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12. Juni 1901. Heute morgen Aufbruch von »Bergfrieden« und hinab zum Kiwu. Auf halbem Wege links das verlassene Lager der deutsch-belgischen Grenzkommission, ein paar Minuten tiefer zur Rechten das Grab ihres Astronomen, des armen Professor Lamp, der vor einem Monat hier zum ewigen Schlaf gebettet wurde. Ein primitives Kreuz mit Namen und Todestag, der Hügel von Steinen eingefaßt, ein paar Blumen darauf, eine Wolfsmilchhecke in großem Viereck und parallel eine Allee von jungen noch dürftigen Milumbastämmchen – so ward dem Unermüdlichen der Platz der Ruhe bereitet. Zu Hause aber sitzen seine Angehörigen ahnungslos, der guten Nachrichten froh, seiner Rückkehr sich freuend, eine Frau, die nicht weiß, daß sie Witwe ist, Kinder, die nicht wissen, daß sie Waisen sind. Und indessen geht der Bote mit der schlimmen Zeitung durch Siedlungen und Wildnis zur Küste, über meilenweite, glühende Steppen, durch Busch, Sumpf, Wald und mancherlei Fährnis. Doch von allen Gefahren, denen andere erliegen, bedroht ihn keine. Das Fieber verschont ihn, Löwen und Leoparden schleichen scheu zur Seite, die reißendsten Flüsse speien ihn aus; er ist unverletzlich, geweiht, gefeiht, geheiligt, denn er trägt das Unglück in der Tasche. Schlimme Botschaften finden immer ihr Ziel; so will es das grausame Schicksal. Und so geht er seine Bahn weiter und weiter, wie eine schwarze Wetterwolke, langsam, tückisch, bis die Unvorbereiteten erreicht sind, und der Blitz die Ahnungslosen niederschlagen kann. O hartes Los!
Ach, ich weiß, wie der Gedanke an den schmerzlichen Botenweg den Kranken würgt, der in einsamer Fremde mit dem Tode ringt; ich habe es erlebt und ich weiß, wie ich in diesen dunklen Stunden nach dem Ende stöhnte, nur um nicht mehr an die denken zu müssen, die meine Seele liebt.
Dort drüben mitten im See liegt wie ein dunkler Hut eine kleine Insel, kaum fünfzig Meter lang. Wildes Dickicht bekleidet sie, schillernde Nektarinen huschen durch ihr Gezweig und die Schwalben umkreisen sie von früh bis spät. Auch dort liegt ein Grab, das Grab eines jungen, kaum erblühten Menschen, der auch Eltern und Geschwister hatte und dem die Erinnerung an sie die Sterbestunde vergällte, trotzdem ich ihm bis zum letzten Atemzug ins Ohr schrie, daß er leben und in die Heimat zurückkehren würde. Dann fuhr der Tote in tagelanger, trauriger Fahrt über den See, denn ich wollte ihn nicht in der spärlich den Lavafels deckenden Erde von Kissenje begraben, die treulos ihre Toten nicht schützt. Dort drüben aber konnten ihn die Hyänen nicht auswühlen, die scheußlichen Schleicher, vor denen ihm noch in seinen letzten schweren Träumen grauste, daß er oft schreiend auffuhr und mit weit geöffneten Augen, die in dem verfallenen blaßgestellten Gesicht doppelt groß erscheinen, durch die Tür in den Regen hinausstarrte, und auf den grauen, verdrossenen See, der dicht vor dem Zelt mit kleinen schwächlichen Wellen wie mit müden Fingern eintönig gegen den Strand schlug. »Kein Sterben war's, ein klägliches Verenden«, so schrieb ich damals in mein Tagebuch.
Aber fort mit den drückenden Gedanken. Rasch noch ein paar hundert Schritt abwärts, vorbei an den Hütten des kleinen Askaripostens und hinab zum Wasser. Die Boote harren schon. Ein frischer Wind bläst über den See. Zornig schlägt er die Wellen gegen die Einbäume, wie wenn er grolle, daß sie keine Segel zum Schwellen haben. Mit frischem Ruderschlag geht es hinaus und bald werden die Berge kleiner. Ein paar Weiber mit brennend roten Gewändern steigen den Abhang hinauf wie wandelnde Mohnblumen. Die Bananen winken mit ihren Blättern wie mit langen grünen Tüchern einen Abschiedsgruß. Ein Graufischer rüttelt über uns und fällt wie ein Stein klatschend ins Wasser.
Die erste Bucht ist rasch überwunden. Von den Felsen am Ufer steigen ein paar perlgraue Möwen kreischend auf. Wie Spielzeug liegen die Hütten von Bergfrieden auf dem Kamm. Scharf gemeißelt heben sich seine Bäume vom hellen Himmel ab, über den der Südost schweres graues Gewölk jagt. Der See ist heute schlechter Laune, ein Griesgram mit tausend mürrischen Lippen. Das Boot schlingert und rollt und macht mich schläfrig, und ich lege meinen Kopf in den Schoß meines Boy, der hinter mir auf der Mundharmonika eintönige, selbst erdachte Melodien spielt. Und ich lese in alten Notizblättern.
Wir fahren ganz nahe am Ufer. Dicht am Wasser niedriges Gebüsch, dahinter ein schmales Band von hohen schwankenden Sorghumfeldern, sonst sieht man nur die Grashänge. Viel Fischfallen stehen im Wasser, Rohrstengel, die an seichten Stellen halbkreisförmig in den Boden gesteckt sind, wo je zwei dieser nach dem See zu konvexen Halbzylinder sich berühren, läßt man eine kleine Lücke offen, die der Stereometrie des Baues entsprechend, einen nach dem Lande zu schmaler werdenden Gang darstellt, durch dessen Pforte die dummen Fischlein zwar hinein, aber nicht heraus finden. »Euren Eingang segne Gott, euer Ausgang ist unsere Sorge«, denken die Fischer von Ruanda.
Wir passieren ein kleines Kap, hinter dem der See ruhiger ist. Aus der Tiefe leuchten die von Algen mit gelbgrünem Samt übersponnenen Felsen, träge, armlange Welse mit goldbraun schimmerndem Leib lehnen sich fast aufrecht gegen sie und huschen bei unserer Annäherung wie schwarze Schatten zwischen das Schilf. Die Feuerfinken in rotsamtnem Hochzeitsgewand, mit der Bulgarenkapuze auf dem dicken Köpfchen, sitzen zitternd vor Wohlgefallen auf den grünen schlanken Stengeln und bronzeschillernde Blumensauger verfolgen sich von Busch zu Busch mit eifersüchtigem zettzettzettzett.
