Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Brot und Lüge

Es wäre mithin zum inneren Aufbau der Welt unerläßlich, ihr das wahre Rückgrat des Lebens, die Phantasie, zu stärken. Dies könnte nur gelingen, indem die Notwendigkeit bereinigt und also der Menschengeist von der Befassung mit ihr erlöst, zugleich aber auch der Zustrom aus den falschen Quellen eines papierenen Lebens gehemmt wird. Denn in dem Maß, als der Geist den Selbstverständlichkeiten preisgegeben war, wuchs sein Verlangen, die Phantasie von außen her ersetzt zu bekommen, und je mehr dieses Verfahren vervollkommnet wurde, desto mehr war wieder der Zweck den Mitteln ausgeliefert. Nur eine Politik, die als Zweck den Menschen und das Leben als Mittel anerkennt, ist brauchbar. Die andere, die den Menschen zum Mittel macht, kann auch das Leben nicht bewirken und muß ihm entgegenwirken. Sie schaltet umsomehr den gesteigerten Menschen, den Künstler, aus, während die nüchterne Ordnung der Lebensdinge ihm den naturgewollten Raum läßt. Jene gewährt eine rein ästhetische und museologische Beziehung zum geschaffenen Werk, sie bejaht, diesseits der Schöpfung, das Resultat als Ornament und lügnerische Hülle eines häßlichen Lebens, ja sie erkennt nicht einmal das Werk an, sondern eigentlich nur das Genußrecht der Bevorzugten an dem Werk, dessen Schöpfer vollends hinter dem fragwürdigen Mäcen einer im Besitz lebenden Welt verschwindet. Sie züchtet den allem Elementaren abtrünnigen und eben darum allem Schöpferischen feindlichen Snobismus, der seine Beziehung zur Kunst legitimiert glaubt, wenn er den Schutz des schon vorhandenen Kunstwerks über die Sorgen der Lebensnot gestellt wissen möchte. Aber der Sinn der Kunst erfüllt sich erst, wenn der Sinn des Lebens nicht zur Neige geht, und Symphonien wachsen nur, wenn nicht daneben ein todwundes Leben um Erbarmen stöhnt. Was in das Leben wirkt, ist auch vom Leben bedingt. Ästheten, die die Verhinderung erkennen, mögen dem Geräusch die Schuld geben. In Wahrheit aber umschließt das Geheimnis, dem sich das Werk entringt, noch diesen rätselhaften Einklang mit allem Lebendigen, dessen Verarmung zugleich auch die schöpferische Seele verarmt. Denn was irdischer Überfluß vermag: neben der Not zu leben, weil er von ihr lebt, vermag der Reichtum göttlichen Vermögens nicht – er leidet mit ihr, er verkümmert an dieser Gleichzeitigkeit eines unbefriedigten Lebens und er versiegt an diesen sündigen Kontrasten von Fülle und Mangel, die die Zeit dem stets verantwortlichen Gewissen einer höheren Menschenart vorstellt. In einer Kultur, die den Luxus mit Menschenopfern erkauft, fristet die Kunst ein dekoratives Dasein, und wie alle lebendigen Tugenden eines Volks sind seine produktiven Kräfte gleich gehemmt im Glanz und im Elend und zumal unter dem schmerzlichen Fluch dieser Verbindung. Die Kraft, zu geben, wie das Recht, zu empfangen, sind von der Sicherung bedingt, daß das Leben nicht unter seiner Notwendigkeit und nicht über ihr gehalten, nicht ans Entbehren verloren sei und nicht ans Schwelgen, sondern aufbewahrt für sich selbst und zur Glücksempfindung jeglichen Zusammenhangs mit der Natur, als zu dem »Anteil an diesen Tagen«, den Gott einer Spinne wie einem Goethe gewollt hat. Der Mensch aber hat gewollt, daß er des Anteils, daß er seiner selbst verlustig gehe, und aus der Zeit, die den Lebenssinn mit den Ketten und Fußfesseln der Lebenssorge bindet und das Geschöpf entehrt, floh jede Gnade der Schöpfung. Ist das Naturrecht verkürzt, die Schönheit zu empfangen, so verkümmert auch die Fähigkeit, sie zu geben. Nur jener unseligen, die auch den feindlichen Zeitstoff bewältigt und sich an dem Mißton erregt, der Symphonien verhindert, ist Raum gelassen – woraus sich mir bei klarster Erkenntnis der Problemhaftigkeit meiner Gestaltungen sozusagen der völlige Mangel einer zeitgenössischen Literatur in deutscher Sprache erklärt. Wie es um die Malerei bestellt ist, eine Kunst, deren Werk seine Materie nicht überdauert, weiß ich nicht. Wohl aber weiß ich, daß sie, falls ihr eine ähnliche Verbindung mit allem Lebendigen, wirkend und bedingt, wie der Sprache eignet, einen Rembrandt erst haben kann, wenn ringsum nicht der Tod die Schöpfung bestreitet, und daß die produktive Tat in leerer Zeit der Entschluß wäre, mit der Leinwand des vorhandenen Rembrandt die Blößen eines Frierenden zu bedecken. Denn der Geist steht zwar über dem Menschen, doch über dem, was der Geist erschaffen hat, steht der Mensch; und er kann ein Rembrandt sein.

Diese Sätze habe ich im Juli 1919 geschrieben, zu einer Zeit, da der Hunger für die wohlhabenden Kreise dieser Stadt zwar längst eine Zeitungsrubrik war, aber noch nicht in die Theater- und Kunstnachrichten hinüberspielte. Ich glaube wohl, daß hier für Herzen, die noch lebendige Gedanken zu fassen vermöchten, ein Einklang vernehmbar war zwischen den elementaren Angelegenheiten der Menschheit, also dem Sinn des Lebens und dem Begriff der Kunst, als eine ungeahnte Verbindung, durch die Sein und Schaffen in eine freiere Erde eingeordnet erscheinen, wie eine Entdeckung ihrer Pole: Persönlichkeit und Gemeinschaft und deren Funktion, doch eine und dieselbe Welt zu umschließen. Aber die Gedanken eines Autors sind für wenige Leser ein Anlaß, sich welche zu machen. Weil es an den empfangenden Herzen fehlt, fehlts an den verstehenden Köpfen, und in wie geringem Maß die geistigen Dinge danach angetan sind, Ursache einer zeitlichen Wirkung zu sein und eine Handhabe dem unmittelbaren Begreifen, zeigt wie kaum ein anderer Fall so beispielhaft mein Schicksal einer tiefen Unwirksamkeit, die noch ihre Popularität dem Mißverständnis verdankt, so daß ich mich einigermaßen befugt halte, über die völlige Überflüssigkeit allen Kunstbesitzes ein Wort zu sprechen. Hätten geistige Kräfte jene kontagiöse Gabe der Überredung, welche den Meinungen als ein scheinbarer und von jeder Widerrede zerstörbarer Erfolg zukommt, so wäre doch in zwanzig Jahren das große Übel ausgerottet, dem wir den Untergang so vieler irdischer Werte und Hoffnungen verdanken, diese Presse, die nicht durch die Verbreitung lebensgefährlicher Ansichten, sondern durch die tödliche Gewalt ihres seelenfeindlichen Wesens den Schrecken ohne Ende und nun das Ende mit Schrecken heraufgeführt hat. Ja, ich könnte selbst, von meinem geringfügigen Beispiel auf die kulturellen Besitztümer übergreifend, die den Tempelhütern der Kunst am Herzen liegen, die Frage stellen, ob denn diese Erzlügner, die doch gewiß den Wert an der Wirkung messen, im Ernst der Meinung sind, daß die Habe, vor die sie schützend ihre Arme breiten, damit unser Hunger ja nicht um ein paar Wochen verkürzt werde, wirklich mehr wert sei als die ausländische Valuta, für die wir Getreide bekommen können: wenn all ihr Zauber uns nicht davor bewahrt hat, in diesen Zustand zu geraten, wenn all der herzerhebende und für die Kultur unentbehrliche Besitz uns nicht davor behütet hat, eine Zeitlang mit Gelbkreuzgranaten und Flammenwerfern uns zu vergnügen. Und ob es nicht eben das Ergebnis ist, daß wir selbst nur noch als leibliche Existenz diese Werke wert sind, aber nicht mehr ihrer würdig. Und die eigentliche Niederlage: nur mehr auf Lebensmittel Anspruch zu haben und nicht auf das Glück, eine Kultur aus dem Krieg zu retten, die uns nicht genug verbunden war, uns vor ihm zu retten. Nur zu gern überlasse ich es den Kunstsachverständigen, zu entscheiden, ob Teppiche und Gobelins in dem Tempel Platz haben sollen, in dem unsere Blut- und Wucherwelt vor Rembrandt und Dürer ihre Andacht verrichtet, und vertraue, als einer, in dessen Seele zeitlebens nur die Farbe der Natur Eingang fand, blind der Überlieferung, daß die Werke der Malerei zu jenen unveräußerlichen Geistesgütern der Menschheit gehören, ohne die wir uns das Leben nicht vorstellen und uns selbst nicht auf der heutigen himmelnahen Stufe der Entwicklung denken könnten. Meiner Ahnung ist das Geheimnis unerschlossen, aus dem der Genius in zeitbedingten, zeitverfallenen Materialien seine Welt ersinnt, und es muß wohl jene überzeitliche Wirkung, ohne welche die Kunst nichts als