Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Sittlichkeit und Kriminalität /2

Einer Besprechung der von den Herren Dr. Altmann und Dr. Ehrenreich besorgten »Einführung in das österreichische Strafrecht« (erschienen in dem wissenschaftlich so ernst zu nehmenden Verlag des Herrn Kola) ist allerlei zu entnehmen, was mir, um mich nicht zu schmerzlich bedauern zu lassen, daß meine Einführung in das österreichische Strafrecht schon 1907 abgeschlossen war, in Zitatenform übermittelt genügen muß.

Herr Dr. Altmann, ein Jurist von hoher Autorität, dessen Scharfsinn ich auch in etlichen mir günstigen Entscheidungen zu erkennen Gelegenheit hatte, ist identisch mit jenem Richter, der im letzten Sommer seinen Namen bedenkenlos unter ein der Geschichte der Justizbarbarei vorbehaltenes Schriftstück der »Ratskammer« gesetzt hat, die bekanntlich keine camera caritatis ist. Ein invalider Werkelmann war wegen Amts- und Privatehrenbeleidigung von einem Bezirksgericht zu der ungeheuerlichen Strafe von drei Wochen Arrests, trotz den Milderungsgründen des Geständnisses und der Unbescholtenheit, verurteilt worden, nach einer Verhandlung, zu der er nicht erscheinen konnte, weil er nach seiner Angabe eben damals zur Polizei gebracht worden war und trotz seinem motivierten Ersuchen nicht rechtzeitig entlassen wurde. Er machte nun von seinem Rechte der Anfechtung des Urteils Gebrauch, indem er bei jenem Bezirksgericht innerhalb der vorgeschriebenen Frist berief. Statt der erwarteten Vorladung zur Berufungsverhandlung erhielt er die Aufforderung zum Strafantritt. Der Rechtsanwalt, den er ersucht hatte, ihn in der Berufungsverhandlung zu vertreten, brachte vor, es müsse ein Übersehen geschehen sein, und bekam die Auskunft, der Verurteilte habe »nicht die Berufung angemeldet, sondern einen Rekurs eingebracht«, aber ein Rekurs sei keine Berufung. Der Verteidiger suchte nun gegen die Konsequenz dieser juridischen Wahnsinnstat Abhilfe bei der Ratskammer des Landesgerichtes, indem er die folgende Beschwerde des Verurteilten einbrachte:

Gegen das Urteil vom 17. Jänner 1923 habe ich rechtzeitig noch vor der Zustellung ein Rechtsmittel schriftlich angemeldet. Ich habe in dieser Anmeldung das Rechtsmittel falsch bezeichnet (als Rekurs). Von einem Laien, wie ich es bin, kann man wohl nicht verlangen, daß er die richtigen technischen Ausdrücke wählt. Vielmehr genügt es, wenn seine Absicht, an die höhere Instanz appellieren zu wollen, klar hervorgeht.

Mit Rücksicht darauf, daß ich meinen Verteidiger informiert habe, daß ich bereits die Berufung angemeldet habe, hat dieser jede weitere Anmeldung unterlassen. Doch nach der Auffassung des Bezirksgerichtes Favoriten ist das obenerwähnte Urteil rechtskräftig geworden.

An mich ist infolgedessen eine Aufforderung zum Strafantritt erfolgt.

Gegen diese Entscheidungen erhebe ich Beschwerde an das Landesgericht in Wien und stelle den Antrag, dem Bezirksgericht Favoriten werde aufgetragen, die Sache zur höheren Entscheidung dem Landesgericht für Strafsachen vorzulegen.

Darauf der Bescheid:

Das Landesgericht in Wien I als Berufungsgericht in Übertretungsfällen hat heute in nichtöffentlicher Sitzung nach Anhörung der Staatsanwaltschaft über die Beschwerde des Angeklagten Heinrich Reinthaler gegen den Beschluß des Bezirksgerichts Favoriten vom 2. März 1923, U IX 1587/22, mit welchem derselbe zum Strafantritt aufgefordert wurde, beschlossen: Die Beschwerde wird als unbegründet zurückgewiesen, der angefochtene Beschluß bestätigt und dem Bezirksgericht aufgetragen, nunmehr mit der Entscheidung über das Gesuch um Strafaufschub vorzugehen.