Jetzt öffnet sich im Süden eine Bucht. Die Ruder ruhen; am Eingang ein einsamer großer Feigenbaum. Ein Seeadler kreist über ihm und ein paar Schildraben schnarren auf seinen Zweigen. Im Hintergrund reiches Bergland mit großen Bananenhainen. Dazwischen gelbe und violette Felder: auf den Abhängen kleine Herden von Ziegen und Schafen.
Die Fahrt geht weiter. Plötzlich heben wir die Nasen und schnüffeln. Brandgeruch. Aber woher? Bei einer Biegung sehen wirs. Ein paar Eingeborene stehen am Ufer und brennen aus den Gräsern einer versumpften Mulde schwarzes Salz. Sehr gut ist es nicht, aber was hilfts, sie haben keine andere Salzquelle hier.
Eine neue Bucht. Die Sonne steht schon hoch und sticht und die Bootsleute prophezeien nahen Regen. Die Uferberge werden sanfter geneigt. Vereinzelt steigen Bananen und Hütten tief hinab. Nun umfahren wir eine flache Landzunge. Zwischen dem Niedergras zerstreut dichte hohe Büschel, die sich rhythmisch, sanft wie im Reigen wiegen. Ein breiter, festgestampfter Viehweg steigt den Berg hinab und das rote Latent leuchtet in der Sonne wie ein erstarrter Blutstrom.
Wir nähern uns einer platten unbewohnten Insel und lassen sie zur Linken liegen; zur Rechten eine Rinderherde bis zur Brust im Wasser. Sie stehen dichtgedrängt beieinander, schütteln die von Fliegen umschwärmten Köpfe, schlagen mit den Schwänzen und glotzen träumerisch dem vorüberfahrenden Boot nach. Am Ufer warten ihre treuen Begleiter, die weißen gelbschnäbligen Kuhreiher. Ein paar hagere Kuhhirten stehen, auf lange Stäbe gestützt, auf dem Abhang, über den Schultern Regendächer aus Bananenbast, die wie das Schutzdach eines Strandkorbes geformt sind. Kommt das Wetter, so stülpen sie sie über die Köpfe.
Weiter! Ein weißer Vogelfels ragt über die Wasserfläche. Auf ihm isabellfarbige Möwen, schwarze Taucher, graue Reiher. Still fliegen sie auf und in weiten Bogen wieder zurück. Nur eine Nilgans bleibt tapfer stehen und wackelt ein wenig mit dem Steiße.
Weiter! Die Ufer werden steiler; der Himmel bedeckt sich. Ein paar Weiber mit vollen Krügen auf den Köpfen, die vom Wasserholen kommen, wollen eben den Berg hinaufsteigen. Als sie mich sehen, setzen sie ihre Last ab und drehen sich mit gespreizten Armen im Tanz. Eine Huldigung, für die ich den holden Töchtern des Landes dankend zuwinke.
Weiter! In Südsüdwest liegt starker Regen auf dem See; auch bei uns fallen einige Tropfen. Der Steuermann – er steuert mit dem Ruder am Heck sitzend – beginnt einen beschwörenden Gesang. Wohl zwanzig Mal hintereinander ruft er: »Geh, geh, geh«, denn er will das Gewitter nach Bunjabungu hinüber schicken in das Land der Abaschi, der Sklaven, aber ich fürchte, daß die Gottheit seiner spotten wird.
Weiter! Zur Rechten wieder eine kleine Insel. Über hundert schwarze Klaffschnäbel fliegen auf und lassen sich am Ufer nieder, beim Einfallen die Ständer wie Störche streckend.
Der Regen zog doch vorüber, aber heftiger Wind kommt auf und verscheucht alles Gewölk. Wir geraten außer Kurs und suchen Schutz in kleinem Hafen. Ich selbst und fast alle Lasten von einigen über Bord schlagenden Wellen total durchnäßt; während die Sachen trocknen, wandle ich wie Adam vor dem Sündenfall in der Sonne spazieren.
Nach ein paar Stunden fahren wir weiter. Der schmerzlich grell leuchtende See liegt glatt, die Sonne brütet auf den schlummernden Fluten, und träge ziehen die Bootsleute ihre Ruder durchs Wasser, das so schwer ist wie flüssiges Blei. Leise murmelnd wie aus tiefen Träumen, schlägt es gegen das Ufer, an dem wir so dicht vorbeifahren, daß wie den schwülen Duft spüren, der aus Schilf und Gras aufsteigt. Keine Seele zeigt sich. Mensch und Tier ruhen in den Hütten und dem Schatten der Haine; die Vögel verstummen. Die bebend heiße Luft ist erfüllt von feinem Summen. Mein Boy schnarcht in dumpfen Rhythmen, die Ruderer blinzeln, und auch mir werden die Lider schwer, und der Kopf will mir auf die Brust sinken. Von der Höhe herab, aus dem Dunkel der Bananen zittern langgezogene, weinerlich klagende Klänge einer Königskerzen-Schalmei durch die flimmernde Luft. Ist es ein Knabe, der, im Grase liegend, sich und dem Freunde die Zeit vertreibt? Ist es Pan selber, der spielt?
Kamm und obere Hänge der Berge sind gut bebaut; unten, um die Feuchte des Bodens auszunützen, ein schmaler Feldstrich, fern von den Hütten des Besitzers. Was dazwischen liegt, ist dichtes, hohes Grasland.
Wir umfahren die letzte, weit vorspringende Zunge der etwa dreißig Kilometer langen, am Russisi beginnenden Halbinsel von »Bergfrieden« und wenden nach Osten in den Kanal, der Ruanda von Kwidjwi trennt. Ein frischer Wind streicht uns entgegen und macht uns alle wieder munter. Die Ufer fallen beiderseits schroff ab und senken sich unter dem Spiegel gleich zu enormen Tiefen. Das Südende von Kwidjwi ist mit üppiger Vegetation bekleidet. Wir fahren schräg hinüber und erreichen es in einer Stunde. Während der Fahrt prächtiger Blick in die Schluchten der Insel und ihre flachen Buchten mit kulissenartig sich deckenden Bergen, und auf das Ostufer des Sees, auf die reichen Platten von Njakassekke und Kwirascha und das Randgebirge mit der schwarzen Urwaldkappe. Über dem tiefen Flußtal des Kalundura hängt ein von grellen Blitzen durchzucktes Gewitter.
Ein halbe Stunde später biegen wir in einen Hafen ein und lagern unter einer riesigen, von den Jahren ausgehöhlten Ficus.
Wir sind also auf Kwidjwi. Ich kenne das Lager von früher her, aber ich lasse jetzt Lager Lager sein und schiebe als Intermezzo einige orientierende Bemerkungen über diese Insel ein, teils dieserhalb, weil es sich nicht schickt, daß ich meine Weisheit ganz für mich allein behalte, teils außerdem, weil ich des Hackstils à la tartare müde bin, zu dem die Schilderung eines Wandeldioramas so leicht verführt.