ein schnöder Zeitvertreib oder Aufputz wäre, auch der Schöpfung eingeboren sein, deren Magie der Möglichkeit nicht widerstrebt, wie einst dem fürstlichen Zahler, nun frisch aus dem Mysterium einem Cottagejuden zuzufallen, damit sie ihrer Einmaligkeit genüge und noch im Werte steige. Da ich nun von den Bedingungen dieser Produktion so wenig wie um ihr Geheimnis weiß, so käme meine Unwissenheit in den Verdacht der grundsätzlichen Aversion eines Farbenblinden, wollte ich meinen unerschütterlichen Glauben, daß das Leben wichtiger sei als das Kunstwerk, vornehmlich an den Werken der bildenden Kunst betätigen. Der Frage, ob man solche gegen Lebensmittel umtauschen solle, habe ich durch die Entscheidung, die mit der kostbarsten Leinwand die Blößen eines Frierenden zu bedecken rief, unzweideutig vorgegriffen. Das Beispiel, gegen das der ästhetische Vorbehalt sich sträubt und der rationale die Zweckwidrigkeit der brüchigen Kunstmaterie einwendet, war, als die vorgestellte Wahl der höchsten und letzten im Raum der Notwendigkeit verfügbaren Werte: des toten Lebens und des noch lebendigen, der Gedanke: daß ein auf sein primärstes Problem ausgesetztes Menschentum dem Schaffen und dem Empfangen entsagen muß und der Geist aus Treue zu sich selbst, vom Ästhetischen ins Sittliche gewendet, zur Barmherzigkeit wird. Es kann vollends nicht zweifelhaft sein, daß ich Besitzinteressen für kein Hindernis ansehen werde, wenn es sich nicht um die Zerstörung eines Kunstwerks zum Schutz gegen Erfrieren, sondern nur um seine Entfernung zum Schutz gegen Verhungern handelt. Da es aber noch höhere Interessen als die der Interessenten sein sollen, welche den Verkauf von Kunstwerken verwehren, da sogar die höchste Lüge, über die wir all in unserer Not noch verfügen und die wir noch an unserm Grabe aufpflanzen, nämlich unsere Kultur es verwehren soll, so wird es sich empfehlen, daß ich ein Gebiet, in dem ich nur durch Unzulänglichkeit des Wissens Aufsehn errege, verlasse und jenes betrete, zu dem mir auch der Todfeind eine gewisse Beziehung der Liebhaberei nicht absprechen wird; und daß ich mein Augenmerk einer Kulturgefahr zuwende, die uns vorläufig noch nicht droht, von der ich aber selbst in Zeiten des Wohlstands wünschen würde, daß sie über uns verhängt wäre. Der tiefsinnigste Einwand gegen den Verkauf von Gobelins, der in allen Protesten wiederkehrt, ist wohl die Erkenntnis, daß Brot, wenn es einmal aufgegessen ist, nicht mehr da ist, während man an der Kunst etwas Dauerhaftes hat. Vorausgesetzt, daß die Regierung, als sie sich zu der Methode entschloß, den Hunger zunächst mit Brot zu stillen und indessen auf Gott oder andere Hilfe zu vertrauen, nicht im Voraus bedacht haben sollte, worauf sie ein Weiser da aufmerksam macht, nämlich auf die Vergänglichkeit der Nahrung im Gegensatze zur Unvergänglichkeit von Gobelins; und falls sie etwa der Meinung war, daß wir von »dem Speck, der knapp für ein paar Wochen reichen wird«, auch fernerhin werden leben können, sei ihr eine Anregung geboten: wenn die Museen geleert sind, nicht zu vergessen, daß es auch Bibliotheken gegen Hunger gibt.

Und damit wäre ich auf dem Gebiete angelangt, wo mein Kulturnihilismus schon einiges Zutrauen verdient und wo ich von berufswegen berechtigt bin, lieber die Zerstörung zu wünschen als den Gebrauch zur Lüge. Wenn es nun um den Verkauf von Literatur ginge, so weiß ich wohl, daß das vielmalige Vorhandensein eines und desselben Geisteswerkes wie die nationale Bedingtheit seines Verständnisses Wesensmerkmale sind, die seinen Kaufwert neben dem Ertrag der bildenden Kunst verschwinden lassen; gleichwohl würde hier, bei vertausendfachter Fülle des Inventars, das bibliophile Moment in zahllosen Fällen seinen Anreiz bewähren. Ich habe für die Dringlichkeit, das nackte Leben zu retten, nur darum das Beispiel des Bildwerks bevorzugt, weil Leinwand als Kälteschutz sinnfälliger ist denn Papier, das doch erst durch Feuerung dem wohltätigen Zwecke dienstbar wird. Ich lasse aber den Argwohn nicht an mich heran, als ob ich, um in kalter Nacht zu arbeiten, nicht bereit wäre, mit meinen Werken einzuheizen, wenn mich je verlangt hätte, sie zu besitzen. Die Gewißheit um den toten Wert aller geistigen Habe, und wie erst in den Händen dieser Zeitgenossenschaft, hat mich noch immer vor dem Streben nach einem Erfolg bewahrt, der dem Wesen aller künstlerischen Produktion fremd ist und dessen Mangel sie erst bestätigt, und es gehört die ganze Selbstsicherheit dieses Gefühls dazu, den geräuschvollen Anklang, der dem stofflichen Reiz wie der Sonderbarkeit des Einzelfalles gilt, nicht mit jener Wirkung zu verwechseln, die ein Werk dem Publikum zu eigen gibt. Kann ich es aber als den eigentlichen Erfolg meiner Gestaltungen werten, daß sich ihr leichtester Satz dem gemeinen Verständnis noch immer schwerer erschließt als ein Dutzend Bücher, die man ihm abgewinnen könnte; und ist es mir, so wenige es auch wissen oder spüren mögen, zu glauben, daß ich kein materielles Hindernis gelten ließe, wenn es die Vervollkommnung eines Wortes gilt, seine Verantwortung vor mir selbst, also den Bestand vor dem mit zunächst maßgebenden Forum, und dann ohne Beruhigung über dieses hinaus bis an ein imaginiertes Sprachgericht; daß ich einem Beistrich zuliebe auch die Reise an den fernsten Druckort nicht scheute und dennoch unbefriedigt heimkehrte – so wird auch der niedrigste Verkenner in meiner Einschätzung des fertigen, nur scheinbar fertigen Werks, dessen Aufhaltbarkeit alle Zweifel entfesselt hat und dessen Abschluß alle Reue, jede andere Sehnsucht als die nach Beifall erkennen. Wenn das Vorlesen der eigenen Schriften nicht auch die Befriedigung wäre, die dem nervösen Anspruch darstellerischer Lust gebührt, so wäre es nur die Qual des Autors, der noch nie einen Blick in seine gedruckten Werke, es sei denn zur frohgemuten Änderung für spätere Ausgaben, getan hat, der sie am Vorlesetisch hilflos in all ihrer Unzulänglichkeit erleiden muß und, während er das Ohr befriedigt, dem Aug verborgene Korrekturen vermerkt. Der Irrtum, daß die Seele, in der so irdisch unwägbare Interessen leben, Raum haben könnte für Erfolgsucht, müßte schon an der Wahrnehmung zuschanden werden, daß sie den ungeheuerlichen und an jedem Tag bemerkten Ausfall durch all die Jahre doch zu ertragen vermocht hat. Der Irrtum lebt fort von dem Mißverständnis jener historischen Verbindlichkeit, die ich mir mit höheren Pflichten auferlegt habe: innerhalb der eigenen Publizität auch die Signale meines Daseins aus der fremden zu verzeichnen und, da ich dieses Brauchs schon entwohne, mit stolzerem Behagen alle Momente zu sammeln, in denen sich die Konvention des Schweigens an mir erweist. Welch grelleres Schandmal könnte ich aber an einer offiziellen Literaturwelt, die nun leider auch die Ehren der Weltliteratur verteilt, entdecken, als ihre Stellung zu mir? An welchem andern Fall würde denn ihr elendes Scheinwesen, das zu entblößen mir Gebot ist, sinnfälliger? Wo träte die Kongruenz meiner Behauptung mit der Beweisführung derzeit in packendere Wirksamkeit? Und was könnte, nebst seinem eigenen Verhältnis zur Kriegsschmach, das ganze lumpige Lügenwerk dieses Feuilletonismus besser enthüllen als die hehlerische Gewandtheit, mit der er das, was ich 1914 ausgesprochen habe, jenen, die sich schon 1918 getraut haben es mir zu stehlen, als Geistestat anrechnet? Wenn doch der Unverstand, der einem Autor Selbstgefühl vorwirft, endlich zur Kenntnis nähme, daß dieser Zustand nur bis zur Drucklegung vorhält, und da freilich in einer gar nicht vorstellbaren Schrankenlosigkeit, darüber hinaus jedoch nur als der Verzicht auf eine Erfolgswelt in Erscheinung tritt! Und ich glaube wohl, daß keiner der Schöpfer, zu denen sich der Gebildete einer Beziehung rühmt, die aber ohne das zweifelhafte Medium der Literaturgeschichte ganz gewiß nicht auf diese Nachwelt gekommen wären, anders, weniger eitel und weniger bescheiden, zu seinem Werk gestanden hat. Auch sie haben sich selbst eingeheizt, und hätten eben darum nicht gezögert, es mit ihren fertigen Werken zu tun und so auch mit den fremden.

