Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Das österreichische Selbstgefühl

Alles, was sich je gegen die preußische Lebensrichtung in einem gewehrt hat, bäumt sich dennoch gegen die Zumutung auf, als »österreichisches Selbstgefühl« angesprochen zu werden. Der naturgebotene Widerwille vor allem Richtiggehenden könnte sich gar nicht ausleben, ohne des Abscheus vor einem Unwesen, das nicht einmal richtig stehen kann, sondern im günstigsten Fall nur, je nach Rasse, torkeln oder hatschen, unter allen Umständen und in jedem Momenterl habhaft zu sein. Mag man im Querschnitt des Weltruins noch so deutlich die hassenswerte Visage jenes Macher- und Aufmachertums erkennen, das österreichische Antlitz der Wurstigkeit, die sich so lange an das fremde Rückgrat angehalten hat, drängt sich doch in seiner vollen Verächtlichkeit vor und umso widerlicher in dem Fallotenstolz einer schäbigen Valuta, die dem ruinierteren großen Bruder die kalte Schulter zeigt. Nichts Schmählicheres und zugleich Groteskeres hatte sich in diesem unwahrscheinlichen Europa begeben können als diese österreichische Selbstbesinnung. Mich wenigstens könnte das Entzücken der zwischen Kopenhagen und Athen ja auch hinlänglich vertierten Welt über ein Österreich, dem sie noch immer nicht die »Lustige Witwe« vergessen kann, die Affenliebe für ein Land, das die Chambres séparées besingt und sich durch die Intervention seiner Huren und Kabarettfatzken als erstes die Sympathie einer Feindeswelt errungen hat – mich könnte die internationale Anerkennung, daß es nur ein Wien gibt, zwar mit dankbarer Befriedigung über diesen Ausnahmsfall der Schöpfung erfüllen, aber keineswegs von dem Zwang befreien, beim Bekenntnis meiner Zuständigkeit schamrot zu werden. Und nun mehr denn je, wo diesem Deutschösterreich die Zurücksetzung des Deutschtums zustattenkommt und man in Gefahr ist, als Angehöriger eines Musterknabenpensionats von der Antipathie gegen jenes zu profitieren. Was könnte es Perverseres geben als eine diplomatische Weltverfügung, welche heute im Ausland den Tschechen zwar als den Vertreter einer Großmacht beglaubigt, deren nähere geographische Umstände unbekannt sind, aber als ehemaligen Teilhaber des allgemein beliebten Österreich willkommen heißt. Es soll sogar vorkommen, daß die große Welt sich bei ihm nach dem Befinden des charmanten alten Kaisers erkundigt, dessen Abdankung sie nur darum nicht erzwungen hat, weil er sie nicht erlebt hat, dessen Erinnerung sie aber doch in einem dankenswerten Zusammenhang mit Wiener Nachtlokalmusik bewahrt. Die Verlegenheit, die unsereins seit jeher vor der Welt empfindet, wird angesichts ihrer Dummheit, nicht das an diesem Wesen von einem Staat zu bemerken, was ihr das Haar sträuben würde, vermehrt: durch das Plus an mondialem Empfinden, das der geborene Antiösterreicher und wissende Österreicher vor ihr voraus hat. Man schämt sich zugleich für Österreich und für eine Welt, die nicht spürt, wie recht man hat. Kommt noch die Erniedrigung durch das Gefühl hinzu, gegen ein Deutschland ausgespielt zu werden, auf dessen Gnadenblick die Bundesbrüderschaft so lange angewiesen war, so ergibt sich eine Zwangslage, in der man es noch immer vorzieht, unter Hyänen und Schakalen zu leben als dort, wo man dergleichen für Schoßtiere hält. Ich habe die Letzten Tage einer Menschheit geschrieben, die nach ihrer Lustigen Witwe Harakiri gemacht hat; ich habe getan, was ich konnte, um das Grauen ihrer Zentralregion zu verewigen. Aber ich möchte bei Gott nicht mit dem Verdacht auf die Nachwelt kommen, als ob ich die Erlösung vom preußischen Militarismus mit einer Renaissance des österreichischen Feschaks, dieses Brechmittels für die widerstandsfähigsten Bewohner der Hölle, bezahlt wünschte. Der Einheitsknödel, den der neudeutsche Mann als Gesicht führt, hat mir noch nie die Sehnsucht rege gemacht nach den Individualitäten, deren jede, zugegebenermaßen, ihren Spezialknödel hat; im Gegenteil, ich finde das andere System praktischer. Daß mir das Leben unter numerierten Larven erstrebenswerter scheint als unter den fühlenden Brüsten der österreichischen Kultur, der vollkommenste Zusammenbruch Deutschlands mir wie der Inbegriff der Ordnung vorkommt neben einem sanierten Pallawatsch und die Intelligenz eines Berliner Liftjungen beträchtlicher als die eines österreichischen Verkehrsministers – daran lasse ich auch nicht den leisesten Zweifel tippen und ich halte die Frage des Anschlusses nicht etwa für verfrüht, sondern geradezu für vorlaut, solange sie von den Teilnehmern eines Staatslebens aufgeworfen wird, für das zunächst und in jedem einzelnen Falle der telephonische ein Problem ist. Wohl werde ich als der einzige Wiener ungemütlich, wenn ein Preuße es unternimmt, hier scherzhafte Beobachtungen anzustellen und die Beziehungslosigkeit zu den erlebten Dingen als Überlegenheit aufzumachen, also das tut, wodurch er sich, in seiner Sprache zu reden, »hier unnütz macht«. Aber damit will ich, der die Beschmutzung seines eigenen Nestes durch Fremde und Unbefugte perhorresziert, keineswegs der Meinung verdächtig sein, daß sich der Wiener hier nützlich mache. Sein Überlegenheitsanspruch gegen Berlin, seit jeher eine Anmaßung, ist heute einfach eine Unappetitlichkeit.

