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Intermezzo.

Brief XIV.

7. Dezember. Es gibt nichts pünktlicheres in Afrika, dein Lande der Unpünktlichkeit und der Zeitvergeudung, als die Hähne. Der pünktlichste aber von allen ist mein Hahn Kasibure, »der ohne Lohn arbeitet«; so haben ihn die Träger getauft; und nach seinem stolzen, kriegerischen Wesen zu urteilen, fühlt er, daß er solchermaßen aus der namen- und titellosen Masse zahlreicher Reisegenossen rühmlich herausgehoben wurde. Stimmt er das erste Mal seinen Gesang an, so ist es noch tiefe Nacht, zwischen 3 und 4 Uhr; singt er aber das zweite Mal, dann kündet er den anbrechenden Tag. Das ist sehr bequem. Beim ersten Mal drehe ich mich noch einmal auf die andere Seite und beginne selig den träumereichen Morgenschlummer, das zweite Mal aber strecke ich den Kopf unter dem Moskitonetz hervor, um nach dem Wetter zu schauen, dem wichtigsten Faktor jeder, auch der afrikanischen Wanderschaft. Also auch heute. Klar leuchtet schon der Himmel durch die Lücken der dunklen Stämme; die Dämmerung begann sich früh aufzuhellen. Noch stehen einige Sterne über dem Horizont, blasse, kraftlose Schwimmer, die bald von dem Lichtmeer verschlungen werden. Alles kündet einen schönen Sonnentag. Aber kalt ist es noch, schauerlich kalt; feucht schlug mir beim Öffnen des Netzes die Morgenluft mit frischem Erdgeruch entgegen und kitzelte mich boshaft in Nase und Hals, daß ich rasch wieder bis zu den Augenbrauen in der Wolle verschwinde. Das Lager ist noch nicht wach. Nur aus der Tiefe des Küchenzeltes höre ich diskret Teller klappern; verfroren und mit krummen Knien schleicht ein kleiner Küchenjunge reisigbrechend umher, wobei er unter dem Sprühregen, der von den erschütterten Bäumen ihm auf den nackten Oberkörper fällt, jedesmal heftig erschauert. Auch aus einigen anderen Zelten tönen verschlafene Reden von Ehepaaren, die ihr Morgenschwätzchen beginnen. Aber sonst ist es noch recht still; die Leute wissen, daß heute nicht marschiert wird und nützen es aus. Aber über mir ist schon alles wach. Schon singt, mit den Schwänzen Takt schlagend, ein Paar Grasmücken ein Duett, wozu das Weibchen mehr guten Willen als Wohlklang beiträgt, und die Wildtauben gurren ihr eintöniges, dumpfes huh-huh – huhduhhuduh; vom Wasser her schnarrt ein verliebter Erpel, und über mir höre ich den wütenden, metallisch klingenden Flügelschlag eifersüchtig kämpfender Täuberiche, wie sie, rücksichtslos die dichten Laubmassen durchbrechend, sich von Ast zu Ast verfolgen; wie sie in kurzen Pausen einen leisen, kaum hörbaren Zorneslaut ausstoßen; wie sie in blinder Kampfesbegier mit den Schwingen gegen die nassen Blätter schlagen, daß der Nachttau in großen Tropfen auf mein Zeltdach trommelt – es gibt nichts Eifersüchtigeres auf der Welt, als Täuberiche. Und indes sitzt das Weibchen, kaltblütig, gleichgültig daneben, unbekümmert um Kampf und Kämpfende und putzt und glättet sich das Gefieder – sind sie nicht schlimmer als Menschen-Weibchen? Aber auf, Langschläfer, was gehen dich Tauben- und Menschen-Weibchen an! Schon schielt die Sonne mit einem Auge über die fernen Hügel, die wie bläuliches Milchglas durch den schmalen Waldstrich schimmern.

»Boy!« – – –

Tiefes Schweigen.

»Boy!«

Du mußt es dreimal rufen.

Und »Boy« dringt zum drittenmal mein Weckruf ins Lager, und zum drittenmal schießt mein Arm als zitternde Dunstwolke in die feuchtkalte Luft. Ein Weilchen noch und das breite Malayengesicht meines Pagen Kibani erscheint im Türrahmen. Die von Natur kleinen Augen verschwinden fast hinter den schläfrig verschwollenen Lidern und schauen mich verdrossen an, als würfen sie mir vor, daß durch meine Schuld: »Ach, im schönsten Moment war das Traumbild zu End.« Um ihn völlig wach zu bekommen, – denn sonst bekäme er es fertig, mir statt der Strümpfe die Frühstücksbutter ins Bett zu werfen und dafür mein Frühstücksbrot mit Strümpfen zu schmieren, – beginnen wir ein Gespräch, wie es ähnlich jeden Morgen sich wiederholt:

»Ist es sehr kalt, Kibana?«

»Es ist kalt, aber warm, Der Küstenneger sagt: Kalt, aber warm; groß, aber Klein; schön, aber häßlich usw., wo wir ziemlich kalt, mittelgroß, annehmbar usw. sagen würden. hoher Herr, aber inschallah wird die Sonne bald Wärme bringen.«

»Es wird so sein, inschallah. ist es zu kalt zum Baden?«

»Das Wasser ist warm, hoher Herr, aber es ist viel Nebel auf dem Fluß, und Gras und weg sind betaut.«

»Hört man die Flußpferde? Ich will euch heute etwas Fleisch schießen.«

Mit gespanntem Gesichtsausdruck lauscht er stromaufwärts.

»Sie sind da, hoher Herr, denn ich höre sie schnaufen.«

Nun, da ich sicher bin, ihn wach zu haben, schlüpfe ich rasch in die Kleider und hinaus vor mein Zelt, wo der jüngere Boy indessen schon Eimer und Waschschüssel im nahen Flusse gefüllt und den Frühstückstisch auf der anderen Seite des breitästigen Baumes herzurichten begonnen hat. Vor mir (aber in gemessener Entfernung, damit mich nicht der Rauch der zahlreichen Herdfeuer belästigt) stehen in drei konzentrischen Halbkreisen etwa fünfzig Zelte und Grashütten, die je drei bis vier Leute beherbergen. Das erwachende Lager – wer malt mir das Bild? Hundert blutrote, in den ersten Strahlen der Morgensonne fast zu stark leuchtende Flecken auf grünem Grunde – das sind die Decken meiner Leute, in die sie jetzt kälteschauernd ihre nackten Körper fest eingepackt haben; denn der Neger liebt es, auch wenn er noch so viel Zeug sein eigen nennt, hüllenlos unter der Schlafdecke zu liegen. Das dehnt und reckt und biegt und reckelt und streckt sich, als hätten sie in enger, harter Höhle einen Winterschlaf abgehalten. Auch gähnen sie, denn der Neger gähnt wirklich. Es mag komisch erscheinen, daß ich dies ausdrücklich versichere, aber in einem sehr ernsthaften anthropologischen Lehrbuch wird, wenn auch unter Vorbehalt, das Augenmerk des Forschers ausdrücklich auf diesen Punkt gelenkt, nachdem ein Reisender bei einem farbigen Stamm, ich glaube in Südafrika, das Fehlen dieses Ermüdungs-Phänomens konstatiert hat. Wie kam der Unglückliche nur zu so absurder Behauptung? Ich wollte, er schaute jetzt an diesem heraufdämmernden Morgen in all die ungeheuren, wie das Weltgericht dräuenden, kraterförmigen, roten oder braun pigmentierten Schlünde, vor denen die glänzenden Zahnreihen, geschaffen, um Eisen zu zermalmen, schön und schrecklich zugleich, schimmern. Auch die Weiber werden allmählich wach und latschen, wie nur Negerweiber latschen können, im Kreuze liegend und den Oberkörper faul in den Hüften wiegend, mit wirrem Haar und ungewaschenen, vom Nachtschweiß feuchtklebrigen Gesichtern, auf schlürfenden Sohlen durchs Lager. Daß ich das jeden Morgen mit ansehen kann, ohne daß sich mir der nüchterne Magen umkrempelt, daraufhin ich wirklich stolz. – – – – – – – – – – –

*

Die Sonne steigt, schon brechen wärmende Strahlen durch die lichteren Stellen des Waldes, und die schweren Decken werden von leichterem Zeuge abgelöst; dann eilen die Leute truppweise an den Fluß, um sich den Schlaf aus den Gliedern zu baden und Appetit für die erste Mahlzeit zu holen. Aber bevor sie den vorn letzten Abendessen reservierten und flüchtig aufgewärmten Mehlbrei verzehren, wird erst ein Geschäft verrichtet, dessen Gewissenhaftigkeit weiten Volkskreisen in Europa aus hygienischen Gründen zur Nachahmung sehr zu empfehlen wäre; ich meine die Pflege der Zähne. Dazu bedient sich der Neger eines Zweigstückes vom Mbulobaum, das er auf allen Reisen mit sich führt. Der Baum ist im Innern sehr verbreitet, nötigenfalls tut es aber auch das Holz mehrerer anderer Arten. Das Ende des 15 Zentimeter langen Stückes zerkaut er, bis es einem Pinsel ähnlich faserig geworden ist, und mit dieser leicht im Wasser befeuchteten Bürste reibt er eine halbe Stunde lang jeden seiner zweiunddreißig Zähne mit senkrecht geführten Strichen sorgfältig ab. Das ist neben der an Süße und Säure ziemlich armen Nahrung das ganze Geheimnis, dem die Neger ein weißes, gesundes und kräftiges Gebiß verdanken, trotzdem sie es fürchterlich malträtieren und zu den ungewöhnlichsten Verrichtungen benützen, wie Flaschen entkorken, Schrauben aufdrehen, Zeug zertrennen usw. Wenn Alexander Neger gewesen wäre, dann hätte er den gordischen Knoten sicherlich nicht zerhauen, sondern mit den Zähnen aufgelöst. Bei Stämmen, die wenig Wert auf Mundkosmetik legen, findet man dementsprechend auch weniger gesunde und schöne Kauer. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

*

Das Gewehr am Riemen, ein Frühstücksbrot in der Tasche, schlendere ich den schmalen, grünen Uferstrich zwischen Wald und Wasser entlang. Die letzten Nebelwölkchen haben sich in die Wipfel gezogen und in der klaren Luft verloren, blau und leuchtend liegt die Flut im Sonnenschein. Nur ein schmaler, zackiger Rand auf meiner Seite erscheint noch tief grün von dem Schatten der schräg beleuchteten Bäume. Um diese Zeit – es ist bald sieben Uhr – geht es am Flusse nicht mehr so lebhaft zu wie in der Morgendämmerung, wo es auf jedem Baum und Strauch singt, pfeift, flötet, zwitschert, schnarrt, wie einem jedem Stimme und Sang gegeben ist; aber doch scheucht auch jetzt noch jeder Schritt irgend einen kleinen Musikanten auf, der sich, seine Strophe jäh abbrechend, seitwärts in die deckenden Büsche schlägt. Hier fliegen, in allen Farben schimmernd, die kleinen Nektarinen, holen sich mit dem langen, zierlich gekrümmten Schnabel wie Kolibris im Flattern ihre Nahrung aus der Tiefe der Blüten; dort auf jenem Baum leuchtet das violette Gefieder weißäugiger Stare, die wie Papageien ernsthaft vor sich hinschwätzen und pfeifen. Aus dem Dickicht dringt erst leise und fast zaghaft beginnend, allmählich anschwellend und immer höher tonierend, um zuletzt jäh abzubrechen, das dreitönige Flöten der rotbäuchigen Cossypha, die vor Sonnenaufgang und besonders im Liebesrausch der beste afrikanische Sänger ist, den ich hörte. Dann schmettert sie vielmals hintereinander: kokkedilli oder kokkereküe, und endet jauchzend: kokkedü–ljä! Daneben produzieren Pisangfresser und schwarzröckige Würger aus den dichten Laubmassen einer Tamarinde um die Wette ihr reiches Repertoire an Tönen und Geräuschen, bald klopfend und sägend, bald wie ein junger Hund bellend oder wie ein Sterbender röchelnd und stöhnend. Aus der Luft von hoch oben tönt das Schackern einer prächtigen Spatelrake; der große Wanderfalke, den sie mutig angreift, sucht sich ihr in eiliger Flucht zu entziehen, ihr Keifen mehr als ihren Schnabel fürchtend. Gleich weißer Seide leuchtend steht ein Graufischer in der klaren, unbewegten Luft, als sei er mit den Enden seiner Schwingen an unsichtbaren Fäden aufgehängt, zwischen denen er nun mit Kopf, Körper und Schwanz krampfhaft auf und ab rüttelt, bis die Fesseln plötzlich reißen und der Befreite in steilem Winkel, wie ein Stein in die aufspritzenden Fluten stürzt, um bald wieder mit der Beute im starken, schwarzen Schnabel, einen kurzen Jauchzer ausstoßend, aufzutauchen. Hagedasch-Ibisse fahren, von meinen Schritten erschreckt, aus dem Schilfdickicht auf, und ihr klägliches Angstgeschrei, das wie Notrufe von Delirien gepeitschter Wahnsinniger klingt, verhallt jenseits des Waldes in der schweigenden Landschaft. Mit rauhem, kurzem Schreckton streicht ein Reiher ab und scheucht die eben noch possierlich spielenden Kronenkraniche auf, daß sie mit gellendem Oh-rran, Oh-rran und dumpfem Flügelschlag zum anderen Ufer hinüberflüchten. Schwalben schießen im Sonnenglanz wie violette Leuchtkörper über die schimmernden Wasser, aus denen, von metergroßen, räuberischen Welsen verfolgt, hier und da ein Fischchen silbern aufblitzt. Überall Leben, Leben, Leben. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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siehe Bildunterschrift

Watussi.

Da, wo das Seebecken beginnt, teilt es sich in drei schmale Arme. In dem östlichsten, an dem unser Weg vorbeiführte, befand sich gestern eine etwa vierzig Stück große Herde von Flußpferden, die uns neugierig die Köpfe zuwandten und zum Teil dem Ufer sich näherten, um interessiert den Anblick der als erste diese Gegend betretenden Karawane zu genießen. So habe ich es noch jedesmal erlebt, wenn ich in von Menschen selten besuchten Gebieten auf diese Dickhäuter stieß, und es ist einleuchtend, daß es unter solchen Verhältnissen ein Kinderspiel ist, den ersten Schuß gut anzubringen. Schwierig wird es erst, wenn sie sich belästigt fühlen und dann nur rasch und für relativ kurze Momente zum Atemholen auftauchen. Aggressiv sah ich sie niemals; selbst verwundete nie, auch dann nicht, wenn sie in ihrer übrigens nicht geringen Borniertheit oder Verwirrtheit ihren Rettungsweg in der Richtung des Schützen zu finden hofften. Meine Kenntnis gerade dieser Tierspezies stützt sich auf eine ziemlich umfangreiche Erfahrung, aber damit will ich nicht behaupten, daß andere Beobachter nicht zu anderen Resultaten kommen konnten.

