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Zur dritten Fahrt.

Als ich vor einigen Wochen auf dem schönen Landsitz meines Verlegers im Schatten früchteschwerer Kirschbäume stand und wehmütig – denn ich hatte zu viel Kirschen gegessen – über den blühenden Garten und bewegte Kornfelder hinweg auf den anmutigen tiefgebetteten See sah, auf dessen Uferhügeln hohe Kiefern, flammend im roten Golde der scheidenden Sonne, phantastischen Palmen glichen, von unbekannten Küsten ins märkische Land verpflanzt, da überraschte er mich mit der Frage, ob ich für dieses Buches neue Fahrt ein Vor- und Geleitwort geschrieben habe. Denn, sagte er, ich müßte den Lesern erklären, warum ich mich jahrelang gesträubt habe, es noch einmal in die Welt zu schicken und warum ich es nun doch täte.

Ich dachte: Ich liebe keine Vorworte; ich liebe sie nicht, weil sie fast stets Bettelbriefe um die Gunst des Publikums sind oder ein Plädoyer für mildernde Umstände oder eine Orgie der Eitelkeit. Immer sucht der Autor zu rechtfertigen, warum er dies Buch oder warum er es so geschrieben. Aber ein Buch muß sich selbst rechtfertigen, wenn das Werk den Meister nicht lobt, lobt der Meister das Werk. Deshalb bin ich gegen Vorworte.

Aber laut sagte ich: Als dies Buch geschrieben wurde, gab es keine 50 Kilometer Bahn in Ostafrika, heute 2000, betrug der Handel keine 15 Millionen, heute über 80, lebten 1500 Europäer dort, heute über 6000, brauchte ein Brief zu mir nach Ruanda 3 Monate, heute 5 Wochen und so fort und so fort. Hundert Gründe gibt es für einen, um zu erklären, warum ich mit den letzten Exemplaren meines Buches für immer von ihm Abschied nehmen wollte. Daß ich es nun aber doch nicht tue? Genügt es denn nicht, daß sich ein tollkühner Verleger findet, der – im Vertrauen, daß in diesem Buch etwas lebt, was von Mode und Zeit unabhängig ist – es wagt, noch einmal in deutschen Landen ein paar Tausend Leser für ein Werk zu werben, dem er selber schon so lange Treue hält?

Aber als ich die unbestochene Miene meines Freundes sah, versprach ich ihm, in stillen Ferientagen an der Ostsee ein paar Geleitworte zu schreiben.

*

Und nun bin ich hier, geliebtes Meer, das ich 25 Jahre entbehrt, bei Dir, du deutschestes Gewässer, an dessen Ufern der Schüler einst seine bunten Träume träumte und das er immer gleich liebte, ob du in Sommergluten zittertest oder in harter Winternot Eisschollen an den Strand warfst, bin hier und atme mit seligen Lungen deine herbe salzige Luft und werde nicht müde, deinen uralten Gesängen zu lauschen, aus denen die Ewigkeit der Schöpfung tönt und die Vergänglichkeit des kleinen Menschenwesens.