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Kwidjwi bildet einen Teil der zwischen Deutschland und dem Kongostaat strittigen Terrains Die Insel ist inzwischen (1910) belgisch geworden. Leider. nominell üben wir dort die Herrschaft bis zur diplomatischen Endregelung aus, weil wir dort die Fahne gehißt haben, während der Kongostaat, von Rebellen bedrängt, keine Macht am Kiwu ausüben, geschweige die zahlreichen Verletzungen unserer Grenze hintanhalten konnte. So angenehm der dauernde Besitz der Insel für uns wäre, so träte er doch hinter den Gewinn, eine vernünftige Grenze zu erhalten, wesentlich zurück. Es gibt aber nur eine mögliche Grenze, das ist der Russisi-Kiwu, nicht nur wegen ihrer physikalischen Beschaffenheit, nicht nur weil sie politisch in sich geschlossene Staaten trennt, sondern vor allem, weil sie einen ethnographischen Graben bildet, weil zwei ganz verschiedene Kulturen, die östliche und westliche, hier zusammenstoßen. Ich bin auch überzeugt, wenn die Belgier dort in ewigem Krieg gelegen haben, so lag es neben anderem daran, daß sie in ein ihnen ethnographisch ganz fremdes Gebiet kamen, das mit kongolesischen Praktiken nicht regiert werden kann. – – – – –
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Das etwa vierzig Kilometer lange, im wesentlichen nach NEN. ziehende Kwidjwi ist dem Festlande vorgelagert, nämlich dem östlichen(Ruanda) unmittelbar und nur durch einen etwa zwei Kilometer breiten Kanal getrennt, dem westlichen (Bunjabungu) mittelbar durch einige Inseln, die, eine Art Brücke bildend, von einem Riesen in den See geworfen scheinen, um trockenen Fußes vom Festland nach Kwidjwi zu gelangen.
Kwidjwi, das von Süden nach Norden in drei große Provinzen, erstens Agatongo, zweitens Njamuschische, drittens Amarambo, zerfällt, bildet zusammen mit den im Norden (Kitanga, Mkondo u. a.), Osten (Wau), Süden (Njamisi, Muhembe u. a.) und Westen (Igitenda, Ugischuschu u. a.) vorgelagerten Inseln ein selbständiges Sultanat unter Mihiggo. Dieser ist kein Mtussi (so wenig wir die Sultane im Westen des Sees. Die Grenze der Watussi-Herrschaft läuft längs des Russisi und des Ostrandes des Kiwu), doch finden sich auf Kwidjwi vereinzelt Watussi als Häuptlinge. Die Wanjaruanda behaupten oft, daß die Insel seit Alters her zu Ruanda gehört habe, die Insulaner, die Wanjäschwe bestreiten es. Sicher ist aus der jüngsten Geschichte nur folgendes. Unter Mwendo, dem Großvater des Mihiggo, war Kwidjwi selbständig, erkaufte sich aber die Freundschaft des mächtigen Nachbars durch Tribut, wie die Leute von Ruanda, durch freiwillige Geschenke, wie die von Kwidjwi sagen. Gleichviel, als Mwendo starb, glaubte sich sein Sohn Kaweggo stark genug, um nichts mehr an den Hof des damaligen Königs Luabugiri zu schicken. Dies war dem kriegerischen Riesen gerade recht, er landete ein Heer aus der Insel und unterjochte sie von Süden bis Norden. Kaweggo aber war entflohen. So lange er mit seiner ganzen Sippe nicht gefangen war, blieb den Unterworfenen immer ein Zentrum ihrer Hoffnungen, aber trotzdem Luabugiri große Werte auf die Köpfe der Herrscherfamilien setzte, blieb sie verschollen. Verrat kam ihm zu Hilfe. Etwa zwei Jahre vorher (etwa 1884), hatte Kaweggo sein Weib Nirampetta mit dem von ihr geborenen, bereits erwachsenen Sohne Nkundie verjagt, weil er sie im Verdacht der Untreue hatte. Wie Bettler lebend, saßen sie auf einem kleinen Grunde und brüteten Rache. Als nun Luabugiri Herr von Kwidjwi wurde, verriet ihm Nkundie, daß sein Vater in Ugischuschu, einer kleinen von Bananen bedeckten Insel im Westen von Kwidjwi sich versteckt hielt. Man fing und richtete ihn samt seinem Weibe Maligatschiko. Aber sein Tod half dem Eroberer wenig, weil es den übrigen Söhnen gelungen war, außer Landes zu fliehen. Übrigens rächte Luabugiri selbst sehr bald den Verrat Nkundies; er tötete ihn, »weil – so erzählen die Leute seine Worte – weil er von einem Menschen, der seinen Vater verrate, alles Schlechte erwarten dürfe.« Nicht lange darauf (etwa 1888) mußte der König nach Ruanda zurückkehren, weil einige unzufriedene Köpfe dort Unruhen verursacht hatten. Sofort erhoben sich die Insulaner, riefen Mihiggo, den Sohn Kaweggos, zurück und wählten ihn zum Herrscher. Es dauerte lange, bis sich Luabugiri zu neuem Krieg entschloß; etwa 1892 oder 1893. Mihiggo floh wieder nach Bunjabungu und Luabugiri gründete auf Kwidjwi mehrere »Zwingburgen«, d. h. Dörfer, in die er ihm ergebene Watussi einsetzte. Er selbst kehrte wieder nach Ruanda zurück, um einen Feldzug gegen Bunjabungu vorzubereiten, das jetzt zum zweiten Male seinen Feinden Asyl gewährt hatte. In diesem Unternehmen (1894) erkrankte er schwer – wie das Volk murmelte, von seinem eigenen Weibe Kansugera vergiftet – und starb. Sein Nachfolger wurde, wie bekannt, der unmündige Juhi. Kaum war der Knabe auf den Schild gehoben, so revoltierten die Insulaner, riefen den Mihiggo und töteten oder verjagten alle Fremden, soweit diese nicht vorzogen, dem eingeborenen Sultan zu huldigen und zu dienen. Seit dieser Zeit, d. h. seit 1894, ist die Selbständigkeit der Insel nicht mehr bedroht gewesen. Die Einwohner von Kwidjwi, die hauptsächlich im Süden und Norden sitzen, während die Mitte noch viel Urwaldwildnis hat, mögen etwa 20 000 Seelen stark sein. Sie sind aus allen Stämmen des Kiwu gemischt und empfangen jährlich neuen Zuzug von Leuten, die in ihrer Heimat nicht genügend Land besetzen oder irgendwie Schwierigkeiten gehabt haben, also auch Verbrechern. Die Völker des Westens überwiegen aber bedeutend, was sich in Sprache, Sitten und Gewohnheiten bis auf Tracht und Körperschmuck bemerkbar macht. Trotzdem auch viele Leute aus Ujungu stammen, soll doch kein Kannibalismus herrschen, was für meine früher erwähnte Meinung spricht, daß es in Ujungu im wesentlichen nur die vom Kongo zugewanderten Wabembe sind, die dieser scheußlichen Gewohnheit fröhnen. Kwidjwi bildet sozusagen die Kornkammer des Sees. Ungeheure Mengen von Vegetabilien werden jährlich ausgeführt – (ich selbst kaufte einst eine Bootskarawane von 700 Lasten) –, um gegen Kleinvieh eingehandelt zu werden. Rinder gibt es sehr wenige auf den Inseln, und von Ziegen, Schafen auch nur einen kleinen Bestand, weil die Insulaner große Fleischliebhaber sind, die ihre gekauften Werden durch Züchtung nicht vermehren, sondern sie verzehren. – –