*

Auch wenn man weiß, wie unangebracht es ist, fällt man doch immer wieder allzu leicht in den Fehler, seine eigenen Beobachtungen zu verallgemeinern. Würde ich nach meinen eigenen Erlebnissen allein urteilen, so käme ich zu dem Schluß, daß alle sogenannten »wilden« Tiere, ob Büffel oder Elefant, Flußpferd oder Nashorn, ihrem Namen wenig Ehre machen, denn mir gegenüber haben sie sich alle merkwürdig liebenswürdig und zivilisiert benommen. Am mutigsten schien mir noch eine Löwin, auf die ich, von hinten seitlich kommend, waffenlos, im trockenen Bett des Ugalla stieß, fünfzehn Schritt von ihr und hundert von meinem Gewehr entfernt, wir blieben beide gleichzeitig stehen, und mein Herz sank mir – ich weiß nicht, ob nur in die Hosen oder bis in den Stiefelschaft; jedenfalls aber recht tief, während sie sich zu mir wandte, mich mit einem langen, schläfrigen und, wie mir vorkam, verächtlichen Blicke betrachtete, langsam die tiefe Rinne weiter trottete und erst nach etwa zehn Schritten, ohne mich noch einmal zu beachten, mit großem Satz linksum in das Dickicht sprang und verschwand. Ich fand das riesig nett von ihr, trug aber kein Verlangen, ein zweites Mal ihre Bekanntschaft zu erneuern, denn es ist doch immer mißlich, von der größeren oder geringeren Liebenswürdigkeit einer Löwin die Gestaltung seiner Zukunft abhängig zu machen. Noch behaglicher als mir muß dem Stationschef von Kilimatinde, Leutnant v. G., zu Mute gewesen sein, als er auf einem abendlichen Spaziergange plötzlich zur Rechten drei Löwen aus dem Dickicht auf die Straße treten und, als er vorsichtig nach links ausweichen wollte, auch von dort noch zwei, die dem gleichen Trupp angehörten, hinzukommen sah. Zwar hatte er eine geladene Schrotflinte bei sich, mit der er aber keine fünf Löwen totschießen konnte, und so zog er es klugerweise vor, sich so bescheiden wie möglich zu verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit der Bestien zu erregen, was ihm auch gelang. Schlimmer erging es einem anderen Offizier der Schutztruppe, Leutnant Br. Dieser Herr war von einem Löwen – wie und wo habe ich vergessen – angefallen worden und wurde von ihm fortgeschleift. Sein Karabiner hing ihm über dem Rücken, während er an der Schulter geschleppt wurde, war er in der höchsten Not besonnen genug, mit der Hand nach hinten zu fahren und das Gewehr abzufeuern. Der Löwe ließ seine Beute sofort fallen und sprang davon; wie der schwer Verwundete glaubte, vor Schreck; bei einer Suche aber am anderen Tage fand man das Tier in nächster Nähe verendet. Wäre mir selbst das Abenteuer passiert, ich würde mir lieber die Zunge abgebissen haben, als gewagt, es zu erzählen, denn es klingt zu ungeheuerlich und märchenhaft; aber daß es sich so zugetragen bezw. daß es so in allen Messen der Kolonie erzählt wurde, dafür bürge ich.

Um übrigens noch ein Wort über die Gefährlichkeit der sogenannten wilden Tiere zu sagen, so haben ja die Ansichten darüber manche Stadien durchlaufen. In älteren, aber auch noch zu Brehms Zeiten, galten sie durchweg für außerordentlich furchtbar. Dafür müssen sie es sich in neuerer Zeit oft gefallen lassen, so zwischen Fuchs und Hase zu rangieren. Das ist natürlich auch übertrieben. Man darf nur nicht die Tiere und ihre Psyche anthropomorphisieren und von einem Rhinozeros oder Leoparden verlangen, daß er sein Handeln nach dem Sittenkodex der Menschen einrichtet. Sonst kommt man auf den Standpunkt des Korpsstudenten aus den Fliegenden Blättern, der dem ausreißenden Hasen ein entrüstetes »Feige Kneiferbande« nachruft. Es ist überhaupt schon verkehrt, wenn auch schwer zu ändern, daß wir die Namen für die Charaktereigenschaften der Tiere von den Äußerungen der menschlichen Psyche entlehnen, während wir für ihre Körperteile oder gewisse Funktionen Sonderausdrücke geschaffen haben. Wenn ich den Satz ausspräche: »Der Hirsch blutete stark am linken Ohre« so würde er vielen Leuten (und natürlich allen Jägern) einen Riß geben, wie etwa einem musikalisch gebildeten Ohre das Katzengeplärr der fünf sisters Barrison oder einem Lord Roseberry der Anblick einer fertig gebundenen Kravatte von Jandorf. Dieselben Leute aber fänden nichts darin, beispielsweise zu sagen: »das Flußpferd ist feige« während uns in Wahrheit diese Art, sich auszudrücken, noch viel schiefer und deplazierter vorkommen müßte, wie die vorher erwähnte. Und nebenbei: welchen Grund sollten denn die großen Pflanzenfresser haben, mit dem Menschen anzubinden? Und wenn sie uns ausweichen, sind sie dann feiger, als wenn wir vorsichtig Nesseln und Dornen aus dem Wege gehen? Auch in dem besten populären Tierwerk der letzten Jahre von Dr. Heck wird der Löwe feige genannt. Vergleicht man damit die fast allwöchentlich in der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung wiederkehrenden Berichte über von Löwen getötete Leute (jüngst erst wieder sieben in einer Woche) und die Tatsache, daß in manchen Gegenden, z. B. bei Kissakki, ganze Dörfer wegen der Löwengefahr aufgegeben werden mußten, dann fragt man sich doch unwillkürlich, ob die Reaktion, die der früheren Überschätzung der »reißenden« Tiere zu danken ist, nicht doch etwas zu stark sich entwickelt hat. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Eine kleine Erhebung, steil zum Wasser abfallend, mit alten Bäumen und dicker, saftiger Grasnarbe dient mir als Ansitz; ein quer liegender morscher Stamm als Deckung gegen die Flußpferde. Das ist vorläufig allerdings eine überflüssige Vorsicht, denn mein Erscheinen hat gar keine Aufregung verursacht, über dreißig zähle ich, die fast alle in der Mitte des schmalen Wasserarmes sich bewegen. Nur eines liegt faul auf einer Sandbank halb im Wasser und schüttelt unaufhörlich die kurzen Ohren, um sich gegen die Fliegen zu wehren. Ich wollte, ich könnte das auch, denn ich merke bald, daß hier eine unausstehliche Sorte von Stecknadelkopf-großen, stahlblau schimmernden Fliegen ist, die mir dicht vor Augen, Nase und Ohren auf und ab tanzen, in der Hoffnung, dort ihre Eier ablegen zu können. Vergrämen wir sie durch den Qualm einer Zigarette, sonst machen sie ein Zielen geradezu unmöglich und schauen wir einstweilen dem Treiben der Dickhäuter zu. Es ist freilich nicht viel an ihnen zu sehen, denn sie sind nicht sehr erfindungsreich in ihren Vergnügungen. Sie bewegen sich in einem ziemlich kleinen Zirkel, und es ist eigentlich wunderbar, daß sie da genügend Nahrung finden, da sie, wie die tief eingetretenen Wechsel beweisen, schon lange Zeit dieselbe Wasserstelle aufsuchen. Es gibt da Unterschiede. Die einen, und zwar nach meiner Erfahrung die meisten, treten kurz vor Sonnenaufgang ein und bleiben bis zum Abend; die anderen halten sich tagsüber am Lande verborgen und gehen nachts in die Gewässer. Beide aber finden ihre Hauptnahrung in Wasserpflanzen, von denen sie sich möglichst die zartesten aussuchen, um damit den riesigen Magen bis zum Platzen voll auszustopfen. Es ist mir überhaupt zweifelhaft, ob sie (bei günstigen Bedingungen) außerhalb des Wassers nennenswert äsen, und ob ihre Landmärsche nicht mehr sicheren Schlaf- als Weideplätzen gelten.

Welch fürchterliche vorsintflutliche Erscheinungen! Wie unproportioniert in allen Maßen, wie ungraziös in ihren Bewegungen. Wenn man in ihren ungeheuren Rachen sieht, den sie mit lautem Gähnen öffnen und klappend wieder schließen, dann glaubt man zuerst an eine Sinnestäuschung; so unwahrscheinlich, widersinnig und unlogisch ist zunächst der Eindruck des Gebisses, das aussieht, als wäre dem Tier bei der Schöpfung eine Handvoll Zähne in jeder Form und Größe in den Rachen geworfen worden, von denen jeder da gerade Wurzel faßte, wo und wie er zufällig hinfiel. Ein schrecklicher Gedanke, in diese Mühle zu geraten, wie es Reichard von zwei Negerweibern am Kingani erzählt. Widersinnig erscheinen auch die Ohren, die an dem riesigen Haupt wie ganz überflüssige Anhängsel sitzen und das Eindringen des Wassers in den äußeren Gehörgang doch nicht zu verhindern vermögen, viel besser gebaut ist die Nase, deren enorm entwickelte Schließmuskeln einen sehr festen Abschluß nach außen bilden. So lang der Kopf ist, so bietet er dem Schützen doch nur ein relativ kleines Ziel, weil nur ein Gehirnschuß dem unglaublich zähen Tiere ein schnelles Ende bereitet. Ein Vollmantelgeschoß ist nach meiner Erfahrung für die Jagd auf so große Tiere absolut ungeeignet. Ja, ich glaube, daß es auch für den Krieg die Grenze der Brauchbarkeit, d. h. der Bestimmung, den Gegner möglichst schonend aber möglichst rasch kampfunfähig zu machen, hart streift. S-Geschosse gab es, als dieser Brief geschrieben wurde, noch nicht. Ich habe es mehrfach mit angesehen, daß Rinder, durch Hals, Brust oder Leib geschossen, das Äsen nicht unterbrachen oder höchstens einen Moment wie horchend den Kopf hoben, auch wohl taumelten, dann aber weiter weideten. Sobald man aber nur die Spitze des Nickelmantels entfernt, hat man eine fürchterliche Waffe, die auf nahe Entfernung einem Menschen den Kopf so gründlich fortreißt, als hätte nie einer auf dem Rumpf gesessen. – – – – – – – – – – –

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Ein Schuß rollt über die Wasserfläche, und mit leisem Grollen antwortet, aus dem Schlaf geschreckt, das Echo aus dem jenseitigen Walde. Es gab einen kurzen, klappenden Laut, als das Geschoß einschlug. Kein Kopf ist mehr sichtbar, nur die zitternden Wellenkreise, die, die Strahlen der Sonne reflektierend, gleich zerbrochenen Silberringen auf den Fluten treiben, verraten, daß hier zahlreiche schwere Gewalten den Spiegel durchbrachen. Dort, wo das von mir aufs Ziel genommene Tier stand, steigen Blasen auf, und das Wasser färbt ein kleiner rotbrauner Streifen. Ich warte gespannt, denn bald muß es sich entscheiden, ob der Schuß sofort tötlich war. Verwundete, aber nicht bewußtlose Flußpferde nehmen sofort, wenn sie nicht stromabwärts fliehen können, die Richtung auf ein Ufer, und fühlen sie instinktiv, daß es zu Ende geht, so suchen sie sich mit dem letzten Rest von Kraft unter Wasser in die Uferwände einzubohren. Bei den eigentümlichen Bodenverhältnissen des Sindi kann es ihnen so gelingen, sich in den breiweichen Erdmassen ein Grab zu bereiten, das für Mensch und Tier unauffindbar, vielleicht nach Jahrzehntausenden unseren Epigonen in den Knochenresten eine Rekonstruktion des Bildes der bis dahin längst ausgestorbenen Spezies ermöglichen wird. Sitzt der Schuß so, daß fast sofort der Tod eintritt, dann sinken sie auf den Grund, tauchen aber schon nach dreiviertel bis einer Stunde, von den rasch sich sammelnden Gasen stark aufgetrieben, wieder zur Oberfläche, die ihr Leib als Kugelsegment überragt: ein willkommener Sammelplatz für Reiher und andere, Aas nicht verschmähende Vögel. – – – – – –

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Ich hatte nicht lange zu warten. Es war ja so leicht gewesen – ein Schlachten mehr als ein Jagen – vom sicheren Platz aus mir den günstigsten Fleck in einem der mächtigen Profile auszusuchen, und schon an der Art, wie der klotzige Schädel von dem einschlagenden Geschoß zur Seite geworfen wurde, bevor er verschwand, erkannte ich, daß mir diese Beute nicht entgehen würde. Es dauerte auch keine 20 Sekunden, da brach sich das Wasser und das tödlich verwundete Tier taucht senkrecht bis zur halben Leibeshöhe auf, fällt mit voller Wucht auf den Rücken zurück, daß das Wasser hoch aufspritzt und verschwindet wieder. Aber bald kommt es an anderer Stelle wieder zum Vorschein, noch verzweifelter nach Luft ringend, noch rasender in die Höhe stoßend und mit noch heftigerem Aufprall zurücksinkend. Eine Viertelstunde dauert der Todeskampf des fast bewußtlosen Tieres, das von Ufer zu Ufer sich wälzend, die Fluten erschüttert und immer wieder jäh senkrecht sich aufrichtet, wobei der dem Schädel entquellende helle Blutstrom, auf der nassen Haut rasch verteilt, sich wie ein rotes Tuch über den unförmig dicken Hals breitet. Sein schwer röchelnder Atem, der das eingedrungene Wasser nicht mehr aus den Lungen zu treiben vermag, zerschneidet die Stille dieses köstlichen Morgens wie ein Jammerruf, in grellem, mißtönendem Gegensatz zu der heiteren Ruhe dieser sonnigen Landschaft. Aber auch dieser zähe Kampf erschöpft sich allmählich und endlich liegt, wenige Meter vom Ufer entfernt, wie ein grauer Granitfelsen der tote Körper.