*

Ich liege am Strande und blättere in meinem Buch, in das ich seit 10 Jahren, durch eine sonderbare Scheu gebannt, nicht mehr hineingesehen habe. Aber meine Gedanken zerstreuen sich und immer wieder wird mein Blick von den Zeilenreihen abgelenkt und schweift ins Nahe und Weite. Die wenigen Gäste, die vor Beginn der Schulferien in dem ländlich-stillen Ort gleich mir Erholung und neue Kraft suchen, haben sich vor der abendlichen Kühle in den Schutz der Gartenbäume und Glasveranden zurückgezogen. Einsam liegt das Ufer und verlassen Strandkörbe, Sandburgen und Badekarren. Reglos steht das Laub der Buchen und der flach verschnittenen Linden in der unbewegten Luft und schlaff hängen an den Masten der Segelboote und den Stangen der Strandburgen die Fähnchen und Wimpel und hoffen sehnsüchtig auf die nächtliche Brise. Nur ganz tief über den Boden huscht bisweilen vom Lande her ein leichtfüßiger Windstoß und tänzelt auf das Meer hinaus, das flach und wie Perlmutter schillernd ihm als Tanzboden dient. Aber weiter draußen wird es zu leuchtendem Opal, und ruht gelassen in all seiner Herrlichkeit, ein köstliches Ruhebett, wie geschaffen für die Umarmungen der Götter und Göttinnen, die in seinen Abgründen einst lebten. Und auf so leichten Sohlen tänzelt der Wind, daß sein Fuß das Meer kaum ritzt und daß ihn nur das Spiel der Lichter und Schatten verrät, die gleich feinen Rauchwölkchen über die weißen und roten Segel der Jollen und Jachten ziehen. Aus unerschöpflichem Reichtum gießt die Sonne das Gold ihrer letzten Strahlen über sie aus und hat doch noch genug, um den Kamm des Scharbeutzer Buchenwaldes, der wie das ungeheure dunkle Grab eines ausgestorbenen Riesengeschlechts gewölbt ist, mit einer goldenen Spange zu umklammern und die roten Dächer der Timmendorfer Häuschen in feurige Lohe zu tauchen. Aber nicht lange mehr, dann wendet ihr göttliches Auge sich von uns ab und die Nacht sendet ihre ersten Boten. Düsterviolette Schatten lagern sich am Horizont, und Dämmerung verhüllt die niedrige Küste von Mecklenburg und die roten Sandhänge der Lübecker Bucht. Gleich gesanglosen Märchenvögeln ziehen weit draußen still und feierlich stolze Dreimaster ihre Furchen, flinke Dampfer eilen den schwedischen Küsten zu und am Ausgang der Travemünder Bucht ballt sich dichter schwarzer Rauch über einem Schwarm von Torpedobooten, kleinen rußigen Teufeln, die schon seit gestern die weite Bucht mit dem Lärm ihrer Flöten und Dampfpfeifen erfüllten. Aber jetzt hört man sie nicht. Schweigend ruhen Meer und Luft und Land. Nur manchmal schlägt schläfrig eine kleine Welle an den Strand und wirft tote Butten und Feuerquallen und dichtgeballte Algen auf den Sand. Überall liegt von der Sonne braun gedörrter Tang und sättigt die Luft mit herbem Duft, der Erinnerungen an andere ferne Küsten wachruft. Fliegenschwärme bedecken ihn, willkommene Nahrung für die zahlreichen Schwalben, deren fahle Leiber den Boden fast berühren. Das Zirpen der Grillen, das Locken der Schrecken, so charakteristisch für die Abende in afrikanischer Landschaft fehlen hier ganz. Nichts ist hörbar, als ab und zu zerrissene Glockenklänge aus einer Herde schwarzweißer Kühe, die zwischen dunklen Knicks auf den Sierksdorfer Wischen weiden und aus dem Fischerdorf weitab die langgedehnten Klänge einer Ziehharmonika. Sonst Schweigen und tiefer Friede. Wahrlich, du bist schön, meine Heimat und indem meine Hände sich klammernd in den Sand bohren, ist mir, als strömte aus der heiligen Muttererde neue Gesundheit in meinen Leib und neue Kraft in meiner Seele Schwingen.

*

Und wieder liege ich im Sande und blättere in meinem Buch. Und lese bald hier, bald dort eine Seite. Und manchmal vergesse ich, daß ich selber dies alles geschrieben. So fremd wird einem das eigene Leben, wenn ein halbes Menschenalter vergangen ist. Bisweilen denke ich: Wie gut ist es Dir ergangen, daß Du noch das alte Afrika gekannt hast, und die Zeit vor Eisenbahn und Dampfschiff. Die Barrabarra – die große Karawanenstraße nach Tabora und zu den Binnenseen – welche Rolle spielte sie doch in unsern Gedanken und Gesprächen. Wie wurde jeder beneidet, der sie entlang gezogen war und nun in feierlichem Aufputz in Daressalam oder Bagamojo landete. Es gab damals eine Art Marschkoketterie, die verlangte, daß man seinen zerschlissensten Anzug trug und mit verwildertem Vollbart, den seit Monaten keine Schere entweiht hatte, auf dem Rücken eines abgetriebenen Maskatesels seinen Einzug hielt. Und immer gingen ein paar Jungen voraus, die auf schlanken Stangen Graupapageien trugen oder Affen an Ketten mit sich zerrten. Aber hinter der zerfransten Fahne folgte erst, was den meisten Neid erregte, Elfenbein und Geweihe und Bündel mit Speeren und Pfeilen und Schilden. Ein Trommler wirbelte rasend auf der von ferner Gegend mitgebrachten Trommel, die Träger schrieen und schlugen mit Stöcken gegen die Kisten auf ihren Schultern und die Weiber, die aus allen Hütten der Eingeborenen-Stadt herausstürzten, trillerten und kreischten wie Besessene. Ja, die Barrabarra. was mag wohl heute noch von ihr übrig sein, von ihr, deren Erhaltung der Ehrgeiz aller Stationschefs und der Schrecken aller Steuerarbeiter war? Liegt sie wohl schlummernd im Sonnenbrand? verödet und verlassen, grasüberwachsen und von Schlingpflanzen übersponnen? Träumt sie wohl manchmal von all den Tausenden, von deren Schritten sie jahrein, jahraus widerhallte und denen sie Ziel und Richtung wies? Denkt sie wohl manchmal all der namenlosen Toten, die von Krankheit und Hunger hinweggerafft, an ihrem Rande elend starben? Und deren Knochen schon längst gebleicht, zerstört und verweht waren, als in einem fernen Dorfe eine Mutter noch glaubte, daß sie einen Sohn habe, eine Frau nicht wußte, daß sie Witwe sei?