Darum hat Herr Rudolf Hans Bartsch nicht die geringste Chance bei mir, wenn er von der Weltwarte der Grazer Tagespost das »österreichische Selbstgefühl« – es sollte als das eines Nichts durchbohrend und nicht nach außen aggressiv sein – gegen reichsdeutsches Wesen aufruft. Mit unseren Kulturerrungenschaften lasse er sich heimgeigen, denn auf anderem als musikalischem Gebiet, das heißt jenem, wo die Musi mit dem Gspusi harmoniert, werden sie schwerlich zu entdecken sein. (Im Stolz der Schnitzler'schen Wienerin auf die Gipsbüste Schuberts scheint mir dichterische Intuition dem »Dreimäderlhaus« vorzugreifen.) Was die Wortkunst betrifft, so klafft hier keine so große Kluft zwischen Schöpfung und Niveau wie draußen. Von Grillparzer bis Hofmannsthal – von Herrn Bartsch nicht zu reden – dürfte Österreichs Bestreben, mit einem Klassiker an die deutsche Literatur angeschlossen zu werden, als kulturgeschichtliche Drolerie in einer Fußnote Geltung erlangen und der Zufall Nestroy, der singuläre sprachschöpferische Wert, der hier zur Welt kam, möchte vor allem durch die Stellung der Nation zu ihm entscheidend sein: es gelang ihr, ihn bei ihr beliebt zu machen. Immerhin kann man einräumen, daß das österreichische Geistesleben engeren Zusammenhang mit der Heurigenpoesie hat als das deutsche mit Goethe. Es mag auch sein, daß alles in allem hier mehr Leute die Memoiren des Scharfrichters Lang, des Mannes, dem schon als Henker Battistis die österreichischen Annalen offen stehen, gelesen haben, als drüben die »Pandora«. Vor der Einwirkung geistiger Ereignisse auf den Kulturstand eines Volkes ist mein Blick grundsätzlich getrübt und alles, was in diesen Belangen und professionellen und virtuellen Leitartiklern vorgebracht wird, scheint mir entweder Mumpitz oder Pflanz zu sein, je nachdem. Der Anspruch finde hinter den Ornamenten der Bildung seine Genüge an den seelischen Dingen, wie sie aus der Natur in Erscheinung treten. Man kann von Glück sagen, wenn dieses Österreich im Kampfspiel des Friedens sich zu der alles niederwerfenden Parole bekennt: »Heute spielt der Uridil«. Doch das Bild, das jenen Henker im Triumph der Lebensfreude über seinem Opfer, flankiert von Mitgenießern, darstellt, sagt mehr aus über die Gemütsart zwischen Inn und Leitha als die Tatsache, daß hier Mozart und Beethoven geschaffen haben. Und mit seinem Appell an das österreichische Selbstgefühl, das doch in diesem Bilde zu einem gleichsam definitiven Ausdruck gelangt, hat Herr Bartsch auch dann bei mir kein Glück, wenn er auf den Vorhalt der österreichischen Battisti-Niedertracht erwidert:

Die Schändlichkeiten mit Battisti, gehören die hieher? Waren sie nicht gerade stinkender Atem jenes Staatswesens, das ausgeröchelt hat und dessen Ende ich als Anfang eines neuen, besseren Volkes begrüße?

Herr Bartsch irrt zwiefach. Denn nicht nur, daß man dann zugunsten des deutschen Wesens (an dem die Welt, wie sich nunmehr herausgestellt hat, nicht zu genesen gedenkt) einwenden könnte, daß es ja als Staatswesen gleichfalls etwas durchgemacht habe – man könnte sogar sagen, daß der Typus des lachenden Henkers mindestens so sehr nach Deutsch-Österreich zuständig ist wie nach jener Monarchie, die ihn im Weltkrieg gegen ihre Nationen mobilisiert hat. Wenn wir also auch ein herziges Staaterl geworden sind, ganz stad im Konzert der Mächte und nur noch mit der spezifischen Musik in deren Herz uns dudelnd, so dürfte uns – wenigstens auf dem Kulturniveau unter christlichsozial-großdeutschen Auspizien – kaum die innere Möglichkeit zu einer Gruppenbildung, wie sie auf jenem Bilde verherrlicht ist, abzusprechen sein. Zwar, Leichenalleen mit hängenden Tschechen, Ruthenen oder Serben, deren Gesicht von einer Tafel verdeckt ist, auf der in allen Sprachen der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder mitgeteilt wird, daß es »Vaterlandsverräter« sind, werden, das hat Gott gewaltet und walte er auch fürder, von keinem Kriegsarchiv mehr photographiert werden. Aber der Ehrgeiz, bei einer blutigen Hetz, die ein anderer Zufall als der eines Armeeoberkommandos gebieten könnte, auf die Platte zu kommen, dürfte kaum mit der Regierungsform zum Teufel sein. Gerade weil diese durch die Jahrhunderte die Bestialisierung der Gemüter besorgt hat, wird, je mehr österreichisches Selbstgefühl, umso eindrucksvoller im gegebenen Falle das diesbezügliche Antlitz vom vollbrachten Werke zeugen. Man muß sich nur einen Pogrom vorstellen, um auch die Photographie dazu zu haben. Und man braucht nur die Perspektive zu ziehen, die das Kulturbildchen eröffnet, mit dem Kasmader kürzlich in meine sauer verdiente Sommerruhe hineinlangte. Ein mit grellsten Schönpflugfarben geschmücktes Kuplet aus dem Jahre 1914, »Friedenskuplet« betitelt, das besser als jeder Höllenbreughel unsern geistigen und moralischen Zustand jener Tage abkonterfeit. Das Titelblatt: Oben ein ganzer Ochs auf einem Teller, von dem Soss bidee herunterrinnt; im Fleisch des lebendigen Tiers stecken Messer und Gabel. Ein k. u. k. Wunschtraum aus der Durchhalterzeit. Darunter mit dem K des Wortes »Kuplet« durch ein zierliches Mascherl verbunden, eine Kaisersemmel nebst einem Kipferl und einem Salzstangerl; dann eine Champagnerflasche und daneben noch eine umgeworfene, denn der Champagner soll in Strömen fließen; ferner ein Jockei (sprich: Schokai), der durch die Freudenau hetzt; ein Büblein mit einer Milchkanne; schließlich als höchster der Friedensgenüsse ein Automobüll, in dem eine Lebedame sitzt, ein sogenanntes Pupperl, eine Mai-Tresse, und das er ihr offenbar aus dem Grunde gekauft hat, weil es damals noch nicht vüll gekostet hat. Preis des Kuplets: 20 Heller, »Volksausgabe«. Darin wird dargestellt, unter welchen Bedingungen – dies der Refrain – wieder »Frieden auf der wunderschönen Welt« ist. Nicht, wenn die so beschaffene Monarchie, die solchen Hinterlandsdreck in ihrer größten Zeit hervorgebracht, geduldet, bejubelt hat, Galizien und das Trentino hergibt, was ihr ja nach Millionenopfern doch nicht erspart bleiben wird, sondern:

wenn man erst mit einer Nimphe
in der Nachtbar sitzt bis fünfe
bei 'ner guten Flasche Hindenburgeff grün ...

Oder:

Wenn man kriegt die Auslandspässe
Und der Held der »Freien Presse«
Roda Roda auf dem Ring spazieren geht ...
Wenn die Heldenväterbusen
Von den Heldentaten schmusen ...

Oder – nach dieser frühzeitigen Selbstbespeiung der Glorie – in einem noch dunkleren Gaunerjargon:

Wenn der Typ der Steeplechase
Kriegt vor'm Ziel ein Schippel Stöße,
Und der Szente in den Wassergraben fällt,
Wenn man dann vorn Schlag gerührt ist,
Weil der Bucki palisiert ist ...