Ich hatte zwar befohlen, daß das Fallen eines Schusses meinen Leuten ein Signal sein sollte, mit Messern und Äxten herbeizukommen, aber vermutlich war er im Tosen des Lagers nicht gehört worden, denn einsam und regungslos liegt der zu mir führende Uferweg. So muß ich die beiden Angler aufstören, die nicht weit von mir in ihr edles Handwerk sich vertieft haben. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Angeln oder Anglern zuschauen, das ist die dem Neger kongenialste Beschäftigung. Ich bin auch überzeugt, daß auf irgend eine dunkle Weise vor Jahrtausenden diese Kunst aus Afrika den Europäern gebracht wurde, die sie aber bis heute noch nicht zu der Vollkommenheit der Neger entwickelt haben. Ein europäischer Angler, so stumpfsinnig er auch im allgemeinen sein mag, angelt wenigstens nur an Stellen, an denen er Fische vermutet. Aber für den Neger, wenigstens für den Amateurangler, ist dies nicht unbedingt entscheidend. Die Hauptsache ist das Angeln, und es ist köstlich anzuschauen, wie sie an Regenteichen, in denen höchstens ein paar abgemagerte Kaulquappen eine proletarische Existenz führen können, die Schnur auswerfen, anziehen, auswerfen, anziehen, von Zeit zu Zeit den Haken vom Schlamm befreien, frische Fliegenlarven aufsetzen und immer ernsthaft und gewissenhaft dabei bleiben. Nach jeder Viertelstunde wirft ein Zuschauer die Frage dazwischen: »Beißen sie noch nicht, Herr?« und erhält dann die Antwort: »Nein, Herr, sie beißen noch nicht!« Wer die »sie« aber sind und sein könnten, das wissen nur die betreffenden Teichgötter. Nun muß ich allerdings zur Rechtfertigung des Negers erwähnen, daß er überall, wo ein größeres Wasser ist, Fische vermutet, weil er an eine von Mungu (Gott) gewollte generatio aequivoca glaubt. (Deshalb begriffen mich meine Leute auch gar nicht, als wir auf einer einsam mitten im Kiwusee gelegenen kleinen Insel Antilopen, Iltisse, Schlangen und anderes Getier fanden, wozu ich ihren Scharfsinn mit der Frage prüfte, von wo all diese wohl hergekommen seien.) – – – – – – – – – –

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Während meine Leute herangeholt werden, ziehe ich mich in das Uferdickicht zurück. Die Sonne steht hoch und lähmt mit ihren Strahlen in den nächsten fünf Stunden alle Kreatur. Auch hier im Schutze einiger Loranthus- und Herminen-Arten ist es schwül, aber doch schattig. Zum Flusse hin ist das Gebüsch halb offen, und ich sehe die Luft über dem jenseitigen Ufer zittern und sehe das Schilf und das Laub der Sträuche wie durch fließendes Glas. Die Flußpferde haben sich längst wieder beruhigt und tauchen wie vorher abwechselnd auf und nieder. Der Todeskampf ihres Genossen hat sie wenig interessiert, nur eines war wiederholt in seine Nähe geschwommen, hatte sich aber bald wieder entfernt; was von Vögeln am Wasser lebt, hat sich gleich mir in das Dickicht zurückgezogen. Wenn ich um mich schaue, welches Gewirr von Ästen und Lianen! Zwanzig-, dreißigfach kreuzen sie sich und oft sind sie miteinander verwachsen, wo sie sich berühren. Oder sie krümmten sich in großem Bogen wieder zur Erde, schlugen noch einmal Wurzel und sandten neue Arme nach oben, die sich bald wieder teilten und nochmals teilten und wieder nach oben und unten Sprossen entsandten. Oder sie kriechen als vielfach gewundene Schlangen auf der Erde im Kreise, als könnten sie sich von dem mütterlichen Boden nicht trennen, und dann, wie von einer plötzlichen Angst gepackt, jäh aufzuschießen, durch jede Lücke im Geäst sich hindurchzuwinden und von oben mit schwanker Spitze auf das dunkle Laubdach herabzusehen. Welch ein Unterschlupf für kriechendes und fliegendes Gewürm. Überall störe ich es auf, ob ich das Laub durchwühle, das vom Jahr den Boden bedeckt, ob ich die Borken von den Stämmen abreiße oder einen Stein aufhebe, überall ein Huschen, Krabbeln, Wimmeln, Rascheln und verstörtes Durcheinander. Und nicht anders über mir. Wo die Sonne durch kleine Blätterlücken hindurchbricht, und zitternde Scheiben auf den Boden wirft, deren Rand alle Farben des Spektrums – nicht zeigt, nein, das hieße: zartestem mit groben Worten wehe tun, aber sie ahnen läßt, da sieht man durchsichtige Flügel und Leiber in zuckender Hast sich vielfach kreuzen und mit silbernen Strichen schimmernde Arabesken in die unbewegte Luft zeichnen. Und dann wundert man sich nicht, daß dort die kleine, graue Grasmücke, die im dichtesten Gebüsch ihr verstecktes Dasein führt und nur durch ihr Kindertrompetenstimmchen sich verrät, so munter herumspringt, und nach jedem Sprunge etwas Unsichtbares hinabschluckt. Überall Leben, Leben, Leben. – – – – – –

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Während einige meiner Leute dem erlegten Flußpferd mit großen Faschinenmessern das dicke Fell abziehen, den ungeheuren, prallgefüllten Magen und die Eingeweide entfernen und das Fleisch in große Stücke zerschneiden, die erst im Lager in kleinere zerteilt werden sollen, nehmen andere mit Äxten das Gebiß heraus, dessen größere Zähne in der Luxusindustrie vielfach verwendet werden, z. B. zu Schreibtischgarnituren, Stockkrücken usw. Da ich nicht beabsichtige, sie jahrelang mit mir herumzuschleppen, um schließlich mehr Kosten für ihren Transport aufgewendet zu haben, als man in jedem Warenhause für die aus ihnen hergestellten Nippes zu zahlen hat, so überlasse ich sie meinen Trägern. Mögen sie sich in Gottes Namen, wenn sie Lust dazu haben, daraus Schreibtischgarnituren machen lassen. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Indes die Leute emsig ihrer Arbeit obliegen, gehe, oder richtiger schleiche ich den sonnendurchglühten Weg zum Lager zurück; mit halbgeschlossenen Augen, denn die Lichtreflexe des Wassers blenden fürchterlich. Mein Gewehr liegt mir so schwer im Arme, als hätte ich einen Fieberanfall hinter mir. Einen Moment setze ich mich noch in ein Schilfdickicht, in dessen Nähe schnarrend ein paar Nilgänse eingefallen sind, aber die erstickende Hitze, die die Gräser ausstrahlen, und die Fliegen, die mich verzehren wollen, treiben mich bald wieder heraus, und aufatmend trete ich in den kühlen Schatten der Lagerbäume.

Am Malagarassi, Mitte Dezember 1897

Brief XV.

Mittag. Mein Page erscheint mit dem Essen, und seufzend lasse ich mich dazu nieder, beim ersten Bissen schon die Minute ersehnend, wo ich die Zigarette anzünden kann. Essen müssen, nur um zu leben, ist für Afrika eine besonders schlechte Erfindung. Könnte ich mich doch von dieser lästigen Einrichtung durch Zahlung in eine Armenkasse befreien, wie man es zur Ablösung von Neujahrsgratulationen tut. Jeden Morgen und jeden Nachmittag möchte ich verzweifeln, wenn der Koch nach dem Speisezettel fragt, trotzdem er doch weiß, daß immer dieselbe Antwort kommt: »So wie gestern«, d. h. Reisspeise oder eine verdächtige Mischung von Mehl und süßen Kartoffeln oder ein zähes Stück Ziegenfleisch oder ein zum Erbarmen mageres Huhn. Eine dieser oder ähnlich köstlicher Speisen wird immer ein paar Wochen Tag für Tag serviert, bis ich vor Ekel streike oder der Zufall mich ein neues Gericht kennen lehrt, das mir ein paar Tage mundet und dann allmählich wieder zum Strafgericht wird. Eigentlich habe ich erst in Afrika gründlich erkannt, daß Essen nur dann eine menschenwürdige Beschäftigung ist, wenn Auge und Ohr gleichzeitig durch appetitliche Ausstattung von Tisch und Geschirr und durch würzendes Gespräch mitgenießen. Aber essen, nur um Eiweiß, Fett und Kohlehydrate zu verbrennen, von verbeulten Emailletellern, aus defekten Emailletassen von flüchtig gedeckter Platte schweigsam und hastig schlingen, das ist eine so traurige Beschäftigung, daß sie für mich gleich hinter dem Bezahlen alter Rechnungen kommt. – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Während ich im Bombay-Stuhl liege und an dem Trost jedes Einsamen mich erquicke, d. h. eine Zigarette an der anderen anzünde, beunruhigt eine wichtige Frage mein Hirn, eine Frage, die nicht so leicht zu entscheiden ist, so lange ich auch schon nachdenklich den grauen Qualm verfolgt habe, wie er blauer und blauer werdend zwischen den Zweigen verweht. Es handelt sich um die Weiber in meiner Karawane. Ich möchte sie gerne los sein, denn sie sind widerwärtig und rauben mir meine Ruhe; auch bilden sie in feindseligen Gebieten einen hinderlichen Troß. Aber dann wieder scheint es mir grausam, an einem Tage drei Dutzend Ehepaare von Bett und Tisch, oder um mich afrikanischer auszudrücken, von Schüssel und Strohmatte zu trennen. Das kann Verdrossenheit, Widersetzlichkeit, Desertionen erzeugen, was mir greulich wäre. »Nur keine inneren Krisen!« sagt Herr von Bülow. Oder es könnten Gefahren für die Tugend der an unserem Reisewege wohnenden Damen entstehen oder Gewaltakte, trotzdem dergleichen rarissime vorkommt, und dann natürlich Beschwerden oder Rache-Exzesse der beleidigten Gatten. Jedes Für und Wider muß sorgfältig gesammelt und bis zum Ausschlag gewogen werden, denn einmal verkündet, darf ein Beschluß nicht ohne zwingenden Grund umgestoßen werden; es schädigt immer die Autorität des Europäers bei seiner Karawane, wenn er es an Überlegung, Konsequenz, Festigkeit fehlen läßt.

Als ich zum ersten Male ernsthaft die Möglichkeit der Weibervertreibung ins Auge gefaßt hatte, ließ ich die drei Wanjampara (Trägerchefs) und den Ältesten der Askaris zu mir rufen und befragte sie nach ihrer Ansicht. Sie hatten mir mit großer Wärme zugestimmt, aber wie ich sehr rasch teils merkte, teils von meinen Boys erfuhr, aus von den meinen sehr verschiedenen Motiven. Der Askari, ein alter Haschischraucher, konnte kein Weib brauchen, und deswegen gönnte er den anderen auch ein einsames Zelt. Der Chef der Träger von Bagamojo hatte zwar eine Gattin, aber sie machte ihm das Leben sauer, weil sie ihm seinen täglichen Rausch neidete, weswegen er die Keiferin los werden wollte. Der Chef der Manjema war ebenfalls dafür. Er hatte eine Sklavin als Bibi, die sich mit einigen Weibern seiner Leute nicht vertrug, da sich die Freigeborenen von der Sklavin nicht schuhriegeln lassen wollten und ihr bei jedem Streit ihre Abkunft vorwarfen. Da er nun in dem Irrwahn lebte, daß die Trägerchefs ihre Frauen behalten dürften, so stimmte er mir rückhaltlos zu, um die »Seinige« von ihren Widersacherinnen zu befreien. Nur der Führer der Panganileute war etwas zurückhaltend in seiner Ansicht. Er war der Klügste von allen, und ihm schwante mit Recht, daß mit ihren Leuten auch die Wanjampara auf ihre weiß Gott sehr minderwertigen Hälften würden verzichten müssen. – – – – – – – – – – – – –

(Bei solcher Gelegenheit zeigt sich so recht die Unfähigkeit der meisten Neger, selbst wenn sie eine gewisse Verantwortung tragen, über ihre Empfindungen und Wünsche hinweg nach einem von Eigennutz nichtbefangenen Urteil zu streben. Die Frage wurde zunächst an der Küste gelegentlich der Bestimmungen über die Zusammensetzung der kommunalen Verbände berührt und besonders betont, daß nach den Erfahrungen, die dort nicht nur mit Negern, sondern überhaupt mit Farbigen gemacht wurden, starke Zweifel beständen, ob ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Verlockung, amtliche Kenntnisse zu eigenem Vorteil zu verwerten, groß genug wäre. Soweit es die Neger angeht, teile ich diese Zweifel; bei Arabern und Indern aber reichen meine eigenen Erfahrungen nicht aus, um ein ausnahmslos und endgültig verdammendes Urteil begründen zu können.) – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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An dieser Stelle möchte ich als Prophylaxe gegen Mißverständnisse eine generelle Anmerkung einschieben, wenn ich von Negern schlechtweg spreche, so meine ich niemals die ansässigen Barraneger, d. h. die sich redlich mühende Bauernbevölkerung des Hinterlandes – wo ich diese im Auge habe, nenne ich sie auch bei Namen –, sondern ich habe immer nur das Menschenmaterial im Sinn, das in ständiger Bewegung zwischen dem Meere und den großen Seen die Landstraßen frequentiert und in den wenigen Städten von Küste und Hinterland sich zu größeren Mengen anhäuft: jene (im Gegensatz zu den Wanjamwesi und Wassukuma, den Sachsengängern der Kolonie) heimatlose, ewig fluktuierende, durch einige äußerlich haftende Formen des Islam und durch das Suaheli als lingua franca uniformierte Masse von Mischlingen aller Stämme des äquatorialen Afrika, die sich Wasuaheli nennen, auch wenn kein Tropfen Blutes sie dazu berechtigt, oder Wangwana (Freie), obgleich viele es nicht sind. Und auch die Freien sind meist Abkömmlinge von ehemals zur Küste verschleppten Sklaven, die auf irgend eine nicht immer legale Weise ihr Pflichtverhältnis lösen konnten. Jeder anderen Arbeit als dem Lastentragen abhold, bilden sie eine im Grunde sozial minderwertige Gesellschaft von Menschen, die in Ländern mit härterem struggle for life dem Untergang geweiht wären und zu einem afrikanischen Proletariat sich entwickeln würden, sobald ihnen die Lasten abgenommen und auf den eisernen Rücken von Dampfwagen gelegt würden. Der Schaden, den sie der Kolonie zufügen, ist wahrlich nicht gering zu schätzen. Auf allen ihren Wegen beunruhigen sie und verscheuchen zuletzt die eingeborenen Stämme; wohin sie ihren Fuß setzen, da erhebt sich und schleicht davon die Sicherheit vor Gewalt und Willkür. Und doch, wenn die Stunde kommt, wo die letzte Last auf Trägerrücken befördert wird, dann dürfen wir ein Weilchen auch ihrer in Dankbarkeit gedenken; denn ohne ihre Hilfe, ohne ihre Widerstandsfähigkeit, Geduld und Unterordnung läge das tropische Afrika noch heute im tiefsten sagenumwobenen Dunkel. Sie waren es, die, indem sie Forscher und Missionare, Händler und Soldaten begleiteten, erst ihre Arbeit ermöglichten. Auf ihrem Rücken wurden Dampfer und Altäre, wurden Kanonen und Telegraphen ins Innere gebracht; auf ihren Schultern Elfenbein und Gummi und die Schätze der Wissenschaft zum Meer befördert. Und wenn wir auch einst ihre Ablösung durch Dampf und Schienen mit einem Seufzer der Erleichterung begrüßen wollen, so wollen wir wenigstens einen Augenblick freundlich der vielen Tausende von Toten uns erinnern, deren Gebeine, aus der ungeheuren einsamen Fläche zwischen Indischem und Atlantischem Ozean längs der Straßen zerstreut, vergessen und unbeweint, von Sonnenglut, Tropenregen und Steppenwind gebleicht, zerstört, verweht wurden. – – – – – – – – – –