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14. Juni 1901. Wir sind auf Kwidjwi. Ich kenne das Lager von früher her. Ich habe einmal eine Nacht hier zugebracht, als von Kissenje die Alarmnachricht kam, daß ein Heer belgischer Rebellen im Anziehen sei. Ich war der einzige Europäer am Kiwu, also mußte ich hin, um zu erfahren, was an der Sache sei. Da ich rasch aufbrechen mußte, ließ sich in der Eile nur ein einziges Boot auftreiben, in dem ich und ein paar meiner Leute, aber weder Zelt noch Bett Platz halten. Infolgedessen waren die Nächte alles andere als schön. Ein kleines Boy-Zelt, nicht viel größer als eine bessere Hundehütte, diente uns als Wohnraum, durch dessen fadenscheinige wände der Wind Choräle blies und der Regen wie eine Gießkanne sprühte. Die dazu gehörigen Blumen waren vier Boys, die wie junge Teckel halb über-, halb nebeneinander lagen, während ich auf einem Graspodium hoch über ihnen schlief, oder es wenigstens versuchte; Blumen im Sinne jener rauhbeinigen, hier etwas gemilderten studentischen Strophe, die da anhebt: »Du bist wie eine Blume und riechen tust du auch.« Aber schließlich ist alles andere nicht so arg, wie Frost und Zähneklappern; auch sorgte der Wind dafür, daß es nicht zum äußersten, nicht zu »der Blumen Rache« kommen konnte. »Blumenduft hat ihn getötet.« Viel schlimmer war, daß trotz meines hohen Throns und trotz täglichen Platzwechsels jede Nacht von irgend woher ein Bein geflogen kam, und mein Schienbein attackierte, oder die nachbarliche Faust eines Träumenden mir in die Zähne schlug, meist die des kleinen Mabruk. Es gibt nämlich nichts verrückteres auf unserem Globus, als einen schlafenden Neger; ich habe schon früher davon erzählt. Um aber ganz sicher zu sein, daß nicht etwa eine unlautere Ausnützung dieser Eigentümlichkeit stattfände, pflegte ich solche Insulte auf der Stelle zu erwidern: (blaues) Auge um (blaues) Auge, Zahn-(Lücke) um Zahn- (Lücke). Daß durch all dies die Nächte mehr interessant als angenehm wurden, läßt sich ja mit einiger Phantasie vorstellen und daher auch meine lebhafte Erinnerung an dies Lager.
Die Bucht an deren Ende wir gestern Nachmittag, neben einer hohlen Fikus die Zelte aufschlugen, ist etwa 700 Meter tief und sehr breit; im Westen von hohem, steilem Kegel begrenzt, der sich nach Norden in einen langen Rücken fortsetzt. Sein Abhang fällt fast senkrecht zu einem schmalen unbewohnten, aber mit den Stoppeln von Sorghumfeldern bedeckten Tal ab und auch von der anderen Seite stürzen die Wände in großer Schroffheit ab. Das Tal ist kurz und endet in einer gewunden aufsteigenden Schlucht, die wie die Berge im Hintergrund dicht bewaldet sind. Auf lichten Stellen der Hänge finden sich auch Bananenhaine. Eingeborene ließen sich nicht sehen, trotzdem ihre Hütten nicht allzu weit sichtbar waren. Auch hier macht sich der Einfluß der Trockenzeit geltend, trotzdem die Szenerie durch die vielen Laubbäume nicht gar so trostlos ist, wie in Ruanda. Aber doch ist der Kontrast, mit meinem letzten Aufenthalt, der mitten in die stärkste Regenperiode fiel, bedeutend genug. Damals konnte ich in mein Notizbuch schreiben:
»Trotzdem ich die halbe Nacht mit Händen und Füßen gekämpft habe, macht mich das erste Morgengrauen schon wach. Es ist die Nähe der Erde und ihr feuchter Atem, die mich nicht länger schlafen ließen. Ein Weilchen bleibe ich noch liegen, dann trete ich fröstelnd ins Freie; das Gras trieft von Tau, in den Schluchten steigen Nebel auf und niedrige warme Dunstwölkchen ziehen von den Ufern her über den still und dunkel liegenden See. Hinter unserer Talwand muß über den Bergen von Ruanda die Sonne aufgegangen sein, denn schon beginnen die Blätter der Bananen auf den Höhen im Westen wie Silber zu flimmern, als wären sie von Reif bedeckt; aber es ist nur Tau, der glänzt. In dieser oder jener Hütte hat man das nie ganz verlöschende Herdfeuer angefacht, blauer Rauch dringt durch alle Poren der Dächer, aber die feuchte Luft drückt ihn nieder, daß er wie eine Kappe die Hütten umhüllt und an den Gängen kleben bleibt. Mit dem ersten Erscheinen des Tages werden auch die Vögel munter und heben rings in Büschen und Bäumen ein vielstimmiges Konzert an. Am frühesten sind immer die Schwalben wach, die, wenn noch halbe Dämmerung herrscht, schon mit kurzen scharfen Lauten über die Bucht streichen. Blaue kleine Eisvögel, mit langem rotem Schnabel schwirren über das Wasser; aus dem Gezweig der Feigen pfeifen Papageitauben und schackern große Pisangfresser, die Charaktervögel von Kwidwji. Mausvögel fliegen in starken Trupps zwitschernd von Busch zu Busch, die Nektarinen flöten, die Reiher schnarchen, Kraniche ziehen mit hellem Schrei hoch durch die Lüfte nach Süden. Die großen Orgelwürger stimmen ihr glockenklares Duett an, und eine rotbraune Cossypha schmettert ihren Morgengesang jubelnd der Sonne entgegen. Da beginnt man schließlich auch zu singen, und da ich es nicht wie ein Heldentenor fertig bringe, so muß ich wie jener wunderliche Einsiedler, den Zarathustra kannte, mit Summen und Brummen die Herrlichkeit der Schöpfung preisen. Bin ich doch auch ein Einsiedler und Einzelwanderer. Noch eilt Blick auf all die grüne Pracht und die erntereifen Sorghumfelder im Tal die des Schnitters harren, dann hinein ins Boot – – – – –«
