Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Das Mangobaumwunder

Herr Karlheinz Martin, der sich mit drei Vornamen als Regisseur einen Namen gemacht hat, hat nicht nur mit einigen anderen Herren, die es dringend nötig haben, die Leitung des Theaterfestes zur »Raumbühne« beglückwünscht – die Kundgebung wurde am Tag nach meiner Klarstellung in die Neue Freie Presse lanciert –, sondern er äußert sich auch separat zum Problem der Bühnenreform, das die fixe Idee aller ist, die zur Bühne keine Beziehung, also die des Literaten haben, und man kann dessen typischer »Einstellung« in jedem Satze habhaft werden, den Herr Martin dem Interviewer diktiert hat. Was er vom revolutionären Theater Rußlands sagt, soll natürlich eine Rechtfertigung des Berliner Humbugs sein:

– Die leidenschaftliche Überzeugungskraft des Spielenden auf der einen, Suggestibilität des Zuschauers auf der anderen Seite schufen eine neue Theaterkunst, die den pompös-armseligen, die Einfühlungsmöglichkeit bloß lähmenden Fundus einfach über Bord warf und das Wort wieder in seine Rechte einsetzte.

Wer um dieses Zustandekommen der russischen Gegenwartskunst weiß, versteht auch, weshalb diese Leute das Wort, den Schauspieler in den Mittelpunkt ihres Theaters setzen und mit allen Zaubereien der Illusionsbühne aufräumten. Aus Armut wurde diese neue Kunst geboren, und sehr bald kam man darauf, daß alles Frühere nur Belastung des Dichterwortes mit Nebensächlichkeiten, nur unnötige Krücke der Einbildungskraft war. Heute ist in den Theatern Rußlands der Zuschauer ebenso Künstler wie der Schauspieler. Die dekorationslose Bühne, der in Straßenkleidern auftretende Schauspieler stellen die höchsten Anforderungen an die Einfühlungsfähigkeit des unten sitzenden Publikums, und das Publikum geht mit; es baut selbst und mit Enthusiasmus die Welt des Dichters auf, aus dem Wort und nur aus dem Wort allein erblüht ihm die Welt der Dichtung.

Es ist wie beim Mangobaumwunder: man braucht nur die Gläubigen, der Baum wächst von selbst, und nur dem saturierten Bürger muß ihn der Hoftheatermaler an die Wand malen. –

Ob in Rußland der Zuschauer ebenso Künstler wie der Schauspieler ist und ob dies jenseits der Teilnahme an einem revolutionären Inhalt wünschenswert wäre, bleibe unüberprüft. Sicher ist, daß Herr Karlheinz Martin lange warten kann, bis sich in Berlin das Mangobaumwunder begibt. Welch ein Trugschluß von der revolutionären Bewegung der Lebens- und mithin Theaterdinge, die sich in Rußland vollzogen hat, auf die Aktivität einer mitteleuropäischen Kultur, die durch die Monarchenverabschiedung nur unwesentlich alteriert sein dürfte und deren neue Kunst nicht aus der nachkriegerischen wirtschaftlichen Armut, und wäre diese auch reichlich vorhanden, geboren wurde, sondern aus der seelischen Armut, die sie durch den Krieg gerettet und vom Krieg behalten hat, und insbesondere aus der geistigen Armut, welche die Kulturprämissen nicht unterscheidet und fremdes Wachstum als Mode propagiert. Das entfesselte Theater würde hier wohl das ersehnte »Ineinanderfluten« der entfesselten Temperamentlosigkeit des Ensembles und der entfesselten Manierlosigkeit des Publikums bringen. Aber so wüst könnte diese Wirklichkeit gar nicht sein wie die Theorie, die ihr organisches Werden beglaubigt. Welches Durcheinander der vom höchsten Theatersinn übernommenen Forderung nach der Wiedereinsetzung des Wortes mit den Affereien einer funduslosen Inszenierung! Als ob nicht die Stufen- und