Und ich blättere weiter und werde still und nachdenklich, wenn ich lesend in das Land komme, das mir zur zweiten Heimat wurde. Mein erster Besuch beim König von Ruanda. Und ich lese, wie mir damals die fremdartigen Eindrücke den Schlummer raubten und wie ich oft vor das Zelt trat und in die schweigende Nacht hinaussah und hinüber zu den Hütten des Königs mit den Hunderten kleiner Wachfeuer ringsum, von denen sich die Silhouetten kauernder Wächter seltsam fremd abhoben. Am nächsten Tage aber schrieb ich in mein Tagebuch: »Ob auch er wohl in die Nacht hinausstarrte und sich Rechnung ablegte über die Bedeutung, die das Eindringen der »roten Männer« in die Abgeschlossenheit seines Landes für die Zukunft der Jahrhunderte alten Herrschaft seines Stammes haben wird?«

Das ist nun genau sechzehn Jahre her. Ich aber muß einer andern Nacht denken, die nur drei Jahre zurückliegt. Am Nachmittage hatte ich ernst und eindringlich dem König zum ersten Male davon gesprochen, daß es nun Zeit wäre, sich und sein Volk auf den nicht allzufernen Tag vorzubereiten, wo die Regierung des Kaisers, die er bisher nur in undeutlichen Umrissen in einem sternenweiten Nebellande thronen sah, eine jährliche Steuer von ihm fordern würde. Er hatte bei meinen Worten nachdenklich die Stirn gerunzelt und geschwiegen. Des Nachts aber ließ er einen seiner Untertanen wecken, der schon mehr als ein Jahrzehnt in meinen Diensten stand, und erwartete ihn in einem abgelegenen Hofe der Residenz – um nicht erkannt zu werden –, in ein schwarzes Gewand gehüllt. Stundenlang ging er dort mit ihm auf und ab, seinen Rat erbittend, ob es nicht doch eine friedliche Möglichkeit gebe, diesem Tribut zu entgehen, der seinem Volke allzudeutlich zeigen würde, daß die »letzte Säule afrikanischer Despotenherrlichkeit«, wie Graf Götzen das Watussi-Königtum in Ruanda einst genannt hatte, in ihrer Grundmauer erschüttert sei.

Und wieder schweift mein Geist zu jener Nacht vor 16 Jahren zurück und die Blindheit der Menschen lastet schwer auf mir, wenn ich daran denke, wie wenig damals einer von uns beiden ahnen konnte, daß grade ich es sein würde, der einem harten Pflichtgebot folgend die Axt an diesen stolzen Baum legen sollte. Und seltsam ergriffen wiederhole ich das Wort aus jenen Tagen: »wahrlich, die Wege, die das Schicksal uns führt, sind sonderbar.«

*

Nun habe ich die letzten Seiten gelesen, die voll sind von dem Glück dessen, der im Schoße der mütterlich-gütigen Natur ruhend wieder zum Kinde wird, lächelnd über das wunderliche Treiben der »großen« Menschen – und lege das Buch aus der Hand. Rings um mich ist heute der Strand vom Lärm und Jubel der Kleinen erfüllt, die selig der ersten schulfreien Tage sich freuen. Auf mich aber senkt sich eine stille Traurigkeit und mitten in dem fröhlichen Treiben wird mein Herz zu einer Insel der Wehmut.

Denn ich denke: Bücher gibt es, die sind der Geist dessen, der es schrieb, oder sein Blut und sein Herz, sind manchmal sein Hohes und Edles und manchmal sein Schlimmstes und Niedrigstes. Aber dies Buch ist mehr und ist weniger, – wie Ihr es nehmen wollt. Denn es ist meine Jugend, ist, was unwiederbringlich dahin ist. Unwiederbringlich. Wißt Ihr nun, warum ich mich ein Jahrzehnt lang scheute, hineinzusehen? Wißt ihr nun, warum ich mich Jahre lang gegen den Wunsch meines Verlegers wehrte, es auf neue Wanderung hinaus zu senden?

*

Und nun hat es sich doch gefügt, mein Buch, daß du noch einmal hinaus mußt in die Fremde, wie ein Schiff der Unbill von Wetter und Fluten ausgesetzt. Nur mit Widerstreben nahmen wir dich noch einmal ins Dock, um allzu alt und morsch gewordenes zu entfernen, anderes neu zu nieten und zu hämmern. Aber während der Arbeit zeigte sich bald, daß du im großen ganzen bleiben mußtest, wie du warst, und daß zu viel altes Deinem Leibe zu entnehmen, zu viel neues ihm einzupflanzen, Deinem Organismus die Harmonie geraubt hätte, die ihm eben so nötig ist wie lebenden Gebilden. Unserm Reeder aber danken wir es beide, daß er nichts gespart hat, um Deinem Äußeren ein schlichtschönes Kleid zu geben.

So ziehe denn hinaus, ein »glückhaftes Schiff«, neue Meere und neue Küsten suchend. Menschenherzen sollen Deine Häfen sein, in Menschenherzen Deine Anker ruhen.

Mögen die Winde dir gnädig sein!

Des walte ein gütiges Geschick.

Haffkrug a. d. Ostsee, Juli 1914.
Richard Kandt


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