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»Wer vom Pöbel ist der will umsonst leben;
wir andern aber denen das Leben sich gab, –
wir sinnen immer darüber,
was wir am besten dagegen geben.«
(Also sprach Zarathustra.)
Wenn ich in wenigen Wochen Abschied von unserer abendländischen Kultur nehmen werde, die die große Masse, geneigt, ihre Anschauungen über fremde Völkerschaften nach deren Vertretern in Castans Panoptikum oder den Schaubuden der Provinzmessen sich zu bilden, auch gerne die Kultur schlechtweg nennt, so wird einer meiner letzten Gänge den Schätzen des Vatikans gewidmet sein. Wie oft, wenn ich den Kopf voll hochfliegender Pläne, des Weges und der Menschen achtlos, durch die Straßen der Siebenhügelstadt schlenderte, wie oft merkte ich da überrascht, daß ich unbewußt meine Schritte in die Nähe der Wunderbauten gelenkt hatte, die das freiwillige Gefängnis des »Vaters der Christenheit« bilden. Da trat ich dann gern unter die hochgewölbten Bogen und, legitimiert durch ein » lascia passare« des päpstlichen Majordomus und durch zahllose Besuche den Tempelhütern eine vertraute Erscheinung, schlüpfte ich durch die Reihen der Schweizergarde, womöglich abgewandten Antlitzes, um nicht durch den geschmacklosen Putz und die giftig-grellen Farben ihrer Kleidung mir die weihevolle Stimmung zu verderben. Es war immer der gleiche Platz, an dem ich landete, wenn meine Sinne an der Fülle erhabenster Schönheit sich gesättigt hatten. Mit verbundenen Augen hätte ich die Marmorbank gefunden, auf der ich stundenlang sitzen konnte, in die Betrachtung eines Bildwerkes versunken, bei dessen Anblick meine Gedanken in ferne heiße Süden sich verloren, »in fernere, heißere Süden, als je Bildner sich träumten«. Nur selten störten mich die Fremden, da die meisten nur ein paar flüchtige Augenblicke dem gleichen Bildnis ihr Interesse schenkten, um dann sich anderen Kunstwerken zuzuwenden, die in der rotgebundenen Touristen-Kunstkladde eines größeren Sternes sich erfreuten. Mancher blieb auch längere Zeit stehen und ergötzte sich an den sechzehn kleinen Genien, die um und auf dem langhingestreckten Körper des kraftvollen Mannes herumklettern und ebenso anmutige wie natürliche Posen einnehmen, wer nicht aus den Attributen der mächtigen Figur, aus der Sphinx, an die sie sich lehnt, aus dem Krokodil zwischen ihren Füßen, aus dem von Früchten überquellenden Füllhorn in der Linken, aus dem Ährenbündel in der Rechten ihre Bedeutung erkannte, der konnte sich aus dem Katalog die Belehrung holen, daß der Steinkoloß, vor 300 Jahren in der Nähe von S. Maria sopra Minerva ausgegraben, den Altvater Nil mit den 16 Zollmaßen des sinkenden und steigenden Flusses darstelle.
Der Altvater Nil! Was war mir dieser Stein, was konnte er mir sein, daß ich oft stundenlang in seiner Nähe weilte, jeden Zug des merkwürdigen, schmerzlich sinnenden Antlitzes studierte und alles andere um mich, Menschen und Dinge, vergaß, wenn sein Zauber auf mich zu wirken begonnen hatte? Wie hätte der heilige Vater gezürnt, wenn er gewußt hätte, daß ich auf dem geweihten Boden seiner Residenz eine heidnische Kultusstätte mir errichtet hatte, ich – einst als Gast einer französischen Pilgerschar und später als Leser einer Missionszeitschrift – ein zwiefach von ihm Gesegneter. Denn ein Kultus war es, den ich mit diesem Steinkoloß trieb. Für mich war dieser Marmor nicht tot; für mich lebte dieser Gott, wie nur je ein Gott lebte, und die Hoffnung, den Schleier von seiner geheimnisvollen, sagenumwobenen Herkunft zu lüften, bildete den ehrgeizigen Traum meiner Tage und Nächte. Ein köstlicher Duft wie aus einem Märchenlande strömte mir aus den Früchten und Blumen seines Füllhorns und gaukelte mir Bilder einer erfolggesegneten Zukunft vor; aus dem kalten Felsen strahlte mir die begeisternde Wärme, deren ich bedurfte, um alle Hindernisse hinwegzuräumen, die einer Verwandlung meiner Luftschlösser in Stein und Wirklichkeit noch im Wege standen.