Begründung.

Der Angeklagte ist trotz ausgewiesener Zustellung zu der auf den 17. Jänner 1923 anberaumten Hauptverhandlung nicht erschienen, das Urteil wurde ihm am 15. Februar 1923 zugestellt, ein Rechtsmittel wurde nicht eingebracht und ist das Urteil demnach in Rechtskraft erwachsen. Es ist daher die Aufforderung zum Strafantritt und die Einleitung des Strafvollzuges vollkommen dem Gesetz entsprechend.

Wien, am 6. Juni 1923 Dr. Altmann.

Man hat bis heute weder davon gehört, daß gegenüber diesem eiskalten Triumph der juridischen Wortbeschlagenheit über das Leben der Generalstaatsanwalt die Nichtigkeitsbeschwerde erhoben noch daß der Präsident der Republik mit einem Straferlaß eingegriffen hätte, und vielleicht war inzwischen der verkrüppelte Werkelmann eingesperrt, weil er nicht gewußt hat, daß man statt »Berufung« nicht »Rekurs« sagen darf. Was, wenn es noch eine Strafe auf den Gebrauch eines Fremdworts in der Ära eines hakenkreuzlerischen Justizministers wäre, weit mehr lebendigen Sinn hätte als die terminologische Tücke einer blindwütigen Jurisprudenz, die den Armen schuldig werden läßt, weil er nicht zwischen »Rekurs«, »Berufung«, »Beschwerde«, »Einspruch«, »Widerspruch«, »Einwendung« und »Revision« unterscheiden kann, lauter Fachbezeichnungen, die zumeist einer und derselben menschlichen Notwehr gelten gegen die Attacken, die die Lebensfremdheit des Richters mit Hilfe der aus dem Lebenshaß erschaffenen Gesetze gegen das Menschentum verübt.