Aber so wohlwollende Gedanken, die erst dann in uns sich rühren, wenn wir am Leibe der eigenen Karawane Ungemach und Sterben schaudernd erleben, beschäftigten mich damals noch nicht, damals, als ich in den kleinen Sorgen des Tages befangen im Bombaystuhl lag und nachdenklich den grauen Tabakqualm verfolgte, wie er blauer und blauer werdend zwischen den Zweigen verwehte. Sondern ich quälte mich mit der Lösung der geschilderten Frauenfrage und Frauenemanzipation, d. h. Emanzipation meiner Karawane von den Frauen. Und ich konnte nicht schlüssig werden, obgleich schon genug Zigarettenstummel an der Erde lagen, um einer Legion neapolitanischer Lazzaroni einen anständigen Tagesverdienst zu gewähren, und trotzdem ich zu hören glaubte, daß die Mücken, die über mir zwischen den Laubmassen ihre Hochzeitsreigen tanzten, sich bitter über die schlechte Luft in den Festräumen beschwerten.

Ich hätte vielleicht noch ein paar Stunden länger über diesem Problem gegrübelt, wenn mich nicht plötzlich das Gefühl von etwas Ungewohntem, Ungewöhnlichem beschlichen hätte, dessen Ursache ich, als ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, sofort in einer jäh eingetretenen Stille des Lagers anstelle des üblichen Lärms von 150 gesunden Jungen erkannte.

Es war die Stille vor dem Sturm, der wütend losbricht, gerade als ich mich erhebe, um nach der Ursache dieses mir nicht fremden Lager-Phänomens zu forschen. Aber was war denn geschehen, daß eine so außergewöhnliche Ekstase herrschte, was ging denn vor, daß mein Erscheinen in dem Höllenspektakel so ganz unbemerkt blieb? Es war ein Toben, als hätte ein Irrenhaus all seine Insassen ausgespien. Und aus all dem Kreischen, Heulen, Wiehern, Brüllen, Bocksgelächter, das sich zu einer Symphonie, würdig, in der Walpurgisnacht die Brockengäste zu empfangen, vereinigte, hörte ich vernehmlich immer wieder nur die wenigen Worte: » Omari tschini und fundi tschini und manamukke dju« – – »Omari unten, der Schneider liegt unten, das Weib liegt oben«. Und so war's und so sahen es, als ich, rechts und links Püffe austeilend, mich durch den dichtesten Haufen gedrängt hatte, meine Augen, und ich merkte, daß mir schwach werden würde, wenn ich dieses Schauspiel lange genießen müßte. Da lag der engbrüstige, gelbsüchtige Schneider Omari im Grase und auf ihm, halb liegend, halb reitend, ein Weib, dessen spitz zugefeilte Manjema-Zähne blutig gefärbt waren. Ihm war das Kansu von oben bis unten aufgeschlitzt, und sie hatte in der Kampfeshitze von ihrem Gewand auch nicht viel übrig behalten und zeigte vieles, was ich immer noch lieber von Nacht und Grauen, als gar nicht bedeckt zu sehen gewünscht hätte. Beide aber wußten es nicht oder beachteten es nicht, denn ihre Aufmerksamkeit hatte sich in ein blaues Tuch verbissen, das ihre Hände krampfhaft umklammerten, hin und her zerrten und nur für blitzartige Momente fallen ließen, die geschickt benutzt wurden, um mit kurzem energischem Ruck in die Haare des Gegners zu fahren oder ihm klatschend eine derbe Ohrfeige zu versetzen. Natürlich sprangen, als mein Erscheinen bemerkt wurde, sofort ein paar Dutzend Leute dazwischen, und damit noch nicht zufrieden, machten sie mit entrüsteten Mienen den beiden die heftigsten Vorwürfe – und auch dies war natürlich. Während das Weib sich bei meinem Kommen schleunigst gedrückt hatte und die Glückwünsche ihrer Freunde in Empfang nahm, hielt ich mit dem Schneider das Schauri ab und ließ die Donna nur fern von mir durch einen Mnjampara vernehmen. Ich selbst würde auf Grund übler Erfahrungen mit solchen Megären nur nach dem System des heiligen Alfons von Liguori verhandeln, nämlich an den beiden Enden einer langen Bank – und sie müßte sehr lang sein – Rücken gegen Rücken sitzend. Die Ursache des Kampfes war sehr simpel gewesen. Seitdem »sie« vor drei Tagen zufällig bei ihm ein schönes Stück blauen Kaniki-Stoff gesehen hatte, träumte sie Tag und Nacht: »Ach, wenn du wärst mein eigen«, und kurz entschlossen trennte sie sich von ihrem bisherigen Manne, einem anderen Träger, dem sie mindestens schon fünf Tage als Gattin angehörte, und ging mit dem beglückten Schneider die Ehe ein. Am Flittertage – man wird den Ausdruck begreifen – war der junge Ehemann natürlich in zärtlichster Gebelaune und überreichte seiner Faida (zu deutsch »Gewinn«) als Morgengabe das blaue Tuch. Aber schon am vierten Tage des mit so vielen Hoffnungen geschlossenen Bundes kam es zum Bruche, und da keiner von beiden der schuldige Teil sein wollte, beanspruchten sie beide den blauen Kaniki für sich. Die Folge war zunächst ein Wortgeplänkel, das sich in bescheidenen Grenzen hielt, bis er den Geist ihrer Mutter beschwor und beschimpfte, eine bei allen Negern sehr beliebte Schmähform. Während der Unvorsichtige damit im Spiel der Zungen einen unbestechbaren Trumpf hingeworfen zu haben wähnte, mußte er mit Schrecken erfahren, daß seine Gattin erst jetzt ihre Truppen ernsthaft zu entfalten begann und aus dem heimischen Idiom und dem, was sie auf den Märkten von Tabora und Udjidji sich angeeignet hatte, wo die edelste Blüte holder Weiblichkeit ihre Bildung empfängt, ungeahnte Reserven heranzog. Der unglückliche Schneider wußte sich dagegen nicht anders zu wehren, als daß er begann, mit seiner Fußsohle die Umgegend der feurigen Dame in unfreundlicher Weise zu massieren. Das hätte er nicht tun sollen, und das sagte ich ihm auch eindringlich, denn er hätte wissen können, daß, wenn erst die Füße sich beteiligen, sie jeden Disput vergiften. Ich aber ließ nach beendetem Schauri noch einmal alles, was ich an angenehmen und üblen Weibergeschichten in Afrika erlebt hatte, Revue passieren und zählte sie wie ein Knopforakel ab; und als das heute erlebte mit tausend Zungen »nein« schrie, rief ich die Wanjampara zu mir und befahl ihnen, sofort der Karawane zu verkünden, daß an dem Tage, an dem wir die Straße von Udjidji nach Tabora kreuzen würden, alle Weiber ausnahmslos eine Wendung zu machen und einen der beiden Orte als Reiseziel zu wählen hätten. Und dies von Rechtswegen.

Hatte ich wirklich recht? Benützen wir diese Gelegenheit, um einige Betrachtungen über die Beziehungen der beiden schwarzen Geschlechter anzustellen; dann wird sich die Antwort auf diese Frage von selbst ergeben.

Am Malagarassi, Mitte Dezember 1897.

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Brief XVI.

Die in ständiger Bewegung auf den Karawanenstraßen fließende und oben näher gekennzeichnete Masse hat sich im Laufe der Zeiten eine Horde von Weibern als Weg- und Lagergenossinnen herangezüchtet, die, trotzdem sie, wenn möglich, aus noch mehr Stämmen gemischt sind als die Männer, doch in Erscheinung und Charakter noch uniformer sind als jene. Ihr Gesamteindruck ist im Gegensatz zu dem von Optimisten »das stärkere« genannten Geschlecht für den Neuling höchst widerwärtig. Aber auch ein alter, abgebrühter und für ekelhafte Einflüsse sonst nicht mehr poröser Afrikaner versteht den Abscheu, den die wenigen europäischen Damen, die Gelegenheit hatten, solche Weiber im Innern der Kolonie kennen zu lernen, vor ihnen empfanden. Und in Wahrheit: Man muß alle Ideale, die man je für Frauenwürde und Keuschheit gehegt, man muß alle ehrfürchtigen Gedanken, die man je mit dem Garten der Ehe verknüpft, man muß alle Empfindungen von selbstlos reiner Zuneigung bis zu der Glut begehrender Leidenschaft, die je in uns wach wurden, wenn das hohe Lied der Liebe in unser Leben seine lockenden Klänge sandte, auslöschen, vergraben und vergessen, wenn man dieser Menschenspezies gerecht werden und die Webart der Bande verstehen will, die sie meist nur zu locker aneinander fesseln. Ich erwähnte oben die äußere und innere Gleichtracht dieser Weiber. Wenn nämlich eine Frau durch Kauf oder auf irgend eine andere Weise von ihrem heimischen Stamm dauernd losgelöst und der Wangwana-Gemeinschaft eingereiht wird, so wandelt sich ihr Äußeres schon nach einer recht kurzen Frist durch die willigen Hände älterer Genossinnen nach dem Modell einer Küstenbibi bis zum Ebenbild um. Das fordert selten ihr eigener Trieb, sondern fast immer der Wille des Herrn oder Gatten, der solchermaßen ein Wertsteigen der eigenen Persönlichkeit in der öffentlichen Meinung zu erwirken trachtet. Das ist zwar nur eines von vielen Mitteln, aber nicht das unwichtigste und geringste. Dreierlei Eingriffe muß sich die Schensi, d. h. die Barbarin, wie die unhöfliche Bezeichnung lautet, gefallen lassen, um sich dem Ideal jener kleinen, schwarzen Lastertierchen anzunähern, die die Märkte und Gassen der Küstenstädte bevölkern und

»Weder Fräulein, weder schön,
Selten ungeleitet nach Hause gehn.«

siehe Bildunterschrift

Feierabend

Dreierlei, nämlich erstens eine neue Körperumhüllung, zweitens eine Verstümmelung der Ohren und drittens und zuletzt eine Veränderung der Frisur. Fellstück, Grasschurz, Rindenstoff, Bananenblattschürze, oder was sonst ihre Blößen bedeckte oder es wenigstens versuchte, weicht der Kanga, einem in Europa fabrikmäßig hergestellten, in allen Farben – außer dem nefasten Grün – und mit den unmöglichsten Ornamenten bedruckten Kattun, der von den Achseln bis zu den Fesseln den Körper fast zweimal umhüllt und neuerdings in der Taille von einem ebenfalls importierten, meist recht geschmacklosen Gürtel festgehalten wird. Diese Einkleidung findet in der Regel noch an demselben Tage statt, an dem das Weib das heimische Herdfeuer verläßt; denn daß ein Suaheli sich etwa in den Markthallen von Tabora mit einer fellbekleideten Gattin zeigen würde, ist so wenig denkbar wie etwa, daß ein Gardeleutnant mit einer Dame der verlängerten Ackerstraße den Subskriptionsball besucht – beides ist eben einfach unmöglich. Mit der Einkleidung ist das wichtigste geschehen; die übrigen Prozeduren folgen erst nach mehr oder minder langer Zeit, wenn die Frau in Sprache und Gewohnheiten sich den neuen Verhältnissen etwas akklimatisiert hat. Aber doch ist meist schon vor Ablauf des ersten Jahres die Operation an den Ohrmuscheln vollendet, die an vier, fünf Stellen durchbohrt und durch immer stärkere Pflöcke allmählich erweitert werden, bis sie Raum für die groschengroßen, bunten Papierscheiben bieten, die je nach Bedarf von Zeit zu Zeit durch neue ersetzt werden können. Damit ist schon viel gewonnen. Findet sich endlich auch die geschickte Hand, die den Neophyten lehrt, wie man den spröden Wollkopf in sieben bis zehn von der Stirn bis zum Nacken parallele Haarreihen teilt, zwischen denen die ölglänzende Haut in hellen Streifen schimmert, und die am Halse als kurze, nach oben gebogene Rattenschwänzchen enden, dann dürfen wir es den Pionieren der Küsten-Kultur gönnen, wenn sie angesichts der der Barbarei geschlagenen Bresche ein triumphierendes »Es ist erreicht« anstimmen. Die Zahl der Rekruten, die alljährlich dem Weiberheer der Wangwana eingereiht werden, ist heute noch sehr groß, trotzdem die Zwangseinstellungen en masse durch Raubzüge unter der Ägide von Arabern vergangenen Zeiten angehören. Aber andererseits bringt jeder Fortschritt in der Erschließung der Kolonie die Möglichkeit zu vermehrter Werbetätigkeit, weil die Eröffnung neuer Gebiete zur Voraussetzung und zur Folge hat, daß zahlreichen Wangwana als Soldaten und Trägern Gelegenheit zur Anknüpfung von vorher brachgelegenen Beziehungen zu den eingeborenen Stämmen gegeben wird. An dem Tage, an dem das Weib ihre Heimat verläßt, um an dem fremden Nomaden zu hangen und Zelt und Lager mit ihm zu teilen, gibt es mehr auf als Eltern und Elternhaus, und nicht nur ein Ziegenfell und ein Grasschurz fällt da von ihr ab und bleibt zurück, sondern auch eine Reihe von Vorzügen, die den Barraweibern eignet: Arbeitsamkeit, Ehrbarkeit, Nüchternheit, Bescheidenheit und last not least die Tugend, die Zarathustra als erste und höchste am Weibe schätzte, wenn er sprach: »Also will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig die andere«. Lassen wir diese passive Tugend einstweilen unbeachtet.