Und zwischen dem Rothschild, der »wieder Rindfleisch sich bestellt« (was er vermutlich auch in der Zeit der Fleischkarte getan hat) und der Frau Pollak – der nächst ihr populärste Schlager dieser Kaiserstadt, die es Gottseidank nur in einem Exemplar gegeben hat:

Wenn vom Fackel-Kraus 'ne Nummer,
Wieder rauskommt rot wie'n Hummer ...

Aber wiewohl sie doch wirklich herauskam und die abgrundtiefe Gemeinheit dieses Hinterlands ihm in die Seele, die es nicht hatte, ununterbrochen eingebrannt hat – ein Verfahren, das hier freilich nur Eindruck macht, wenn es auf die Zuspeis angewendet wird –: die Feinde waren selbst mit solchem Anbot nicht zufrieden und ließen noch vier blutige Jahre vergehen, bis dieses Österreich ganz andere Schätze als die Fackel herauszugeben hatte. Und sogar das Folgende imponierte ihnen nicht:

Wenn es klar wird allen Leuten:
Einen Wilhelm gibts den Zweiten,
Einen zweiten Wilhelm gibt es niemals nicht!

Was allerdings wieder ein Glück im Unglück bedeutet hat. Aber der Kretin, der's mir in Erinnerung bringt, hat – heute noch – den »Einen« unterstrichen. Und der Schluß (den wieder ich unterstreiche) lautet:

Wenn am Ring die Fahnen fliegen
Und nach diesen großen Siegen
Unser tapf'res Heer in Wien den Einzug hält;
Wenn ein Schrei von Hunderttausend
Grüßt die Sieger wild und brausend,
Dann ist Frieden auf der wunderschönen Welt.

Genau so ist es gekommen: die Hunderttausend, die obern, haben die Katzelmacher als die Sieger gegrüßt, denen sie die Stiefel leckten und gleichfalls »Saisonschlager« widmeten. Aber die Prophezeiung – denn dieser da gehörte zu den »pappulären« – war im Herbst 1914 in allen Nachtlokalen gegröhlt worden. Daß sie nicht buchstäblich in Erfüllung gegangen ist, wer ist schuld daran? Kasmader versieht die Stelle – in Schreibmaschinschrift, die das Inkognito des Vaterlandshelden wahren soll – mit der Randbemerkung:

Das haben die Krause verhindert, wofür sie weggemacht gehören!

Daß ich den Kaiser auf Madeira – der ohne seinen Ausflug heute noch im Kreise der Seinen in Prangins säße – getötet habe, ist in Kasmaders Blättern schon enthüllt worden. Daß ich aber auch der Dolchstoß bin, der verhindert hat, daß die Erwartung der Anhänger der Resitant und des Rockenbauer in Erfüllung gehe und eine verhungerte, durch die Dementia von Generalen, die später zumeist im Lift oder auf dem Trottoir gefallen sind, zusammengeschmolzene Armee mit Lorbeerreisern an der Sirk-Ecke vorbeiziehe, wo zahlreiche Vorgesetzte sie schon den ganzen Krieg hindurch erwartet haben: diese Version ist neu. Auf der Rückseite des Friedenskuplets sind von den gleichen und andern Schöpfern noch als Dokumente jener glorreichen Zeitstimmung: »Marianka's Feldpostbrief« und »Wien wird bei Nacht erst schön«, zu beziehen durch alle Musikalienhandlungen, angekündigt. Wahrscheinlich durch meine Schuld mußte vier Jahre später – just in jener Zeit, da unser tapf'res Heer in Wien den Einzug halten sollte, aber zum Glück auch nicht die Besorgnis in Erfüllung ging, daß es alles kurz und klein schlagen werde – das schöne Nachtleben Wiens mangels Kohle bereits um acht Uhr zu Ende sein. Auch die Kaisersemmel erschien so bald nicht wieder und von allen Friedenssymptomen trat eigentlich nur die Fackel-Nummer in Erscheinung, die sich aber auch schon durch die Permanenz der österreichischen Glorie nicht hatte abhalten lassen zu erscheinen, so daß sich immerhin im k. u. k. Kretin die Vorstellung herausbilden konnte, daß eben sie an dem Ausfall all der anderen Kulturgüter Schuld habe. Das Friedens-Kuplet wäre an und für sich bloß ein Dokument des österreichischen Selbstgefühls jener Tage; der Geist aber, der es heute zitiert und in Verbindung mit mir bringt, läßt wohl auf ein österreichisches Selbstgefühl schließen, wie es sich Herr Bartsch nicht schöner entwickelt denken könnte, wiewohl es doch offenbar auch von dem stinkenden Atem jenes Staatswesens, das ausgeröchelt hat, herübergeweht erscheint. Kasmader, der keinen bessern Zephyr kennt, verabsäumt nicht, das Friedenskuplet, das auf dem Titelblatt als »Saisonschlager« bezeichnet ist – hätten in eben jenen Wochen die Russen diese Funktion übernommen, so würde es heute höchstens 30 Heller kosten und seine Erwartungen wären mit Ausnahme der letzten erfüllt –, Kasmader also verabsäumt nicht, es »Karl dem Krauslichen« zu widmen. Es ist der elementare Kurzschluß, der sich im Gehirn des Reichspostlers vollzieht, wenn es nur an den Namen »Kraus« anstößt, auch ohne die ihm wohlgefälligen Kriegsgreuel zu assoziieren. Schon als Kasmader auf der Volksschulbank neben mir saß, hat er dieses Bonmot geprägt und es seither durch alle Stadien seiner Karriere bis zum Finanzbezirksaushilfsmonarchisten in Ehren gehalten. Jetzt ist er es seinem Kaiser schuldig und das Porto bezahlt die Zita. Er entschließt sich aber auch noch, auf einem Beiblatt, zu der folgenden Herausforderung:

Wann wirst du endlich dieses Land verlassen?
Du Gesinnungsstrolch!

Was da am Einband zwei Gabeln drinnen stecken hat, ist mir weit sympathischer wenn es auch von der Sprache noch weniger als du weiß!

Mache dich gefaßt, daß du in deinem nächsten Gemauschel von mir ein paar Zwischenrufe abkriegst.