Indem ich bei Verwendung meiner Bibliothek keinesfalls die eigenen Schriften verschone, schütze ich meine allgemeine Geringschätzung der schon geschaffenen Werke gegen den Verdacht, daß ich es geflissentlich auf die mir fremden, auf die Verarmung von Galerien abgesehen habe, und so zu den Objekten der Wortkunst gesinnt, dürfte es dem Schriftsteller am ehesten glücken, einer in Schönheit sterbenden Kriegswelt mit dem Gedanken beizukommen, daß im Namen der Kunst und alles ewigen Lebens der erschaffene Mensch über dem erschaffenen Werk steht. Um die Forderung mit aller nötigen Unerbittlichkeit zu stellen, sei vorweg der Fall angenommen, daß es nicht wie bei den Bildwerken nur auf eine räumliche Trennung, durch die ja bloß die Bedingungen ihrer unmittelbaren Wirkung verändert, vielleicht verbessert werden, sondern auf eine Vernichtung unserer Literaturschätze, ja in der Totalität alter Drucke, die irgendwo vorrätig sind, abgezielt wäre – eine Katastrophe, die man sich noch leichter als durch die Politik der Kohlennot durch einen der Zufälle kriegerischer Zwecklosigkeit verhängt denken könnte. So behaupte ich mit freier Stirn, daß unsere Welt zwar an Genüssen, an jenem Glück der Lüge, die ihr Genüsse einbildet, und vollends der Lüge, die ihr das Hochgefühl einer kulturellen Verantwortung verschafft, ärmer würde, aber nicht um eine Faser von einem lebendig empfangenen Wert. Behaupte ich mit der Beharrlichkeit, die mir so wenig Erfolg erstritten hat: daß ein Zeitungsblatt mehr gegen unsere sittliche Entwicklung bewirkt hat als sämtliche Bände Goethes für sie! Weshalb ich mir zwar von der planmäßigen Vernichtung alles vorhandenen Zeitungspapiers – nach Kriegen, die diese Menschheit ihm verdankt – einen Gewinn verspreche, aber von dem zufälligen Ruin aller vorhandenen Geisteswerke – durch Kriege, die diese Menschheit trotz ihnen führt – keinen Verlust befürchte. So denke ich, und bezeuge es mit der Tatsache, daß die Deutschen, und wenn sie noch so lügen, aus ihren Herzen keine Mördergrube machen, wenns ihre Kultur gilt, und daß sie in hundert Jahren auf ihren Goethe nicht so stolz waren wie in fünf auf ihre Bombenschmeißer. Ich glaube, daß eine Untersuchung, wie viel Deutsche die Pandora und wie viele den Roten Kampfflieger von Richthofen gelesen haben, ein Resultat zeitigen würde, das uns nicht gerade berechtigen könnte, uns in Kulturaffären mausig zu machen. Aber man wende nicht ein, daß Krieg Krieg ist. Wenn das Volk Goethes nicht schon im Frieden gelogen hätte, so hätte es ruhig zugegeben, daß es Geibel für einen weit größern Dichter hält. Wie könnte man die Unentbehrlichkeit der ewigen Werte für das deutsche Gemüt besser beweisen als durch den Umstand, daß vom Erstdruck des Westöstlichen Divan der Verlag Cotta voriges Jahr die letzten Exemplare vom Tausend an einen Liebhaber verkauft hat? Bedürfte es noch des erschütterten Blicks auf die Auflagenfülle Heinescher und Baumbachscher Lyrik? Und welche Gefahr müßte denn einem Wortheiligtum drohen, damit das deutsche Kulturbewußtsein in Wallung käme? Die Schmach, ein Bild aus dem Land zu verkaufen, wo es doch keine war, es hereinzukaufen, möchte jeder Kunstgreisler von unserm Gewissen abwenden. Aber wer protestiert gegen die ruchlose Verwüstung, die den klassischen Wortkunstwerken durch die Tradition der literarhistorischen Lumperei und den ehrfurchtslosen Mechanismus der Nachdrucke angetan wird, durch den frechen Ungeist, der die Sprachschöpfung an der Oberfläche des Sinns identifiziert und korrigiert, und durch ein System, das der Barbarei des Buchschmucks den innern Wert zum Opfer bringt? Welch ärgerer Unglimpf droht denn dem Jagdteppich als statt in Wien in Paris zu hängen? Hat je ein Konservator anders als durch Unfähigkeit an dem ihm anvertrauten Schatz gesündigt, hätte er je wie der Literarhistoriker es gewagt, einen erhaltenen Wert zu zerstören und einen Strich, den er für verfehlt hält, weil seine Stumpfheit eben hier die schöpferische Notwendigkeit nicht spürt, glatt zu überschmieren? An einem der ungeheuersten Verse der Goethe'schen Pandora haben sich die Herausgeber der großen Weimrer Ausgabe dieser Missetat erdreistet, sich unter ausdrücklichem Hinweis auf die Urfassung dazu bekennend, einfach, weil sie die Sprachtiefe für einen Schreibfehler hielten und die schäbige Verstandesmäßigkeit ihrer Interpungierung für den Plan des Genius. »Rasch Vergnügte schnellen Strichs« – gleich den Kriegern des Prometheus an eben jener Stelle. Von solchem Hirnriß, der nun für alle folgenden Ausgaben maßgebend ist und bleibt, von solchem Verbrechen, mit dem sich die deutsche Literaturbildung in ihrer Ohnmacht vor dem Geist durch Frechheit behauptet, von solchem Exzeß deutschen Intelligenzknotentums möchte ich sagen, daß er die Kulturschmach von zehn ans Ausland verkauften Tizians, die doch höchstens durch ein Eisenbahnunglück und durch keinen Historiker verstümmelt werden können, in Schatten stellt. Die deutsche Bildung möge noch so laut versichern, daß sie ohne Goethe nicht leben kann, ja sie möge es sogar glauben – welche Beziehung hat der deutsche Leser zu einem Vers, wenn der deutsche Gelehrte kapabel ist, an dessen heiliges Leben Hand anzulegen? Eben noch die, daß er seinerseits imstande ist, »Über allen Gipfeln ist Ruh« zu einem U-Boot-Ulk zu verunreinigen. Wenn Güter des Geistes den Empfänger so begnadeten, wie die zurechtgemachte Fabel wähnt, so müßte allein von solcher Wortschöpfung, müßte sich von den vier Zeilen, die Matthias Claudius »Der Tod« betitelt hat, eine allgemeine Ehrfurcht auf den Kreis der Menschheit verbreiten, in dessen Sprache solche Wunder gewachsen sind, nicht allein zur Heiligung dieser selbst, sondern zur Andacht vor aller Naturkraft und zur Läuterung der Ehre des Lebens, zu seinem Schutz gegen alles, was es herabwürdigt, kurzum zu einer politischen und gesellschaftlichen Führung, die den Deutschen dauernd vor dem Gebrauch von Gasen und Zeitungen bewahrte. Es müßte mehr Stille in dem Hause sein, in dem solche Worte einmal vernommen wurden, und kein Gerassel mehr hörbar, seitdem ein Atemzug der Ewigkeit zur Sprache ward. Statt dessen erfahren wir es, daß der Lebenston, den keine Schöpfermacht zu verinnerlichen vermöchte, sich an eben ihren Wundern vergreift und ein schimpfliches Behagen, niederträchtiger als jeder Plan, zur Ausrede für die Lästerung wird. Denn wie keine der Nationen, deren Wort solcher Fülle im Einfachsten enträt, deren Mensch aber teil hat an ihren Gaben, lebt der Deutsche neben seinen Gipfeln auf hoffnungslosem Flachland und empfängt nichts von dem Klima, in dem seine Geister hausen. Vermittelt den anderen ihre günstige Mittellage die leichte Berührung mit dem Segen, den die künstlerische Kraft der Nation ergibt, steht jeder einzelne von ihnen durch den zärtlichen Umgang mit der Sprache dem Dichter nahe, so läßt die Umgangssprache des Deutschen nur noch das Staunen übrig, daß aus solchem Rohstoff doch auch das Höchste erwachsen konnte, und die