Treppenwitze, die diese Leute statt der Dekorationen aufführen, die »unnötige Krücke der Einbildungskraft« durch einen Prügel für die Einbildungskraft ersetzten. Als ob eben dies Getue eines Mangelprotzentums und einer Andeuterei, die Schlafzimmer und Wald unter das nämliche Zelt bringt, nicht die weit stärkere Belastung des Dichterwortes mit Nebensächlichkeiten wäre. Die neue Regie und das Dichterwort! Dieses trottelhafte Gehupfe der Berliner Shakespeare-Schändungen kommt dem »Wort« zuhilfe! Diese Ballungen der Leere lassen die Welt der Dichtung aus dem Wort erblühen! Ich habe das entfesselte Greuel der Fehling'schen Inszenierung von »Viel Lärm um nichts« im Staatstheater mitgemacht und kann beeiden, daß noch nie im Theater so viel Lärm um ein Nichts von Schauspielkunst (mit der einen Ausnahme des edlen, an solchen Strand verschlagenen Kraußneck) gemacht wurde. Wenn Berlin Messina darstellt, ist ja an und für sich der Ausgelassenheit (mit leichter Betonung des pupenjungenhaften Elements) kein Ende, aber wenn diese Gesellschaft, rhythmisch dressiert und mit den Versfüßen stampfend, noch eine Pyramide von Brettern auf- und abrasen darf, dann kann das Original-Messina zusperren. Dies Schauspiel, das sich auf Zwischenstufen begibt, und das unfaßbare, wenngleich normalere Scheuel der »Was ihr wollt«-Aufführung im Lessingtheater mit Fräulein Bergner, die einen ganz neuen Text zu alten Schmierenscherzen spricht – höchstens noch vergleichbar dem »Jux«, den sich das Burgtheater mit Nestroy machen will –: daß die heutige Theaterkundschaft dazu Beifall klatscht, anstatt sämtliche anderen Märkte nach faulen Äpfeln abzusuchen, es zeigt in der Tat, wie organisch ihr das Ende auf der Serpentine zum Boxring ist. Welch ein Umweg diese Vermutung, Dekorationen, deren Reform doch höchstens ein ökonomisches Problem bedeuten könnte, trügen die Schuld daran, daß die Leute, die zwischen ihnen stehen, nicht sprechen können, und also die Hoffnung, daß das Wort wieder zu sich kommen werde, wenn man nur die Dekorationen abschafft. Welch ein Aberwitz, daß die dekorationslose Bühne und der in Straßenkleidern auftretende Schauspieler die Einfühlungsfähigkeit des Publikums steigern und weil sie an diese »die höchsten Anforderungen stellen«, sie darum auch, und bei einem Publikum von Film- und Fußballgemütern, durchsetzen. Die Konsequenz wäre die Reform, daß die kostümlosen Schauspieler den Text statt ihn auswendig zu sprechen, vom Buch ablesen, die weitere Konsequenz, daß ein einziger das für sie alle besorgt, der dann wohl die allerhöchste Anforderung an die Einfühlungsfähigkeit stellen würde. Sie kann ihm natürlich erfüllt werden. So versichere ich dem Herrn Martin, daß, wenn ich die »Weber« vorlese, »aus dem Wort und nur aus dem Wort allein die Welt der Dichtung erblüht« und daß da trotz allen Widerständen einer verdorbenen Zeitakustik und auf einem Podium, auf dem nichts als ein Tisch ohne ein Wasserglas steht, eine zehntausendmal belebtere und wortlebendigere Bühne vor das geistige Auge des Hörers gerückt ist als durch seine Regie mit achtzig Schauspielern, die ich für ein Schulbeispiel der Armseligkeit und Wortverkümmerung halte. Aber was hat diese einmal mögliche Podiumwirkung mit dem Wesen des Theaters zu schaffen? Zu diesem gehört eben die althergebrachte, durch keinen Literaturwillen abänderliche Illusion der Szene, deren Überladung das Wort bedrücken mag, deren Entleerung es todsicher erstickt. Die Illusion einer höheren