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Ehrgeiz.

Ella war die beste Schülerin ihrer Klasse, sie schrieb und zeichnete so hübsch, machte die besten Aufsätze und war im Rechnen ausgezeichnet. Größer aber als ihr Fleiß war ihr maßloser Ehrgeiz; er verzehrte sie fast. Unerträglich war ihr der Gedanke, daß jemals eine ihrer Mitschülerinnen sie überflügeln könne.

Eifersüchtig wachte sie über ihre Hefte, damit ja keine andere ihr etwas abschreiben könne; fieberhaft erregt war sie stets, wenn die Aufsatzhefte ausgeteilt wurden, bis das Ergebnis bekannt war, das regelmäßig Ellas Arbeit als die beste bezeichnete. Einmal hatte sie wegen Vergeßlichkeit einen Tadel bekommen, darüber brach sie in so leidenschaftliches, krampfhaftes Schluchzen aus, daß die erschrockene Lehrerin sie kaum wieder beruhigen konnte.

Eines Morgens führte die Vorsteherin, als die Stunde schon begonnen hatte, ein kleines, blondlockiges Mädchen in die Klasse.

Alle Kinder betrachteten die Neue, und ihre Lieblichkeit gewann ihr schon im ersten Augenblick die Herzen der Lehrerin und aller Mitschülerinnen. Nur eine warf ihr unfreundliche Blicke zu. Ella war es, die in jeder neuen Schülerin so lange eine Feindin erblickte, bis sie sicher war, von ihr nicht übertroffen zu werden.

Immer finsterer wurde Ellas Gesicht beim weiteren Verlauf des Unterrichts. Die Neue war nicht nur herzgewinnend liebenswürdig, sondern auch klug und gut unterrichtet. Auf jede Frage wußte sie richtigen Bescheid zu geben, und im Diktat machte sie keinen Fehler. Ella aber in ihrer fieberhaften Aufregung verschrieb sich heute zweimal.

Von diesem Tage an verwandelte sich Ellas Ehrgeiz in eine schlimmere Leidenschaft, in wilden Haß, der ihr bei Tag und Nacht keine Ruhe ließ. Täglich wurde Gretchen, so hieß die Neue, gelobt, und nicht nur gelobt, sondern auch geliebt von Lehrerinnen und Mitschülerinnen, so daß Ellas Neid von Tag zu Tag wuchs. Oft war sie zerstreut, weil sie weniger auf den Unterricht als auf Gretchens Antworten achtgab. Die Lehrer ermahnten sie zwar sanft, aber ernst, nicht nachlässig zu werden. Das stachelte des Kindes Leidenschaftlichkeit nur noch mehr, sie verzehrte sich in stummem Haß gegen das liebliche Gretchen, das keine Ahnung davon hatte, daß Ella sie im stillen ihre Feindin nannte.

In hellen Flammen loderte ihr Zorn auf, als die Zeugnisse am Schluß des Vierteljahres verteilt wurden. Gretchen war die Erste, Ella aber die Zweite; das war mehr, als das eitle Mädchen ertragen konnte; laut jammernd rannte sie zum Schulzimmer hinaus, nahm sich kaum Zeit, Hut und Mantel zu nehmen und stürmte nach Hause.

Als die erschrockene Mutter fragte, was geschehen, brach Ella in die schrecklichen Worte aus:

»Wenn sie nur im Bett läge und krank wäre und nicht mehr zur Schule kommen könnte, dann hätte ich Ruhe.«

»Kind, Kind!« rief die Mutter entsetzt, »sei still um Gottes willen, das ist ja sündhaft.«

Die Mutter wußte, wen ihr Kind meinte, denn fast täglich mußte sie heftige Worte über Gretchen hören.

»Dieser Wutausbruch ist krankhaft,« dachte sie und sie irrte sich nicht. Noch am selben Tage mußte sich Ella zu Bett legen. Durch die furchtbare innere Aufregung, die sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, war ein heftiges Fieber bei ihr ausgebrochen. Viele Tage lang saß Ellas Mutter am Bette ihres Kindes, bewachte den fliegenden Atem und lauschte auf die wirren Phantasien, in denen immer von Gretchen die Rede war. – Endlich ließ das Fieber nach, aber schwach und matt war Ella geworden, ans Aufstehen konnte sie noch nicht denken.

Da kam eines Tags ein kleines blondhaariges Mädchen, um sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen. Ellas Mutter war ganz erstaunt, als Gretchen ihren Namen nannte; es war ihr unbegreiflich, wie Ella ein so liebliches, sanftes Geschöpfchen hassen konnte. Erst wollte sie Gretchen nicht zur Kranken führen, weil sie einen neuen Wutausbruch befürchtete; nach einiger Überlegung gab sie es jedoch zu, um Gretchen nicht zu kränken. Als Gretchen ins Krankenzimmer trat, da flammte es wieder zornig in Ellas schwarzen Augen auf, doch als sie ihr ein Sträußchen duftender Blüten reichte und fragte: »Geht es dir besser, liebe Ella?« da überzog dunkle Röte ihr blasses Gesicht und leise sprach sie: »Ich danke dir.«

Gretchen kam nun öfters und immer brachte sie etwas mit, entweder eine Apfelsine oder eine Blume oder ein hübsches Bild. Stundenlang saß sie oft bei der Genesenden, obgleich draußen sonniger Frühling war.

Es schien, als ob Ella ihren Haß ganz vergessen habe, nie mehr sprach sie mit der Mutter über Gretchen, aber wenn dieselbe eintrat, lächelte sie ihr freundlich entgegen.

Einmal sagte sie traurig: »Wenn ich wieder in die Schule komme, dann kann ich nichts, gar nichts mehr, und werde wohl sitzen bleiben müssen.«

Da lachte Gretchen laut auf: »Wie du nur so sprechen kannst, Ella! Du lernst doch so leicht, und wenn es dir recht ist, und du wohl genug bist, dann bringe ich dir jeden Tag die Aufgaben.«

Gretchen hielt Wort. Jeden Nachmittag konnte man die beiden kleinen Mädchen beisammensitzen und eifrig lernen sehen. Ellas Mutter freute sich an dem lieblichen Bilde, es sah auch gar zu hübsch aus, wenn Gretchen den Arm um Ella schlang und ihre blonden Locken über Ellas schwarze herabsanken.

Täglich sah Ella nun rosiger und freundlicher aus; und als sie ganz genesen war, da hatte sie nicht nur eine schwere Krankheit, sondern auch ihren maßlosen Ehrgeiz überwunden.

Else Gernet.


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