Oha

Das muß nicht von dem außerordentlichen Satiriker sein, der seinerzeit in den ›Wiener Stimmen‹ gesprudelt hat, sondern es handelt sich wohl um ein allen arschen Köpfen gemeinsames und geradezu obligates Pseudonym. Auch an der ›Muskete‹ hat seinerzeit ein Geißler der Sitten mitgewirkt, welcher sich hinter diesem Capriccio von einem Namensscherz verbarg, der, wie avanciertere Leser unschwer merken werden, den glücklichen Zufall, daß der Satiriker O. H. heißt, mit der in Wien üblichen Entschuldigung des An- oder Aufstoßens zu einem kecken Einfall verknüpft. Es ist aber sicher, daß in Unkenntnis dieses Umstandes seither alle satirisch bestrebten Katholiken das Pseudonym bevorzugen, ja es scheint geradezu eine satirische Zwangshandlung vorzuliegen, und erstaunlich genug bleibt, daß daneben der nom de guerre »Bumstinazi« so wenig Zuspruch findet. Alles in allem sind diese launigen Seitensprünge Folgeerscheinungen der stabilisierten Krone und des mit ihr erstarkten österreichischen Selbstgefühls, sie erklären sich unschwer aus der Atmosphäre eines von den Amtsstunden her an allerlei Schabernack mit den Parteien gewöhnten Typus und aus der kulturellen Ausstrahlung einer Ministerbank, von deren meisten Insassen ich überzeugt bin, daß sie einen unerwartet eintretenden Regen als satirisches Motiv empfinden und demgemäß mit den Worten »Ah, sie regnet!« begrüßen werden. Wie dem immer sei und wenn auch die österreichischen Minister vielleicht doch nicht so geistreich sein mögen wie sie aussehen, so ist es gleichwohl eine neckische Gegenwart, in der wir leben, und der Mann, der mir schreibt und den ich ganz gewiß noch besser kenne als er mich, wiewohl er eine Maske trägt, scheint ein Vaterland zu haben und auch Ursache, es zu lieben. Der Ochs dagegen, der »am Einband« zwei Gabeln drinnen stecken hat, versteht zwar von der Sprache noch weniger als ich, aber er würde es anderseits auch verschmähen, von ihr in anonymen Briefen den Gebrauch zu machen, zu dem er eben noch befähigt ist, denn seine Einfalt bedeutet im Gegensatz zu der menschlichen einen moralischen Vorzug. Also kündigt der immerhin verborgene Bekenner einer guten Gesinnung mir, dem Gesinnungsstrolch, an, daß er, wenn ich als Sprecher hervortrete, mir mit Zwischenrufen aufwarten wird, und scheint nicht bedacht zu haben, daß die Ausführung Mut erfordern würde, da sie nebst den in meinem Raum unvermeidlichen Folgen doch wohl zur Agnoszierung eines der Banditen beitragen könnte, gegen deren Drohungen die Staatsanwaltschaft in meinem Fall so geringes Animo bekundet.

Selbst wenn darum das Versprechen so wenig zur Erfüllung gelangen sollte wie die Erwartungen des Friedenskuplets und auch der Wunsch unerhört bliebe, der sich in der Erkenntnis ausdrückt, daß ich aus eben diesem Grunde »weggemacht gehöre«, so wird Herr Bartsch doch nicht leugnen können, daß wenigstens seine Hoffnung auf ein Erstarken des österreichischen Selbstgefühls in solchem Falle keineswegs enttäuscht wird. Er hat aber auch dann keine Aussicht, mich für die Sache zu gewinnen, wenn er die Erinnerung an den Fall Battisti – und er stellt ihm die deutschen Untaten in Belgien gegenüber, ohne zu bedenken, daß doch in der Fixigkeit, dem Henker den Photographen zu attachieren, Austria als in orbe ultima dastand – wenn er also jenes recht lückenhafte Geständnis, das nur die Tat, nicht den Stolz auf sie einschließt, durch die Worte zu retouchieren sucht:

Für die Annaglung solcher Scheußlichkeiten bedürfen wir diese neuerliche Erinnerung, gegen meine autoptischen Erfahrungen, nicht, denn wir hatten in Österreich ohnehin ein Genie dafür, wie kein anderes Volk dergleichen je hatte: Karl Kraus. In sehe in diesem Manne mehr als einen bloßen Menschen. Er ist das fleischgewordene Gewissen eines gewesenen Volkes! Wo es aber ein so furchtbares böses Gewissen gibt, da ist auch Zeit für die guten Gewissen, zu reden und zu zeugen. Ich möchte übrigens doch einmal wissen, wie es kommt, daß man einem Volke eine ihm gar nicht typische Scheußlichkeit, nachdem sie ohnedies von einem Genie gebührend aufgezeigt worden ist, zwei- und mehrmals vorhalten darf, während der erste Versuch, dem Österreicher zu sagen: Du bist besser als der Preuße, wenn du dein bestes Wesen erkennst und pflegst, augenblicklich auf Widerspruch, ja auf Verdächtigung stößt.

Herr Bartsch irrt, wenn er meint, daß meine Arbeit in einer »Annaglung« besteht, daß zu dieser nicht bloß Geschicklichkeit, sondern Genie erforderlich wäre, und vor allem, daß wir in Österreich ein solches Genie »hatten«; er setzt wohl ohneweiters voraus, daß es, nachdem es sein Jahrhundert in die Schranken gefordert und hinreichend angenagelt hatte, Arm in Arm mit jenem Henker in die Pension gegangen sei, weil es die Züge einer gar nicht typischen Scheußlichkeit im neuen Österreich unmöglich wiederzuerkennen vermöchte. Denn das Volk, das zu mahnen es eingesetzt war, sei gewesen; das böse Gewissen des Österreichertums habe in der Welt der Republikaner Seipel und Funder ausgeschlagen und es sei nun hohe Zeit, daß das gute, welches da Bartsch genannt wird, zu Wort komme. Nun, wäre dieses gute Gewissen ein Künstler – in eben dem Maße als das böse nicht bloß die Fähigkeit hatte, die Bilder der Zeit an die Wand zu hängen, sondern auch zu malen –, so könnte man es mit dem Rat, zu bilden und nicht zu reden, auf seine natürliche Bestimmung verweisen, ein sanftes Ruhekissen zu sein. Aber da dieses zumeist nur die Zuflucht der Leute ist, die die Romane des Herrn Bartsch lesen, so kann man halt nichts machen. Er appelliert an das österreichische Selbstgefühl und ist der festen Überzeugung, daß der Wesenswert, den es bejaht, von dem »stinkenden Atem jenes Staatswesens, das ausgeröchelt hat«, unberührt sei. Und ahnt gar nicht, wie das wahre österreichische Selbstgefühl dieser Konstruktion spottet und in natürlicher Entfaltung einem einzigen Anschluß zustrebt: dem an die Vergangenheit. Der Präsident einer Republik, die ein harter Friede mit dem ganzen Verbrechen dieser Vergangenheit belastet hat, hatte neulich, bei Eröffnung der Kriegsbildergalerie des Heeresmuseums – und er beschränkt sich in solchen Fällen nicht darauf, »Es war sehr schön« zu sagen –, den sinnigen Einfall des folgenden Bekenntnisses:

Ich glaube, daß der Krieg, der uns aufgedrängt wurde, trotz seines ungünstigen Ausganges uns mit Stolz erfüllen muß.

