Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Am Sarg Alexander Girardis

trete die Trauer zurück und lasse den Wunsch die Wache halten: der erbarmende Genius der Vergangenheit möge die unbefugten Leidtragenden verjagen, dorthin, wo sie in Blut und Schmutz Freudenfeste feiern, dorthin, wo der unerbittliche Zeitgeist sie treffen will und sie ihn. Die unbefugten Leidtragenden, die nur der letzte Verzicht auf ein Schamgefühl ermutigen kann, um Girardi zu klagen, sind die Henkersknechte eines Lebens, das sie gezwungen haben, sein eigenes Grab zu schaufeln. Die unbefugten Leidtragenden, die tieftrauernd von aller Scham Verlassenen, sind aber auch die Bewohner einer Theaterstadt, die ihrem Ruin als Zuschauerin bis zum Schluß beiwohnt, sind die Verräter eines Volkstums, die ihr Gewand verkauft haben, um in die Hölle zu fahren; ihre Heiligtümer in Aktiengesellschaften verwandelt sahen, ihre Wahrzeichen umgelogen, und nun in den Weltuntergang als Tanzoperette mit Berliner Text und Budapester Melodie hineinrennen. Nicht der Hingang, sondern das Dasein dieses einzigen Girardi war beweinenswert. Denn wenn alles Menschentum der Kulisse nur ein Wertmaß der Zeit ist und einem unholden Gegenwärtigen nur ein Widerwärtiges gemäß sein kann, das die noch lebendigen Sinne fliehen mögen, so waren sie vor Girardis Ton rettungslos einer unerfüllbaren Sehnsucht preisgegeben; denn dieses Bühnenleben war das Maß des Unermeßlichen, das uns verloren ist. Da stand durch drei Jahrzehnte ein Gast der Zeit in ihrem unsäglichen Ensemble, und es war von tragischer Wirkung, wie die Natur zur letzten Aussprache mit einer Entmenschtheit kam, die eben noch Nerven hat, sich kinematographisch zu erleben. Doch ihrer Schmach unbewußt, treibt diese Zeitgenossenschaft auch Firlefanz mit den Reliquien, stellt sie in einem Etablissement aus, das außen von Marmor ist und innen ohne Geist, und geriet also auf den kindischen Einfall, einem Girardi das Burgtheater zu eröffnen, anstatt es ihm zu Ehren zuzusperren. Aber er wußte nicht, wie ihm geschah, und er ging dahin, ohne zu merken, daß sie ihm ein Bein abgenommen hatten. Wir aber sollen es merken. Nichts bleibt zu tun, als es zu wissen. Und da Girardi hinging, ist erst wahr geworden, was ich damals, gerade vor zehn Jahren, gewußt habe, als er aus Ekel an einem berlinisierten Wien nach Berlin ging. Ich hab's ihm nachgerufen – und uns, dem Volk, das seine Selbstbestimmung in der Hingabe an sein Verhängnis betätigt. Ich fragte, ob es denn der Donau nicht nahegehe, daß sie jetzt über Passau nach Berlin fließt und in die Nordsee mündet; und meinte, daß die Wiener Kultur tot sein müsse, wenn ihr das Herz herausgeschnitten wurde und sie dennoch weiterleben kann. Die Weltausstellungsreife der Wiener Eigenart, schrieb ich, das ethnologische Interesse, das man jetzt an uns nimmt, die Zärtlichkeit der Berliner für uns – dies alles ist fast so tragisch wie unsere Unempfindlichkeit gegen solches Schicksal. »Wir freuen uns, wie sie Stück für Stück von uns ausprobieren und immer mehr Geschmack an unsern Spezialitäten haben und so lange an allem, was wir haben, teilnehmen, bis sie uns eines Tages ganz haben werden. Sie setzen den Wiener auf ihren Schoß, schaukeln ihn und versichern ihm, daß er nicht untergeht; das macht beiden Teilen Spaß und ist ein Zeitvertreib, der über den langweiligen Ernst eines Fäulnisprozesses hinüberhilft. Wir sind auf unsere Tradition stolz gewesen, aber wir waren nicht imstande, die Spesen ihrer Erhaltung aufzubringen. Unsere Gegenwart war tot, unsere Zukunft ungewiß, aber unsere Vergangenheit war uns geblieben. Sollten wir auch die verkommen lassen? Da war es doch klüger, sie einem Volke in Kommission zu geben, das eine hinreichend starke Gegenwart hat, um sich auch noch den Luxus einer fremden Vergangenheit leisten zu können ... Bis die Hypertrophie der technischen Entwicklung, der die Gehirne nicht gewachsen sind, zum allgemeinen Krach führt, ist es das Schicksal der von Müttern gebornen, rindfleischessenden Völker, von den maschinengebornen und maschinell genährten Völkern verschlungen zu werden.« 1908 war's, als ich es schrieb. Der Zeitenschauer, der uns anpackt, wenn wir jetzt mit einem Fuß noch auf dem Franziskanerplatz stehen und mit dem andern schon vor dem Haus, in dem das Kaiser-Wilhelm-Kaffee etabliert ist, erstarrt zu der ohnmächtigen Erkenntnis, daß der Fortschritt dieses Haus bejaht und die Bombe jenen Platz zerstören würde. Und fern bleiben wir der Trauer, wenn die Zeit nicht nur die Macht hat, den Wert zu morden, sondern auch den Mut, ihn zu beklagen!


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