So hieß es damals, aber heute rauben die dürren Stoppeln und viel welkes Gestrüpp und der Dunst der beginnenden Trockenheit der Landschaft viel von ihrem Reiz. Immerhin merkt man die gelbe Ode noch nicht so stark, wie auf dem Festlande, besonders jetzt nicht, wo wir an der baumreichen Südostecke der Insel vorbeifahren. Es sind meist Akazien und Euphorbien, am Wasser mehr Feigen und zwischen den Bäumen viel Lianen, meist Loranthusarten und Schlinggewächse. Eine sehr merkwürdige Kandelabereuphorbie tritt hier zahlreich auf, die ich früher nur einmal in wenigen Exemplaren im Galeriewald des Rutschurru gesehen hatte. Sie ist viel höher als die gewöhnliche, ihr Stamm nicht dick, sondern sehr schlank und mit symmetrisch in kleinen Distanzen übereinanderstehenden kraterartigen Vertiefungen. Die Krone nicht wie bei den anderen tiefsitzend, dicht und weit ausladend, sondern von allem das Gegenteil – im ganzen ein sehr bizarr aussehender Baum und noch heraldischer als sein in Afrika viel vulgärerer Vetter. Feigenarten gibt es in großer Zahl, von bisweilen verwirrender Ähnlichkeit; mit Früchten von Kirschkerngröße bis zu einem dem europäischen gleichen Umfang und mit Blättern, deren Maß zwischen Arm- und Daumenlange variiert. Die Ufer fallen hier wie überhaupt auf der ganzen Ostseite ungemein schroff, oft unersteiglich jäh ab.
Unser Boot biegt in ganz langsamen Wendungen immer mehr nach links. Der Kurs, zuerst stark nordöstlich, weist später nach Nordnordost. Die Ufer bleiben immer steil, die Vegetation üppig. Aus dem Dickicht heraus tönt das dumpfe Gurren der Wildtauben und der melancholische Ruf der Kuckucke; Grasmücken und Brillenvögel huschen durch das weit überhängende Gezweig der Feigen, rote Fliegenschnäpper mit schwarzblauem Kopf und schwarz-weiße mit roten Fleischläppchen über den Augen haschen von schwankendem Ast auffliegend ihre Beute. Dicht vor uns fliegt ein Fischchen hoch über den Wasserspiegel, verfolgt von einem braunhalsigen Taucher, der verschwindet und bald wieder mit der zappelnden Beute im Schnabel auftaucht. Auch Ottern sehen wir, aber ziemlich fern, und einen Kappeniltis, der über die Kalkfelsen läuft. Später wird das Gebirge zerrissener, die Schluchten und Mulden mit kleinen Bächen häufen sich; hier und da zeigt sich hoch oben ein Dorf mit Bananenhainen. Groteske Felspartien treten am Ufer auf und kleine Waldparzellen, in denen langschwänzige Meerkatzen einer mir noch unbekannten Art bei unserer Annäherung die Flucht ergreifen. Manchmal öffnen sich Täler, die in flache Buchten mit sandigen Rändern münden und bisweilen neigt sich der Abhang minder schroff zum Wasser, aber meist steigt die Küste steil auf und bleibt steil bis zum hohen Kamm, der mit Urwald verdeckt ist. Die Nasen der Berge sind kurz, dementsprechend die Einbuchtungen nicht tief. Nach zirka fünfstündiger Fahrt erreiche ich das am stärksten nach Osten vorspringende Kap der Insel mit einem Signal der Grenzkommission und werde von dem dort arbeitenden Oberleutnant Fonck liebenswürdig empfangen. Ein paar angenehme Tage verlebte ich hier in seiner Gesellschaft, dann fuhr ich nach Wau voraus, einer etwa 3 Kilometer langen Insel, die vom Nordkap von Kwidjwi etwa 5 Kilometer östlich liegt. Dahin folgte mir bald F., weil auch da ein Signal sich befindet. Um dieses herrliche Eiland dem Leser zu schildern, wähle ich einen Abschnitt aus einem damals entstandenen Brief an einen Freund.
»Bald acht Tage sind wir nun schon hier auf diesem kleinen Flecken, den man mit guten Ruderern bequem in einer Stunde umfahren könnte, wenn man die Bucht im Osten abschneidet. Ich könnte natürlich jeden Tag fortfahren, aber erstens gefällt es mir hier zu gut und zweitens will ich F. nicht noch unglücklicher machen. Der sitzt nämlich von morgens an unter einem kleinen Strohdach und versucht nach Norden und Süden hin den Dunst zu durchbohren, ob er nicht irgendwo das Blitzen eines Heliographen bemerkt; aber trotzdem seine Augenstiele schon so lang geworden sind wie die gekochter Hummern, so sieht er doch nichts als höchstens das Flimmern seiner mouches volantes. Und genau so wird es den Herren, die auf den anderen Punkten sitzen, gehen. Des Abends entzünden wir riesige Scheiterhaufen. Dasselbe soll auch an den anderen beiden Signalen geschehen, aber wir sehen nichts, noch werden wir gesehen. Jeden Abend hofft man und sagt sich beim Schlafengehen »morgen!« aber der Morgen kommt und mit ihm derselbe bläuliche Dunst, der alles verhüllt und hinter dem selbst das kaum eine Meile entfernte Kwidjwi nur wie ein graues Schattenbild sichtbar ist. Nur die halbe Stunde vor Sonnenaufgang ist meist relativ klar. Dann treten die Berge beider Ufer, wenn auch etwas dämmerig aus dem Dunkel und über dem Nordufer ragen die kühnen Profile der vier westlichen Vulkane in den Himmel. Aber für die Triangulierungsarbeiten der Grenzkommission nützt dieser kurze Lichtblick nichts, weil die Heliospiegel Sonne brauchen. Du kannst Dir vorstellen, mein Lieber, wie dieses warten auf die Nerven schlägt, selbst mir, der ich nur freiwilliger Zuschauer bin. Ich merke das daran, daß wir täglich mehr geneigt sind, die hitzigsten Dispute zu führen, z. B. über die Herkunft der Wasserböcke auf der Insel, ob sie von Kwidjwi herübergeschwommen sind oder schon seit Generationen hier weilen. Jeder glaubt seine Ehre engagiert, wenn es ihm nicht gelänge, den anderen zu überzeugen; jeder hält den anderen für entsetzlich rechthaberisch, dickköpfig, oppositionell; die erstens, zweitens, drittens schwirren nur so über den Tisch, den Wasserböcken folgen die Buschböcke und dann die Riedböcke, bis die ganze Naturgeschichte durch ist. Die Köpfe werden abwechselnd rot und blaß, der eine wird spitz, der andere ironisch und schließlich trennt man sich unüberzeugt und Gift im Herzen wegen solcher dämlichen Wasserböcke. Den andern Tag lacht man darüber, aber eine halbe Stunde später sind es vielleicht die Ziegenböcke, die aufs Tapet kommen. (Mit solchen Nichtigkeiten beginnt der tropische Koller: hat doch Karl Peters mit seinem Begleiter von Tiedemann wochenlang kein Wort gewechselt, weil dieser sich von einer Hühnerleber ein ihm nicht zukommend großes Stück auf den Teller gelegt habe.)