Jener Besprechung der von Herrn Dr. Altmann nunmehr besorgten »Einführung in das österreichische Strafrecht« – als ob das Verlangen, draußen zu bleiben, nicht brennender wäre – ist zu entnehmen, daß da, nebst anderen sympathischen Auffassungen und Unterstreichungen der uns erhalten gebliebenen k. k. Bestialität, bezüglich des Abtreibungsparagraphen »der erhöhte Schutz des Strafrechtes ohne Zögern zu bejahen« sei: nämlich für die Vermehrung dieser Kriegs- und Hungerwelt um rachitische Kinder, nicht für deren Verhinderung; daß der grausliche Paragraph über »Entführung« noch eine Schlinge nötig habe, die bezeichnenderweise aus dem Begriff der »List« hergestellt wird; daß »die sogenannten Dispensehen ungültig« seien; daß nicht etwa die auf die Aufhebung, nein auf die bloße Einschränkung der Strafbestimmungen gegen die gleichgeschlechtliche Liebe gerichteten Bestrebungen »keine Unterstützung verdienen« (so daß das Schandurteil wegen einer lesbischen Handlung, das einem kürzlich das Blut erstarren gemacht hat, ganz gerecht und eigentlich noch milde war und nur die Modernität eines Strafrechts zu beklagen, das für solches Ärgernis – nämlich des lesbischen Verkehrs – nicht die Stäupung vorsieht). So, mit je einem Sätzchen, einem Kopfnicken, Menschenunglück sonder Zahl anregend und befestigend, befindet Herr Dr. Ludwig Altmann, der von sämtlichen Fortschritten seines Zeitalters und allen sozialen Errungenschaften der Republik offenbar nur die eine anerkennt, die es ermöglicht hat, einen Juden zum Präsidenten des Landesgerichts zu machen, wiewohl er seinem Denken und seinem Habitus nach ganz gewiß noch lieber ein solcher unter der Regierung des Kaisers Franz geworden wäre. Er möge indes überzeugt sein, daß die Entwicklung der Dinge, die ja mit seiner Karriere keineswegs abgeschlossen ist, nicht in diese Richtung strebt und daß meine Einführung in das österreichische Strafrecht, die freilich mehr vom Gesichtspunkt eines Afrikaforschers ausgeht und ominöser Weise, obschon nicht im Rikola-Verlag, zugleich mit der seinen wiedererschienen ist, eben diese wie auch das österreichische Strafrecht überleben wird. Und es ist schließlich und endlich ja doch zu hoffen, daß diese Republik einmal mit dem Gedanken erwachen wird, daß es beiweitem nicht genügt, eine Staatsform ohne Kaiser zu sein, und daß an einer Justiz, die ihre Mißurteile nicht mehr in seinem Namen fällt (und höchst widerstrebend im Namen der Republik) sich noch lange nicht genug geändert hat. Und daß man einmal auf diesem Gebiet wie auf keinem andern zum Rechten zu sehen habe! Vor allem hier ist ja in den Tagen, da die Sozialisten die Macht oder doch die Möglichkeit in der Hand hatten, sie zu haben, unwiederbringlich viel versäumt und mannigfach jener Pardon gewährt worden, den eine politisch und menschlich gleich verstockte Richterschaft ihnen selbst heute keineswegs gewährt. »In den revolutionären Umwälzungen der Jahre 1918, 1919 und 1920, in denen die politischen Behörden neu organisiert, viele Autoritäten umgestürzt, manche geändert wurden«, sagte der Abgeordnete Renner, »stand eines trotz der schweren Erfahrungen der kaiserlichen Zeit für alle fest: an den Gerichten und der Gerichtsverfassung nicht zu rühren. Es war ein gewisser Glaube an die Objektivität der Gerichte vorhanden. Dieses Kapital ist aber in den letzten drei Jahren nahezu vollständig verwirtschaftet worden.« Man hätte jene, die es hatten, eben damals expropriieren sollen. Nichts wäre nun verfehlter, als die Zeit bis zum unabwendbaren Umschwung nicht mit umfassenden Plänen auszufüllen zur Beseitigung dieser Fossilien einer blutig überstandenen Gegenwelt, mit der Musterung dieses ganzen Bestandes an untauglichen Gesetzen und untauglicheren Verwaltern. Man beeile sich mit den Zurüstungen zu der Gelegenheit, wo man den Herrschaften schon zeigen wird, welche kriminalistischen Bestrebungen »keine Unterstützung verdienen«. Meine Einführung in diesen dunkeln Erdteil schließt, 1907, mit den Worten:

Ach, unsere Justiz ist noch immer nicht entjungfert. Sie läßt sich und läßt sich nun einmal nicht ihre Ahnungslosigkeit rauben. Sie wird alt und älter, und die Frage wird immer dringender: Wie sage ich's ihr? Wie bringe ich ihr das Geheimnis jener Zeugung bei, die im allerchristlichsten Zeitalter ausnahmslos zur Schande oder zum Schaden gereicht und deren sich zu entschlagen trotzdem ein eigener Paragraph verbietet! »Frühlings Erwachen« spielt sich auf dem Heuboden, aber nicht in der Ratskammer ab. Dennoch wird mir nichts übrig bleiben, als den Talaren unserer Richter »gelegentlich eine Handbreit Volant unten anzusetzen«.

Möge bald die Zeit kommen, wo die Republik es mir abnimmt; wo sie endlich sich besinnt, die kulturelle Konsequenz eines politischen Umsturzes zu ziehen und eine ausschließlich in Ehren des Sexuallebens ergraute Justiz wegen Befangenheit abzulehnen, damit der letzte Prozeß, den sie gegen das Leben führen kann, ihr, nicht sein Verwesungsprozeß sei.


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