Beziehung seiner Kultur zu den Schöpfern scheint hinterher durch die Pflicht der Bildung oder die Fleißaufgaben des Snobismus hergestellt. Nur eine Sprache, die so der Seele und dem Betrieb, zugleich der tiefsten und der niedrigsten Gesittung gerecht wird, hat die Totenklage über Euphorion und ein »Heldengedächtnisrennen« ermöglicht, und noch die stets fertige Beschönigung jedes Kultur- und Menschheitsgreuels mit der Landsmannschaft Goethes. Nein, Geistesgüter sind nicht wie jene, die sich schieben lassen, »sofort greifbar«, sie entziehen sich dem Händlergeist, auch wenn er sich auf sie beruft und je prompter er an sie herankommen möchte, um sich ihrer zur schönern Aufmachung zu bedienen. Und weil er von ihnen nichts spürt, als daß sie sich ihm weigern, wenn er sie begreifen möchte, so rächt er sich an ihnen. Daß aber just jenes Spießertum, dem eine heilige Schrift zur Unterlage für Gspaß und Gschnas taugt, zum Schutz der Kunstehre das Maul aufreißen muß, versteht sich aus der naiven Unbefangenheit, mit der diese Bekenner, ebenso wie sie ihre ungeheuchelten Schweißfüße in Illustrationen vorführen, auch ihren angebornen Drang zur Lüge annoncieren. Die Selbstlosigkeit, aus der deutsche Kulturhüter sich zu Protesten entschließen, ist wohl am deutlichsten in der Tatsache ausgeprägt, daß kein einziger von ihnen auch nur einen Augenblick vor der Möglichkeit erschrickt, man könnte seine Existenz zum Beweise heranziehen, daß in Deutschland gar keine Kultur in Gefahr ist. Vorbildlich bleibt die Unerschrockenheit jener 93 Intellektuellen, die keine Lüge gescheut haben, um darzutun, daß Deutschland verleumdet werde, und die damit auch tatsächlich den Krieg gewonnen haben, der nur später durch die Ungunst der Verhältnisse wieder verloren ging. So aus der Lüge eine Wissenschaft zu machen und aus der Wissenschaft eine Lüge – das trifft keine andere Nation, und weil jede andere so natürlich geartet zu sein scheint, daß sie vor der Wirklichkeit der Not nicht Redensarten machen wird und daß sie den Hunger für eine respektwürdigere Tatsache hält als selbst Gobelins, so glaube ich, daß sie sobald nicht in die Lage kommen wird, solche um jenes willen verkaufen zu müssen. Gelogen wird ja überall, wo gedruckt wird in der Welt; aber weiß Gott, im Zentrum Europas ist der Mensch schon vollends nach dem Ebenbild des Journalisten geschaffen. Hätten so idealen Geschöpfen Werke, die von den Gedanken der Menschlichkeit überfließen, je etwas anderes als Zeitvertreib gebracht – und den ehrlichern unter ihnen bloß Zeitverlust –, wie wären sie mit so frischem Mut in die Hölle der heutigen Sittlichkeit eingegangen? Fragt man nun aber, wo denn jene durch die Zeitalter dringende Geistesmacht der Kunst geblieben sei, deren Versagen an der Menschenseele wahrlich das größere Rätsel ist als die Unwirksamkeit des unmittelbaren Eindrucks, so kann ich nur bekennen, daß, sowenig ich von dem Erfolg der Lektüre oder der Betrachtung halte, so unverrückbar mir der Glaube an die sittliche Fernwirkung des künstlerischen Schaffens bestehen bleibt, ohne den zu denken undenkbar wäre. Und daß sie ganz gewiß durch alle Offensiven des Satans, deren furchtbarste wir nun erleiden, hindurchgeht, um die Menschheit doch auf einem höheren Grade anzutreffen, als es der Fall wäre, wenn ein Schöpfungsfluch ihr geboten hätte, ohne ihre Sterne durch ihre Nacht zu finden.

Von diesem Glauben an die tiefere Unentbehrlichkeit und Unveräußerlichkeit des künstlerischen Wesens zu dem flachen Wahn, daß wir ohne sein Objekt und dessen Betastung nicht auskommen, ist etwa so weit wie von meinem Schreibtisch zu einer Protestversammlung, in der sich Kunstspießer für die bedrohte Ehre einer Schöpfung ereifern, von welcher sie weniger wissen als von dem Speck, über den sie sich erhaben dünken, solange sie ihn haben. Solange ihnen die Vorstellung eines Lebens, in dem zum erstenmal die Selbstverständlichkeit zum Problem wird, und zum einzigen Problem, nicht an den eigenen Leib rückt. Denn das Quentchen Phantasie, schon heute zu empfinden, was man erst morgen erleben wird und was der nächste Nachbar schon gestern erlebt hat, bringt kein Künstler auf. Es bereitet mir ein in Worten gar nicht ausdrückbares Vergnügen, mich schützend vor die Viktualien zu stellen, wenn eine Regierung es wagte, sie für die Ideale der Wiener Künstlergenossenschaft verkaufen zu wollen. Was bleibt unsereinem übrig als an Butter zu denken, wenn sie für die hehre himmlische Göttin zu schwärmen beginnen? Würde ich nicht dazu inklinieren, Fieberträume zu haben, wenn am Rande des Weltuntergangs ein Dämon namens Sukfüll die Fremden zu dessen Besichtigung anlockt, und beherrschte mich nicht die Vorstellung, daß jener letzte Nibelungenschatz, der nach einem verschärften U-Bootkrieg noch gehoben werden kann, der Fremdenverkehr ist, ich würde klaren Blickes erkennen, daß in diesen dunklen Tagen ein Ersatz für Gschnasfeste beabsichtigt war, indem Malermeister, anstatt jenen unseligen Humor in seine Rechte treten zu lassen, aufstehen, um die Kunst gegen die Ansprüche der gemeinen Lebensnot zu verteidigen. So weit habe ich aber in dem Lärm, den schlechte Musikanten in unserer Hölle aufführen, noch meine Sinne beisammen, um ihnen zu sagen, daß die Not eine viel ehrfurchtgebietendere, viel elementarere Angelegenheit ist als ihre ganze Kunst und selbst als die Kunst, und daß wir nach einer Epoche, in der Millionen mit Lügen die Augen ausgewischt und Tausende mit Gasen geblendet wurden, nach der zur Erholung auf den Wiener Straßen die Schwindsucht spazieren geht, und deren Erinnerung uns zwischen den Strafen unserer irdischen Verdammnis mit dem Bild der Gefangenen quält, die das Fleisch ihrer verhungerten Kameraden gegessen und mit den Kleidern von Choleraleichen sich gegen Frost geschützt haben – weder zu Künstlerhaushumor aufgelegt sind noch zur Andacht vor Gobelins die innere Sammlung besitzen. Und wenn ein maßgebender Tropf, ohne daß ihm der Setzer das Manuskript zurückgibt, die Erkenntnis niederschreibt, Brot sei nur eine irdische Angelegenheit, Kunst aber eine höhere und wir dürften »das wertvollste Besitztum der Nation«, nämlich den Schönbrunner Jagdteppich, nicht gegen Lebensmittel tauschen, weil ein geistreicher Franzose einmal gesagt hat, eine Statue des Phidias habe mehr für die Unsterblichkeit Griechenlands geleistet als alle Siege Alexanders des Großen, so ist ihm zu erwidern, daß die Belästigung mit diesem notorischen Sachverhalt erträglicher wäre, wenn eben der Verkauf eines vaterländischen Kunstwerks geplant würde, und daß man allerdings behaupten kann, Kochs Kolossalgemälde »Die große Zeit« habe mehr für die Unsterblichkeit Österreichs geleistet als alle Siege des Erzherzogs Friedrich, während anderseits sämtliche Statuen des Phidias weniger für unsern Lebensmut getan haben als ein Jahrgang der Neuen Freien Presse gegen ihn. Sollte man glauben, daß eine Öffentlichkeit, und wäre ihre geistige Ehre durch den langjährigen Zwang zur Mordslüge noch