Die Insel ist wundervoll. Zuerst lagerten wir beide am Südende in einer kleinen Urwaldlichtung dicht am Wasser, von da war unter Benutzung eines alten Bootsbauern-Pfades ein Weg zur südlichen Kuppe geschlagen worden. Zwanzig Minuten geht man sanft durch Wald bergan, der herrliche Bäume birgt. Einzelne Stämme stehen wie eine breite Wand über dem Boden, an andern ziehen hundert Stützwurzeln senkrecht zur Erde oder bilden dicht über der Rinde ein wirres Gitterwerk; wieder andere laufen unten in drei oder vier flügelartige Bretter aus, oder sie sind von einem unglaublichen, unbeschreiblichen Lianengeflecht umsponnen. wohin man blickt, immer neue Bilder, die mich entzücken, neue Blüten, die den Weg bedecken, neue Früchte, die an den Zweigen hängen, neue Vögel, die durch die Kronen huschen. Bald schreitet man über dicke Blätterlagen, bald über elastische, gewundene Hölzer von Schlingpflanzen; hier über einen vom Sturm gefällten Baum, dort über einen vermorschenden, unvollendeten Kahn, der inmitten tausender kleiner Spähne liegt. Ein kühles Dunkel ringsum, von dem sich die zitternden Scheibchen, die die Sonne verstreut, um so heller abheben. Manchmal bricht sie von oben durch die Lücke eines Blätterdaches und dann ist es köstlich zu schauen, wie es in der Tiefe des Dickichts glüht und leuchtet, hier ein Stück Laub, dort ein Ast oder ein Stein aus dem Schatten herausgeschnitten wird, ohne daß die Quelle des Glanzes sichtbar ist. Stellenweise unterbrechen Lichtungen den Wald, in denen kalmusduftende, großblätterige Stauden dicht gedrängt stehen oder Akazien mit gelben Kätzchen, die von der Wurzel bis zur höchsten Spitze von solchen Massen von rankenden Pflanzen bedeckt sind, daß ihr Geäst nur noch durch wenige Lücken greift, wie die Hände eines Gefangenen durch Kerkergitter. Zuletzt klettert man über Felsblöcke hinauf, unter denen schwarz-weiße Iltisse mit glattem Samtfell ihre Höhlen haben, oder zwischen denen Lazerten in allen Farben sich sonnet oder jagen. Einmal kreuzte eine blaugrün schillernde Schlange unseren Weg. Oben angekommen befindet man sich auf einer Graskuppe mit enormen Trümmern, die sich bald wieder senkt. Zwischen Riesenfarren laufen die tiefeingetretenen Wechsel der Antilopen, deren Schreckton wie lautes rauhes Hundegebell klingt; Falter in allen Farben, darunter gelbe und blaue und grüne Schwalbenschwänze oder perlmutterglänzende Apollinen gaukeln um Jasmin und Winden. Graue Papageien mit roten Bürzeln schwätzen von den Bäumen am Rande der Lichtung, die bald wieder vom dunklen Wald abgelöst wird. Kurz, es ist herrlich dort oben, herrlich, herrlich. Und wie wundervoll muß es erst in wenigen Monaten sein, wenn man nach allen Seiten meilenweit schauen kann und die schönen Formen der Gebirge und Vulkane, die Inseln und Halbinseln, die Buchten, Bäche und Wasserfälle zum Greifen nahe erscheinen?«
In den letzten Tagen des Juli verließ ich Wau und siedelte nach dem Nordkap von Kwidjwi über, wo ich fast fünf Monate blieb. Das nördliche Ende von Kwidjwi gehört zu den schönsten Landschaften des Kiwu. Eine große und mehrere kleine Buchten, große Berg- und Urwaldinseln und kleine und kleinste Gras- und Steininseln vereinigen sich zu einem wundervollen Panorama, wo ich lagerte, ist eine nur 15 Schritt schmale flache Landbrücke, so daß das gebirgige Nordkap von Kwidjwi fast völlig abgeschnürt scheint, der Kopf eines Riesen auf einem dünnen Schneiderhals. Hinter mir Wasser; vor mir Wasser; mein Zelt auf einer schmalen Sandfläche; bei Sturm schlagen die Wellen bis dicht an meine Tür. Uber mir das Laubdach einer Spatothea mit gelben Tulpen und einer Akazie mit langen grünen Schoten. In sanfter Wölbung strecken sie ihre Zweige über das Zelt fort und berühren fast die Flut. Hinter mir ein schattiges Dickicht bis zur anderen Bucht, das kühlen Platz für den Tisch und Stuhl bot. (Gerne wollte ich von meinem Aufenthalt dort und von Land und Leuten erzählen, aber – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – schon schwoll und schwoll von Tag zu Tag dieser Band und bis in meine Träume hinein verfolgt mich schon lange das Seufzen meines als Faust maskierten Verlegers:
»Ist es Schatten? Ists Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus«!
Aber ein paar Seiten will ich doch noch meinen Tagebüchern entnehmen:
»Es gibt am Tanganika und Kiwu Morgenstimmungen, wie ich sie sonst nirgends in der Welt beobachtet habe. Sie sind auch hier nur selten. Die Sonne liegt noch dicht über dem Horizont, da beginnen die zwanzig, dreißig Kilometer entfernten Berge im Westen zu leuchten. Jede ihrer Furchen und Schluchten ist sichtbar und doch liegt etwas Unwirkliches über ihnen. Man sucht und sucht und findet schließlich, daß es die Farbe ist. Aber eigentlich ist keine Farbe an diesen fernen Bergen, es ist nur ein Leuchten. Farblos liegen die grünen Grashänge, aber sie leuchten, farblos die Felsen und die Felder, aber sie leuchten. Und wenn es mir zuerst schien, als wäre dies Gebirge aus unendlich feinem Sand aufgebaut, so dünkt es mich zuletzt nur noch wie eine silbrige Fata Morgana, die nur leider zu selten und dann nur für kurze Minuten sichtbar ist.