Die geheimnisvolle, sagenumwobene Herkunft des Nils! Seitdem ich die Geschichte der Nilquellerforschung kannte, seitdem ich wußte, wieviel Helden und Märtyrer seit den Tagen Neros und noch weiter zurück bis hinauf in unsere Zeit der Idee des » caput Nili quaerere« ihre Kraft und ihr Blut geopfert hatten, verstand ich den Leidenszug in dem Antlitz meines Gottes, die tiefe Falte seine Wangen hinab und den schmerzlich verzogenen Mund. Es gibt kaum eine andere Forschungsgeschichte, die sich an Interesse mit der Nilquellenforschung messen könnte; keine, die in ein so ehrwürdiges Alter zurückreicht; keine, die so beeinflußt wurde von politischen und kulturellen Veränderungen; keine, die von so verschiedenartigen Elementen gefördert wurde. Ihre Geschichte, von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart verfolgt, würde nicht nur aus einer Aufeinanderfolge interessanter Reisebeschreibungen bestehen, sondern wäre geradezu eine Geschichte des menschlichen Geistes, seiner Höhen so gut wie seiner Tiefen.
Wie weit die Nilquellforschung zurückreicht, ist nicht bekannt; jedenfalls in graue Vorzeit. Schon in den Puranas der alten Hindus sollen sich Andeutungen über den Nil und das Mondgebirge finden; Asamon, ein ägyptischer Geograph, soll nach Lauth schon von dem Zusammenhange des Nils mit einem See gewußt haben, und die Angaben von Herodot, Diodor, Aristoteles über die Nilsümpfe und Pygmäen verweist Baumann jedenfalls mit Recht auf alte ägyptische Quellen. Auch die Mitteilungen des Alexandriners Ptolemäus über den Ursprung des Nils aus zwei Seen und deren Zuflüssen aus dem Mondgebirge schöpften sicherlich aus uralten ägyptischen Überlieferungen.
Es würde über den Rahmen dieser Zeilen hinausgehen, die auf die Erschließung des Nils gerichteten Versuche durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Ihre Kunde drang nur selten über einen kleinen Kreis von Gelehrten hinaus, und ihre Resultate waren infolge mangelhafter Forschungsmethoden meist sehr unbefriedigend. Zuverlässigeres Material erhielt man erst, als durch die Gründung der British African Association for promoting the Discovery of the Interior Africa im Juni 1788 eine Zentrale für alle auf die Erforschung des Nils gerichteten Bestrebungen geschaffen wurde. Auch der Aufenthalt der Franzosen in Ägypten wurde von einigem Wert für die geographische Wissenschaft, sowie die durch Pückler-Muskau, Prudhoë u. a. gesammelten Mitteilungen einiger Teilnehmer an den Kriegszügen und Sklavenjagden, die Ibrahim Kaschef und Kurschid Bey 1828 die Flußufer entlang in das Gebiet der Dinkaneger gemacht hatten. Sklavenjagden und Wissenschaft! welche Gegensätze!
Als Kuriosum erwähnen wir noch die Wanderfahrt eines badischen Hufschmiedes, Namens Heimbürger, der tief in das Innere des Sudans eingedrungen sein wollte. Ein Seitenstück fand diese dreißig Jahre später in der abenteuerlichen Reise des italienischen Handwerkers Carlo Piaggia, der die Welt mit Lügenberichten über neue von ihm entdeckte Seen in Sensation versetzte.
