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Hell und leuchtend stand die Sonne am Himmel; aber auf der Erde war es trotzdem bitterkalt. Der Schnee funkelte und blitzte im Sonnenschein und knirschte leise, als Gerda im roten Mäntelchen und Häubchen mit der Tante durch den Park schritt, um Großtante Malchen zu besuchen und ihr die schönen Zuckersterne zu bringen, welche Gerdas Mama für Tante Malchen gebacken hatte.
»Tante!« sagte Gerda, nachdem sie eine Weile schweigend neben derselben einhergetrippelt, »Tante Cora, wenn es jetzt Sommer wäre und der Park wäre ein tiefer Wald, und du wärest gar nicht bei mir, und Marko und Minka auch nicht, und Tante Malchen wäre meine Großmutter: dann wäre ich das Rotkäppchen! Ach, wie lustig müßte das sein!«
»Lustig? Hm!« erwiderte die Tante. »Das meine ich nun gerade nicht, Gerdchen! Denkst du es dir so sehr vergnüglich, mit einem Wolfe zusammenzutreffen?«
»Oh!« sagte Gerda und warf das Köpfchen zurück, »ich würde mich gar nicht vor dem Wolfe fürchten! Wenn er zu mir herkäme, dann würde ich ihn nur ansehen mit ganz erschrecklich großen Augen. Siehst du – so!« – und dabei öffnete Gerda ihre braunen Augen, soweit sie konnte – »und dann würde der Wolf den Schwanz einziehen und davonlaufen; o, so schnell! Und nachher würden Mama und Großmama mich loben, weil ich so artig gewesen und gar nicht mit dem Wolf gesprochen und mich auch kein bißchen vor ihm gefürchtet habe!«
In diesem Augenblick faßte ein Windstoß Tante Coras Hut und wirbelte ihn den steilen Abhang hinunter, der sich eine Strecke weit am Wege hinzog. Gerda fand dies sehr spaßhaft und klatschte lachend in die Hände. Als aber Tante Cora, nachdem sie Gerda streng geboten, nicht von der Stelle zu weichen, hinter dem hohen Schneewall am Rande des Abhangs verschwand und Minka und Marko zu gleicher Zeit in unerlaubtem Eifer einer krächzenden Krähe nachjagten: da schmolz Gerdas Mut so schnell zusammen, wie das Zuckerstückchen, welches sie jeden Tag in ihr goldumrändertes Kaffeetäßchen warf.
Zitternd und bebend stand sie da und wagte vor Furcht nicht, sich zu rühren. Auf einmal knackte es in dem verschneiten Buschwerk hinter ihr. Ganz deutlich sah Gerda eine braune Schnauze und zwei funkelnde Augen aus dem Busche blitzen. So, gerade so war der Wolf in ihrem Märchenbuch gezeichnet!
Nun war es Zeit, die tapfern Vorsätze wahr zu machen und den Wolf mit großen strengen Blicken in die Flucht zu jagen! Ja, ja! Aber wo waren sie, die schönen Vorsätze? Der Wind mußte sie von dannen geweht haben! Wohl öffneten sich Gerdas Augen, soweit sie konnten, aber es war nichts von Strenge darin zu sehen, nur eine erschrecklich große Herzensangst blickte aus ihnen hervor!
Und es war auch nicht der Wolf, der die Flucht ergriff, sondern Klein-Gerda selber! Sie ließ ihr Körbchen zur Erde fallen und stürzte mit dem lauten Angstruf: »Der Wolf, der Wolf!« in die Arme der Tante, welche eben aus dem Graben wieder emportauchte.
»O, du Hasenfüßchen!« sagte die Tante und schlang halb lachend, halb mitleidig die Arme um das zitternde Kind: »Wo soll er denn sein, der Wolf?«
Gerda vermochte vor Furcht kein Wort hervorzubringen, aber Tante Coras Augen folgten dem angstvollen Blick, den Gerda nach dem Buschwerk sandte. Und richtig! – da knackte es wieder und mit lautem Bellen stürmten – Marko und Minka aus dem Gebüsch hervor.
»O, du Hasenfüßchen!« lachte die Tante abermals, und diesmal lachte auch Gerda, aber nur ein ganz klein bißchen, denn ihr Herz klopfte noch immer wie ein Hämmerchen, und so ganz und völlig war die Angst auch noch nicht überwunden. Es war Gerda, als ob sie doch erst wieder recht frei zu atmen vermöchte, wenn der Park mit seinen Bäumen und seinem verdächtigen Buschwerk erst hinter ihnen liege. Sie mußte deshalb auch, solange sie noch im Parke gingen, immer wieder heimlich zurückschauen, ob der Wolf nicht am Ende doch noch kommen würde?
Der Wolf kam nun zwar zum guten Glücke nicht; aber Gerda war doch sehr, sehr froh, als am Abend der Knecht mit dem großen Schlitten und den munteren Braunen erschien, und Tante Cora samt ihrer tapferen, kleinen Nichte, unter lustigem Glockenbimmeln, auf der schönen, sicheren Landstraße heimwärts fuhren.
Zwar führte die Landstraße am Parke vorbei, aber der Park war glücklicherweise umzäunt. Das war ein großer Trost! Wer weiß, was sonst alles hätte geschehen können? Ja, wer kann es wissen? – Gerda dachte an alles mögliche, aber da sie es niemand sagte, so hat es auch niemand erfahren. Nur das ist gewiß: Nie mehr in ihrem Leben hat sie wieder den Wunsch gefühlt, an Rotkäppchens Stelle zu sein! –
C. L.