So erschien mir heute morgen, als ich erwachte, das westliche Randgebirge im Rahmen der Zelttür. Die Bucht vor mir ist von beiden Seiten von Bergen umrahmt, mit Bananen aus den Höhen und riesigen Bohnenfeldern aus den Abhängen, die so kahl und schwarzgebrannt waren als ich vor einigen Monden hierher kam. Nun sind sie ein einziger grüner, von den violetten Blüten durchwirkter Teppich, der dem Auge ungemein wohltut. Glatt und klar liegt die Flut und spiegelt den Himmel und die weißen ziehenden Wolken und die dunklen Ufer. Zwei Entenpärchen schwimmen von rechts nach links, aber bald werden sie wieder umkehren, denn sie sind schlimme Diebe, die immer wieder die Blüten der Bohnen abrupfen und erst davon fliegen, wenn der Feldwächter mit großem Geschrei sie verscheucht. Links von mir in dem hohen Schilf, in dem der Wind des Nachts seine Lieder singt, stehen fünf Bübchen von vier bis sechs Jahren bis zum Leib im Wasser. Jeder hat zwei Angelstöcke, die vor ihm auf dem Wasser schwimmen und die er von Zeit zu Zeit lupft. Die zappelnden Fischlein wandern lebend in den gestrickten Beutel auf seiner Brust, der zugleich für Tabak und Tabakspfeifen dient. Oft wühlen sie mit einem Stock den Schlamm auf, um ihre Beinchen unsichtbar zu machen, und oft holen sie mit den gleich Fingern beweglichen Zehen Nur Keine Kraftverschwendung, denkt der Neger nach den Prinzipien der modernen Mechanik. Nur nicht sich bücken, wenn man es entbehren kann. Ich hatte einmal in dichtem Grase einen Bund Schlüssel verloren und ließ etwa 20 Eingeborne ihn suchen. Aber nicht ein einziger tat dies mit den Händen, sondern sie setzten immer einen Fuß seitwärts und schleiften den anderen wie gelähmt hinter sich her oder sie machten es umgekehrt und schoben einen Fuß wie die Berliner Straßenkehrer ihre Gummischippe vor sich her. Aber sie fanden die Schlüssel. ein faulendes Rohr aus dem Grunde, das sie aufbeißen, um ihm die Fliegenlarven als Köder zu entnehmen. So stehen sie ernst wie Erwachsene vormittags hier, nachmittags im Osten. Die Sonne brennt ihnen den ganzen Tag auf die nackten Schädel, aber das spüren sie gar nicht.
Da bin ich empfindlicher, und darum gehe ich bald nach dem Frühstück ins Dickicht und bleibe dort bis zum Abend mit Ausnahme der Stunden, die ich schlafe. Jeder Baum, jeder Strauch und viel lebende Wesen sind dort meine Vertrauten. Lianen so dick wie mein Schenkel bilden meine Laube; in kühnsten Windungen steigen sie hinauf und hinab, verwachsen mit einander, wo sie sich kreuzen oder schlagen neue Wurzeln, wo sie den Boden berühren, so daß ihr Anfang oft kaum festzustellen ist, und es scheint, als ob sie an drei oder vier Stellen gleichzeitig aufgeschossen wären. In ihr Blätterdach schiebt sich das Laub rotblühender Akazien und wilder scharf duftender Zitronen hinein und alles verbindet der Mhukko, ein Schlinggewächs mit großen rotbeerigen Trauben, so daß nur feine Strahlen die grüne Wölbung durchdringen können. Dort ist mein Platz, um den mich mancher Dichter beneiden würde und kaum sitze ich, so begrüßt mich als erster ein rotbäuchiger Würger ( Coss. melan.), Es ist ein Weibchen, das durch mich Witwe wurde, aber sie weiß es gottlob nicht. Im Anfang furchtbar scheu, kommt sie jetzt bis auf zwei Schritt heran, wirft energisch mit dem Schnäbelchen die verwesenden Blätter auf, als wollte sie sagen, daß hier ihr Reich sei, und stimmt einen leisen flötenden Gesang an. Manchmal ahme ich den schmetternden Ruf nach, mit dem sie das Kommen und Scheiden der Sonne feiert, das jauchzende kokkedü-ljä; dann springt sie ein paar Meter davon, lauscht mit schief gestelltem Köpfchen und zuckt mit Flügeln und Schwanz.
Noch zutraulicher ist ein daumengroßes Bartvögelchen, auch ein Weibchen, das ich für Barbatula Fischeri hielt (das aber jetzt Barbatula Kandti heißt). Sie wohnt im ersten Stock, einen Meter zu meinen Häupten in einem morschen Astende mit rundem Fenster, aus dem lange vor Schlafenszeit schon ihr dickes Köpfchen ohne Furcht auf mich hinabschaut. Seit ein paar Tagen verfolgt sie ein kühner Jüngling, der sich fürchterlich viel einbildet und dem der schwefelgelbe Bürzel aus dem aufgeplusterten Rock herausschaut, wie ein seidnes Taschentuch aus einem Frackschoß. Aber trotzdem macht er nur wenig Eindruck auf sie. Gestern und vorgestern versuchte er sogar die Ehrbare in ihrer Wohnung zu erwarten, und als sie ahnungslos auf dem kleinen Zweig stand, von dem aus sie sich in ihr Haus hineinschwingt, steckte er ganz naiv seinen unverschämten Kopf ins Freie. Da kam er aber schön an. Beidemale packte die Witwe den frechen Eindringling und warf ihn hinaus. Und das ist wörtlich zu nehmen. Das eine Mal nämlich faßte sie ihn mit dem Schnabel an den Nackenfedern, das andere Mal am Oberkiefer und so zog sie ihn hinaus und ließ ihn erst los, als er ganz draußen war, worauf er gedeppt davonflog. Aber ärgerlich blieb es doch und eine Viertelstunde lang schnarrte sie zornig über dies Attentat auf ihre Ehre. Bin ich denn eine Martha Schwertlein? Oder halte ich ein öffentliches Haus? Und sie hat recht, was mußten sich auch ihre Nachbarn, die Blutfinken davon denken, die ein paar Meter weiter links auf einem dünnen Zweig, dicht nebeneinander gedrängt ihr Nachtquartier haben. »Euer Kaiser kennt die Welt«, rief die gute Barbatula mir zu, als ich selbst aufs höchste empört ihr zunickte, »die Jugend verroht täglich mehr.«