Bis zum Jahre 1840 machte die Erforschung des Nils, namentlich des mächtigsten Quellstromes des Bahr-el-Abiad, relativ geringe Fortschritte. In dies Jahr fällt die erste von dem Kalifen Mehemed Ali ausgeschickte Expedition unter einem türkischen Seekapitän, zu der Mehemed auf einer Inspektionsreise in die neu eroberten nubischen Länder veranlaßt worden war. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, die Nilquellenfrage zu lösen, auch hatte man seine Begehrlichkeit durch Erzählungen von dem Goldreichtum der zu durchziehenden Gebiete wachzurufen gewußt. Die wissenschaftlichen Erfolge dieser Reise waren gleich Null. Besser instradiert war eine zweite von Mehemed ausgeschickte Expedition unter d'Arnaud und Sabatier, die bis in die Nähe des vierten nördlichen Breitengrades vordrang.
Nachdem durch die bald darauf folgende Erschließung des Bahr-el-Abiad für den Handel zahlreiche europäische und türkische Handelsleute die neuentdeckten Gebiete aufgesucht hatten und durch oft überschwängliche Schilderungen des natürlichen Reichtums jener Ländereien den Kontinent in Erstaunen versetzt hatten, verging kein Jahr, in dem nicht irgend ein neues Unternehmen ins Werk gesetzt wurde. Es wäre zu ermüdend, auch nur die Namen all der Tapferen aufzuzählen, die alles, was dem Menschen teuer ist, aufs Spiel setzten, um einen Gewinn für die Wissenschaft zu erzielen. Fast schrittweise mußte das Terrain erobert werden; jeder Fußbreit Erde wurde mit Schweiß und Blut gedüngt; jeder Erfolg bedeutete ein ungeheures Opfer an Kraft, Vermögen und Menschenleben. Die größte Ausbeute brachte die Expedition Theodor von Heuglins, die sich in ihrem Verlauf mit einer anderen von zwei mutigen Damen, Frau Tinne und ihrer Tochter geleiteten, vereinte. Aber wie teuer wurden auch diese Errungenschaften bezahlt. Frau Tinne sowie zwei von Heuglins Begleitern sollten die Heimat nicht mehr wiedersehen.
Mit dem Ausbreiten der Handelsbeziehungen Hand in Hand gingen die Versuche, die Völker der neuentdeckten Gebiete dem Christentum zu gewinnen. Manch wertvolles geographisches Material verdankt man der österreichischen Mission, die zehn Jahre lang (1850-60) in Gondokoro sich hielt, bis sie aufgelöst wurde, weil das mörderische Klima einen Apostel des Christentums nach dem andern hinwegraffte und das unerhörte Treiben vieler europäischer Händler jede Tätigkeit der Missionare lahm legte. Der Name eines der schamlosesten dieser Menschen – God made him and therefore let him pass for a man – verdient, der Verachtung der Nachwelt noch möglichst lange erhalten zu bleiben. Es ist der Franzose de Malzac, unter dessen Schandtaten noch nicht einmal die greulichste war, daß er einen berberinischen Diener, den er bei seiner »Lieblingssklavin« gefunden, an einen Baum band und als Revolverscheibe benutzte. – – –
– – Mit den Jahren 1862-64 für ewige Zeiten verknüpft ist der Name Spekes, der den Ukerewe-See entdeckte und damit die Forschungen nach dem caput Nili um einen ungeheuren Schritt vorwärts brachte. Auch die Frage, ob dieser See die eigentliche Quelle oder nur ein Durchgangsgewässer des Nils bilde – wie der Bodensee für den Rhein – wurde bald in letzterem Sinne von Speke durch Entdeckung des Kagera an der Westseite des Sees entschieden, und mit Stolz durfte der kühne Forscher von Ägypten aus sein berühmtes Telegramm an die Royal Geographical Society senden: The Nile is settled. Mit diesen Erfolgen war die Frage der Nilquellen sehr vereinfacht; galt es doch jetzt nur noch das Quellgebiet des Kagera zu erforschen. Den ersten Versuch nach dieser Richtung machte Stanley; er verfolgte den Strom ein großes Stück aufwärts, mußte aber, ohne sein Ziel erreicht zu haben, umkehren. Nun ruhte die Forschung bis zum Jahre 1892, d. h. bis zu jenem Augenblick, wo Baumann auf einen Zufluß des Kagera, den Ruwuwu, stieß, und ihn fast bis zu seinem Ursprunge, den Missosi ja Mwesi, dem Mondgebirge (!!!) So übersetzte irrtümlich Baumann. In Wahrheit war Mwesi der Name Häuptlings jenes Gebiets. verfolgte. »Eins ist sicher,« schreibt Baumann in seinem Reisewerke, »daß die letzten Schleier des Nilproblems gelüftet sind, daß das caput Nili quaerere von nun an endgültig der Vergangenheit angehört.«