über alles vaterländische Maß verludert, solche Schönrederei und solches Kunstpathos widerstandslos erträgt? Eine Berufsdebatte von Spenglern und Tischlern wird mehr lebendige Beziehung zum Leben bekunden als die Wallungen dieser Handwerker, die in ihrem Wahn, gar mit der Kunst verbunden zu sein, den schrecklichsten der Schrecken noch überbieten. Schlappe Hüte, matte Herzen hinter gestärkten Brüsten, das rollende Auge zu einem Himmel emporgewendet, von dem sie ihr Lebtag kein anderes Geheimnis als das des Wetters empfangen haben – wie heilsam wäre ihnen ein Traum, der ihnen die Protestversammlung von Rembrandts entgegenstellte, die gegen den Versuch aufstehen, die Zeugnisse ihrer lebendigen Kraft, überall wirksam oder unwirksam, zum Hausfetisch der Bildung zu machen und der Rettung des Lebens vorzuenthalten! Leute, die es mit der Ehre ihres Berufs vereinbar gefunden und nicht als Stigma der deutschen Kultur verabscheut haben, daß die Kunst als Schöpfungsakt »in den Dienst des Kaufmanns« eintrete, finden es unleidlich, daß sie als Wertgegenstand dem Menschentum diene. Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ihre Würde in die Hand dieser Künstler gegeben ist! Und die Zündkraft der Redensart erscheint auf keinem Gebiet wirksamer als auf dem der künstlerischen Profession. Wäre es sonst möglich, daß auch ein Mann, dessen Kunstauffassung dem gemalten Künstlerhausernst reichlich fern steht, bei dem rednerischen Gschnas bedenkenlos mittut? »Wenn ein Tizian in irgend ein Dorf gesendet würde, dann würde man zu diesem Dorfe eine Eisenbahn führen lassen. Wien aber soll seiner Kunstwerke beraubt werden; es würde zu einer Stadt herabsinken, über die man die Achseln zucken und an der man vorbeifahren würde.« Der Kunstgelehrte, dem die Frage, ob man mit Bildern Getreide kaufen soll, Sorgen macht, scheint die künstlerische Kohlenfrage für gelöst zu halten. Er würde sonst gewiß dagegen protestieren, daß man beim besten Willen, eine Eisenbahn zu einem Tizian führen zu lassen, nicht genug Kohle für diesen Zweck hat, ja nicht einmal für den doch praktischeren Ausweg, den Tizian nach Wien zu bringen, und leider auch nicht für die Notwendigkeit, den Neugebornen im Wöchnerinnenspital den Erfrierungstod zu ersparen. Aber sein Glaube an eine Menschheit, die mitten auf ihren Geschäftsreisen nach Wien umkehrt, weil es dort keine Gobelins mehr gibt, ist doch ein rührender Beweis jener Lebensferne, in die auch bei bestem Kohleneinlauf keine Eisenbahn geht. Wiewohl der Tizian so mit den allerpraktischesten Rücksichten verknüpft wird, scheint hier doch weit weniger der Standpunkt der Landesfremden als der der Weltfremden zur Geltung gebracht. Der Kunstkenner erklärt schlicht, daß »die Frage der geistigen Zukunft Deutschösterreichs auf dem Spiele« sei, und hält es für eine »Angelegenheit von größter geistiger Tragweite«, was sie zweifellos ist, wenn man an sie den Maßstab der geistigen Tragweite anlegt, die die Argumente ihrer Vertreter haben. Sie bezeichnen sich aber trotzdem als die »geistig Höchststehenden einer Nation, an denen ein Verbrechen begangen werden soll«. Und einer von ihnen paradiert mit dem Gedanken: Wenn das Brot aufgegessen sei, »werden wir tausendmal ärger dran sein, weil wir nicht einmal mehr die Hoffnung haben werden, uns durch Manöver wie das jetzt beabsichtigte noch solange über Wasser zu halten, bis das Wunder geschieht, auf das offenbar gewartet wird«. Man würde also meinen, daß der Hohlkopf mindestens in demselben Maß, in dem uns dann die Hoffnung fehlt uns über Wasser zu halten, sie jetzt gegeben sehen und also für den Verkauf plädieren müßte. Aber es widerstrebt ihm eben, das wertvollste Besitztum der Nation, nämlich den Jagdteppich – er wird sogleich den Phidias berufen – »um ein Linsengericht zu verkaufen« und sich dadurch »auf Jahrhunderte hinaus mit der Verachtung der Nachwelt zu beladen«. Die Schäden des Weltkriegs würden, schätzt der Optimist, »in fünfzig bis sechzig Jahren ausgeglichen sein«, aber in den Baedekers der kommenden Zeiten – Achtung auf den Fremdenverkehr! –werde »unsere Schmach in großen Buchstaben verzeichnet stehen und, solange Wien besteht und es Wiener gibt, uns auf der Seele brennen«. Wenn wir dazu noch hoffen können, daß dann den Wienern auch etwas auf dem Herde brennen wird, so dürften die Sukfülls, die da kommen werden, sich schon etwas von der Attraktion einer solchen Schmachspezialität versprechen. Es wird doch immer heißen, daß es ein lustiges Völkchen war, das aus purem Übermut, wo eh nur fünfzig Jahre bis zum Ende der Hungersnot waren, den Vorsatz ausgeführt hat: Verkaufts mein' Gobelin, i fahr in' Himmel! Und »allen Warnungen und Argumenten zum Trotz«. Denn es ist nicht nur, sagen die Künstler, »ein unersetzlicher kultureller Verlust, sondern auch eine schwere Schädigung des Volksvermögens«. Wozu noch kommt, daß »die Erklärungen der Regierung den Künstlern nicht die Überzeugung zu verschaffen vermögen«, daß sie schon alle andern Mittel versucht habe, um die fremde Valuta zu bekommen und »daß die ernste Absicht bestand, Hindernisse, die der Beschaffung des Kredits im Wege stehen mochten, zu beseitigen«. Glauben sich aber die Künstler zur Beurteilung dieses Gegenstandes hervorragend kompetent, so räumen sie doch ein: »Sollte sich aber der Verkauf als unbedingt notwendig erweisen, so erwarten sie«. Der seichte Ärger, der dann irgendwelche Richtlinien vorschreibt, macht nicht nur aus der sozialen Sache eine künstlerische, sondern verwechselt noch die beiden. In die Enge getrieben, will er den ganzen Schwall kultureller Verwahrungen nur zur Verhütung eines schlechten Verkaufs aufgeboten haben. Aber da diese Sorge in die kunstrichterliche Kompetenz fällt, erscheint die Verkaufsnotwendigkeit bejaht. Wenn also die Katastrophe – nicht die der Hungersnot – unabwendbar sei, so sei »der einzige schmale Trost, der dem einigermaßen weltbürgerlich Veranlagten bleibt, der, daß diese Schätze an den Orten, wo sie hinkommen werden, besser verstanden und gewürdigt werden dürften als dort, wo sie bis jetzt waren«. Das ist sicherlich ein Trost in dem letzten Unheil, das wir uns durch einen mutwillig heraufbeschworenen Verteidigungskrieg zugezogen haben, und wohl auch etwas wie eine Erkenntnis. Was aber bleibt jenen übrig, die nicht weltbürgerlich veranlagt sind, sondern mehr im Hinblick auf den Phidias Lokalpatrioten? Wie kommen wir dazu, durch unsere Gobelins Frankreich zur Unsterblichkeit zu verhelfen? Einst zwar waren wir auch für diese besorgt, und die Debatte weckt die Erinnerung an jene Tage, wo wir noch genug zu essen hatten, aber das Essen uns nicht mehr schmecken wollte, weil den Parisern die Mona Lisa gestohlen war. Es war das Merkmal der kulturellen Solidarität, die damals Europa noch umspannte, daß wir alle, auch jene überwiegende Majorität, die sie nie gesehen und bis dahin für eine Pariser Nackttänzerin gehalten hatte, ihre Entrückung als den schwersten Eingriff in unsern geistigen Besitzstand