Noch zwei Einsame sind in meiner Nähe, Junggesellen oder Witwer, ich weiß es nicht. Ein Kuckuck ( Centr. supercil.), ein großer Kerl, viel größer als unsere heidnischen, den ich nur selten sehe, aber um so öfter höre, wenn er morgens und abends in melancholisch dunklen Molltönen ruft, oder wenn in der größten Mittagsglut aus der Tiefe eines Busches heraus sein gedämpftes Kichern klingt. Manchmal überrasche ich ihn auch oder mein Hund treibt ihn aus einem Schilfversteck. Es ist merkwürdig, wie ungern die großen Kuckucke auffliegen. Ich habe diesen manchmal zum Scherz verfolgt und dann lief er wohl so bis 40 Schritt vor mir her, sehr gewandt durch die Gräser schlüpfend. Der andere Einsame ist ein schwarzweißer Würger ( Dryoscop major), der hier im Westen die Trauer- und Orgelwürger vertritt. Er liebt mehr die Höhe, aber wenn er hinter einer Eidechse her ist, kommt er auch bis zu mir herab. Eidechsen gibt es nämlich viele hier. Dicht über mir läuft täglich eine kleine, nicht größer wie ein Daumen. Eine größere mit gelbrotem Bauch, wohnt auf dem Baume, der vor mir steht. Sie hat einmal den Schwanz lassen müssen, aber deshalb huscht sie doch munter einher, und sucht sich Käferchen unter den zerschlissenen Borken, die von Schneckenspuren wie mit glänzenden Bändern gezeichnet sind. Den Schwanz der Lazerten mögen übrigens die Vögel nicht, sie lassen ihn liegen. Ich ahne nicht, warum. Neulich fand ich einen, der sich gleich hinter der Wurzel gabelförmig teilte. Auch ganz große Eidechsen gibt es hier, mit breiten Kiefern, blauem Kopf, gelbem Leib und blaugrünem Schwanz. Sie haben etwas prähistorisches, Antediluvianisches in ihrer Groteskheit an sich. – – – – – – – – – –
Es ist merkwürdig, wie hartnäckig viele Tiere an einem engbegrenzten Platz festhalten. Alle Tage kommen dieselben Nektarinen zu mir, blaue oder blau und rote, rot und gelbe oder grün und graue; alle Tage quäkt dasselbe Grasmückenpärchen wie eine Kindertrompete im Busch und alle Tage wirft ein gelber, goldnackiger Weber die welken Blätter, die er auf den Tod nicht leiden mag, von oben zur Erde; und selbst von den kleinsten Tieren, Schmetterlingen, Käfern haben viele eine Heimat. Seit zwei Wochen kommt z. B. eine Ameise, der ein Bein ganz fehlt und die an einem anderen das getrocknete Köpfchen einer kleineren Familiengenossin wie eine Galeerenkugel mit sich schleppt, über meinen Tisch gekrochen; fast täglich sehe ich sie wenigstens einmal.
Übrigens sind nicht alle meine Bekannten so harmloser Art. Ich meine nicht die Schlangen, von denen die Insel wimmelt, weil sie mich nur auf der Wanderschaft besuchen. In einer Woche töteten wir vier, darunter über zwei Meter große, im Lager. Nicht von diesem bösartigen Gesindel will ich reden, sondern von Flegel- und Quälgeistern minder schlimmen Charakters. Zu ihnen zähle ich einen Trupp Mausvögel ( Col. aftin.), der jeden Mittag sich aus der höchsten Stelle des Laubendaches – zippzippzippzipp – einfindet und von dort die nassen Kerne der Mhukkobeeren auf mich herabspuckt und mit besonderer Vorliebe auf die letzte Seite eines offiziellen Schreibens. Und ferner die Spottdrosseln, die mich mit ihrem Keifen und Schimpfen nervös machen und frech: »Du Bettel, du Bettel!« rufen, wenn ich es mir verbiete. Oft findet sich auch ein Hagedaschibis auf den Kalkfelsen am Wasser ein, den ich seines gräßlichen Angstgeschreis wegen vor allen Tieren nächst den Krokodilen am meisten hasse. Singt doch schon Ovid: medio tutissimus ibis, d. h. im Durchschnitt ist der Ibis der größte Tuter. Auch die Lucilien sind nicht angenehm, kleine Fliegen, die dicht vor Augen und Nase auf und ab tanzen, bereit, jeden Moment sich hineinzustürzen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Moskitos mit schwarz-weißen geringelten Leibern. Zwar sind sie harmlos, denn trotz täglicher Stiche habe ich in den fünf Monaten nie Fieber gehabt, aber ihr Gesang ist um so fürchterlicher. Ich verzeihe ihnen alles, wirklich alles, sie dürften noch einmal so stark und zweimal so oft stechen, wenn sie nur nicht singen wollten, aber diese Töne peinigen mich, als ob mir eiskalte Fliegenbeine übers Trommelfell liefen. Blind haue ich zu, aber während ich noch beschäftigt bin, nachzusehen, ob ich mir den ersten oder zweiten Backzahn wacklig geschlagen habe, pfeift es schon wieder vor dem anderen Ohre. Kein Wunder, wenn ich von Tag zu Tag schwermütiger werde. – – –
Einen Genossen aber habe ich hier – dessen Schönheit erfüllt mich, so oft ich ihn sehe, mit Schauern des Entzückens. Es ist der Ruderflügel – Craprimulgus vexillarius – der in meiner nächsten Nähe im Dickicht sich verbirgt. Aber sobald die Abenddämmerung hereinbricht, verläßt er sein Versteck und fliegt stumm über die stillen Wasser, wie armlange seidene Bänder flattern die letzten Federn seiner Schwingen hinter ihm. Und wenn seine Silhouette sich von dem fahlen Abendhimmel dunkel abhebt oder vor der Mondscheibe vorüberfliegt, dann sieht es aus, als hätte ein Riesenschmetterling aus grauer Vorzeit bis in unsere Tage sein Bild gerettet. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Wenn sich die Schatten in die Täler legen,
Sich blaue Dämmrung um die Berge schlingt
Und leis am Strand die müde Flut verklingt,
Dann seh ich endlich dich die Schwingen regen.
Dann steigst du auf aus dunklen Felsgehegen,
In die nicht Licht, nicht Laut des Tages dringt
Und eines Märchenwunders Gleichnis schwingt
Sich deine Schönheit stumm der Nacht entgegen.
Oh, ich verstehe deine stolze Scham!
Wer möchte heute nicht in nächtge Höhlen
Gleich dir sein Glück und seine Schönheit stehlen,
Weit ab von Körnerneid und Herdenkram;
Wer nicht gleich dir dem Lärm des Tags entweichen
Und einsam über stille Wasser streichen.
Kissenje, Februar 1902.
Finis.