Demnach bliebe nichts zu wünschen übrig als der Majestätsbeleidigungsparagraph, um ihn unter dem Eindruck eines solchen Diktums übertreten zu können. Aber sollte hier nicht dem österreichischen Selbstgefühl geradezu vorgeschrieben sein, sich in der Identifizierung mit jenem Staatswesen, das ausgeröchelt hat, zu betätigen?

Man sieht, wie verschiedene Denker es verschieden denken. Wie dem immer sei, Herr Bartsch hat durch seine Art, das österreichische Selbstgefühl zu wecken, von dem er glaubte, daß es einen Wert zu notieren habe, der bereits 150 Mark entsprach, also hauptsächlich durch den Zeitpunkt seines Appells einiges berechtigte Aufsehen erregt und man muß schon sagen, daß die Gesinnung, die sich heute des Nichtanschlusses freut und damit nicht hinter den steirischen Bergen halten kann, wirklich jene Qualität beweist, der der Herr Bartsch zur Anerkennung verhelfen will: das echte Österreichertum. Denn ganz abgesehen davon, daß zwölf aus der Steiermark auf ein Dutzend gehen und selbst heute noch nicht so viel wert sind wie einer aus der Mark, wenn er etwa Fontane heißt, befindet sich das Deutschtum, dessen Anschlußwürdigkeit nun von den Leuten erörtert wird, die es nie nach der ihren gefragt hat, augenblicklich in einer wenngleich selbstverschuldeten Abwehrstellung und muß waffenlos, auf nichts gestützt als auf seine heillose Ideologie, etwas wie jenen heiligen Verteidigungskrieg führen, mit dem sein Wahn 1914 die Welt überzogen hat. Da muten denn die Versuche eines von Natur fragwürdigen Österreichertums, sich an der zerschmetterten Schulter zu reiben, wie eine Variante der Variante an, die ein Nestroy'scher Filou zu dem edler gearteten Genossen spricht: »Ich habe die Not mit Ihnen geteilt, es ist jetzt meine Pflicht, Sie auch in den guten Tagen nicht zu verlassen!« Und wirken so unerquicklich wie die Selbstverteidigung, die Herr Bartsch gegen die Vorwürfe von nationaler oder antiösterreichischer Seite unternimmt:

... Ich frage: Wer hält die Grenzwacht des Deutschtums im Süden besser? Wer dem ganzen Volke ein paar Millionen Bücher in dessen Sprache gibt und ihm ein Bild unseres Südens gab, das draußen Liebe und Achtung erregte, oder wer dies Volk verkleinert?

Er hat sich, wie man zumal hier gewahr wird, in ein Gedränge der Begriffe Volk, Staat, Deutschland, Preußen eingelassen. Ich nun hatte neulich aus einem Interview mit Herrn Bartsch dessen Erklärung übernommen, er sei ein Führer des deutschen Volkes, »unter dem zwanzig Millionen Bücher, Kinder seines Geistes, verbreitet«, und wohl die Führerschaft, aber nicht deren Begründung angezweifelt. Es war ein Versehen, in dem Zitat nicht gleich die Übertreibung »anzunageln«, die jedoch immerhin durch ein Mißverständnis des Steirers, der mit dem Führer des deutschen Volkes konversierte, zu erklären sein mochte. Nun aber beruft sich Herr Bartsch in eigener Diktion fast auf die gleiche Zahl der Kinder seines Geistes. Es wäre ein Nationalunglück – annähernd in den Maßen der Japan-Katastrophe –, wenn Herr Bartsch dem ganzen Volke auch nur »ein paar Millionen« Bücher geschenkt hätte, denn er hätte es nicht in dessen, sondern in seiner eigenen Sprache getan, die nicht davor zurückschrickt, das preußische Selbstgefühl das »ungerechtfertigste« zu nennen und »von dem« zu reden, »an dem« wir alle unausgesetzt arbeiten. Freilich scheint auch in diesem Fall das deutsche Volk, das ja solche Sprache goutiert, es sich selbst zuschreiben zu müssen. Herr Bartsch versichert, er habe keinen Grund, persönlich gereizt zu sein, und erzählt zum Beweise der Sympathie, die man ihm gerade in Deutschland entgegenbringe, eine Geschichte, die wohl alle Kriegsgreuel, die er den Preußen nachsagen könnte, in Schatten stellt:

... Ich ließ und lasse meinen Volksstamm nicht auf Kosten eines anderen heruntersetzen, der der Erde erst einmal wirkliche Gaben bieten muß.

Also Gaben, mit denen man sich wohl bei der Erde für die wirklichen Gaben der Erde revanchiert, zum Beispiel für Kartoffeln. Und etwa von der Qualität der Werke des Herrn Bartsch, zu deren Verständnis – wenn schon nicht zu der Fähigkeit, sie hervorzubringen – die Preußen sich immerhin aufgerafft haben:

Ich selber bin draußen sehr, sehr viel besser behandelt worden als in der Heimat, und vor einem Thronfolger sagte mir ein deutscher Offizier: »Für Erscheinungen wie die Ihre führen wir diesen Krieg, damit sie uns erhalten bleiben und uns ins Blut gehen.«

Nun weiß man endlich, wofür dieser Krieg geführt wurde! Aber freilich auch, warum er verloren gegangen ist. Zehn Millionen Mütter von toten, blinden oder verkrüppelten Söhnen – etwa so viele, als Bücher von Bartsch in Deutschland verbreitet sein sollen – und alle Erben des Jammers, der sich in der weiten Welt an das Ereignis knüpft, empfangen den Trost, daß der Krieg, dessen völlige Sinnlosigkeit den Schmerz bis zur Verzweiflung gesteigert hat, unternommen wurde, damit uns Erscheinungen wie Herr Rudolf Bartsch – der deutsche Offizier schwieg von Otto Ernst – erhalten bleiben, und daß so viel Blut fließen mußte, damit jene uns ins Blut gehen. Mehr Bartsch ins Blut! war Kriegsparole. So haben die deutschen Offiziere – und solche, die ihrem ruchlosen Handwerk schon etwas wie eine kulturelle Bestimmung zuwiesen – in Gegenwart der Thronfolger gesprochen. Und Herr Bartsch, der bei den Worten des deutschen Offiziers nicht in die Erde sank – nicht einmal dort, wo sie zu diesem Zweck Schützengräben offen hielt: denn er sollte uns ja im Gegenteil erhalten bleiben –, und der eben diese Offenbarung des Sinnes der kriegerischen Aktion nicht als die Besiegelung ihres Wahnsinns empfand, nahm das Kompliment etwa so hin wie ich das seine und ohne sich dadurch in der schonungslosen Beurteilung dessen, der es aussprach, irremachen zu lassen. Nicht eben daran erkennt er, wes Geistes die deutschen Offiziere waren, sondern trotzdem. Denn er ist ja selbst im Tiefsten davon überzeugt, daß er ein Führer des Volkes ist, welches wohl zuweilen diese Überzeugung mit ihm teilt, aber im Ganzen noch nicht auf deren Höhe lebt. Daß er ein Dichter ist – und einer, zu dessen Erhaltung einen Weltkrieg zu unternehmen nie ein zu kostspieliges Beginnen sein kann –, das hält er für eine ausgemachte Sache. Darum ist er auch berufen, der Nation, der er in einem viel tieferen Sinne zugehört als die verständigsten seiner Leser unter den preußischen Offizieren, jeweils jenen Spiegel vorzuhalten, der zu den wenigen Dingen zählt, die leider unzertrümmert aus dem Ruin hervorgegangen sind:

Und für den Zeitpunkt, in dem solche Dinge zu sagen sind, lasse der Historiker doch unbesorgt dem Witterungsvermögen des Dichters freien Weg!

Herr Bartsch ist denn auch mit der Wirkung zufrieden:

Ich lege meine politische Feder lächelnd aus der Hand. Was ich gesagt, hallt schon weiter.

Er eilt zum Schluß, läßt sich aber noch aufhalten:

Halt: Ein Gedanke.

Etwa von der Art der andern, wie zum Beispiel, daß man »mit unserer ewigen Beschmutzung des eigenen Nestes« aufhören solle, gegen die bisher nur er allein stehe. Ob es indes sittlicher sei, statt dessen das fremde Nest, und just wenns dort drunter und drüber geht, zu beschmutzen, sagt er nicht. Was es aber mit dem österreichischen Selbstgefühl, das bei solchem Vorgehen gedeiht, auf sich hat und welche Formen es annimmt, wenn das Glück der Markentwertung ihm Gelegenheit gibt, das fremde Nest noch auszuschmarotzen und nebst dem Genuß jener Überlegenheit, die der Stand der Valuta bestimmt, auch physisch zu verunzieren, das konnte sich in diesem Spätsommer dem schaudernden Sinn offenbaren, der dem Raunen einer geschändeten Ostsee den Nachklang des Grolls entnahm über den Einbruch einer Gesellschaft, die mit dem undefinierbaren Jargon ihrer stets weltmittelpunkthaften Frechheit wie die Hyksos über Land und Meer gehaust hatte. Kaum eine heilige Buche der Insel Rügen, an der dieses in all der Buntheit seiner Kontraste doch so typisch versammelte Österreichertum zwischen Hakenkreuz und Davidsstern nicht sein Wirrsal ausgetobt hätte, einig in dem Bewußtsein, auch an der Ostsee nicht untergehen zu können, und in der Erkenntnis, daß sichs auf Kosten des Nachbarn billig leben läßt. In alle Rinden war es eingeschnitten, daß die Markparasiten wieder das errungen haben, was in den Jahren der eigenen Pleite von den Führern der Nation so schmerzlich vermißt ward: das österreichische Selbstgefühl.

Und sollte sich seine Erstarkung nicht in der Wiederaufnahme der Preiskonkurrenz der dicksten Männer von Wien ausdrücken? In dem Bericht, den ein christlichsoziales Blatt, das sich »Weltblatt« nennt, über ein Ereignis veröffentlicht, mit dem wir, unsrer Eigenart bewußt, getrost neben allgemein deutschen Angelegenheiten wie die Ruhrkatastrophe uns sehen lassen konnten. Zwar berührt es noch immer als ein Zeichen von Niedergang, wenn man bedenkt, daß 1913 ein Gastwirt 222 Kilogramm wog, während jetzt ein Pferdehändler schon mit 156 Kilo Sieger werden konnte. Aber dafür muß doch auch die durch den Krieg bewirkte Unterernährung berücksichtigt werden und es ist jedenfalls erfreulich, daß das Wiener Bürgertum sich wieder zu seinen Idealen in deren vollem Umfang bekennt, so daß das 'Weltblatt' bei Betrachtung des Wiener Horizonts, dort, wo er zwischen 158 und 165 Zentimeter umspannt, sich der gustösen Anspielung nicht enthalten konnte, vom »Backhendelfriedhof« eines mitwirkenden christlichsozialen Stadtrats zu sprechen. Und wenn wir gar von den Orgien dieser Fleischeslust den Blick zu jenen andern wenden, deren Veranstaltung mit nicht geringerer Detailkunst der Polizeibericht verzeichnet, so müssen wir sagen, daß auch hier das österreichische Selbstgefühl wieder sein altes Betätigungsfeld erobert hat: das der »Razzien« in die Lasterhöhlen und Sündenpfuhle, wo es beiweitem anständiger zugeht als in den Familienhäusern der Umgebung. Es genießt wieder den Triumph der Einmischung einer Amtshandlung in Dinge, die die Polizei eben das angehen, was durch die kriminalistische Anfassung der Sexualsphäre entsteht: einen Dreck. Denn der Humor der Battisti-Gruppe kommt auch im Halali der Hurenjagd zur Geltung; in den Generalstabsberichten nach dem Sieg über »die abgeschaffte Steffi und die fesche Gretel« nebst Umzinglung einer Kupplerin; in den animierten Schilderungen der Gelegenheit und der Beute, die hundertmal bedenklicher sind als die Tätigkeit des Feinds. Und in der Sensationsfütterung der ehrlosesten Presse, die unter dem Vorwand der moralischen Entrüstung ihren Lesern die ihnen entgangenen Voyeurfreuden annähernd zu ersetzen trachtet. Doch mit nicht geringerer Deutlichkeit und ohne den Rädelsführern dieser Schaustellungen die Beruhigung zu lassen, daß es sich um ein »Paradoxon« handle, sei ihnen gesagt, daß ich von allen Erektionen des österreichischen Selbstgefühls diese da für den weitaus ärgerlichsten Versuch mit untauglichen Mitteln halte. Daß es viel dringender wäre, den § 26 des Preßgesetzes als den § 129 des Strafgesetzes durchzuführen. Daß das Anständigste was hier Ausländer unternehmen, die Teilnahme an lesbischen Unterhaltungen sein dürfte. Und daß diese selbst weitaus sittlicher und natürlicher sind als die Anwesenheit des Justizministers und des Polizeipräsidenten bei Diners, die inländische Finanzjuden zu Ehren amerikanischer veranstalten, um das österreichische Selbstgefühl hochleben zu lassen.