Vielleicht könnte mancher, der die Verhältnisse aus eigenen Anschauungen kennt, meinen, die Einreihung der Weiber unter die Wangwana bedeute doch einen Fortschritt, trotz des Verlustes der übrigen Tugenden, die nicht Früchte einer in gesundem Grunde wurzelnden und aus ihm hochgewachsenen Ethik, sondern Folge der an Rechten armen, an Pflichten reichen, unwürdigen Stellung der Frau bei den ansässigen Stämmen seien. Diese Definition will ich gerne gutheißen, soweit sie erklärt, warum die Peripetie der Lebensführung eine so tief in den Charakter schneidende Wirkung ausübt, der meist noch durch die Jugendlichkeit der Betroffenen Vorschub geleistet wird, aber einen Fortschritt kann ich die Metamorphose nur nennen, wenn ich in weinerlichem Mitgefühl jede Gebundenheit eine menschenunwürdige Erniedrigung, oder in schablonisierender Betrachtung der menschlichen Natur jede Freiheit einem Himmelsgeschenk gleich erachten will. »Mancher warf seinen letzten Wert weg, als er seine Dienstbarkeit wegwarf.« Wohl ist es wahr, ihr Leben hört auf, eine Folge von mit harter Arbeit erfüllten Tagen und Wochen zu sein. Sie behängen den Körper nicht mehr mit Amuletten, um die Zuneigung des Mannes zu erhalten, und nehmen Teil an den Trinkgelagen, für die sie bisher nur den Stoff bereitet hatten, um vielleicht alsdann von den Trunkenen Mißhandlungen zu ernten. Wohl hatten sie es schwer, aber da die von tausend arbeitenden Generationen ererbte Kraft ihren Körper gestählt hatte, so daß er von der Last nicht erdrückt wurde, und da nichts in ihnen gegen ihr Schicksal rebellierte, weil sie außer bei ihren Fürstinnen kein anderes Frauenlos kannten, so waren sie nicht zu beklagen. Jetzt fürchten sie nicht mehr, von Haus und Hof vertrieben zu werden, weil sie Haus und Hof nicht mehr haben; sie zittern nicht mehr, von ihrem Manne verstoßen zu werden, weil sie das Weib aller Männer werden können, die ihnen einen Vorteil bieten; sie sind zwar auch jetzt noch den Schlägen Trunkener ausgesetzt, aber sie sind nicht seltener selbst des süßen Gottes voll und dann nicht minder skandalsüchtig. Wo liegt in alledem ein Fortschritt? Und doch habe ich so manches Mal aus dem Munde eines Europäers, der ein Mädchen, das er als geduckte Barbarin kaum beachtet hatte, als grande dame in Tabora oder anderswo wiederfand, im Brustton der Überzeugung die begeisterten Worte gehört: »Herr Gott, ist das ein zivilisiertes Weib geworden, wer hätte solchen Fortschritt für möglich gehalten!« Falsche Distanz, falsche Gesichtswinkel.

Ich erinnere mich hier eines Gesprächs mit einem Missionar. Eingeborene Katechisten waren auf eine noch heidnische Insel als Herolde geschickt worden, um der Mission den Boden zur Saat vorzubereiten. Als sie nach einiger Zeit über ihre Erfolge Bericht erstatten kamen, klagten sie, daß es ihnen nicht möglich sei, größere Mengen zum Unterricht zusammenzutreiben, weil die Leute von morgens bis abends beschäftigt seien, die Sprödigkeit ihres insularen Bodens zu bekämpfen. Der Superior beruhigte sie mit den Worten, daß übergroßer Fleiß noch niemals ein Hindernis, Faulheit aber meist ein unüberwindliches für die Bekehrung zum Christentum gewesen sei. Was der Mann in frommer Beschränkung auf das ihm zunächst liegende Gebiet sagte, gilt auch in anderem Sinne. Wenn wir je hoffen dürfen, nach Jahrhunderte langen Bemühungen Afrika ein dem unseren ähnliches Frauengeschlecht zu schenken, so werden es die Nachkommen der vielgeplagten Arbeiterinnen und nicht der Dämchen sein, die auf den Märkten von Tabora und Udjidji ihre spärlichen Reize spazieren führen. Das ist um so wahrscheinlicher, als die Fähigkeit, die Art zu erhalten, diesen Nomadenweibern in auffälliger Weise verloren geht. Ist es das unstäte Wanderleben? das Fliegen von Arm zu Arm? der Einfluß des Alkohols? Organerkrankungen? Frivole Willkür, die die Beschwerden der Wanderschaft nicht noch vermehren will? Kindermord? Wahrscheinlich wirkt all dies und noch vieles andere zusammen. Tatsache ist, daß die Ehen dieser Leute, im Gegensatz zu denen der sässigen Stämme, dem Klapperstorch höchst unsympathisch zu sein scheinen. – –

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Es liegt nahe, sich zu fragen, ob überhaupt Nomaden fähig sind, wenn nicht besonders günstige Umstände es erleichtern, ihre Art dauernd zu erhalten. Oft genug drängte diese Frage sich mir auf und ebenso oft regten sich im Zusammenhang damit Zweifel, ob die so weit verbreitete und geläufige Anschauung von der Entwicklung des Urmenschen vom schweifenden Jäger über den Hirten zum Ackerbauer, die Wahrscheinlichkeit verdient, die uns in der Schule gepriesen wurde. Warum soll der Mensch, sobald er in der Entwicklung der Erde auftritt, nicht gleich festen Wohnsitz gehabt haben, da doch zahllose Tiere, Vögel wie Sänger, an einer engbegrenzten Heimat festhalten? Ich erinnere mich einer schmalen Urwaldparzelle, in der drei Affenarten (zwei Meerkatzenarten und Schimpansen) hausten. So oft ich die Gegend – und zum Teil in längeren Intervallen bis zu einem Jahr – besuchte, immer fand ich die beiden Meerkatzen, jede für sich, in denselben Baumgruppen, immer tönte der Schimpansenschrei aus derselben engbegrenzten Schlucht. Und Analoges kann man hundertfach an Vögeln, Reptilien und selbst Insekten beobachten. Und könnte die Kette nicht so gewesen sein: Feste Wohnsitze und Ackerbau – Züchtung vom Haustieren – Anwachsen zu großen Herden – Weidewechsel – Verlust der Herde (Seuche, Krieg) – entweder Schließung des Ringes durch Rückkehr zu festem Wohnsitz und Ackerbau oder Wandlung zum Jäger? Diese letzte Entwicklung konnte man in Afrika noch im letzten Jahrzehnt an den Masai beobachten, die nach Verlust ihrer Rinder teils ansässig und Ackerbauer, teils nomadisierende Wanderobbojäger wurden, die man lange irrtümlich für einen besonderen Stamm hielt? Vergleiche hierzu das merkwürdige Buch des allzufrüh gestorbenen Hauptmanns Mercker: Die Masai. (Verlag Dietrich Reimer, Berlin 1904.)

Es ist hier nicht der richtige Platz, auf diese Dinge näher einzugehen, ich habe sie auch nur angedeutet, um zu zeigen, ein wie tiefgreifendes Mißtrauen gegen alles Nomadentum und seine Lebensfähigkeit sich einem Betrachter der hiesigen Verhältnisse aufdrängen muß, wobei ich gerne zugebe, daß dieses künstlich gezüchtete wirtschaftliche Nomadentum vielleicht zu falschen Schlüssen verleitet, im übrigen aber mögen sich gelehrtere Leute als ich den Kopf darüber zerbrechen, was unsere Ahnen getrieben haben, als sie – nach der grotesken Vorstellung moderner Götzenanbeter – ihrer Schwänze überdrüssig wurden und den großen Sprung ins Menschentum machten. – – – – – – – – – – – – – – –

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Liebe, sagt man schön und richtig,
Ist ein Ding was äußerst wichtig;
Nicht nur zieht man in Betracht,
Was man selber damit macht,
Nein, man ist in solchen Sachen
Auch gespannt, was andre machen.

Laßt uns also zusehen, was der Schwarze aus diesem »äußerst wichtigen Dinge« macht. Der mohammedanisch beeinflußte Neger kennt wie wir den Begriff der wilden und der legitimen Ehe. Es gibt da ein Wort, das heißt: » Bibi ja kitabu«, »das gebuchte Weib«. Vermutlich bezieht sich der Ausdruck auf den Koran, der bei der Eheschließung eine Rolle spielt und nicht, wie andere meinen, auf die Soldbücher der Askari, in die der Name der Frau und berechtigten Erbin eingetragen wird. Gleichviel woher das Wort stammt. Heute bezeichnet der Neger damit ein Weib, das von guter, d. h. freier Herkunft, aus dem Hause ihrer Angehörigen unter den traditionellen Bedingungen und mit religiösem Zeremoniell geehelicht wurde, wobei der Wunsch bei beiden Teilen bestand, gemeinsam ein stabiles Hauswesen zu begründen, Kinder zu zeugen und – inschallah – sich nur durch den Tod trennen zu lassen. Gewiß ein höchst ehrenhaftes Ideal, nur kommen leider die wenigsten dazu, es in die Tat umzusetzen. Wozu auch? Es lebt sich ja so auch nicht unbequem. Sobald man einigermaßen eine Last schleppen kann, schließt man sich zunächst als Boy einem Träger oder Soldaten an, ergreift ein paar Jahre später den Beruf seines Herrn und lernt, statt sich auf seinem Gütchen zu plagen und sich über Heuschrecken und Mißwachs zu ärgern, die Welt kennen, lebt, so lange man in Stellung ist, in den blauen Tag hinein und schmarotzt, wenn man außer Dienst ist, bei irgend einem von Allah eigens dazu geschaffenen Ndugu (Verwandten). Wo aber hätte der Neger keinen Ndugu? Das ist staunenswert, ist verblüffend. In Gegenden, die sein Fuß nie vorher betrat, findet er im Handumdrehen einen oder zwei oder soviel du verlangst. Du fährst mit deinem Boy im Luftballon zum Mars, dein Vehikel landet und du selbst bist lange starr vor Staunen über die doch jedenfalls sehr seltsamen Wesen, die dich dort begrüßen und vielleicht wie die Mondmenschen populärer Naturbeschreibungen, nur aus Armen und Beinen bestehen; aber ich wette, daß, ehe drei Minuten verstrichen sind, dein Page bereits um ruksa (Urlaub) bittet und freudestrahlend davonstürzt, um eines dieser Gliederhäufchen zu umarmen, weil es sein Ndugu ist.

Also für die Befriedigung der leiblichen Genüsse ist in seinem Leben hinreichend gesorgt, und findet er im übrigen sein Dasein nicht ausgefüllt, so stellt ein Weib zur rechten Zeit sich ein. Auf eine »Buchgattin« darf er freilich nicht leicht hoffen, denn die besseren Bürgermädchen von der Küste haben nur selten Lust, sich den Mühsalen des Wanderlebens auszusetzen, aber er findet sich darein, verzichtet auf das »Buch« und nimmt sich eine Gattin, eine Bibi, wie das bedeutungsvolle Wort lautet, an dessen Klangschönheit sich mein Ohr immer wieder erfreut. Da sein Geschmack nicht sehr wählerisch ist, so stellen sich der Erfüllung seiner Wünsche Schwierigkeiten nicht hindernd entgegen. Wenn die zu kopulierende nur nicht zu auffällig die Anzeichen von greisenhaftem Marasmus oder ansteckender Krankheit trägt – Blatternarben gelten nicht als Schönheitsfehler – so darf sie nie verzweifeln, Gefallen zu erwecken. Die Liebesneigungen der Neger sind nicht wie die unseren individuell differenziert, ja selbst auf einen Typus nur sehr unbestimmt und unsicher und meist nur theoretisch gerichtet; in der Praxis ist es überwiegend eine ganz primitive Heterosexualität; mit anderen Worten: es zieht ihn zu seiner Faida oder Fatme nicht, weil sie die »Faida« oder die »Fatme« ist, auch nicht, weil sie etwa stattliche Figuren mit nicht zu dunkler Hautfarbe und schmaler Nase sind oder wie sonst das Typen-Ideal eines schwarzen Jünglings sein kann, sondern einfach, weil Faida oder Fatme dem weiblichen Geschlecht angehören. In manchen Ländern sind eben die Katzen auch bei Tage alle grau. Das ist sehr angenehm für die Katzen, aber auch für den Kater ist es sehr bequem und erspart ihm viele Kämpfe und Konflikte, die dem komplizierter organisierten Europäer das Leben oft verbittern.

Primitiv wie die Liebe des Negers, ist auch der Ausdruck seiner Gefühle. Vergebens wird einer hier das freundliche Bild wieder zu finden hoffen, das namentlich in der Provinz den Städten abends einen so anheimelnden Anblick zu gewähren pflegt; umsonst wird sein nach Heimatseindrücken dürstendes Auge nach schwarzen Pärchen ausschauen, die in liebevoller Umschlingung auf einsamen Pfaden die Menschen fliehend lustwandeln. Solches Bedürfnis zur Absonderung ist dem Neger fremd. Für das in Europa so alltägliche Bild Verliebter, die sich im Schutze der Haustüren oder im Schatten der Bäume zärtlich striegeln, findet man hier kein Seitenstück, das auch nur entfernt daran erinnert. Wissenschaftlich ausgedrückt lautet das sexuelle Grundgesetz der Neger und ähnlich empfindender Völker: Der Kontrektationstrieb spielt im Verhältnis zum Detumescenztrieb eine ganz untergeordnete Rolle. Und was das Schrecklichste ist, nie würde ein schwarzes Gretchen ihr sehnsüchtiges Stammeln nach dem Geliebten mit den Worten enden: »Und ach, sein Kuß«, denn die Fäuste Afrikas küssen ihre Gretchen nie und nimmer. Diese Kunst hat ihnen der Himmel versagt. Es mag Herren von kolonialer Vergangenheit geben, die es anders und besser zu wissen behaupten. Diesen sage ich: »Schweigt, denn ihr blamiert euch«. Made in Germany. Es gibt auch Import-Objekte, die an den Zollhäusern von Tanga und Daressalam nicht verzollt werden, so wenig wie die leider immer noch nicht häufig genug importierten Gedanken. Nein, der Neger kann weder erotisch küssen, noch hat er einen Namen dafür. Wohl kann man bisweilen eine Mutter, die mit ihrem Säugling spielt, beobachten, wie sie liebkosend mit halbgeöffneten Lippen über das von Milch oder Schliewer schmutzige Mäulchen des jauchzenden Kindes hin- und herfährt oder sogar die Wange an sich drückt, aber das geschieht unbewußt und spielerisch. Küßt man, um dem Ding auf den Grund zu gehen, seine eigene Hand und fragt nach dem Namen dessen, was man getan hat, so erhält man bisweilen die Antwort »Lecken«, fast immer aber »Saugen«. (Jüngst las ich in einer französischen Missionszeitschrift die Beschreibung eines bischöflichen Besuches. Da war den Kindern, weil sie solcher Ehre noch nicht teilhaftig geworden waren, eingeprägt und wahrscheinlich auch andeutungsweise demonstriert worden, daß sie bei der Begrüßung den Ring von » Sa Grandeur« zu küssen hätten. Aber was taten die ebenso folgsamen wie unwissenden Kinder? Viele leckten den Ring und viele wollten ihn ganz in den Mund schieben. Das ist ein ebenso natürliches Mißverständnis wie das eines alten Negers am Tanganika, der in seiner Heidenzeit oft gesehen hatte, wie sich Patres durch Umarmung begrüßten und am Tage seiner Taufe verlangte, der Pater, der ihn und seine Frau unterrichtet hatte, möchte ihnen beiden doch auch in die Ohren gucken, damit er sich überzeuge, daß sie seine aufrichtigen Freunde seien.)