empfanden, und zwar unter dem Zuspruch der habgierigsten Stimme dieses Landes, die wie sonst nur vom Zauber der Milliarde plötzlich vom Farbenschmelz dieses Lächelns zu schwärmen anhub und den Raub der Mona Lisa als den persönlichen Verlust ihres Börsenlebens beklagte. Denn das künstlerische Gewissen Wiens, möge es nun von akademischen Christusbärten oder vom Gegenteil vertreten sein, reagiert nicht so sehr auf den Zuwachs, den ein Museum empfängt, wie auf den Verlust, den es erleidet. Es ist so geartet, daß es von der Zustandebringung der Mona Lisa weit weniger erfreut als durch ihre Entfernung gekränkt war, und seine Empfindlichkeit in diesem Punkte geht so weit, daß gerade jene von dem Verlust eines Kunstschatzes am heftigsten bewegt sind, die dadurch von seiner Existenz erfahren und vom kunsthistorischen Museum etwa wissen, daß es das Gegenteil vom naturhistorischen Museum ist und von diesem durch das Mariatheresiendenkmal, gleichfalls eine Sehenswürdigkeit, getrennt. Als uns allen die Mona Lisa gestohlen war, war der Schmerz grenzenlos wie die Liebe kulturverbundener Völker, die sich bald darauf mit Stacheldraht vorsehen mußte. Nun, da wir in der Frage des Jagdteppichs den kulturellen Besitz zugleich als nationalen verteidigen müssen, schwillt die Melodie des Lebensleids zum Trauerchoral. Nur eine publizistische Spottdrossel mischt sich hinein: »Ja, wie schauen denn Sie aus?« »Es wird immer schöner. Seit einer Woche habe ich keinen Unterstand, seit drei Tagen nichts mehr zu essen und jetzt hör' ich noch, daß sie den herrlichen Schönbrunner Jagdteppich verkaufen.« Aber auch sie, wandelbar wie diese Vögel sind, war noch kurz zuvor eine Nachtigall, die, gegen italienische Ansprüche, die Klage tönte: »Nehmt uns unser Geld, nehmt uns die Nahrung, nehmt uns alles, aber laßt uns unsere Kunst!« Ja, daß ihre Werke der Kriegführung zum Opfer fielen, das hat das künstlerische Gewissen durch Jahre getragen, ohne zu zucken und ohne zu protestieren, hat die strategischen Rücksichten als Fatum oder Wohltat der Vorsehung schweigend oder beifällig hingenommen, und nur der Feind war der Heuchler, der den Offensiven auf Kulturwerte widerstrebte, und der Künstler der Schützer der militärischen Notwendigkeit. Fürs Vaterland war der Mensch über das Werk gestellt und das Leben eines deutschen Soldaten eine französische Kathedrale wert, die eo ipso nur ein Stützpunkt war. Für die Zwecke des Todes ward selbst das Leben geachtet. Gegen die Notwendigkeit, die der Krieg hinterläßt und die nur ein wehrloser Staat zu betreuen hat, schützt das künstlerische Gewissen seinen Besitzstand. Die geistig Höchststehenden einer Nation, die solcherart genötigt sind, sich gegen ein geplantes Verbrechen zur Wehr zu setzen, tun es aber beileibe nicht nur in ihrem eigenen Interesse. Vielmehr denken sie jederzeit auch an die »breiten Massen«, zumal wenn es gilt, diese vor die Wahl zwischen den geistigen und den irdischen Genüssen zu stellen und ihnen den Brotkorb höher zu hängen als die Bilder. Wenn nun der Rektor der Universität, der sich für berechtigt hält, in Dingen der Kunst mitzusprechen, weil er Schwind heißt, und sich verpflichtet fühlt, bei Kulturgefahr auszurücken, weil ja Wissenschaft und Kunst doch sogar nach Schusterbegriffen auf einen Leisten gehören, und von dem ich überzeugt bin, daß er wie jeder Gebildete von der Qualität eines Specks nicht weniger versteht als von der Herstellung eines Kunstwerks – wenn also der Repräsentant der Wissenschaft Verwahrung einlegt gegen den Verkauf von Kunstschätzen, weil deren Kulturwert »auch für die breiten Massen der Bevölkerung größer sei, als kunstfremde und indifferente Kreise auch nur ahnen können«, so möchte ich als ein Angehöriger dieser Kreise ihn darauf aufmerksam machen, daß die breiten Massen der Bevölkerung zwar der Gnade der künstlerischen Schöpfung irgendwie und schon ehe sie auf die Welt kamen, teilhaftig wurden wie alle menschliche Kreatur und selbst die gebildete, daß aber die Aufstellung in Museen hiezu nicht das geringste beigetragen hat und das Erziehungswerk keineswegs vervollständigt. Ich würde mich zwar nicht getrauen, auch Vorhängen und Teppichen diese moralische Zauberwirkung, die dem metaphysischen Element eignet, ohneweiters zuzuschreiben – täte ich's, so wäre ich freilich der Ansicht, daß sie auch in den Kisten des habsburgischen Inventars sich bewährt –, aber was die Kunst betrifft, so glaube ich, wie nur ein Gläubiger glauben kann, daß ihre Wege unerforschlich sind wie die Gottes und es selbst für die Wissenschaft und deren Rektor bleiben, ja sogar für den von der tierärztlichen Hochschule, der auch protestiert. Ich möchte dieser Gesellschaft, die ein Leben, das um sein Wesentliches ringt, mit Zutaten befriedigen will, vor allem aus einem Grunde raten, sich von ihren Kunstbesitztümern, die schon unter ihrem Blick zu Ornamenten werden, zu erleichtern: weil sie – abgesehen von dem ihr überflüssig erscheinenden Zweck, sich durch den Verkauf das Leben zu retten – den unleugbar besseren Gewinn davontrüge, um ihre dicksten Lügen ärmer zu werden. Nicht allein um die professionelle Kunstlüge, zu deren schauerlichen Paraden Handwerker, die sich gegenseitig um die Aufträge ihres Genius und ihrer Kundschaft beneiden, vereint ausrücken; nein, auch um die große Kulturlüge, mit der sich die Menschen selbst beheucheln, indem sie sich glauben machen wollen, daß in ihrem Umgang mit Kunstwerken ein tieferes Bedürfnis als das stoffliche Wohlgefallen zur Erfüllung gelange, mehr als der Geschmack befriedigt werde und ein reicheres Glück zu holen sei als der Genuß der Verknüpfung mit Erinnerungswerten, und indem sie der Meinung sind, sie verlören mehr als eine zumeist auch nur durch die Bildungslüge verschaffte Illusion, wenn sie dieser Objekte beraubt würden. In Wahrheit wären nicht nur die breiten Massen der Bevölkerung, sondern auch die Rektoren beider Universitäten unschwer in die Versuchung zu führen, zwischen einem echten Velasquez und einer Kopie nach Ameseder nicht unterscheiden zu können und umsoweniger zwischen einem späteren Goethe und einem frühen Hofmannsthal, ganz gewiß aber, wenn die Hand aufs Herz gelegt wird, einem schönen Porträt von Adams den Vorzug zu geben vor einem häßlichen von Van Gogh und einem klaren Vers von Kernstock vor einem dunklen von Hölderlin. Treten wir lieber nicht ein in den Kosmos der ewigen Ahnungslosigkeit, in dem diese ganze kunstgenießende Welt, tagtäglich von einer Armee von Interessenten, Händlern und Handwerkern in Ausstellungen, Buchhandlungen, Theater, Konzerte und Vortragssäle gejagt, vermöge der einzig erfühlten Kunst, sich die Zeit zu vertreiben, und vermöge der einzig gekonnten Menschlichkeit, den Nächsten wie sich selbst zu belügen, ihre Unbefangenheit auslebt. Es genüge, zu erwähnen, daß es jüngst einem, der mit wahrem Erfindersinn das publizistische Kulturbewußtsein allen erdenklichen BeIastungsproben auszusetzen liebt, gelungen ist, in einer Zeitung den Hinweis