Wirklichkeit, zu der das Wort nun selbst des Übergangs entbehren muß, den diese verdammten Reformpfuscher und Kulissenvegetarier ihm mit der Zwischenaktsmusik geraubt haben, des Sammlungsbehelfs und Auftakts, der oben die Stimmen löst und unten bändigt, hier und dort die Stimmung bildend. Sie wollen die Vereinigung, indem sie das Orchester überbrücken; sie verbinden die Räume und trennen die Sphären. Es sind Zauberlehrlinge, die das Wort vergessen haben, nur mit dem frechen Vorgeben, daß sie es wissen und daß der alte Hexenmeister ein Epigone war. Wortregie mag heute wichtiger sein als je und erst heute wichtig. Szenische Reformerei war nie gefährlicher als heute und darf ihren Unfug, der immerhin die Nerven eines theaterwidrigen Publikums beschäftigen mag, erst von der Erkenntnis her verrichten, daß dem Wort nicht mehr zu helfen ist. Wann wäre »Theaterfremdheit« je exemplarischer dargetan worden als durch die Leute, die das Projekt der Raumbühne eben gegen sie zu verteidigen gewagt haben! Diese Raumbühne, die in der Theatergeschichte als der Versuch fortleben wird, die Bühne vom Hanswurst vertreiben zu lassen. Der ganze Nonsens eines aus dem luftleeren in den leeren Raum bezogenen »Problems«, das nicht vorhanden ist, wiewohl es ja möglicherweise einmal keine »Guckkastenbühne« mehr geben wird, weil es keine Bühne mehr geben wird, ist derart belästigend, daß man einfach nicht begreift, wie Menschen, die Kulturtendenzen vertreten, es über sich bringen könnten, solche Hirngespinste, bei denen die Spekulation an der Untauglichkeit der geistigen Mittel zu schanden wird, auch nur in einer Kuriositätensammlung auszustellen; und wie die Phrase, daß es die vornehmste Aufgabe unserer Kultur sei, das Alte mit dem Neuen zu vermählen, selbst noch der Idee standhalten möchte, das Publikum um die Bühne rotieren zu lassen, damit der Schauspieler von allen Seiten sichtbar sei. Wäre dies Ziel, aufs innigste zu wünschen, erreicht, so würde man erst sehen, wie wenig es da zu sehen gibt. Herr Martin, der selbst bei solchem Risiko Optimist bleibt, »will deswegen nicht leugnen, daß unsere ältere, gestrige Theaterkunst auch ihre Berechtigung hat«. Er legt aber Wert auf das »Kämpferische in der Kunst« und lehnt eine Kultur ab, die das »Geschmackstheater« vorzieht und sichs am Überlieferten und fertig Gelieferten genügen läßt. Er »persönlich« sieht in diesem »allerdings nicht so sehr ein wirkliches Kunst-, als ein an sich eventuell hochwertiges, geschmackvolles Handwerksprodukt«, »eine – letzten Endes – Luxussache, eine Angelegenheit gebildeten und kultivierten Vergnügens«. Ganz abgesehen davon, daß er sich überflüssiger Weise bemühen wird, mir Sinn für das Kämpferische in der Kunst beizubringen, datiere ich das letzte Ende von den auf kaltem Wege verübten Experimenten des neuen Theaters, die bisher nur ein unkultiviertes Mißvergnügen zu bieten imstande waren. Er verwechselt aber natürlich, wie alle Literaturtheaterleute, die mit dem Niedergang der Schauspielkunst hinaufgekommen sind, das Gewachsene einer ruhmvoll vergangenen Theaterzeit mit dem »Epigonischen«, das bloß von ihrer Tradition fortgelebt hat, um die Nachlebenden über jenen wahren Wertbestand zu täuschen, und er ahnt gar nicht, um wie viel mehr Kunstgewerbliches im »revolutionären« Theater als selbst im epigonischen enthalten ist, nur mit dem Unterschied, daß es den »Geschmack«, der sicherlich ein faules Surrogat des Wesens ist, durch Geschmock ersetzt hat. Die Revolution, auf