Ist es eigentlich wunderbar, daß die Neger den Kuß nicht kennen oder, präziser ausgedrückt: den erotischen Kuß nicht kennen? Und stehen sie deshalb unter den Völkern beider Hemisphären isoliert da? Gewiß nicht! Wer sich mit diesem sicherlich interessanten Problem nicht beschäftigt hat und nur aus eigener Beobachtung weiß, wie triebartig in einem Stadium leidenschaftlicher Erregung jener Drang den Menschen beherrscht, den wird allerdings die Kunde in Erstaunen setzen, daß dem Neger dies Kapitel der ars amandi bis heute ein siebenfach versiegeltes Buch geblieben ist. Aber tatsächlich ist es nur ein kleiner Teil der Menschheit, der dieses Siegel gebrochen hat. Die Chinesen z. B., die eine alte und reiche Liebeslyrik haben, besingen niemals den Kuß. Ja, selbst den Japanern, die sich doch in so vielen Beziehungen den Abendländern angeähnelt haben, soll er bis heute fremd geblieben sein. Früher glaubte ich – habe diese Meinung aber später aufgegeben – daß bei all solchen Völkern der Kuß zwar bekannt, aber publice verpönt sei, weil er für ihre Empfindungen bereits ein allzu sinnlicher Akt sei, der deshalb die Öffentlichkeit zu scheuen habe: Dem Vortrage eines Japaners in Berlin entnehme ich, daß diese meine ursprüngliche Ansicht für seine Landsleute zutreffend war. Mich bestärkte darin eine kleine Episode, die in einer Jagdzeitung als Kuriosum erwähnt wurde, und die mir unverdächtig schien, weil der von wissenschaftlichen Ambitionen freie Erzähler sie ganz nebensächlich seinem Jagdbericht eingeflochten hatte. Dieser Globetrotter schäkerte in einem japanischen Teehaus mit einem Paar niedlicher Geishas; als er aber in angeheiterter Stimmung aggressiv wurde, und einer der kleinen Damen einen Kuß aufzwang, seien die spärlich anwesenden Gäste teils unbändig lachend, teils tief errötend davon gelaufen, gleichsam als hätte der Gast in lächerlicher und zugleich schamloser Weise eine Blöße gezeigt. In dieser Weise würden die Neger nicht reagieren, wenn sie zufällig Zeugen einer ähnlichen Szene wären. Sie hätten nur den Eindruck einer fremdartigen » dasturi« (Tradition), wie ihr Lieblingswort lautet, deren Sinn sie verstehen würden, aber ohne Neigung sie nachzuahmen.

Ich habe auch zu erforschen versucht, und wie ich gleich bemerken möchte: resultatlos, ob man bei den Negern irgend eine andere Projektion ihrer Liebesempfindungen findet, die auf die Genesis des Küssens irgendwie Licht werfen könnte. Über den Ursprung des Kusses ist aber schon mancherlei Unsinn gefabelt worden. Einige Zeit bevor ich dies hier niederschrieb, ging durch einen großen Teil der Tagespresse eine Notiz über dies Problem von Lombroso, die aber so kindisch war, daß der Turiner sie gewiß nicht verbrochen hat. Lombroso hat ja oft genug mit so gewagten Kombinationen gespielt, daß er sich nicht wundern darf, wenn sein Name bisweilen von irgend einem obskuren kleinen Zeilenschinder gemißbraucht wird, der seiner eigenen geistvollen Entdeckung durch den Namen Lombroso Gewicht und Zugang zu den Spalten einer Zeitung verschaffen möchte. Darum gehört in den stoffärmeren Sommermonaten seit Jahren irgend ein von Lombroso zuerst erforschter Atavismus zu den beliebtesten Gästen der »Vermischten Nachrichten« aller Generalanzeiger, den man immer wieder gerne sieht, ebenso wie die schreckliche Feuersbrunst in Temesvar, die Engelmacherin von Warschau, die auch bisweilen nach Stockholm übersiedelt, den lebendig Begrabenen im Szegediner Komitat, den Zyklon im Staate Nebraska und den Mord aus Eifersucht in der Osteria an der Porta San Giovanni in Rom, der gewöhnlich am ersten Freitag jedes Juli 7½ Uhr abends verübt zu werden pflegt.

Nach jener Notiz geht das Küssen auf das Tränken der jungen Vögel durch die Alten zurück und sei den Europäern vermittelt durch die – Feuerländer! Welch ein Nonsens. Die Feuerländer nämlich besäßen keine Trinkgefäße (??) und wenn sie auf Reisen an einen Bach kämen, so würden die kleinen Kinder verdursten müssen, wenn nicht die Mütter Wasser in den Mund nähmen und es ihnen einflößten. Das ist wirklich schon ein haarsträubender Unsinn, den man nur mit dem Mauschelwort »ausgerechnet die Feuerländer« richtig charakterisieren kann. Und in welche Zeit denkt sich der Verfasser diese Vermittelung? Meines Wissens ist die Landbrücke zwischen Europa und Amerika via Island schon ziemlich lange eingestürzt: Oder soll die Entdeckung der neuen Welt uns außer der Kartoffel und vielen anderen schönen Dingen auch den Kuß gebracht haben? Ich erinnere mich aber, schon als Primaner gelesen zu haben, daß die Römer die »Mäulchen« ( Oscula) kannten und eifrig übten. Fordert doch Catull in seinem reizenden – Chanson würde man es heute nennen – » Vivamus mea Lesbia atque amemus«, »Lasset uns leben, meine Lesbia, und uns lieben«, die Geliebte auf, soviel Küsse mit ihm zu tauschen, tausend und immer wieder tausend, bis die neidischen, klatschsüchtigen Greise verzweifeln müssen, sie zu zählen. Die Feuerländer mögen sehr viel andere Verdienste um uns haben, den Urkuß aber haben sie sicherlich nicht erfunden. Eine 4000 Jahre alte Statue im alten Museum in Berlin zeigt, daß die Egypter zum mindesten den nichterotischen Kuß kannten.

Und die atavistischen Beziehungen zu dem Tränken der jungen Vögel? Ich halte nicht viel von solchen spekulativen Spielereien, mit denen sich alles und nichts beweisen läßt; wenn aber das Küssen durchaus ein gar lieblicher Atavismus sein soll, so scheint mir die von den Vögeln abgeleitete Erklärung doch unnötig weit hergeholt. Jeder Tierbeobachter weiß, daß Säuger wie Vögel einen Zärtlichkeitsausdruck besitzen, der mehr oder minder dem Küssen der Menschen analog erscheint, trotzdem er bei ihnen meist eine Reaktion auf Geruchssensationen ist. Wer daraus weitere Schlüsse ziehen will – schön. Andere werden vielleicht meinen, daß die Neger recht haben, wenn sie küssen und saugen identifizieren, weil tatsächlich die Bewegungen der Mundmuskulatur die gleichen sind, und daß das Küssen nur ein körperlicher Erinnerungsreflex an die Zeit sei, wo jede unangenehme Empfindung durch die Befriedigung des Saugtriebes in eine angenehme umgewandelt wurde. Denn das Bedürfnis nach dieser Muskelbewegung tritt beim Säugling noch häufiger auf als der Hunger, sonst würde er sich nicht durch einen leeren Schnuller sofort beruhigen lassen, was nicht möglich wäre, wenn der Magen aus ihm schrie; denn der läßt sich nicht betrügen, wie naive Mütter glauben. Und die Negerkinder, die keinen Schnuller haben, kauen förmlich stundenlang an dem, was wir höflich Mutterbrust nennen wollen, trotzdem wir alle Phantasie zu Hilfe nehmen müssen, um die Ähnlichkeit mit heimatlichen Spreewalderinnerungen herauszufinden. Und auch wer an diese Genesis glauben will, hat meinen Segen. Ich bin in solchen Fragen nicht intolerant. Die Hauptsache ist und bleibt, daß überhaupt geküßt wird; ob es sich aus diesem oder jenem Urkuß zu so erfreulicher Höhe entwickelt hat, ist graue und mehr als graue Theorie, und darin werden, hoffe ich, alle Leser mit mir übereinstimmen – und vielleicht selbst Lombroso.

Man könnte rein deduktiv denken, ein Volk, das primitiv nicht nur in der Art, sondern auch in der Projektion seiner Geschlechtsempfindungen ist, muß in sittlicher Beziehung – sittlich in rein juristischem, strafrechtlichem Sinne, – festeren Boden unter sich fühlen, als ein höher geartetes. Und doch sind die Chinesen – und nicht erst, seitdem sie uns Anlaß zu gerechtem Groll gegeben haben – wegen ihrer Lasterhaftigkeit verschrieen. Vielleicht mit Unrecht. Denn die Voreingenommenheit, Unkenntnis und Ungerechtigkeit der Völker gegeneinander, ist unerschöpflich groß, wenn ein Deutscher längere Zeit in fremden europäischen Journalen die Anschauungen über deutsche Verhältnisse und den deutschen Charakter gelesen und täglich Gelegenheit hatte, sich verblüfft an die Stirn zu fassen ob der horrenden Unkenntnis, dann dämmert es erst in ihm, welcher Abgrund von Unwissenheit uns von Völkern trennt, die uns in ihrer ganzen Natur nach fremdartiger und unverständlicher sein müssen.

Welch unerhört weit vorbei greifende Urteile über die Neger und Afrika habe ich selbst mir aufladen lassen und von Hause mitgebracht! Und als ich daran ging, die Wirklichkeit mit den vorgefaßten Meinungen zu vergleichen, da zeigte sich meist sehr bald, daß sie inkongruent und oft genug nicht einmal ähnlich waren. Um zu solchem Bekenntnisse zu kommen, muß man freilich ehrliche und mehr noch bewußt anti-autosuggestive Begriffsgeometrie treiben und nicht naiv an den Dingen so lange zerren, bis sie sich mit dem Vorurteile decken. Das ist leider allzu häufig und ich fürchte, ich werde noch manchen guten afrikanischen Kameraden erzürnen müssen, wenn ich diese der Wahrheit gefährliche Methode zu bekämpfen als Pflicht erachte.

Die Hypothese, die ich im Einleitungssatz des vorletzten Absatzes aufstellte, hat für den Neger tatsächlich Berechtigung. Seinem primitiven Liebesleben stehen die Himmel der Leidenschaft nicht offen, aber auch ihre Höllen sind ihm verschlossen. Jeder Beichtvater, mit dem ich über diese Dinge sprach, und erst jüngst der Bischof von Bukumbi, bestätigte mir das auf Grund seiner reichen Erfahrungen. Knabenhafte Exzesse und Perversitäten auf hetero- oder homosexuellem Gebiet sind verschwindend selten und bei den Stämmen des Inneren kaum vom Hörensagen bekannt. Bei der durch Jahrhunderte in einer Schule fremder Einflüsse erzogenen Bevölkerung der Küste und Sansibars mögen diese Verhältnisse anders liegen. Was im Innern von Sonderbarkeiten im Sexualverkehr der Geschlechter bei diesem und jenem Stamm erzählt wird, stellt sich bei näherer Besichtigung meist als schmutziges Gewäsch europäischen Ursprungs heraus und als Erfindung psychischer Exhibitionisten. Stets? Das wage ich heute nicht mehr aufrecht zu erhalten, nachdem mir zuverlässige Berichterstatter das Gegenteil versichert haben. Doch handelt es sich in den mir bekannt gewordenen Fällen nicht um libidinöse Exzesse Einzelner, sondern um traditionelle Sonderbarkeiten, die zum Teil in falsch verstandener Hygiene wurzeln. Man wird danach begreifen, welchen Eindruck es hier machen mußte, wenn auf einem Juristentage ein Schwärmer für die Deportation ausrufen konnte: »Auch der unsittlichste Verbrecher ist immer noch sittlicher als der Eingeborene.« Das Umgekehrte ist zum mindesten ebenso richtig. Was uns vielleicht auf den ersten Blick bei den Schwarzen unsittlich erscheint, wie die Polygamie oder bei einzelnen ansässigen Stämmen das Connubium, gewinnt sofort ein anderes Aussehen, wenn wir es durch eine andere, als die von den heimischen Moralbegriffen entlehnte Brille betrachten. Dann wird es sich oft genug erweisen, daß gerade das, was wir unsittlich zu nennen uns berechtigt fühlen, für diese Völker sittlich ist.

