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Bertas Zeichnung.

Einige Wochen schon ging Berta zur Schule. So lange hatte sie sich auf diese Zeit gefreut; nun war sie endlich da, und alles war ganz so, wie Berta es sich ausgemalt.

Und ihre Freude nahm nicht ab. Nein, ihre Liebe zu der freundlichen Lehrerin wurde immer größer und demgemäß wuchs auch die Lust, mit welcher Berta sich jeden Morgen auf den Weg zur Schule machte.

Wohl war es auch zu Hause bei Mama und dem kleinen Brüderlein, bei all den schönen Puppen und sonstigen Herrlichkeiten sehr lustig und vergnüglich gewesen. Aber das alles war ihr ja durch die Schule nicht genommen worden. Es war im Gegenteil wieder ein ganz besonderes Vergnügen, mit den Puppen in der freien Zeit nun ganz richtig Schule zu halten und dem kleinen Bruder mit großer Weisheit auseinanderzusetzen, was ein »m« und was ein »n« sei und ihm alle die Buchstaben in seinem schönen Bilderbuch zu zeigen, welche die Schwester nun schon lesen konnte.

Auch die edle Schreibkunst erlernte Berta schon, und jeden Tag wurde zu Hause eine Seite ihrer Tafel mit den neu erlernten Zeichen gefüllt.

Erst waren es gerade, dann schräge Striche gewesen. Jetzt waren sie beim »i«, und die kleinen gelehrten Fräulein empfanden keinen geringen Stolz darüber, daß sie nun etwas schreiben konnten, was jedermann zu lesen verstand!

Auch heute saß Berta wieder an ihrem Tischchen. Die Tafel lag vor ihr, aber noch unbeschrieben, obwohl die Kleine schon geraume Zeit sich zum Lernen niedergesetzt hatte.

Allein Berta hatte etwas Schwieriges auszudenken. Es war ihr eingefallen, wie langweilig Fräulein Müller nun die Striche und die »i« sein mußten. Wie oft schon hatte sie ihr eine Tafel voll gebracht, heute könnte sie ihr wohl eine Zeichnung machen! Sie hatte schon viele Zeichnungen gemacht – bei jeder Gelegenheit zeichnete sie, natürlich auf die Schiefertafel – und so besaß sie eine gewisse Kunstfertigkeit darin. Bald hatte sie auch einen würdigen Gegenstand gefunden: das Schulhaus wurde in die Mitte gestellt, dann kam sie selbst, wie sie in die Schule ging; unten standen einige Bäume – das mußte Fräulein Müller gefallen! Ob sie wohl auch sagen würde: »Das ist schön gemacht!« wie sie gestern zu einer anderen gesagt?

Mit noch mehr Eifer als sonst machte sich Berta am nächsten Morgen auf den Weg, sie konnte es kaum erwarten, bis sie ihre Zeichnung vorgelegt hatte. Fräulein Müller würde sich darüber wohl sehr freuen, sie vielleicht ihr »liebes Kind« nennen, vielleicht auch ein bißchen loben, das waren herrliche Aussichten

»Na, warum bist du heut' so lustig?« fragte ihre Mitschülerin Elvira, mit der sie auf dem Schulwege zusammentraf.

»Ich freue mich eben so sehr,« erwiderte Berta.

»Dummes Ding, wie kann man sich freuen über die Schule! Es wäre viel schöner, wenn man heute herumspringen könnte, statt stillzusitzen. Ich wollte, ich hätte das dumme Schulgehen gar nicht angefangen.«

»Fräulein Müller ist doch so lieb.«

»Ja, gegen dich. Aber sie will, daß man immer aufpassen soll, und ich mag nicht, und das Schreiben ist so langweilig.«

Nun waren sie im Schulhause. Mit erwartungsvollem Herzchen saß Berta und sehnte den Anfang des Unterrichts herbei. Endlich kam Fräulein Müller und sie durften ihre Tafeln zeigen.

»Sieh, das hab' ich gemacht, weil ich dich so lieb habe,« flüsterte Berta, indem sie ihre sorglich behütete Zeichnung vor die Lehrerin legte.

»Das ist ja ganz nett; was soll es denn sein?«

»Hier ist das Schulhaus und das bin ich,« fing Berta ihre Erklärung an; aber Fräulein Müller unterbrach sie: »Wo hast du denn deine ›i‹?«

Bertas Gesichtchen wurde betrübt. »Ich habe dir eine Zeichnung gemacht, weil ich schon so oft ›i‹ geschrieben habe; die Zeichnung ist doch viel schöner.«

»Das ist sie auch, mein liebes Kind.« Fräulein Müller schaute das betrübte Gesichtchen so freundlich an, und Berta merkte, daß sie ihr nicht böse war, und atmete wieder ein wenig auf. »Doch sieh, ich hatte dir aufgegeben, die ›i‹ zu schreiben, das hättest du zuerst tun sollen. Eine Seite voll ›i‹ hätte mich mehr gefreut.«

Voll schwerer Gedanken ging Berta an ihren Platz zurück, noch konnte sie nicht begreifen, warum die langweiligen »i« mehr Freude machen sollten, als eine so schöne Zeichnung.

Sie mußte zu Hause ihr Mütterchen noch einmal fragen.

»Mein Herzenskind, wenn wir dir etwas auftragen zu tun, so mußt du es auch tun, das weißt du wohl. Und weil es dir manchmal viel schwerer wird, wenn du es tust, als wenn du sonst etwas nach deiner Wahl für uns machst, deshalb haben wir eine größere Freude daran, wenn du jeden Tag deine kleinen Pflichten erfüllst, als wenn du uns sonst etwas schenken würdest.«

»Dann muß ich wohl immer schreiben, was Fräulein Müller sagt, ob ich will oder nicht? Und auch in die Schule gehen, wenn ich gar nicht mag?« Es war dies ein ganz neuer Gesichtspunkt für Berta; bis jetzt waren Pflicht und Vergnügen bei ihr immer zusammengefallen.

»Ja, mein Herz, unsere Pflichten müssen wir immer erfüllen, auch wenn wir nicht mögen. Es geht aber damit, wie dir mit der Schule. Wenn wir sie gern tun, erwächst uns lauter Freude und Vergnügen aus ihnen.« –

Eine Weile später saß Berta wieder an ihrem Tischchen und schrieb mit der größten Sorgfalt die Tafel auf beiden Seiten voll »i«. Es mußte lauter Musterbuchstaben geben; Fräulein Müller sollte sehen, daß Berta nun ihre Pflicht verstand und ihr Freude machen wollte.

»Mutter, so schön waren sie noch nie, sieh nur!« Die Mutter küßte ihr Töchterchen. »So ist's recht, mein Kind; das wird Fräulein Müller freuen; und dich freut es auch, nicht wahr?«

»Gewiß, Mütterchen, sehr.« Nie mehr vergaß Berta den Tag, an dem sie gelernt, was Pflicht bedeutet, und wie viel Freude die Erfüllung derselben bringt.

Luise Kost.


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