Ja, erleben wir nicht die Symptome seiner Erstarkung in allen Manifestationen und Bekenntnissen dieses Bürgersinns: in der wahlbereiten Einigung aller Staatsbetrüger und Volkswürger auf diese Mittelmäßigkeit von einem Allerweltpriester und Gefilmten des Herrn; in dieser Gemeinbürgschaft eines durch die Bank korrumpierten Christentums und einer sanierten Kille; in der Fetierung der Judenfresser beim Judenfressen; in der Anbetung des goldenen Kalbes und der Jeritza; in der Prosternation der Staatsgewalt vor der Presse, in allen Bestrebungen des Hasses gegen die kapitalsgefährliche Armut und in dem unverhüllten Drange, wieder dorthin zu gelangen, hinter den Wendepunkt zurück, wo es der Frechheit möglich wäre, so unerbittlich mit jener zu verfahren, wie sie – unwiederbringlich unbegreifliches Versäumnis! – großmütig die zitternde Ohnmacht der Geldherrscher pardoniert hat. Erleben wir nicht die Symptome der Erstarkung eines österreichischen Selbstgefühls, das nie dem lebendigen Bewußtsein eines Volkes mit ganz andern als nationalen Sorgen, sondern immer nur der Angst der Herrschenden vor diesem Volk entstammt, erleben wir sie nicht stündlich an unsern Nerven? Für die meinen empfinde ich als das eindringlichste das Erlebnis, wieder den »Fußmarsch« hören zu können.

Den Fußmarsch? Selbst wer ihn erlitten hat und nun wieder erleidet, dürfte nicht wissen, was der Fußmarsch ist. Er wird nicht unternommen, sondern erlitten; denn er ist eigentlich ein Marsch zu einem Fußmarsch. Man ist aufgewachsen, indem man sich unter dem Alpdruck der k. u. k. Monarchie, eingedenk der Lorbeerreiser, schlafen legte, aber rechtzeitig geweckt wurde, um dieser für den ganzen Tag eingedenk zu sein, und zwar durch den Fußmarsch. Es war die Zeit, wo – schon lange bevor der Mensch von Metzgern gemustert ward – das Leben unter den Begriff einer Tauglichkeit gestellt war, jedoch nicht der für sittliche und geistige Aufgaben, sondern für die unsittlichste und ungeistigste: von einem Klachel für den Zwang abgerichtet zu werden, dereinst eines unnatürlichen Todes zu sterben, nämlich für den Kaiser. Aber ganz abgesehen von der Infamie der Zumutung, seinen Leib irgendwelchen staatsmännischen Gelüsten, die abzuwenden oder abzuwehren man keine Macht hatte, zur Verfügung stellen zu sollen – tausendmal schimpflicher als die von derselben Staatsbürgermoral verpönte Hingabe des Frauenkörpers –, lastete auf allem Leben der Druck einer sozial bevorrechteten Klasse, deren Angehörige für den offenbaren Mangel intellektueller Gaben von der Natur durch eine Hypertrophie der Drüse, die das Ehrgefühl absondert, entschädigt waren, weshalb man ihnen sowohl auf dem Trottoir wie in öffentlichen Lokalen auswich. Sie waren durch eine bunte Verkleidung, allerlei Schnüre, Schnallen und Quasteln sowie einen Säbel kenntlich gemacht und man konnte nie wissen, was sie mit diesem, der wohl im Ernstfall dazu dienen sollte, gegen Fliegerangriffe und giftige Gase gezogen zu werden, unternehmen würden. Die Atmosphäre wurde immer bedenklich, wenn solch ein von Natur, eben wegen jener Drüse, zu Gewalttätigkeiten neigendes Pupperl, an der Seite eines mehr hingebenden, den Raum betrat. Dergleichen war imstande, in einem sogenannten Vergnügungslokal, wo beim Gotterhalte die Toilettefrau Habtacht stand, auf Disziplin zu schauen, selbst wenn schon die dritte Champagnerflasche in Trümmer gegangen war, worauf die Kapelle mit der Bestätigung, daß wir vom k. u. k. Infanterieregiment Nr. so und soviel sind, regelmäßig einfiel. Außen sahen sie, wenn ein Haufe von ihnen an der Korsoecke lungerte, um vorübergehende Zivilistinnen auf ihre Tauglichkeit zu mustern, oder wenn sie sonst in Gruppen auftraten, wie das Corps de ballet der Vaterlandsverteidigung aus. Aber als ich einmal vom Fenster mitansehen mußte, wie so einer einen Kutscher, der ihm das Trottoir verstellte (Ehrennotwehr), kampfunfähig machte, und als ich, freiwilliger Zeuge vor dem Auditoriat, hauptsächlich darüber befragt ward, ob der Herr Kamerad selbst auf dem Boden gelegen sei, in welchem Fall er erst den »Offizierscharakter« eingebüßt hätte (was Gott eben verhüten sollte) – da erkannte ich, wozu diese Monstren im Frieden auf der Welt seien, ehe sie berufen wären, ihre Tapferkeit vor dem Feind an dem Untergebenen zu beweisen. Ich hatte kurz zuvor von demselben Fenster das Erlebnis, daß auf demselben Purgersteig ein Hausmeister eine Prostituierte mit einer Peitsche vorwärtstrieb (Stäupung einer Hübschlerin wegen Ärgernuß) und konnte somit in kurzer Zeit und knappem Überblick die Entwicklung vom Mittelalter zur Gegenwart sowie die Grenzen der Mannheit durchmessen, ohne aber in der Polizeiwachstube mehr Verständnis für meine Anschauung zu finden als im Militärauditoriat. Wie andere Geister von der Lehre Kants ihre Richtung empfingen, andere wieder zu Füßen Keyserlings gesessen sind, um eine Weltanschauung zu erwerben, so wurde meine Entwicklung von jenen beiden Erlebnissen entscheidend beeinflußt und ich glaube wohl, daß ohne sie weder »Sittlichkeit und Kriminalität« noch »Die letzten Tage der Menschheit« entstanden wären. Was sich mir aber im Chok des Anblicks jenes Bewaffneten, der von dem blutüberströmten Unbewaffneten nicht abließ, unverlierbar einprägte, das war die Wahrnehmung, daß diese ehrlose Welt sich ein Übermaß von Ersatzehre zugelegt hat, um sich das Leben, das ihr die Technik zu leicht machen würde, gebührend zu erschweren. Man war den Überraschungen des militärischen Ehrbegriffs preisgegeben, der ebenso auf die Verletzung zu lauern scheint, um sich durch die Wiederherstellung zu beweisen, wie die nationale Ehre und das religiöse Empfinden, alles Entschädigungen für Sklaverei und Armut im Geiste, alles ideelle Güter, die erst durch ihre Verkürzung den wahren Besitz zu garantieren scheinen. Von solchen Erfindungen, das Leben zugleich zu verzieren und zu belästigen, war wohl die militärische durch die stupidisierende Wirkung, die nebst der Lebensgefahr von ihr ausging, die weitaus unerträglichste; in ihr schienen Ausbau und Vertiefung der Welt zum Irrenhaus bis zu dem Punkte erreicht, daß man oft Mühe hatte, die Geste, mit der die Teilnehmer die Hand an die Stirn führten, als Gruß zu erkennen, und daß während des Weltkrieges, wo doch so ziemlich alle in Teilnehmer verwandelt waren und alle ein Vorrecht der Ehre voreinander voraus hatten, von der Zeit, die auf das gegenseitige Salutieren verwendet wurde, keine übrigblieb, ihn zu gewinnen, und so die einzige Ehre, die sie noch hatten, den armen Narren in Verlust geriet, damit nach all dem Aufwand von falscher Ehre der Satan einer Menschheit die wahre erweise: die letzte.