Aber wie den richtigen Maßstab finden? Wer erkannt hat, daß der mächtigste Trieb in der Natur auf die Erhaltung der Art gerichtet ist, so mächtig, daß es Wesen gibt, die in ihrem ephemeren Dasein weder Speise noch Trank kennen lernen, weil es mit Hochzeitsreigen erfüllt ist, der wird zu keiner anderen Definition kommen, als: »Sittlich ist, was der Erhaltung der Art dient; unsittlich, was ihr widerspricht.« Mir will scheinen, daß dies der einzige Wertmesser ist, mit dem man alle Lebensäußerungen aller Völker auf ihren ethischen Gehalt prüfen kann, ohne Gefahr zu laufen, ihnen nicht gerecht zu werden. Solche Erkenntnis ist wie ein Rettungsboot, mit dem man alle Klippen umfährt, die sich abschreckend einem Verständnis des ethischen Problems entgegenstellen, wie z. B. die ungleiche Wertung gleicher oder ähnlicher Erscheinungen in verschiedenen Zeiten und Ländern. Es ist hier nicht der Raum, um auf diese Fragen näher einzugehen, ich mußte mich mit Andeutungen begnügen, die jeder selber weiter spinnen kann, aber ganz unterdrücken wollte ich meine Anschauungen schon deswegen nicht, damit ich mich leichter und kürzer verständlich machen kann, falls ich später auf einige soziale Gebilde, die im Leben gewisser afrikanischer Stämme eine Rolle spielen, näher eingehen sollte. Noch eines ist zu berücksichtigen, was namentlich für die ansässigen Stämme in Betracht kommt, wenn tatsächlich der Neger in irgend einer Beziehung nach unseren Begriffen unsittlich ist, so ist er es in aller Unschuld wie die Tiere und nicht, weil ihm das Leben ohne Laster langweilig dünkt, will ich damit behaupten, daß er zweifellos dem besseren Vorbilde nacheifern würde, sobald er es kennen lernt? Zweifellos? Gewiß nicht! Mich besuchen bisweilen an dem Ort, an dem ich dies schreibe, Angehörige eines noch dem Kannibalismus frönenden Stammes, dessen Land ich in einer 1½stündigen Bootsfahrt erreichen kann, und ich höre jedesmal, wie sie von den hiesigen Eingeborenen als » abaryabantu«, d. h. Menschenfresser verspottet werden. Auch früher schon, als ich ihr Gebiet passierte, war ich Zeuge der nachbarlichen Verachtung. Das ficht sie jedoch nicht an, und sie huldigen auch weiterhin, so oft sich die Gelegenheit dazu bietet, ihrem scheußlichen Gebrauch. Aber andererseits erleben wir viel häufiger, daß der Neger böse Sitten, durch gute Beispiele angeregt, sänftigt, und schon deshalb müssen wir, solange ihnen diese Gelegenheit nicht geboten wurde, milde Richter sein. – – – – – – – – – – – – – – –

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Ich kehre nach dieser langen Abschweifung wieder zu dem Ausgangspunkt dieser Erörterungen zurück, den Ehen der Karawanenträger, wenn ich aus dem zuletzt Gesagten die Nutzanwendung auf die tausende von Ehen ziehe, die die Wangwana mit ihren Weibern eingehen, so hat man wohl das Recht, sie unsittlich zu nennen – und so hatte ich sie instinktiv empfunden, bevor ich über sie nachgedacht hatte. Denn diese Leute gehen bewußt ein Verhältnis ein, dessen minderwertige ethische Grundlage sie selbst anerkennen. Daß ihre Ehen äußerst wenig tauglich sind, ihre Rasse fortzupflanzen, brauche ich nicht zu wiederholen. Nun kann man freilich einwenden: Diese Leute, die ein Leben ständig auf dem Marsche führen, folgen doch nur einem starken, natürlichen Triebe. Und so, wie sich ihre Ehen darstellen, sind sie nichts als eine folgerichtige Entwickelung aus den Bedingungen des Karawanenlebens. Und warum wählst du denn für diese Art Verhältnisse den hochklingenden Namen »Ehe«? Nenne diese Weiber doch einfach wandernde Prostituierte, denke dann an die heimischen Verhältnisse und überlege dir, ob du auch dann noch die Schale deines Zornes über diese Häupter ausgießen wirst.

Dieser Einwand ist allerdings berechtigt, und ich gestehe, daß ich jedesmal, wenn ich das Wort »unsittlich« ausspreche, selbst einen leisen Horror empfinde, weil ich, besonders durch meine frühere Tätigkeit als Irrenarzt die abgrundtiefe Verlogenheit kenne, die in unserem Sexualleben herrscht, und weil ich die grausame Borniertheit, die Heuchelei und die Rachsucht des Unvermögens kenne, die sich hinter der ethischen Maske vieler Sittlichkeitsfanatiker bergen. Was ich aber den geschilderten Ehen nicht verzeihen kann, das ist der Mangel an Anmut und die unverhüllte Schaustellung der häßlichsten, menschlichsten Eigenschaften: der Habgier, der Treulosigkeit dem Freunde gegenüber, der Lüge und vieler anderer. Hätte ich später nicht die Ehen der ansässigen Stämme kennen gelernt, so wäre ich mit einem großen Widerwillen gegen die schwarzen Frauen aus Afrika geschieden.

Da die Ehen der Träger mit ihren Weibern selten von einem seelischen Bande gehalten werden, so ist es nicht zu verwundern, daß sie nach Belieben aufgelöst und neu geknüpft werden. Am schlimmsten ist es, wenn in einer Gemeinschaft die Zahl der Männer, wie in jeder Karawane, überwiegt, dann gibt es täglich wahre und falsche Bezichtigungen, Schimpfszenen, Prügeleien, Ehebruch usw., und der Europäer, besonders wenn er ein Neuling in Afrika ist, der alles ernst nimmt, hat täglich eine Stunde die widerwärtigsten Anklagen und Widerklagen anzuhören und zu schlichten. Oft ist das Weib Kläger, weil bei jeder Trennung, die bei meinen Leuten durchschnittlich alle acht Tage erfolgte, Streit um den Fetzen Stoff entstand, mit dem der Mann sie angelockt hatte.

Darin sind die Neger fürchterlich gemein. Es kommt nämlich (namentlich auf Regierungs-Stationen) auch vor, daß die Leute längere Zeit zusammenleben. Wenn das Weib auch ein Jahr und darüber die Hütte ihres Gatten geteilt hat, so beraubt er sie doch aller Geschenke, wenn sie freiwillig von ihm geht oder ihm angeblich gerechten Grund, sie fortzuschicken gegeben hat. Also selbst in diesem locker gefügten Verhältnis behält die Frau einen Rest von Sklavenansehen. Natürlich verhindert der Europäer mit Fug solche Dinge, so oft er sie erfährt. Dadurch erhalten aber wieder die Weiber Oberwasser, weil der Neger in seiner furchtsamen Abneigung, sich vor dem Msungu zu verantworten, auf sein angebliches Recht auch Weibern gegenüber, die alle paar Tage oder Wochen von Arm zu Arm fliegen, verzichtet, wenn er besorgt sein muß, daß durch den entstehenden Streit die Aufmerksamkeit des Europäers erregt würde. Ich habe in den häufigen Schauris, in denen die Entschädigungsfrage eine Rolle spielte, den schuldigen Teil, wenn es der Mann war, zu gehöriger Buße bewogen, wenn es aber die Frau war, durch Zurückweisung ihrer Ansprüche bestraft, und habe auf diese Weise auch einige pädagogische Erfolge erzielt, übrigens beobachtete ich, daß das Gesetz der sexuellen Anziehung, das auf erzieherischen: Gebiete erfahrungsgemäß bedeutungsvoll ist, hier völlig versagte. Und nicht nur bei mir, sondern alle Expeditionsführer, mit denen ich darüber sprach, bestätigten mir, daß es ihnen viel leichter fiel, unter den Männern die Disziplin aufrecht zu erhalten, als unter den Frauen.

Es gibt fürchterliche Megären unter ihnen. Ich habe auf meinen Reisen öfter beobachtet, wie solche Weiber ihre schwerkranken Männer malträtierten, oder auch gesunde, aber besonders charakterschwache Naturen, die sich aus Bequemlichkeit oder Sinnlichkeit ihnen vollkommen unterwarfen – ich suche nicht viel Menschenwürde in solchen Leuten, aber trotzdem empörte sich alles in mir gegen ein solches Verhältnis.

Sonderbar sind die Ausbrüche von Eifersucht, die aber selten sind. Merkwürdig war mir auch, wiederholt zu konstatieren, daß dieselben Leute, die auf das anwesende Weib eifersüchtig waren, sich über eine eventuelle Untreue der abwesenden den Kopf nicht im mindesten zerbrachen. Die Leute, die mit mir in Bergfrieden wohnen, schickten von Zeit zu Zeit ihre Weiber nach dem acht bis zehn Tage entfernten Usumbura, um Einkäufe zu machen. Das geschah einige Male wenige Tage nach einem vorausgegangenen Eifersuchtsausbruch. Fragte ich sie dann, ob sie glaubten, daß ihre Frauen ihnen in der Ferne die Treue bewahren würden, dann bezweifelten sie es genau so wie ich, und wenn ich dann weiterforschte, was sie dazu sagten, so erhielt ich die Antwort: » haithuru«, was zu deutsch heißt: »Das ist mir Wurst«. Bei Berufsjägern ist es allerdings anders; bei ihnen hat die Treue der fernen Gattin große Bedeutung für die Erfolge ihrer Jagd.

Für die geschilderte Sorte von Karawanenehen ist folgender Vorgang nach verschiedenen Richtungen hin charakteristisch. Bei einem meiner Leute entluden sich Eifersucht und Karabiner gleichzeitig. Er hatte ihn wohlweislich gegen seinen Arm gerichtet, denn es lag ihm ja nichts daran, zu sterben, sondern er wollte nur demonstrieren. Aber während er auf eine harmlose Fleischwunde gerechnet hatte, war das Geschoß so boshaft, ihm den Knochen total zu zerschmettern, so daß er heute zu keiner anstrengenden Arbeit fähig ist. Als sein Weib ihn zu Tode erschöpft und im wilden Schmerze sich krümmend am Boden ihrer Hütte fand und seinen Zustand erkannte, was glaubst du wohl, o Leser, welche Wirkung dies auf ihr Gemüt hatte? Sie weinte nicht, sie jammerte nicht, auch raufte sie nicht ihre Haare, sondern sie schnürte noch in derselben Minute ihr Bündel und siedelte in eines anderen Mannes Hütte über, weil sie weder den Drang noch das Talent zur Krankenpflegerin in sich spürte, wenn ich aber den Invaliden heute frage, wie er so gottverlassen dumm sein konnte, sich um dieses Weibes willen zum Krüppel zu schießen, so darf ich sicher sein, die Antwort zu erhalten: » amri ja mungu« – es war Allahs Wille.

Insel Kwidjwi, August 1901.

Brief XVII.

Ich hatte gehofft, nach acht Tagen mit der Konstruierung meiner Ugalla-Sindi-Reise fertig zu fein, aber als diese Frist verstrichen war, sah ich, daß noch viel daran fehlte, um aus meinen Zeichnungen und Schriften ein Paket zu machen und es in die Heimat abzuschieben. Aber ich hätte auch ohne dies nicht fortkommen können.

Es war nämlich unter meinen Leuten eine Epidemie von schweren Fiebern und Blattern ausgebrochen. Der Neger ist gegen Malaria so wenig immun, wie der Europäer; auch der Küstenneger nicht, selbst dann nicht, wenn er die Küste nicht verläßt. Unter den Trägern, die ich von dort mitnahm, waren wenige, die in den dreizehn Monaten unseres gemeinsamen Reisens ganz vom Fieber verschont geblieben wären, und viele, die öfter daran litten, als ich; alle aber versicherten, daß sie an der Küste jedes Jahr ein-, zwei-, dreimal – dies war verschieden – ihr Fieber hätten. (Und der Neger hat eine durchaus zuverlässige Empfindung auch für geringe Temperaturerhöhungen.) Bei manchen dauert der Anfall nur wenige Stunden und ist sehr leicht; bei anderen aber ist die Eigenwärme tagelang außerordentlich erhöht und diese Form, bei der sie sehr leiden, überwog am Malagarassi bedeutend. Bei Eingeborenen mancher Stämme, z. B. den Gebirgsvölkern im Westen der Kolonie ist Fieber sehr häufig, aber ich glaube nicht, daß es die gewöhnliche Malaria ist, sondern eine spezifische Abart, wenn es nicht überhaupt Rekurrens ist; sie erkranken fast ausnahmslos und viele gehen daran zu Grunde, wenn sie ihre Heimat verlassen. Besonders wirkt die Ebene auf sie wie tötliches Gift, und die Hoffnung, aus den Millionen, die sich im Westen zusammendrängen, Plantagenarbeiter für die Küste heranzuziehen, ist, selbst wenn man ihre Abneigung gegen Ortswechsel überwinden könnte, aus diesem Grunde allein aussichtslos. Sie würden dahinschwinden wie Wespen in den Schauern des Herbstes. – – – – – – – – – – – – – – – –

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Bei dieser Gelegenheit bringe ich vielleicht am besten auch eine Frage an, die für mich allerdings keine Frage mehr ist, und die ich trotzdem mit einem gewissen Unbehagen anschneide. Denn nur zu leicht kann, was meine ehrliche Überzeugung ist, für Sucht zu verblüffen gehalten werden, und ich wüßte nicht vieles, was mir unsympathischer wäre, als einen Freund für einen guten Witz oder sein Gewissen für eine blendende Antithese zu verkaufen. Meine Antwort, die auch die Frage enthält, lautet: wenn das tropische Afrika kein Aufenthaltsort für den Europäer ist, dann erst recht nicht für den Afrikaner, für den Neger. Denn ich zweifle keinen Augenblick, daß ceteris paribus seine Mortalitätsziffern größer sind, als die des Europäers. Ceteris paribus – ich gebe zu, daß das schwer zu erreichen ist, aber doch gibt es eine Vergleichsmöglichkeit. Unsere kolonialen Beamten und Militärs sind ausgewählt kräftige Leute, im Alter von 20 bis 40 Jahren. Dasselbe gilt für die Träger, nur daß diese darin im Vorteil sind, daß sie meist im Alter von 18 bis 30 Jahren stehen, und wenn ich den Prozentsatz von Toten rechne, den allein meine Träger im Laufe von vier Jahren erlitten haben, wobei zu berücksichtigen ist, daß ich, da die Leute seit drei Jahren entlassen sind, nur einen Bruchteil der Todesfälle erfahre, so muß ich sagen, daß, wenn die Weißen dieselben Ziffern aufwiesen, sie längst in wilder Flucht dies Land des Schreckens verlassen hätten. Und zu der gleichen Ansicht komme ich, wenn ich die Zahl der Leute betrachte, die seit drei Jahren auf dem Berge gestorben sind, auf dem meine Station »Bergfrieden« liegt.

siehe Bildunterschrift

Zwergin als Töpfer.