Noch nicht volle fünf Jahre sind seitdem ins Land gegangen, und wieder rüstet sich eine Expedition, beseelt von der Idee des caput Nili quaerere. Solange niemand an der Stelle stand, wo der Ruwuwu in den Kagera einmündet, so lange ist die kategorische Erklärung Baumanns, daß er als erster Weißer an der Quelle des Nils stand, deplaziert; denn was er über die Größenverhältnisse von Ruwuwu und Kagera behauptet, entspricht offenbar mehr seinen Wünschen und vorgefaßten Meinungen als der Wirklichkeit. Graf Goetzen, welcher zwei Jahre später jene herrlichen, durch ein überaus gesundes Klima ausgezeichneten Gegenden durchzog, sah von den Dulenge-Bergen in nächster Nähe des Kagera, den er kurz vorher überschritten hatte, »in südöstlicher Richtung das einmündende Tal eines Nebenflusses, der als Ruwuwu bezeichnet wurde. Der größere Kagera kam direkt von Westen her und sollte oberhalb unseres Standortes den Nyavorongo und den Akanyaru in sich aufnehmen.«
Und am 17. Mai notiert er: »Schirangawe hat uns von einer Höhe eine seeartige Wasserfläche in der Ferne gezeigt, wo der Nyavarongo mit dem Akanyaru zusammenfließen soll. Die Frage bleibt offen, ob der Kagera aus Nyavarongo und Akanyaru entsteht oder ob beide nur als Nebenflüsse anzusehen sind und zwar als Nebenflüsse des Wasserlaufes, den wir von den Dulenge-Bergen aus zu unseren Füßen erblickt hatten.«
Durch diese Beobachtungen Goetzens konnten die Zweifel, die Baumanns Angaben bei vielen Geographen hervorgerufen hatten, nur verstärkt werden. Und wenn heute »eines sicher« ist, so ist es dies, daß die Nilquellenfrage durch die Baumannsche Reise ihre Lösung nicht gefunden hat. Sie wird sie nicht eher finden, als bis die Größenverhältnisse von Kagera, Ruwuwu, Njawarongo und Akanyaru in Regen- und Trockenzeiten miteinander verglichen wurden. Erst dann wird es einen Zweck haben, nach der Quelle des Nils zu suchen. Mein Plan ist mir daher klar vorgezeichnet. Ich muß, wenn ich, von Süden kommend, auf den Ruwuwu stoße, diesen stromab verfolgen bis zu seiner Einmündung in den Kagera, dann diesen hinauf bis zu den Mündungen von Akanyaru und Njawarongo und dann erst die Quelle des Stromes erforschen, der von allen der wasserreichste ist. Und dies wird, wie ich aus hier nicht näher zu erörternden Gründen schließe, nicht der Ruwuwu, sondern der Njawarongo sein.
Über die Länder, die ich dabei durchziehe und die bis auf einige kleine Striche noch terrae incognitae sind, über die von jeder Kultur europäischen oder selbst arabischen Ursprungs unberührten Völker, die dort wohnen, über die Schwierigkeiten, auf die ich zu rechnen habe, über die Mittel, mit denen ich ihrer Herr zu werden hoffe, mögen die späteren Briefe Aufschluß geben. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – Wenn ich in wenigen Wochen von der abendländischen Kultur Abschied nehmen werde, so soll einer meiner letzten Gänge den Schätzen des Vatikans gewidmet sein. Noch einmal will ich durch die Reihen der Schweizergarde schlüpfen und still meinen alten Platz einnehmen. Und scheidend werde ich aus dem toten, kalten, starren Stein die lebendige, glühende Kraft mit mir nehmen, die mich trotz Klippen und Untiefen zum Ziele führen soll – so Gott will und mein guter Stern.