Nun sollte man wohl meinen, daß kein größeres Glück denkbar wäre in einer Zeit, in der die Krone noch so tief fallen könnte, wenn nur die Krone, die dies und alles andere ermöglicht hat, nicht mehr stabil ist, kein größeres Glück als das Bewußtsein, daß jene farbigen Gespenster aus unserem Gesichtskreis, ja fast schon aus unserer Vorstellung verschwunden sind. Wir haben eine kleine Wehrmacht, die ohne Anspruch auf pathetische Umschweife und keiner Lorbeerreiser eingedenk, berufen ist, den Schutz der durch die größere Wehrmacht verengten Grenzen auszuüben, ein paar Soldatenschinder aus der guten alten Zeit haben sich in sie hinübergerettet, aber im übrigen ist mit den Opfern der Wirksamkeit auch die Erinnerung an den Beruf begraben. Wohl ernten dessen Träger vielfach Mitleid, weil sie, das natürliche Risiko der eigenen Wahl tragend, durch die Entwicklung der Dinge genötigt waren, sich in nützlicheren Berufen umzutun, doch ihre Gesamttätigkeit erscheint in den Annalen hinreichend durch die Erkenntnis gewürdigt, daß man nicht generalisieren darf (derf man denn das?). Ein höheres Hochgefühl, als sich täglich beim Erwachen zu sagen, daß wir wenigstens keinen obersten Kriegsherrn mehr haben und infolgedessen auch nicht die andern Herren, die seinen Rock tragen würden, könnte es selbst in der sichern Erwartung des täglichen Jammers nicht geben. Was hat uns in Zeiten, wo wir solche Herren hatten, aus dem Schlaf gerissen und mit der Gewißheit überrumpelt, daß wir sie haben? Wenigstens jene von uns, deren Fenster auf eine Straße gehen, durch die unausgeschlafene Infanteristen, hinter ihnen ein berittener Antreiber, zum nichtigsten Tagwerk getrieben wurden? Der Fußmarsch. Und was reißt mich, heute, da durch den Busen unseres Ministers für Heerwesen, der sich für einen Kriegsminister hält, die Nostalgie nach den Kinkerlitzchen und den Geräuschen der alten Glorie schleicht wie sonst nur der Bolschewismus – was reißt mich nun wieder aus dem kaum errungenen, von ganz und gar vaterlandsloser Geistesarbeit verdienten Halbschlaf? Der Fußmarsch.

Tatara ra ta ta ta taa
tatara ra ta ta ta taa
tata tararara ra ta taa
tatara ra ta taa –
tatara ra ta ta ta taa
tarara ra ta ta ta taa.

So ungefähr. Kennt man es nun? Die Melodie hat den Reiz, daß der Trompeter, selbst wenn ihm ein Ton ausrutscht, sie gar nicht verfehlen kann. Es ist die heftigste Verdauungsbeschwerde, mit der die Großmutter des Teufels auf Salvators Dörrgemüse reagiert. Das höllische Ohr, das im Lande Mozarts und Beethovens den Ton erlauscht und als ermunterndes Signal für totmüde Fußtruppen bewahrt hat – welchem Menschen von Fleisch, Blut und Nerven hat es gehört? Er war ein Genie der Formung des endgültigen akustischen Ausdrucks für Österreich, dem nicht, wie der Hermann Bahr wähnt, das Barock, sondern der Fußmarsch wie angegossen sitzt. Alles klingt und schwingt darin, was uns, die wir in die Welt Nowotnys von Eichensieg geboren wurden, von solcher Geburt an verhaßt ist: es ist die Symphonie der Musterungen, das hohe Lied des Einrückendgemachtwerdens, die Rhapsodie der Scherereien. Der böse neckende Kretin, der nicht so will wie wir wollen und uns gerade dabei erwischt – er ist schon wieder da. Sein Rhythmus ist es. Es geht zurück bis auf »Vatter, Vatter leih mr d' Scher«. Es ist die freudige Bereitschaft darin, fremden Schaden durch die eigene Wurstigkeit gutzumachen. Ich höre den Text etwa so:

Wärst net aufigstiegen, schmecks,
nachher wärst net abigfalln.
Hast dir 's selber zuzuschreiben,
wirst scho sehn, ujeh!
Mir is eh scho alles wurscht,
ja da kann ma halt nix machen.

Die letzte Zeile ad libitum auch. Ihr könnt's alle gern mich haben. Dieser letzte Seufzer einer Gemütsverfassung, die sich und alles gehen läßt, ist noch dazu der Inbegriff aller österreichischen Staats- und Kriegsführung, deren Durchhalten das Fortwurschteln war, ist das sich selbst gestellte Ultimatum. Ich glaube, der Erzherzog Friedrich hat es in jüngeren Jahren, als er noch geistig regsamer war, ersonnen und mit einem Finger auf dem Klavier fixiert; vielleicht als er schon die Richtlinien für einen blutigen Pallawatsch ausarbeitete; tarara ra ta ta ta taa, es ist auch, wenn man will, schon etwas Schadenfreude über bevorstehende Hinrichtungen darin enthalten: Bumsti, wieder aner hin! Und ich kann mich, wenn es mich nun am Morgen des neuen Tags, den ich verschlafen möchte, überfällt, der Vision nicht erwehren, daß mich das österreichische Antlitz anfeixt wie eh und je, aber mehr schon als dessen altgedientes, erbgesessenes Gegenteil, freilich auch dieses am Kinn ausrasiert und von Koteletts umsäumt. Kaum entschlafen, erwachte ich neulich unter diesem Alpdruck, fand sofort die Verbindung mit dem akustischen Ursprung und rief durch das rasch geöffnete Fenster ein Kusch! zur Antwort, schallender und herzlicher als je ein Treueid nach der Musterung. Nun stelle man sich vor, daß eine Sehnsucht am Werke ist, uns die Welt, die hinter diesen Klängen wohnt, wiederzuerobern, zu erhalten! Wir haben wieder den Fußmarsch. Wir haben, was wir schon verloren glaubten. Wir haben das österreichische Selbstgefühl.


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