Und nun gehe man hin und frage einen Herrn, der im Innern der Kolonie tätig war, wieviel alte Neger er dort kennen gelernt hat. Seine Antwort wird lauten: »Man sieht außerordentlich wenig alte Leute!« Hier in Ruanda z. B. fangen die Eingeborenen über 40 Jahre schon an selten zu werden, Leute über 50 Jahre verschwinden in der Menge und Greise über 70 Jahre sind einfach Kuriositäten, so wie bei uns 90- bis 100jährige. Die alten Weiber sind um ein geringes häufiger. In anderen Ländern mag es vielleicht etwas besser sein, aber außer an der Küste wohl nur um eine Lappalie. Denn wo ich auch herumgefragt habe, bei Missionaren, Offizieren u. a., immer bekam ich die Antwort: »Es gibt so gut wie keine alten Leute.« Sieht man aber einmal einen Greis, so ist er gebrechlich, ach so gebrechlich und in Wahrheit dem Dachgreise gleich, der sich nicht zu helfen weiß, so daß die Missionäre, unter denen doch zahlreiche ältere Herren sind, daneben wie Jünglinge wirken.

Was ist die Ursache dieses frühzeitigen Hinsterbens? Natürlich nicht eine allein, sondern viele zu gemeinsamer Wirkung vereint. Krieg? O nein, das glaubte man wohl früher. Heute wissen wir, daß die Kämpfe der Eingeborenen selten größere Opfer fordern, und daß eine einzige europäische Strafexpedition meist mehr Menschenleben vernichtet, als selbst gehäufte Kriege der Schwarzen untereinander. Hungersnot? Schon eher, wenn auch mehr indirekt durch Schwächung des Körpers und Disponierung zu interkurrenten Krankheiten, als direkt. Direkt wirkt Nahrungsmangel ähnlich wie bei uns die Influenza, in dem er die aus besonderen Gründen an Widerstandsfähigkeit schwächeren Elemente dahinrafft, sei es konstitutionell schwächere – Kranke, Alte, Säuglinge, sei es sozial minderwertigere – Sklaven. Nein, nicht Krieg, nicht Hunger, sondern ein Heer von Leiden, zum Teil dunklen Ursprungs, dezimiert sie in der Blüte ihrer Jahre.

Man vernimmt oft in Europa Geschichten von der »unglaublichen« Kraft des Negers im Überwinden von Krankheiten und dem nicht minder unglaublichen Stumpfsinn oder Heroismus im Ertragen von Schmerzen. Unglaublich allerdings, denn man hat nicht nötig an sie zu glauben, weil sie vor der Wirklichkeit nicht Stich halten. Das sind suggestive Übertreibungen von der Art, die nie sterben will und von denen des Dichters Wort gilt:

Sie pflanzen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und schleppen sich von Ort zu Ort.

Tatsächlich erträgt der Neger weder Schmerzen standhafter als wir, noch sein Körper Krankheiten. Im Gegenteil, er erliegt oft Leiden, die an sich nicht tötlich wären, weil sein Herz oft durch Alkoholexzesse geschwächt ist, oder weil er, der an ein Übermaß von Nahrung in gesunden Tagen gewöhnt ist, in kranken sofort jede Speise außer Wein und Bier zurückweist und dadurch ungemein rasch verfällt. Robust ist er nur, soweit sein harter, durch eine dicke Schwarte geschützter Schädel in Frage kommt. Auch die oft hervorgehobene Heilungstendenz vernachlässigter Wunden kann nur den Laien in Erstaunen setzen, der nicht weiß, daß derlei auch bei uns in der vorantiseptischen Zeit nicht selten war. Schon die eine oben erwähnte Tatsache vom Fehlen der alten Leute spricht gegen solche Historien. – –

Ich glaube, das Märchen von dem Stoizismus der Neger ist durch die Bewunderung entstanden, die manche Herren ihnen zollen, weil sie im allgemeinen ihr hams' ischrin (»25«) tapfer aushalten, obgleich auch dies mit Unterschied. Denn »famos schlagen« und »famos stillhalten«, sind Namen von Tugenden, die man in Afrika sehr bald zu hören bekommt und oft mit großer Begeisterung. Aber du lieber Gott! Wenn mein Vater und Groß- und Urgroßvater und alle meine sechzehn Ahnen so oft gegerbt worden wären, wie wohl die meisten Negerahnen, dann wäre ich wahrscheinlich auch mit einem natürlichen Bergmannsschurz zur Welt gekommen. Denn die Nilpferdpeitsche ist keine Erfindung, die die Deutschen mitgebracht haben, sondern eine sehr alte, gewiß beinahe so alt, wie das Nilpferd selber. Überdies ist die Haut des Negers nicht nur in der Farbe von der unsern verschieden, so daß es schwer für uns ist, das Maß der Schmerzen und danach der Standhaftigkeit zu schätzen. Die wenigen Europäer, die als Gefangene Farbiger hierin einen praktischen Kursus durchgemacht haben, haben, trotzdem auch dies unter Umständen, wenn nicht dulce, so doch decorum sein kann, unsere Kenntnisse nicht bereichert.

*

Dabei fällt mir ein nettes und wie mir versichert wurde, wahres Geschichtchen ein, das sich in unserer Kolonie abgespielt hat. Zwei deutsche Unteroffiziere plagte die seltsame Neugierde, wie es täte, »25« zu erhalten und wie sie diese Wohltat ertragen würden. Sie beschlossen also, sich gegenseitig mit dem kiboko zu versohlen, und damit die Sache einen doppelten Zweck hätte, sich zu verpflichten, daß derjenige, der vor dem 25. Hiebe Halt rufen würde, für jeden fehlenden dem Gegner eine Reichsmark zu zahlen hätte. Also geschah's. Der erste hielt es bis zum 15. Hiebe aus, dann hatte er genug und schuldete dem zweiten, der jetzt an die Reihe kam, 10 Mark. In seiner Furcht, diese zu verlieren, hieb er so mörderisch zu, daß der am Boden liegende am liebsten schon bei 5 ein Ende gemacht hätte, aber da er dann seinerseits dem ersten 10 Mark zu geben hätte, bezwang er sich und subtrahierte bei jedem folgenden Hieb eine Mark, bis auch er den 15. erreicht hatte und mit dem Rufe »Quitt« aufsprang. Nachdem die beiden im Bade ihre edlen Teile etwas gekühlt hatten, saßen sie beim Glase Bier zusammen; aber während der eine sehr munter und gesprächig den »Witz« noch einmal belachte, war der andere merkwürdig in sich gekehrt und in schwere Gedanken versunken. Endlich schien er zu erwachen, schüttelte den Kopf wie einer, der vergebens ein Problem zu lösen versucht hat, starrte seinen Kameraden mit einem abwesenden Ausdruck an und brach zuletzt das lange Schweigen mit der Frage: »Wissen Sie vielleicht, Kamerad, warum wir uns gegenseitig geprügelt haben?«

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Was die Mortalitätsziffern der Eingeborenen so ins Ungemessene steigen läßt, ist mit dem oben Gesagten noch nicht erschöpft; es ist die geradezu ungeheuerliche Kinder- und unter ihnen wieder Säuglingssterblichkeit. Hier in Ruanda ist das zum Teil leicht nachzuprüfen. Um die Hütten der Eingeborenen erheben sich nämlich andere en miniature, entweder ganz kleine oder mittelgroße, gleichsam die Denksteine gestorbener Verwandten. Die größeren für Erwachsene, die kleineren für Kinder. Und da ist kaum ein Gehöft, in dem nicht eine, zwei, drei solcher Kinderhütten wären, bestimmt, die dem Geist des Toten dargebrachten Opfer aufzunehmen. Aber ich habe deren auch schon acht und neun, in der Provinz Mganamukari sogar einmal elf gezählt.

Es ist eine furchtbar düstere Tragödie der Kindheit, die aus solchen Zahlen zu uns spricht; nicht einmal mitgerechnet sind die vielen in den ersten Lebenswochen Gestorbenen, weil ihre Zahl, da sie keine Grabhütten bekommen, nicht zu konstatieren ist. Aber doch enthalten sie auch einen Trost für das Volk und seine Existenz, weil aus ihnen auch die große Fruchtbarkeit der Ehen hervorgeht. Das würde mich auf die Frage bringen, wie diese Stämme trotz der großen und frühzeitigen Sterblichkeit der Individuen ihre Art zu erhalten vermögen, aber ich widerstehe der Versuchung, dieses Thema, das zuviel Raum beanspruchen würde, zu erörtern. Ich will nur einige der wichtigsten Leitsätze gleichsam wie Stichwörter anführen. Möge an sie der Leser, wenn er anders Lust hat, selbst den erläuternden Text anknüpfen und weiterspinnen. Nämlich:

1. Wie oben erwähnt: die Ehen der ansässigen Völker sind sehr fruchtbar.

2. die Neger erzeugen dank des frühzeitigen Heiratens nicht wie wir drei, sondern mindestens fünf Generationen in einem Jahrhundert.

3. Polygamie verhindert, daß der Überschuß von Weibern verblüht, ohne Frucht getragen zu haben.

4. Wo, wie in Ruanda alternierendes Connubium, d. h. wechselseitige Paarung mehrerer blutsbefreundeter Männer mit allen ihren Frauen stattfindet, wird verhindert, daß durch die Untauglichkeit eines männlichen Teils auch der weibliche Teil der Ehe für die Erhaltung der Art verloren geht.

Das sind nicht alle, aber die wichtigsten Hilfen; andere, auch nicht unbedeutende, sind sozialer Natur. Aber ich breche hier ab und bezwinge mich wenn auch mit einiger Gewalt, sonst käme ich nie mehr in den Msimawald am Malagarassi zurück. – – – – – – – – – – – – – – –

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Msima-Wald. Während ich dies schrieb, fiel mir auf, daß das »gesunder Wald« heißt. Dies war nun leider nicht der Fall, denn in meinem Lager hatte sich, wie schon erwähnt, ein schlimmer Gast, die Blattern, eingestellt. Als ich vorher nach den Ursachen des Neger-Sterbens forschte, sprach ich nur im allgemeinen von dem Heer der Leiden, das ihn bedroht und das ihn am Leben verzagen lassen müßte, wenn seine Seele nicht einem flachen Teich ähnlicher wäre als einem tiefen Brunnen. Auf medizinische Einzelheiten ging ich nicht ein, weil es dem Wunsche der Leser gewiß nicht entsprechen würde. Eine Krankheit aber muß ich doch mit ein paar Worten erwähnen, weil sie für den Neger eine noch größere Bedeutung hat, wie für uns die Tuberkulose, und weil sie die Pest von Afrika ist, ich meine die Blattern.

Es wird unsere vornehmste koloniale Aufgabe sein, dem Neger in dem Kampf gegen sie beizustehen, und wir werden es um so lieber tun, wenn wir uns bewußt sind, wie viele Tausende junger Männer wir der an Menschenüberfluß nicht gesegneten Kolonie als Säemänner der Zukunft jährlich erhalten können. Die Aufgabe wird durch drei Momente erleichtert. Erstens, weil wir das Gegengift kennen und im Lande selbst produzieren können. Zweitens, weil die meisten Neger sich gerne impfen lassen, da viele von ihnen das Impfen schon vor den Europäern gekannt haben und es leider nur deshalb nicht konsequent durchführen, weil bei dem Impfen mit ungeschwächtem Virus vom Kranken auf den Gesunden tödliche Fälle nicht ausbleiben konnten. Und drittens, weil es zwei oder drei Herde in der Kolonie gibt, von denen aus die Impfung geleitet werden kann.

Der Hauptherd ist Tabora und Umgebung, der zweite das kongolesische Ufer des Tanganika, von dem die Übertragung nach Udjidji und Usumbura und von dort in die angrenzenden Länder erfolgt. Drei Epidemien habe ich unter meinen Leuten gehabt, und stets stammte die Infektion nachweisbar von einem der genannten Orte, in denen die Blattern geradezu endemisch sind. Und da von Bergfrieden aus jedesmal die Seuche auf die Bevölkerung am Kiwusee übergreift, so ist es mir oft, als müßten die vielen Toten als Ankläger gegen mich auftreten. Aber du lieber Gott, was vermag ich, der Einzelne. So lange nicht rücksichtslos in den drei Stationen die ganze Bevölkerung geimpft wird, und so lange vor allem nicht jedes Mitglied durchziehender Karawanen einen Schein über erfolgreiche Impfung – am besten keinen papierenen, sondern ein tätowiertes Merkmal – aufweisen muß, werden wir der Seuche nicht Herr werden. Die regellose Impfung dieses und jenes, der von selbst kommt und darum bittet, wie es seit einigen Jahren geschieht, ist zwar auch von Segen, aber bei dem indolenten, immer einen Stimulus heischenden Charakter des Negers lange nicht genug. Hier hilft nur wohltätiger Zwang, der gerne ertragen werden wird. Daß die Aufgabe für die betreffenden Bezirkschefs und vor allem für die Ärzte nicht ganz leicht ist, gebe ich gerne zu. Aber unsere Offiziere, Beamten und Doktoren sind nicht so geschaffen, daß sie vor einer Arbeit zurückschrecken, weil sie schwierig ist.

Insel Kwidjwi, November 1901

Und sie schreckten nicht zurück. Heute, wo seit der Niederschrift des hier gesagten zwölf Jahre verflossen sind, darf ich, ohne zu übertreiben, sagen: Das, was auf dem Gebiet der Blatternbekämpfung geleistet und erreicht wurde, ist das schönste Denkmal, das deutscher Pflichttreue in den Kolonien gesetzt wurde. Die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die mit jeder Kolonisation verbunden sind, haben gefordert und fordern täglich: »Menschenopfer unerhört«. Aber um wie vieles schlimmer ständen diese Dinge, wenn nicht Tausende jetzt dem Leben erhalten blieben, die früher den jährlich neu ausbrechenden Blattern erlagen? Wenige können so gut Vergleiche hierin anstellen wie ich. Rettungslos waren Hekatomben von Menschen in Ruanda dem Tode verfallen, so oft früher Blattern eingeschleppt wurden. In diesem Jahre aber, als nach langer Pause vom Kongostaat her ein Blatternkranker die Seuche im Südwestzipfel von Ruanda zu verbreiten drohte, da ließ der inzwischen oft belehrte König alle Wege, der Resident jeden Handelsverkehr zu dem bedrohten Gebiet sperren, und ein Arzt der Schutztruppe impfte sofort 20 000 Menschen in der Umgebung der bereits infizierten Gehöfte. So gelang es, die glimmende Gefahr gleich im Entstehen zu ersticken. Solche Dinge sollten vor allem die nicht übersehen, die zwar die Eingeborenen schützen wollen, aber um der Parteidoktrin willen jeden Pfennig für kolonisatorische Zwecke verweigern.

Ruanda, Oktober 1913.


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