unterzubringen auf das »wunderbare Rubens'sche Gastmahl von Lionardo«,und ich verbürge mich dafür, daß der Redakteur, der's gedruckt hat, nicht zögern würde, den Verkauf von Kunstwerken aus den Wiener Museen zu beklagen. Von den breiten Massen, von jenen, unter denen reichlich viel Bildung Platz hat, wage ich die Behauptung, daß sie vor Nedomanskys Auslage schon Verzückungen erlebt haben, die ihnen alle Originale der Renaissance nicht bieten können, und ich möchte ernstlich dagegen protestieren, daß das Kunstgefühl einer Stadt, die seit Jahrzehnten die Verkörperung der Drau und der Sau an der Albrechtsrampe ohne vandalische Gelüste erträgt und ohne wenigstens jetzt die Abtretung dieser Sehenswürdigkeiten an die Sukzessionsstaaten zu erzwingen, daß ein publizistisches Gewissen, das sich kürzlich über die Verunzierung dieser Kunststätte durch Plakate aufgehalten hat, sich mit Sorgen wegen kultureller Gefahren abgibt. Gschnas und Kitsch – das ist jene Notwendigkeit, deren Entbehrung ich diesem Menschenschlag im Innersten zutraue; und daß er sich von den Erzeugnissen, die zum Geschmack sprechen, zum schlechten und selbst zum guten, schwerer trennt als von der Kunst, glaube ich ohneweiters. Wer aber würde ihm die »Zerstreuung« mißgönnen, die Empfänglichkeit tadeln, die noch durch den letzten Klingklang über das Tagwerk erhoben wird, und den Anregungswert der Unkunst unterschätzen? Was selbst dem Künstler der stoffliche oder rhythmische Reiz ihm unerschlossener Künste gewährt, empfängt jeder von allen und der Kitsch erfüllt eine Mission sozialer Beglückung, die der Kunst versagt bleibt, welche Sammlung voraussetzt, an ihrer Oberfläche nichts zum An- und Unterhalten bietet und auf dem Hohlweg der Bildung zwar in das Gedächtnis, aber nicht in das Gemüt dringt. In eben jenes Gemüt, zu dessen unbewußter Bildung sie über weite Zeiträume beiträgt. Sie ist und bleibt der Luxus, dessen Überflüssigkeit der Bürger am ehesten zugestände und den preiszugeben ihn keine Sehnsucht, sondern nur eine Verabredung hindert. Wer der allgemeinen Not das persönliche Behagen nicht zum Opfer bringen will, ist sicherlich ein Schurke. Aber er würde, wenn er auf seine Warmwasserleitung schmerzlicher verzichtet als auf ein Kunstwerk, das im Museum hängt, wenigstens nicht lügen. Denn bei jener war es immerhin das Bedürfnis der Nerven, also doch eines Stücks von ihm, das sich angesprochen fühlte; aber nichts ist in ihm, wozu die Kunst sprach, und er hat ihrem Schweigen mit einer Lüge geantwortet.

Es ist gar kein Wunder, daß die Menschheit immer wieder bereit ist, sich für die Machtlüge ihrer Beherrscher aufzuopfern, da sie sich selbst zum Opfer ihrer Kulturlüge präpariert hat. Sie verdankt sie demselben Journalismus, der auch jene durchzusetzen imstande war. Nur weil sie nun lügen muß, würde sie nicht zugeben, daß die notgedrungene Einschränkung der Tagespresse in ihrem geistigen Haushalt fühlbarer wird als es der Verlust aller Bibliotheken würde und daß der Umtausch von Rotationspapier gegen Lebensmittel ihr mehr an die Wurzel ihrer kulturellen Existenz ginge als die Hingabe aller Galerien. Sie bleibt für immer jener Macht verbunden, die ihre Phantasie ausrodet wie die Wälder zur Erzeugung des Papiers, auf dem es gelingt, um ihr dafür allerlei wohlschmeckenden Ersatz zu bieten. Durch die Technik des Druckwesens, die ihr, was sie so von den ewigen Werten zum Schmückedeinheim brauchte, fix und fertig ins Haus stellt, aller geistigen Anstrengung überhoben, gewohnt für allen Ausfall an lebendiger Vorstellung durch Klischees entschädigt zu werden, hat sie darum jene letzte blutige Probe bestehen müssen, durch die sich ein Leben, aus dem die Realitäten ausgeschaltet sind, in Tod umsetzt, jene Rache der Elemente an einer Zivilisation, die die Oberfläche allen Wesens zu Ornamenten verlogen hat. Aber da eine fortschrittlich verpfuschte Menschheit selbst von ihrem Untergang nichts lernt, weil er nur ein Erlebnis und keine Phrase ist, so schaltet sie noch die Realität des Hungers aus, und wir erfahren in der schauerlichen Tragödie einer zum Menschenmaterial erniedrigten Gemeinschaft, daß sie nun auch ohne Vorstellung ihres Unglücks dahintaumelt, bis zur Berührung der eigenen Haut nichts spürt, an der Regel nur die Ausnahme gewahrt, den Nebenmenschen bloß unter dem Begriff der eigenen Hauptperson anerkennt, für den Verlust des Nachbarn nur die Witterung der Chance hat und sich schon selbstlos dünkt, wenn sie nicht die Not bewuchert, sich nur absperrt vor ihr. Wir erfahren erstarrten Blickes, daß sie das Sterben der andern als Zeitungsnachricht erlebt und das geringste eigene Opfer jenen zum Vorwurf macht, die den Mut haben, ein Leichenfeld zu regieren, ohne die Macht, es in ein Paradies zu verwandeln. Wir erfahren, daß dieser ganze traurige, von einem Zeitungsverstand zum Urteil über Alles berechtigte, ohne Ehrfurcht vor dem Unglück, ohne Respekt vor dem redlichen Willen zu helfen, ohne Vorstellung von Leben und Tod, von Staat und Krieg sich erdreistende, auf unerlebte Ideale pochende Bildungspöbel die Notdurft als die Angelegenheit der andern empfindet oder in seiner gräßlichen Vereinzelung des Herzens nicht einmal der schmählichen Hoffnung bewußt wird, daß ihm eine Extrawurst gebraten würde – denn das ergäbe ja noch einen rechtschaffenen Schurken, mit dem sichs umgehn ließe –, nein, nur das Unterpfand der Lüge bewahrt, der ästhetischen Lebensausflucht und all jener faustdicken Phrasen von Kultur, die die Schwelle des Bewußtseins so besetzt halten, daß eine egoistische Regung gar nicht einmal hinaufgelangt. Und selbst gerüttelt, können sie es nicht verstehen, daß nun, wo es kein Problem gibt als die Verteilung des Mangels, dieses Überrests von einem Leben, das in der Bejahung der Quantität sie vernichtet hat, daß es nun auch keine andere Legitimität gibt als die des Magens und kein anderes Privileg als des Hungers. Aber es wäre die Pflicht jener, deren graue Sorge um die Beschaffung von Getreide von den unverantwortlichen Wortdreschern aufgehalten wird, ihnen das Problem, das denkbar einfachste und ihnen doch unfaßliche, wieder zum Erlebnis zu machen – indem man sie einzelweis und erst in der Stunde der persönlich gespürten Not vor die Alternative stellt, und zwar durch die Wirtschafterin oder Hausmeisterin, die den Kulturhüter fragen müßte, ob er für diesmal lieber auf seine Ration verzichten wolle oder auf die Gobelins. Wir wollen abwarten, ob auch dann von Leuten, die noch nicht vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet haben, auf die Zumutung, Steine in Brot zu verwandeln, dem Versucher geantwortet würde: Der Mensch lebt nicht vom Brote allein. Ich glaube nicht, daß es solche Bekennernaturen sind, um bei einer Hungersnot auch mit jeglichem Wort vorlieb zu nehmen, das durch den Mund Gottes geht. Wären sie es, sie vermäßen sich nicht, das eigene Maß der Leidensfähigkeit dem Nächsten aufzuerlegen und zu protestieren, wenn fremdem Hunger die Erlösung winkt.

