so ein böser Kater aussieht,« rief er. Das Schwesterchen zog ihn zurück, aber desto wilder wurde Jöching, und ehe die Geschwister ihn daran hindern konnten, beugte er sich weit heraus, und – o weh! – verlor das Gleichgewicht und stürzte von oben herab.
Er schrie nun ganz jämmerlich, denn Flügel und Beinchen schmerzten ihn sehr, und dazu kam noch die Angst vor dem Kater. Auch die Geschwister schrien aus Leibeskräften, so daß es weithin zu hören war. Und nicht lange dauerte es, da kam die geängstigte Mutter nach Hause. Sie weinte bitterlich; denn eine Spatzenmama kann ihr Kindlein nicht auf den Arm nehmen und es ins weiche Bettchen zurücktragen.
So sah sie den sicheren Tod ihres Lieblings vor Augen, als plötzlich statt des Katers ein niedliches Mädchen daherkam und den kleinen Schreimatz aufhob.
»Was piepst du denn immerzu?« sagte das Mädchen. »Bist wohl aus deinem Nest gefallen und hast nun Hunger? Na, komm nur mit mir, ich will dir Mücken fangen und du sollst schon satt werden.«
Zuerst fürchtete sich Jöching in der Hand des kleinen Mädchens recht sehr; als er aber sah, daß ihm nichts geschah, schwieg er; nur sein Herzchen pochte noch heftig. Zu Hause, in der Stube, legte ihm seine kleine Retterin unzählige Mücken auf den Tisch und setzte ihn dicht davor. Aber er fraß nicht, weil er das noch nicht gelernt hatte; war er doch noch so sehr klein.
»Ach, du bist dumm; wenn du nicht fressen willst, wirst du auch wohl keinen Hunger haben,« sagte sie.
» Lieschen! Lieschen! wo steckst du nur? Ich suche dich überall,« rief die Mutter. »Aber was hast du denn da? Ein Vögelchen? Wo hast du das Tierchen gefunden?«
Lieschen erzählte der Mama, daß es wohl aus dem Nest gefallen sei und gar nicht die Mücken aufpicken wolle, die sie für das Spätzlein gefangen habe.
»Das glaube ich wohl,« sagte Mama. »Es ist gar mühsam, ein solch junges Tierchen zu füttern. Ich werde dir's einmal zeigen, und dann sollst du bald sehen, wie gierig es all die Mücken hinunterschluckt.«
Die Mutter nahm nun eine Stricknadel, setzte auf die Spitze eine Mücke, machte dann dem kleinen Spatz den Schnabel weit auf und brachte ihm den fetten Braten tief in den Hals hinein. Da hättet ihr Jöching sehen sollen, wie hastig er schluckte! Im Nu war das ganze Futter verschlungen.
Nun schien er aber auch satt zu sein und recht müde; die kleinen, runden Äuglein fielen ihm zu, und Lieschen legte ihn in ein weich und warm aus gefüttertes Drahtkörbchen.
Am anderen Morgen suchte die kleine Pflegemutter schon zeitig nach Frühstück für unser Spätzlein, das auch schon laut schrie und vor Hunger fortwährend piepte. Dann begann wieder die Fütterung. Lieschen hatte genau aufgepaßt, wie ihr Mütterchen das vorgemacht hatte; es gelang ihr und zwar von Tag zu Tag immer etwas besser.
Jöching kannte nun auch schon seine neue, kleine Mama; er fühlte sich ganz glücklich, lief immer mit, saß bald auf Lieschens Schulter, bald auf dem Tisch vor ihr, pickte auch schon manchmal allein etwas von Lieschens Teller beim Essen und wurde immer klüger und dreister. –
So verging die Zeit, und aus dem Spätzchen war ein dicker, fetter Spatz geworden. Der Winter ging vorbei, und die Sonne schien wieder ganz herrlich ins Fenster – es war ein schöner, warmer Frühlingstag. Die Vögel sangen draußen im Garten so lustig und munter, und unser Spatz schaute sehnsuchtsvoll durchs Fenster. Er wäre so gern mit den andern fröhlich gewesen, hüpfte hin und her und bemerkte plötzlich, daß das eine Fenster nicht ganz geschlossen war. Die Versuchung war zu groß – er flog laut zwitschernd hinaus zu seinen Kameraden. Das war eine Freude! Nur Klein-Lieschen stand tiefbetrübt am Fenster und schaute nach ihrem Pflegling aus; sie war gerade dazugekommen, als das Spätzlein davonflog.
Sie sah, wie die Vögel sich untereinander vergnügten, wie sie sich haschten, genau so wie die kleinen Kinder; jetzt flogen sie alle auf, dann setzten sie sich wieder, zausten sich und badeten sich im Sande, bis sie müde wurden und jeder sich ein ruhiges Plätzchen aussuchte.
Nun war Jöching mit einem Male ratlos. Er empfand Reue, und hoffend, das Fenster noch offen zu finden, flog er heim. Aber ach! Alles war geschlossen und ängstlich piepend und schreiend lief unser Spatz auf dem Sims auf und ab, pickte mit seinem Schnabel gegen die Scheiben – niemand hörte ihn. Da gerade kam sein Pflegemütterchen, um die Pflanzen auf der Veranda zu begießen. Freudig zwitschernd flog er ihr entgegen, setzte sich auf ihre Schulter und pickte an ihren Ohren, was wohl einen Kuß bedeuten sollte. Jetzt freuten sich beide, daß sie wieder beieinander waren, und sie blieben von nun an immer beisammen. Nur manchmal erhielt das Spätzlein Erlaubnis, mit seinen Kameraden zu spielen, aber stets war es rechtzeitig wieder daheim.
Als Jöching alt geworden, erblindete er auf einem Auge; er zeigte sich lange nicht mehr so fröhlich, wurde schwächer und schwächer, und eines Morgens lag er steif und kalt in seinem Nestchen.
Lieschen war recht betrübt darüber. Sie begrub ihn an ihrem Lieblingsplatz im Garten, schnitzte ihm ein kleines, hölzernes Kreuz und schrieb darauf:
»Hier ruht mein Spätzchen!«
Kommt ihr einmal an den schönen Rhein, dann laßt euch das kleine Vogelgrab zeigen. Es wird noch immer vom guten Lieschen sorgsam gepflegt und ist schon lange mit allerliebsten Vergißmeinnicht bepflanzt
Léonie Waldbach.