die es ankommt, wird eine ganz andere sein als die von Gnaden und aus dem Antrieb einer Technik der Hirne und Hände, die es jedem Auslagenarrangeur ermöglicht, eben das, was nicht von innen leuchtet, unter einen Lichtkegel zu stellen. Ich weiß nicht, ob der Regisseur Martin, von dem ich nur weiß, daß er die Einfühlungsfähigkeit der Berliner von dem Jammer der schlesischen Weber auf die nackte szenische Not abgelenkt hat – ob er derzeit mehr von Treppen oder von Würfeln das Heil der Schauspielkunst erwartet. Aber er höhnt, daß man in Wien es nur so machen wolle, »wie es das alte Burgtheater gemacht hat«, und daß man am liebsten dort »anknüpfen« möchte. Gewiß, das vermöchte man nur schwer, da es weder möglich ist, die Toten lebendig zu machen noch die Lebenden. Aber was das alte Burgtheater gemacht hat (für dessen letzte Säulen er wohl die Herren Reimers und Treßler hält und von dessen Art sie ihm eine deutliche Vorstellung zu überliefern scheinen), war weit wesenhafter als alles, was die Entwicklung des deutschen Theaters vom kunstgewerblichen Reinhardt über den revolutionären Martin bis zu dem Ziel bezeichnet, wo der Schauspieler von allen Seiten sichtbar sein wird, nur nicht von der des schauspielerischen Talents. Und wenn diese Bahnbrecher, die ihm damit helfen wollen, daß sie ihn im Parkett auftreten lassen, sich nur damit begnügten, die »Guckkastenbühne«, solange sie an dieser Schmach der Jahrhunderte leiden, in ein leeres Podium zu verwandeln! Wenn es nur wahr wäre, was jener rühmt: daß »diese neuen Künstler ganz von vorn auf einem nackten Stück Brett anfangen wollen«! Aber was haben die Herren Jeßner und Fehling, zwischen die ich nicht, wie Herr Ihering, der Dramaturg dieses Humors vermutet, einen Keil, sondern das Brettermagazin treiben möchte, das ihre Welt bedeutet – was haben sie aus dem entzückenden Schauplatz des Berliner Staatstheaters gemacht! Man könnte sich vorstellen, daß ein Regisseur, der irgendwo auf solche Barrikade der Wortwirkung, auf solchen Narrenturm der Szene, auf solches Gebirge der Hochstapelei stieße, es schleunigst abtragen ließe, um zur Ebene des unverschmockten Theatersinns, zum Podium zu gelangen. Die umgekehrte Prozedur: das Glück der weiten Szene in solches Desaster zu verkehren, das den Schauspieler zum Irrgärtner macht und den Zuschauer verwirrt, könnte man sich keineswegs vorstellen, wenn sie nicht in Berlin zur täglichen Wirklichkeit würde. Ich weiß meiner Podiumgestaltung, die doch dem dekorationslosen Theater im höchsten und nüchternsten Sinne entspricht, keine bessere Hilfe, als wenn ich irgendwo statt eines Konzertsaals eine Guckkastenbühne finde. Daß ich meine Anforderungen an die Einfühlungsfähigkeit so überspannen sollte, um sie nur auf Stufen für erreichbar zu halten, das ließe ich mir unter dem bösesten Alpdruck von Berliner Theaterwochen nicht träumen. Die Schauspieler, die sich Herr Karlheinz Martin wünscht, mögen, wenn sie seinen Ansprüchen vollends genügen wollen und schon hinreichend appretiert sind, um sich ohne Kostüm und Dekorationen leichter zu fühlen, es einmal versuchen, die lebendige Gestalt einer Dichtung sitzend anstatt springend zu verkörpern: dann wird sichs zeigen, ob das Wort wieder in seine Rechte eingesetzt ist! Es wird wie beim Mangobaumwunder sein. Denn auf das Wort kommt es an, und »Mango« bedeutet sowohl den Baum mit den goldenen Früchten wie den Händler, der seine Ware zustutzt.


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