Nein, anders als durch das unmittelbare, den persönlichen Leib berührende Erlebnis lernt der Gebildete nicht; der Anschauungsunterricht der nackten Not, den er stündlich hundertfach empfangen könnte, genügt nicht, Herzen zu erschüttern; und die Vorstellung ist längst vor die Hunde gegangen, zu jener Gattung, der das Wort des Menschen all seine Verworfenheit zuschiebt, wiewohl sie doch aus Treue für ihn selbst den Hungertod auf sich nimmt. Sie weiß nichts von Problemen, wenn es die Liebe gilt. Aber dieses hier ist so plan, daß man wähnen könnte, es müßte selbst Intellektuellen eingehen. Sie aber wieder sind eine Gattung, die nur darum, weil sie sich in ein Problem vertieft, noch das flachste verflachen muß. Flach ist es, wie die Politik dieser Tage, der nichts zum Inhalt bleibt als die Frage, ob morgen genug Kohle kommen wird, damit übermorgen noch Licht sei. Aber eben das ist für die Menschen, die den Krieg mit dem Frieden beendigt glauben, am schwierigsten zu fassen. Die für die bunte Lüge eines mörderischen Vaterlands das Durchhalten geübt haben, wollen nicht zugeben, daß es zur Lebensrettung notwendig ist; und deren Faulheit keinen bessern Vorwand kannte als die Versicherung, daß jetzt Krieg sei, lassen es nicht gelten, daß jene, die ihn am schwersten erlebt, nun an Arbeitslust eingebüßt haben und daß die einzige Beglaubigung einer siechen Zeit die Formel ist: jetzt war Krieg! Sie dementieren ihn feierlich; sie haben ihn schon satt. Diese Sorte, die durch vier Jahre nicht zur Kenntnis nehmen wollte, daß sie den Krieg angefangen hat, will nun auch nicht wahr haben, daß sie ihn verloren hat, ja sie möchte so tun, als ob sie ihn überhaupt nicht geführt hätte – aus welchem Geisteszustand sich mit zwingender Notwendigkeit ergeben muß, daß sie ihn auch nicht beendigen wird. Ein Erlebnis, das durch allen Jammer dieses Krieges und seiner Verlassenschaft ein Wohlgefühl über ein Jahrtausend breiten müßte: keine Habsburger, keine Hohenzollern zu haben, dies Glücksgeschenk, das o Königin das Leben doch schön macht, wird an die Erinnerung vergeudet, daß unter den Szeptern ein Kaiserfleisch beziehungsweise ein Eisbein zwei Kronen, die also noch 1 Mk. 50 waren, gekostet hat, und wiewohl jene nachweislich erst zu einer Zeit entfernt wurden, wo diese Lebensgüter schon zehnmal so teuer waren, ist der Schwachsinn, der aus der hoffnungslosesten Abteilung der Irrenhäuser ins Freie entkommen scheint, melancholisch, weil er die Rechnung ohne den angestammten Wirt machen muß, und gibt an der weiteren Teuerung dem Nachfolger die Schuld. Für die schlichte Erkenntnis, daß, wo nichts ist, nicht nur der Kaiser sein Recht an die Republik verloren, sondern auch den Zustand verschuldet hat, hat die geistige Aushöhlung der Kriegsjahre keinen Vorrat mehr erübrigt und der Patient, dem das Bein amputiert werden muß, um sein Leben zu retten, ist auch psychisch derart lädiert, daß er den Arzt für das Leiden verantwortlich macht und jenen Todfeind zurückruft, der ihn zwar angeschossen hat, aber ehe ers tat, ihm doch nie zugemutet hätte, sich das Bein abnehmen zu lassen! Und weil die Feuerwehr noch dies und das preisgeben mußte, macht der Verunglückte sie nicht nur fürs Wasser, sondern auch fürs Feuer verantwortlich und wünscht sich zur Rettung den Brandstifter herbei. Nun muß ich ja sagen, daß, wenn die Wiederkehr des Übels alle nur erdenkliche Erleichterung und Vergütung so sicher garantierte, wie seine Herrschaft allen Wucher und alle Verwüstung bewirkt hat, ich lieber in der Republik verhungern und erfrieren wollte. Und nach zwanzig Jahren Republik noch würde ich bei jedem Tritt in den Dreck dieser Straßen, auf jeder Höllenfahrt dieser Bahnen, auf jedem Kreuzgang zu diesen Ämtern das Andenken jener verdammten Habsburger berufen, immer einer hoffnungslosen Gegenwart zugutehaltend, daß ein mystischer Zusammenhang waltet zwischen dem spanischen Zeremoniell und dem österreichischen Pallawatsch, und auch dem Wirrsal dieser Gehirne, die im Heimweh nach der Ursache deren fortwirkende Schmach bezeugen. Aber die uns in den Abgrund geführt haben, sind uns dennoch zu früh entrückt: sie hätten uns, als die unverkennbaren Exponenten des Jammers, noch ein Weilchen, noch bis in die unterste Tiefe begleiten und dann erst verlassen sollen, damit eine Welt, die durch Schaden dumm wird, ohne Sehnsucht nach ihnen hinsterbe und ohne den Drang, sie noch einmal zu erleben. Denn das fatalste Erbe, das uns die Dynasten hinterlassen haben, ist nicht die Not, sondern der Fluch einer Geistesverfassung, durch die wir unfähig geworden sind, die Erlösung von ihnen als den wahren Ertrag unsres Leidens zu empfinden, als dessen eigentlichen Sinn zu werten, und unwürdig werden ihres Verlustes. Dieser Zustand einer Gehirn- und Charaktererweichung, durch sieben Jahrzehnte sub auspiciis befördert, ist ein solcher, daß die Menschen hierzulande nicht nur in der Grunderfassung des Übels straucheln, sondern vor jeder Misere des Tags, zu der sie ihre Kriegführung verurteilt hat, Täter und Helfer verwechseln, und daß etwa der Bestohlene dem Wächter die Schuld gibt und sich beim Dieb beschwert und wenn der Dieb gegen den Wächter gewalttätig wird – was des Landes so der Brauch ist –, der Bestohlene einen unerhörten Übergriff des Wächters ausruft. Ein Schwächezustand, aber ohne den Naturreiz der hurischen Empfindung, deren Verhängnis es ist, den Zuhälter gegen die Polizei in Schutz zu nehmen. Sie tragen auch kein Bedenken, dem Helfer die unsauberen Motive zu unterschieben, die sie im eigenen Geschäftskreis zum unrettbaren Opfer der Ausbeutung machen, denn jeder, der seine Tasche preisgibt, duldet ja nur unter dem Vorbehalt, daß er es selbst auf die des Räubers abgesehen habe. Wahrlich, sie waren eher bereit, dem Vaterland eine Generation zu opfern als die nun leeren Zimmer! Und rätselhaft bleibt, wie der unbedankte Wille, die Prokura der Not zu führen in einer Sphäre, in der sich heute nur noch die Ehrlosigkeit von selbst versteht, nicht vom Ekel überwältigt wird und wie es gelingen mag, eine Gesellschaft zum Verzicht zu zwingen, deren Letztes, was sie besitzt, die Frechheit sein wird, und sie zwar nicht vor den Gelegenheiten ihres Mißvergnügens, aber uns alle vor den blutigen Ausbrüchen der Verzweiflung zu bewahren. Und welch ein Gelingen, wenn wir vor solchen Neuerungen mit dem Leben davonkommen, auch jenen Wiederherstellungen zu entgehen! Nein, hier rettet kein politischer Wille, nur das Glück, durch das die Dummheit für eine verlorene Revolution vom Schicksal entschädigt wird, wenn sie so dumm war, die Vorteile eines verlorenen Kriegs zu verspielen: die verlorenen Monarchen. Wir sind durch ihre Kriegführung nicht nur in der Zivilisation um Jahrhunderte zurückgeworfen, sondern in der geistigen Entwicklung irgendwo angelangt, wo wir überhaupt nie waren, und bloß dadurch, daß wir in so hohem Maße kriegstauglich waren, sind wir untauglich zu einer Freiheit, deren riesenhafte Quantität – ganz gemäß den Bedingungen jener Heldenzeit – keiner inneren Berufung entspricht. Uns bleibt nichts als die Zeitung, die uns überleben wird, nichts als das Unrecht, das mit uns geboren ist, nichts als die Lüge, die wir gewohnt sind und die keine Revolution uns aus der Seele reißen wird. Wer nicht daran gestorben ist, lügt weiter. Denn um zu leben, braucht er die Lüge wie der andere einen Bissen Brot.


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