Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Man darf nicht generalisieren

Aus der Gehirnleere, die der Krieg zurückgelassen hat, ist dieses Wehrwort zum Schutz eines Standes entsprungen, der, wenn auch nur in zehn von hundert Fällen seine Machtentartung bewiesen wurde, damit für alle Zeiten als ein unmöglicher Widerspruch zur Ehre des Lebens abgetan war. Wenn es aber keinem, der zehn militärische Schurken an den Pranger der Humanität stellte, damit auch einfiel, neunzig Sklaven ihrer nicht überschrittenen Pflicht zu beschimpfen, so gellte ihm dennoch der stupide Einwand in die Ohren, daß man nicht generalisieren dürfe. Mit noch vernichtenderer Stupidität wirkt das Argument (das nun, da der Weltkrieg den allgemeinen Vorrat an Denkfähigkeit aufgezehrt hat, reißenden Absatz findet) im Munde der Verteidiger des Richterstandes, dem an der Hand namentlich angeführter, täglich erlebter, flagranter Tatsachen bewiesen wird, daß er Angehörige habe, die den Sinn des Berufes verunehren, nach schlechtestem Wissen und Gewissen und durchaus nach Ansehn der Person urteilen und die sich den Talar über ihre Parteigesinnung umhängen, um am hellichten Tag ihre Ungerechtsame als ein Privileg auszuüben, das man ihnen wegen ihrer Undavonjagbarkeit nicht bestreiten kann. Die Zitierung dieser in jeder Gerichtssaalrubrik nachweisbaren Fälle, welche doch eher die Absicht verfolgt, die kompromittierte Ehre des Standes zu schützen und die im Menschenmaß unbeeinflußbaren, einsichtigen und gerechten Richter von solchen Schädlingen abzusondern, stößt unfehlbar auf die Abwehr: Man darf nicht generalisieren. Die Geistigkeit dieses Einwurfs ist gewiß nicht geeignet, das Problematische einer Autorität zu verringern, welche wahrscheinlich auf einer der Wahnideen dieser armseligen Menschheit beruht, die sich irgendeinmal in contumaciam ihres Verstandes zur Anbetung von Symbolen verurteilt hat. Was soll man aber dazu sagen, daß dies Veto, einem Ansehen nahezutreten, welches seine Entblößung durch die Tat leichter erträgt als durch einen Hinweis auf die Tat, der doch eher einer Verteidigung gleichkommt – daß es just in Tagen laut wird, da ein hoher Richter eine Denkschrift publiziert hat, in der alle Unzulänglichkeit und Selbsterniedrigung der unnahbaren Gerechtigkeit auf das menschliche Motiv der Not zurückgeführt, mithin, wenngleich dieses nicht für alle Verirrten zutreffen mag, doch in exemplarischer Weise einbekannt wird! Und was soll man zu einem Staat sagen, der seine Richter »buchstäblich Hunger leiden« läßt und wenn er schon nicht seinen Verbrechern die Beute abzunehmen wagt, sich auf die bequemere Art weiter saniert anstatt zuzusperren.

Während alle Beamten das Amtskleid, zu dessen Tragung sie nach dem Gesetze verpflichtet sind, auch wirklich beigestellt erhalten und die Polizei sich sogar glänzendster Adjustierung erfreut, müssen die Richter entweder ohne Talar in oft sehr armseliger Kleidung oder in zerrissenen und abgetragenen Kleidern ihres Amtes walten, weit alle bisherigen Bemühungen auf Beistellung des Amtskleides vergeblich waren,

Nun, wenn wir zur Erhöhung der Autorität das Kostüm brauchen, so ist es klar, daß es in Ordnung sein muß, und solange man der Menschheit die Justizkomödie vorführen will, hat man auch für die Ausstattung zu sorgen. Aber ist hier nicht ein Fingerzeig gegeben, die Quelle des Toilettenneides, der wie der Neid als solcher gewiß eine justizwidrige Eigenschaft ist, zu verstopfen? Wäre, nachdem Bosel das Seinige getan hat, hier nicht ein »Appell« an den Castiglioni geboten, die Adjustierung der Justiz zu übernehmen? Nicht leicht werde, sagt der ehemalige Präsident der Richtervereinigung, Herr Dr. Engel, »irgendwo solche Not gefunden werden wie bei den Richtern«, trotzdem sei, was immer »selbst Verleumdung den Richtern anheften mag«, ihre Unbestechlichkeit noch nie in Zweifel gezogen worden. Aber spurlos sei die zermürbende Not »an Geist und Herz der Richter nicht vorübergegangen:«

Wie die Folgen des wirtschaftlichen Elends sich körperlich an vielen Richtern zeigen, so greifen auch seelische Engherzigkeit, Gereiztheit, Verbitterung, Scheel-, Schmäh- und KIatschsucht in trauriger Weise um sich. Es bilden sich Gruppen unter den Richtern, Vereinchen innerhalb des Vereines, der Wirrwarr der Meinungen steigert sich fast zu einem Kampf aller gegen alle, Kampf der Richter der unteren Besoldungsgruppen gegen die oberen Gruppen, Kampf zwischen Stadt und Land, zwischen Wien und den Ländern, ja zwischen den einzelnen Gerichten Wiens.

Mehr könnte selbst »Verleumdung« den Richtern nicht anheften, und sie dürfte sich noch immer darin von dem Notschrei des hohen Standesgenossen unterscheiden, daß sie Fälle anführt, während jener generalisiert, was man bekanntlich, wiewohl es hier offenbar mit Recht geschieht, nicht darf. Freilich könnte sie, wenn sie auch noch so geneigt wäre, Not als den Faktor einer seelischen Erniedrigung, die zum Richterberufe untauglich macht, zu begreifen, sich nur schwer entschließen, sie just dann als mildernden Umstand heranzuziehen, wenn ein Hakenkreuzler oder ein Monarchist auf dem Richterstuhl einen Sozialisten wegen derselben Tat verurteilt, um derentwillen er einen Gesinnungsgenossen freispricht.


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